E_1930_Zeitung_Nr.105
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Bern, Dienstag, 16, Dezember <strong>1930</strong> III. Blatt der „Automobil-Revue" No. 105<br />
Skiweihnachten<br />
in den Bergen<br />
Von Winfried Fricke.<br />
langsam arbeiteten wir uns bergauf. Ein<br />
böser Anstieg. Aber es wäre eine noch bösere<br />
Abfahrt. Braunes Moorwasser rieselt<br />
unter Schnee und Eis zu Tal. Es taut. Die<br />
gefrorene Erde ist lebendig geworden. Sprudelnd<br />
und glucksend rinnt das Wasser in<br />
einzelnen Löchern. Dunkel, unheimlich fast<br />
schimmert es da und dort durch die Weisse<br />
des Schnees. An manchen Stellen spritzt<br />
dunkler Torfbrei über die Bretter. Wir fahren<br />
über das Hochmoor. Schweigend Sahren<br />
wir.<br />
Da tauchen vor uns Gestalten auf. Eins,<br />
zwei, drei. In scharfer Fahrt sausen sie zu<br />
Tal. Zünftige Fahrer. Der erste Blick zeiit<br />
es. Nur sie dürften heute solche Abfahrt auf<br />
den vereisten Hängen und der durchbrochenen<br />
Schneedecke wagen.<br />
Skiheil! Ihr Ruf kommt von oben wie eine<br />
'Fantare. Beim Telemark fliegt der Dritte uns<br />
vor die Füsse. Im Augenblick ist er wieder<br />
auf den Brettern. Ein etwas verlegenes<br />
Lachen geht über das frische Gesicht: n-Bei<br />
dem Schnee!» Ein kurzes Anspringen. Er<br />
gleitet talabwärts, den anderen nach.<br />
Skiheil! Unser Ruf schallt hinter ihm her.<br />
Den Bruchteil einer Minute haben wir sie<br />
gesehen. Aber ein seltsam freundschaftliches<br />
Fühlen über die Unbekannten springt in uns<br />
auf in dieser Einsamkeit.<br />
Schon hören wir das gleitende Scharren<br />
Ihrer Bretter weit unter uns. Zünftige Fahrer<br />
und Männer. Ihnen nur gehört heute<br />
abend der Berg.<br />
Schritt um Schritt geht es weiter. Seit<br />
langem wandern wir in immer dichterem<br />
Vebd.<br />
Plötzlich erschallt lautes, sorgloses Singen<br />
über uns. Staunend hören wir es. Welcher<br />
Skitäufer singt bei solcher Abfahrt? —<br />
Zwei Fassgänger! Junge Menschen. Frohgemut<br />
ziehen sie Fuss auf Fuss aus dem<br />
Schnee. Oft sinken sie bis an die Knie und<br />
'darüber ein. Sie wolten zum Torfhans wandern<br />
und haben im Nebel den gefährlichen<br />
Weg über das Moor genommen. Ich ver-<br />
Kuche vergeblich, sie zur Umkehr zu be-<br />
Die Jagd<br />
nach der roten Rose<br />
Weihnachtsskizze von Anna Bure.<br />
(1. Fortsetzung)<br />
Und nun gab es eine seltsame Fahrt.<br />
Das Automobil glitt in gleichmässigem<br />
Tempo durch die verschiedensten Strassen,<br />
nahm in schön berechnetem Bogen<br />
alle Ecken, wich mit eleganter Schwenkung<br />
aus, wenn Unvorhergesehenes ihm<br />
entgegenkam, schien wie von unbeirrbar<br />
gesundem Pulsschlag bewegt. Hastig, aufgeregt,<br />
ungeduldig, drängend folgte ihm<br />
das kleine Auto manchmal Abstand behaltend,<br />
dann plötzlich wieder dicht auf<br />
seinen Fersen. Die rote Böse leuchtete<br />
durch den dichter fallenden Schnee dem<br />
Verfolger voran, es war als leuchte sie<br />
immer röter. Wenigstens kam es Armand<br />
so vor, der sie nicht aus den Augen verlor.<br />
Auf einmal war sie verschwunden. Wie<br />
•war das zugegangen? Man hatte gerade<br />
einen Platz überquert, auf dem sich die<br />
verschiedensten Fahrzeuge stauten. Man<br />
Weihnachthch leuchten am Baum die Kerzen,<br />
Jubel tönt laut aus kindlichen Herzen.<br />
Alte Lieder und uralte Mären<br />
wegen. Sie haben den Abstieg erst:, begonnen<br />
und der moorige Teil des Weges liegt<br />
noch vor ihnen.<br />
Am späten Abend bringt ein Skiläufer<br />
Nachricht von ihnen auf den Gipfel. Fast<br />
völlig erschöpft schleppen sie sich zu Tal.<br />
Wir steigen höher und höher. Der Boden<br />
unter der Schneedecke wird fester. Jetzt<br />
nur noch Schnee und wieder Schnee. Und<br />
Eis an sich steilenden Hängen.<br />
Wieder und wieder rutschen wir auf dem<br />
Glitsch eines eben eroberten Stückes in<br />
schnellster Fahrt zurück. Von neuem setzen<br />
wir an und haben es hinter uns. Mit Brettern<br />
und Stöcken arbeiten wir uns zäh nach<br />
oben.<br />
Meine Begleiterin schüttelt die Bretter von<br />
den Fassen und kordelt sie an. Lieber gehen<br />
auf dem Eis als das ewige Zurückrutschen<br />
war durch einen wild daherschiessenden<br />
Motorfahrer zum Stoppen gezwungen<br />
worden; der Taxiführer hatte sich genötigt<br />
gesehen, seine ganze Aufmerksamkeit<br />
für einige Atemzüge lang von der Limousine<br />
abzulenken, um den um ihn drängenden<br />
Verkehr zu überblicken — und als er<br />
wieder aufsah, war sie verschwunden. Er<br />
fuhr langsamer, blickte sich rund um —<br />
umsonst Er hielt, Armand sprang aus<br />
dem Wagen.<br />
«Haben Sie das Automobil verloren?»<br />
rief er wütend.<br />
Der Chauffeur zuckte die Schultern.<br />
«Er ist wie vom Erdboden weggewischt,»<br />
sagte er. «Ich kan mir nicht denken, wohin<br />
er geraten ist.»<br />
«Suchen Sie,» rief Armand, «es muss<br />
hier in der Nähe eine Einfahrt sein, denn<br />
wenn er dort in die Fehlerstrasse eingebogen<br />
wäre, so hätte ich es gesehen.»<br />
«Suchen Sie!»<br />
Der Chauffeur nahm seinen Sitz ein,<br />
machte Kehrt, fuhr die ganze Rundung<br />
des Platzes ab, schaute in alle Strassen,<br />
die darauf mündeten, und fand endlich<br />
eine grosse Toreinfahrt zu einem Hotel.<br />
«Es muss hier sein», sagte er.<br />
Armand befahl ihm, hineinzugehen, und<br />
Mi<br />
\*s\<br />
£ f.' tf<br />
Weihnachten<br />
Photo Steiner, St. Moritz.<br />
Bringen die Weihe des Tages zu Ehren.<br />
Ewige Wiederkunft heiliger Zeit<br />
Glauben an Leben und Seligkeit. Ko.<br />
auf den Schneeschuhen. Bis über die Knie<br />
sinkt sie an den Schneestellen ein. Wir müssen<br />
bald oben sein.<br />
Immer dichter wird der Nebel. Weisse, im<br />
Schneesturm zu den sonderbarsten Gestaltungen<br />
erstarrte Bäume tauchen gespensterhaft<br />
auf und tauchen zurück in das Nichts.<br />
So unwirklich ist das alles. Standen wir tatsächlich<br />
noch gestern in der niedrigen Enge<br />
der Asphaltwüsten? In Patsch und Matsch?<br />
Und sind heute hier oben an den Steilen des<br />
Brockens, weit ab von den Menschen, in<br />
weisser Oede? Allein auf der Welt.<br />
Dunkelheit bricht herein. Es ist etwas<br />
Rätselhaftes darum, in der brodelnden Grauheit<br />
dichten Wolkennebels zu wandern. Nur<br />
wenige Schritte weit in der Runde kann man<br />
sehen. Manchmal schreitet man wie durch<br />
eine Mauer, *So wandeln die meisten Men-<br />
sich nach der Limousine zu erkundigen.<br />
Der Chauffeur kam zurück mit der Meldung,<br />
dass kein solcher Wagen hier stationiert<br />
sei. Man suchte nochmals den<br />
Platz ab. Eine düstere, schmale Einfahrt<br />
zu einem Miethäuserkomplex wurde besichtigt.<br />
Sie endete in einem Hof, in dem<br />
kaum ein Wagen Raum gefunden hätte.<br />
Es stand auch keiner dort. Armand war<br />
sehen durch die Nebel ihres Lebens?» wiu<br />
ich zu denken anfangen. Aber «es ist keine<br />
Zeit zu philosophieren. Dunkelheit und Nebel<br />
auf dem Wege. All die alten Geschichten<br />
fallen mir ein von den Besuchern dieses Berges,<br />
die in dichtem Nebel stundenlang das<br />
Berghaus gesucht haben, ohne es zu finden.<br />
Ein eisiger Wind hat sich aufgemacht. Wir<br />
tappen spurensuchend voran. Nur Dunkelheit<br />
und Nebel sind um uns. Eine unendliche<br />
Dunkelheit und ein unendlicher Nebel ist es.<br />
Und eine unendliche, kalte Einsamkeit.<br />
Aber in diese Nebelstimmung blitzt plötzlich<br />
das Hochgefühl hinein: wie wunderbar<br />
schön und gross ist dieses alles hier oben.<br />
Ein Erlebnis.<br />
Wir werden das einsame Haus finden.<br />
Und wieder suche ich verwehten Spuren<br />
nach. Wir dürfen vom Skiweg nicht abkommen.<br />
Ich taste mich weiter.<br />
Wie lange dauert es eigentlich noch? Wir<br />
müssten doch längst oben sein.<br />
Da plötzlich, so nah, dass ich es fast mit<br />
der Hand greifen kann, taucht etwas aus<br />
dem Dunkel auf. Eine Hauswand. Dann<br />
blitzt für einen kurzen Augenblick ein Licht<br />
auf, um sofort wieder im Nebel zu vertauchen.<br />
Wir sind oben! Und die Letzten<br />
fast, die am Abend des ersten Weihnachtstages<br />
oben ankamen.<br />
Weihnachtsfeier in den Voralpen! Ein<br />
Harzbaum, edel gewachsen, brennende<br />
Wachslichter in allen Zweigen. Lichter auch<br />
auf jedem Tisch. Ein altes Weihnachtslied<br />
klingt leise von irgendwo her. Es ist Stimmung<br />
in dieser Feier. Auf eigenen Fassen<br />
hat sich fast jeder Teilnehmer zur Spitze<br />
kämpfen müssen. Das bindet. Nichts von<br />
dem Rummel der Sommersonntage. Wenige<br />
Gäste nur sind versammelt. Die meisten<br />
sind vor Wetter und Nebel umgekehrt.<br />
' Das ist das Köstliche. Dass man eben noch<br />
in Dunkelheit und Nebel, in Schnee und<br />
Sturmwind stand. Einsam und wegsuchend.<br />
Jeder Muskel gespannt in zähem Kampf mit<br />
Naturgewalten. Und dass man nun entsvannt<br />
und träumend in den brennenden Weihnachtsbaum<br />
blickt, auf dem höchsten Berge weit<br />
umher, in Wärme und Helligkeit. Nur der<br />
kann das nachfühlen, der selbst auf den Brettern,<br />
den wackeren Freunden, gewandert ist.<br />
in Verzweiflung. Er liess sich von dem<br />
Chauffeur nach Hause fahren und bestellte<br />
ihn für den nächsten Tag um dieselbe<br />
Zeit zu seinem Cafe.<br />
Dabei hatte er aber die feste Ueberzeugung,<br />
dass die rote Rose morgen nicht<br />
mehr kommen würde. Es wiederholte sich,<br />
was damals geschehen war: Eine Woche<br />
lang war sie wie ein Traum in seiner<br />
Nähe gewesen, die Frau, die zu ihm gehörte,<br />
deren Symbol die rote Rose war;<br />
er hatte in unbegreiflicher Träumersucht<br />
die Zeit verstreichen lassen — gestern<br />
hatte sie ihm wie damals zum Abschied<br />
zugelächelt, und nun war sie verschwunden.<br />
— Vielleicht, dass sie ihm nach weiteren<br />
zehn Jahren wieder erscheinen<br />
würde. Er sagte sich das mit höhnischer<br />
Bitterkeit.<br />
Und es war so. Am folgenden Tag erschien<br />
die Limousine nicht. Armand bestieg<br />
dennoch den Fiat und liess sich in<br />
der Stadt herumfahren mit der Weisung<br />
an den Chauffeur, auf den gestern verfolgten<br />
Wagen zu achten. Man fuhr alle<br />
Strassen ab, die etwa in Betracht kommen<br />
konnten. Verschiedene Wagentypen,<br />
verschiedene Limousinen in dunkler Farbe<br />
machten Armands Herz vorübergehend<br />
erschauern in Hoffnung. Aber keine Rose<br />
schmückte ihre Scheiben.<br />
Und Armands Warten verwandelte sich<br />
jetzt in eine Jagd. Aus dem Traum war<br />
rasende Wirklichkeit geworden. Jeden<br />
Tag fuhr er eine Stunde lang in der Stadt<br />
umher. Der Chauffeur begann über ihn<br />
den Kopf zu schütteln, weil er nicht von<br />
einer Person, die er polizeilich verfolgen,<br />
deren Aufenthalt er erkunden musste,<br />
sondern nur von einer roten Rose sprach.<br />
Nach einer Woche gab er es auf. Er<br />
setzte sich wie vorher in sein Caf6 und<br />
versuchte dieses Intermezzo zu vergessen.<br />
Wenn er allabendlich grosse Stadtteile<br />
zu Fuss durchwanderte, so tat er das nur,<br />
um sich Bewegung zu geben. So wenigstens<br />
erklärte er sich seine unruhigen<br />
Spaziergänge. Es war inzwischen ganz<br />
Winter geworden. Täglich füllten sich