COLUMBA Magazin 3-2017
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<strong>COLUMBA</strong><br />
Julian Barnes<br />
Lebensstufen<br />
Das vielleicht beste Buch über Trauer, das je geschrieben worden<br />
ist: Wer "Lebensstufen" von Julian Barnes liest, versteht, wie es<br />
Menschen in einer Verlustkrise geht.<br />
Von Thomas Achenbach<br />
Julian Barnes Lebensstufen<br />
144 Seiten, btb Verlag<br />
ISBN-10: 3442713714<br />
Osnabrück - Das vielleicht beste<br />
Buch über Trauer, das je geschrieben<br />
worden ist, stammt<br />
von dem englischen Literaten Julian<br />
Barnes. Es ist deswegen ein so bemerkenswertes<br />
Buch, weil es auf nur wenigen<br />
Seiten und in nur wenigen Zeilen<br />
alles zu vermitteln versteht, was ich<br />
selbst in einer sich über 254 Stunden<br />
und über ein Jahr erstreckenden Ausbildung<br />
zum Trauerbegleiter habe lernen<br />
dürfen. Kein Sachbuch, sondern<br />
Literatur. Kein Ratgeber, sondern ein<br />
Erfahrungsbericht. Schmerzvoll, eindringlich,<br />
ungewöhnlich - und trotz<br />
aller Tragik einfach wunder-, wunderschön.<br />
„Das können diejenigen, die diesen<br />
Wendekreis des Lebens noch nicht<br />
überschritten haben, oft nicht verstehen:<br />
Wenn jemand tot ist, dann heißt<br />
das zwar, dass er nicht mehr am Leben<br />
ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht<br />
mehr gibt.“ Es sind Sätze wie diese, mit<br />
denen Julian Barnes seinen Leser tief<br />
hineinführt in die Gefühlswelt eines<br />
Trauernden. Es sind Sätze wie dieser,<br />
die verstehbar machen, wie es Menschen<br />
in einer Verlustkrise so geht - ein<br />
großes Verdienst dieses Werkes. Dabei<br />
beginnt das Buch ganz anders, als man<br />
es sich vorstellen kann.<br />
Denn Julian Barnes wäre nicht der<br />
Autor, der er ist, wenn er nicht auch<br />
dieses Buch - wie manch anderes - für<br />
ein Gedankenspiel genutzt hätte: "Lebensstufen"<br />
besteht aus zwei Teilen,<br />
die scheinbar nichts miteinander zu<br />
tun haben und die Barnes erst ganz am<br />
Ende miteinander zu verknüpfen versteht.<br />
Im ersten Teil des Buches geht<br />
es ums Ballonfahren. In schlaglichtartigen<br />
Episoden beschreibt Julian Barnes<br />
die Geschichte der Ballonfliegerei,<br />
lässt die Pioniere des Fliegens ihre<br />
Missgeschicke und Heldentaten erleben,<br />
lässt uns teilhaben an geschichtlichen<br />
Ereignissen. Unterhaltsam und<br />
farbenfroh. Wer das liest, der vergisst<br />
fast, dass man sich das Buch ja wegen<br />
eines ganz anderen Themas gekauft<br />
hat.<br />
Und dann mitten<br />
hinein ins Leid<br />
Dann kommt der Schnitt: Im zweiten<br />
Teil des Buches geht es um den Tod seiner<br />
Frau und um seine Gefühle in den<br />
Zeiten der Krise. Anstatt eine distanzierte<br />
Autorenrolle einzunehmen und eine<br />
Romanfigur etwas erleben zu lassen,<br />
beschreibt Julian Barnes ganz ungeschönt<br />
sein eigenes Leben. Und was er<br />
da erzählt, ist genau das, was Trauernde<br />
so erzählen. Wie sich die Freunde und<br />
Verwandten teils von ihm abgewandt<br />
haben aus lauter Unsicherheit, wie sie<br />
mit dem Verlust umgehen sollen. Wie<br />
er es als Immer-wieder-aufs-Neue-Sterben<br />
seiner Frau erlebt, wenn andere<br />
sich unausgesprochen weigern, mit ihm<br />
über seine tote Frau zu reden oder sie<br />
bei ihrem Namen zu nennen.<br />
Englisch, trocken,<br />
ironisch - da sitzt jedes<br />
Wort<br />
Dabei wird Barnes niemals sentimental<br />
oder gefühlsduselig, sondern bleibt<br />
immer ein trockener und ironischer<br />
englischer Gentleman. Seine Sätze sind<br />
präzise und messerscharf. Jedes Wort<br />
ist aufs Subtilste ausgewählt. Das macht<br />
das Werk so lesenswert. "Leid ist ein<br />
menschlicher Zustand, kein medizinischer",<br />
sagt er an einer Stelle - und führt<br />
exemplarisch vor, wie menschlich dieser<br />
Zustand sein kann, wie tief er einen<br />
an die existenziellen Fragen des Lebens<br />
heranführt.<br />
Alles ganz normal:<br />
Was Trauernde<br />
Merkwürdiges tun<br />
Wie normal es für Trauernde ist, immer<br />
wieder auch an den eigenen Tod<br />
in Form eines Suizids zu denken, weil<br />
der Wunsch des "Nachsterbenwollens"<br />
aufkommt. Wie normal es für Trauernde<br />
ist, mit ihren Toten zu reden, sie in<br />
imaginären und direkten Dialogen am<br />
Alltag teilhaben zu lassen oder um Rat<br />
zu fragen. All das und mehr: Das Buch<br />
lohnt sich insofern sowohl für Trauernde<br />
selbst als auch für alle Menschen, die<br />
mit ihnen umzugehen haben und nach<br />
einem guten Weg dorthin suchen. Übrigens:<br />
Natürlich ließe sich das Buch auch<br />
ohne den ersten Teil lesen.<br />
Allerdings dürften dem Leser dann ein<br />
paar der im zweiten Teil benutzten Bilder,<br />
Ideen und Formulierungen ein wenig<br />
merkwürdig vorkommen, weil sie<br />
direkt aus den Ballonfahrer-Sequenzen<br />
entstammen. Das Credo seines Buches<br />
legt Julian Barnes gleich im ersten Satz<br />
fest: "Man bringt zwei Dinge zusammen,<br />
die vorher nicht zusammengebracht<br />
wurden, und die Welt hat sich verändert...."<br />
- das ist typisch für Barnes. Diese<br />
philosophische Kernfrage zieht sich<br />
durch sein ganzes Werk: Kann die Welt,<br />
so wie wir sie wahrnehmen, als wahr<br />
bezeichnet werden? Oder ist es unsere<br />
ganz eigene Einfärbung, die eine objektive<br />
Wahrheit verhindert? Sehr empfehlenswert<br />
ist dafür der Roman "Vom<br />
Ende einer Geschichte", der diese Frage<br />
höchst unterhaltsam durchdekliniert.<br />
Trocken, ironisch und bemerkenswert<br />
präzise, auch dort.<br />
Thomas Achenbach<br />
Redakteur, Blogger und zertifizierter<br />
Trauerbegleiter aus Osnabrück, Mitglied im<br />
Bundesverband Trauerbegleitung, erreichbar über<br />
www.trauer-ist-leben.blogspot.de<br />
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