FINE DAS MAGAZIN FÜR GENUSS UND LEBENSSTIL
FINE DAS MAGAZIN FÜR GENUSS UND LEBENSSTIL - 3|2017 - Sonderbeilage in der Süddeutschen Zeitung
FINE DAS MAGAZIN FÜR GENUSS UND LEBENSSTIL - 3|2017 - Sonderbeilage in der Süddeutschen Zeitung
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Junge Spunde: Wie die Zeit vergeht! Vierzig Jahre liegen die Fotos zurück,<br />
die Dieter Müller, mit der weißen Brigade ohne seinen Bruder Jörg, an<br />
seinem Arbeitsplatz in den legen dären »Schweizer Stuben« zu Wertheim<br />
zeigen, einer Wiege des deutschen Genuss-Wunders. Jetzt trafen sich<br />
die vielbesternten Brüder noch einmal mit Kollegen am Herd – zu einem<br />
Erinnerungs menü als Hommage an die alten Zeiten.<br />
nun wieder, wie die Germanen, mit den Fingern.« Es waren, wie Hans<br />
Scherer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, die Jahre der<br />
völligen »Selbstabschaffung« der deutschen Küche.<br />
Immerhin machten Arne Krüger und H. E. Rübesamen 1971 in<br />
ihrem Führer »Wo ißt man gut in Deutschland« noch vierhundert<br />
»Feinschmecker- Treffpunkte« hierzulande aus. Allerdings sah seinerzeit<br />
das, was als »feine Küche« verstanden wurde, fast überall gleich aus: ein<br />
Angebot von »internationaler Küche« auf der einen Seite – Filetspitzen<br />
Singapore, Rumpsteak Café de Paris, Lachs Suwarow − und je nach<br />
der Nähe zur Schweiz und zu Frankreich waren die Augen immer auf<br />
die kuli narische Konkurrenz gerichtet. Jörg Müller besetzt schon als<br />
Azubi wichtige Posten und lernt den Umgang mit frischen Produkten.<br />
Der Ehrgeiz ist geweckt – doch weil der Weg nach Frankreich wegen<br />
der jüngsten Vergangenheit noch versperrt ist, geht es zunächst nach<br />
einigen Stationen in die Schweiz: ins Bellerive au Lac in Zürich und ins<br />
Carlton in St. Moritz. Dort lernt Jörg Müller vor allem die französische<br />
Haute Cuisine kennen. Sein jüngerer Bruder Dieter, den er 1973 als seine<br />
rechte Hand nach Wertheim holt, wird ebenfalls in der Schweiz, beim<br />
DER <strong>GENUSS</strong> DER FRÜHEN JAHRE<br />
ALS SIE NACH DEN STERNEN GRIFFEN: DIE »SCHWEIZER STUBEN« <strong>UND</strong> <strong>DAS</strong> DEUTSCHE KÜCHENW<strong>UND</strong>ER Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos GUIDO BITTNER<br />
Die 28. Riesling-Gala, Höhepunkt und Finale der Glorreichen Rheingau Tage,<br />
erinnerte dieses Jahr an einen der Geburtsorte des deutschen Küchenwunders:<br />
die »Schweizer Stuben« in Wertheim-Bettingen. Das 1971 gegründete Restaurant<br />
setzte in mehrfacher Hinsicht Maßstäbe: als Pionier französischer Haute Cuisine<br />
in Deutschland, als Wegbereiter des italienisch-mediterranen Einflusses auf unsere<br />
Küche und nicht zuletzt als Wiege zahlreicher Spitzenköche. Sechs von ihnen<br />
kochten jetzt in Kloster Eberbach noch einmal gemeinsam auf.<br />
Der Tiefpunkt war im Jahr 1971 erreicht. Nicht genug, dass<br />
Nazi-Ideologie, Weltkrieg und Nachkriegselend die kulinarische<br />
Kultur in Deutschland ausgelöscht hatten und in heimischen<br />
Haushalten das Essen mehr und mehr aus aufgewärmten Konservendosen<br />
und Gefrierprodukten bestand. Das Kochen selbst war aus der Mode<br />
gekommen. »Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald«,<br />
tönte es in der Reklame der 1955 gegründeten Restaurant- Kette,<br />
die 1969 bereits über 337 Filialen in Deutschland verfügte. 1971 sollte<br />
der erste McDonalds in München eröffnet und in Berlin der erste Döner<br />
serviert werden. Die Deutschen, so der »Spiegel« fassungslos, »aßen<br />
Fotos: Burkhard Schork, Privatbesitz<br />
Herkunft »regionale Spezialitäten« auf der anderen Seite: Ostsee-Aal<br />
in Dillgelee, rheinischer Sauerbraten, Schwarzwälder Schinkenbrett.<br />
Mit all dem brach der junge Eckart Witzigmann radikal, als ihn der<br />
Bauunternehmer Fritz Eichbauer zum Küchenchef des 1971 eröffneten<br />
Münchner Restaurants »Tantris« machte. Nicht umsonst hat man dieses<br />
Datum als den Beginn des deutschen Küchenwunders bezeichnet. Mit<br />
seiner ganz eigenen Version der französischen Nouvelle Cuisine war<br />
Witzigmann Leuchtturm und Kraftwerk einer kulinarischen Revolution,<br />
die Deutschland verändern sollte. Doch neben dieser Münchner<br />
Wurzel besitzt die Geschichte des deutschen Küchenwunders noch<br />
einen zweiten Hauptstrang, einen, der sich zunächst ruhiger und in der<br />
fränkischen Provinz entwickelte, sich aber schließlich als kaum weniger<br />
wirkungsmächtig erweisen sollte: Auch diese Geschichte beginnt 1971.<br />
Adalbert Schmitt war ein Mann des Wirtschaftswunders: Mit<br />
zweiundzwanzig Jahren macht er sich selbstständig, mit fünfundzwanzig<br />
ist er Millionär. Seine Firma Hartolit produziert<br />
Kunststoffteile, er selbst ist für Design und Qualitätskontrolle zuständig.<br />
Nebenher genießt er das Leben, gerne in der von ihm geliebten Schweiz;<br />
1962, da ist er dreißig, zum ersten Mal auch in Ligurien. Die Reise, die<br />
ihm Menschen und Küchen Norditaliens näherbringt, verändert sein<br />
Leben. 1971 steigt er aus dem operativen Geschäft aus und eröffnet am<br />
1. Mai in Wertheim-Bettingen das Restaurant »Schweizer Stuben«: mit<br />
rein eidgenössischer Brigade und dreihundert helvetischen Rezepten auf<br />
der Speisekarte. Für den örtlichen Tennisclub wird es bald so etwas wie<br />
ein Vereinsheim. Das aber war es nicht, was Adalbert Schmitt vor Augen<br />
hatte – schließlich prangt auf der Speisekarte aus Rehleder Wilhelm<br />
Tell mit seiner Armbrust. Er entlässt den Küchenchef und bittet den<br />
Schwager, in der Schweiz erneut auf Suche gehen. Der findet einen<br />
jungen Deutschen: Jörg Müller.<br />
Dass Jörg Müller die Sache anders angehen sollte, ist zunächst<br />
gar nicht abzusehen. In der Schweiz gilt er nicht als Deutscher, sondern,<br />
auch dank des gemeinsamen alemannischen Akzents, als »Basler<br />
Bub«. Jörg Müller, Sohn eines Gastwirts aus Auggen im badischen<br />
Dreiländereck, hatte früh eine Lehre zum Koch im »Hotel Post« im<br />
nahen Mülheim absolviert. Das war keine Sterneküche, aber wegen<br />
legendären Ernesto Schlegel im Berner Schweizerhof, seine »eigentliche<br />
Geburt als Koch« erleben.<br />
Tatsächlich ist die Schweiz für die Gastronomie dieser Jahre ein<br />
ganz einzigartiger Platz. Wie kaum ein anderer Ort der Welt<br />
war das Land von einem Netz von Grand Hotels durchzogen,<br />
deren vornehme Restaurants alle auf demselben kulinarischen System<br />
beruhten: der französischen Hochküche, wie sie Auguste Escoffier um<br />
1900 in seinem »Guide Culinaire« kodifiziert hatte, und wie sie in den<br />
Spitzenrestaurants rund um den Globus zelebriert wurde. Während<br />
sich in Frankreich selbst, nicht zuletzt durch die Auswirkungen der<br />
Besatzung, aber auch durch die kulinarischen Innovationen im Paris der<br />
Nachkriegszeit und dann in den frühen Sechzigerjahren durch Köche<br />
wie Bocuse, Haeberlin und die Gebrüder Troisgros in den französischen<br />
Regionen, die Hochküche stark verändert hatte, wurde in der<br />
Schweiz die Küche Escoffiers wie unter einer Käseglocke konserviert.<br />
Deren viele, ewig wiederholte Standards mögen aus heutiger Sicht<br />
langweilig erscheinen. Aber sie standen auch für die Verwendung<br />
bester und absolut frischer Produkte und eine perfekte handwerkliche<br />
Präzision – vom kulinarischen Nachkriegsdeutschland trennte die<br />
Schweiz ein Quantensprung. Kein Wunder, dass alle frühen Drei-Sterne-<br />
Köche in Deutschland nach der Ausbildung zunächst eine Station in<br />
der Schweiz einlegten: neben Eckart Witzigmann auch Heinz Winkler<br />
und Herbert Schönberner. Die Schweiz war, noch vor dem Mutterland<br />
der Haute Cuisine, der eigentliche Transmissionsriemen des deutschen<br />
Küchenwunders.<br />
Jörg Müller streicht die Karte der »Schweizer Stuben« zusammen<br />
und etabliert die französische Küche in Wertheim, unterstützt durch den<br />
ständig vorwärtstreibenden Patron Adalbert Schmitt, der die Brüder auf<br />
»Bildungsreisen« in die Restaurants der Nouvelle Cuisine schickt und<br />
in Straßburg einkaufen lässt. Jörg Müller gibt die Richtung vor und ist<br />
vor allem der Mann für die Vorspeisen und die Kalte Küche. Sein Bruder<br />
Dieter übernimmt den Posten des Sauciers und des Poissonniers,<br />
also der Fischküche. Beide ergänzen sich ideal: Während der Ältere<br />
den großen Bogen und den vollen, harmonischen Akkord entwickelt,<br />
widmet sich der Jüngere der sensiblen Verfeinerung.<br />
38 <strong>FINE</strong> 3 | 2017 <strong>DAS</strong> <strong>MAGAZIN</strong> <strong>FÜR</strong> <strong>GENUSS</strong> <strong>UND</strong> <strong>LEBENSSTIL</strong> <strong>DAS</strong> <strong>MAGAZIN</strong> <strong>FÜR</strong> <strong>GENUSS</strong> <strong>UND</strong> <strong>LEBENSSTIL</strong> <strong>FINE</strong> 3 | 2017 39