E_1930_Zeitung_Nr.105
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22 AUTOMOBIL-REVUE <strong>1930</strong> -<br />
Tourismus<br />
Eine Weihnachtsfahrt nach Brüssel<br />
Es braucht ja nicht immer «Grossparis» zu<br />
sein, unsere Weihnachtsfahrt soll uns abwechslungsweise<br />
einmal nach Brüssel bringen.<br />
Statt dass wir unseren gewohnten Weg von<br />
Basel—Beifort über Troyes nehmen, fahren<br />
wir fast nördlicher Richtung, erreichen nach<br />
230 km von Basel aus gerechnet, Nancy, die<br />
Hauptstadt der Provinz Lothringen, nach 290<br />
km die alte Stadt Metz mit sehenswerten Bauten.<br />
In Luxemburg (350 km) treffen wir auf<br />
eine Stadt mit imponierender Lage. In verkleinertem<br />
Massstabe ist sie die Verkörperung<br />
einer mittelalterlichen Felsenburg mit Wall<br />
und Graben. Arlon kurz nach Luxemburg ist<br />
das belgische Grenzstädtchen, wo der Einreiseformalismus<br />
bald erledigt ist, da an der<br />
französisch-luxemburgischen Grenze bereits<br />
«vorgearbeitet» wurde. Belgien und Luxemburg<br />
stehen miteinander in Geld- und Zollunion.<br />
Für das Grossherzogtum Luxemburg<br />
gilt das belgische Triptyk usw. — Nun stehsn<br />
uns zwei Wege offen. Derjenige, der südlicher<br />
verläuft, durchzieht ein Stück Ardennenwald<br />
und erreicht über Namur nach 220<br />
km Brüssel. Im Sommer würden wir gewiss<br />
nicht zögern und ihm die Ehre antun. Nun<br />
aber benutzen wir die Hinfahrt, um auf der<br />
nördlicheren Route Lüttich und Löwen einen<br />
kurzen Besuch abzustatten. Damit nehmen<br />
wir 30 km mehr Weg in Kauf, dürfen uns dann<br />
aber rühmen, auch die schöne Haupt- und<br />
Universitätsstadt des Wallonenlandes mit<br />
mehr wie 200,000 Einwohnern und die alte<br />
Stadt Löwen mit architektonischen Sehenswürdigkeiten<br />
geschaut zu haben.<br />
Brüssel ist eine Fremdenstadt, aber der<br />
Fremde kommt weniger dorthin, um für längere<br />
Zeit Aufenthalt zu nehmen, Ferien zu<br />
verbringen, Saisonwohnung zu beziehen, als<br />
vielmehr, um sich während einiger Tage die<br />
Sehenswürdigkeiten zugänglich zu machen,<br />
einige Sitten und Bräuche eines ihm unbekannten<br />
Volkes kennen zu lernen und mit der<br />
Ueberzeugung oder auch dem Gegenteil,<br />
«Kleinparis» erlebt zu haben, wieder wegzufahren.<br />
Weihnachten ist kein ungünstiger Zeitpunkt,<br />
Eindrücke zu sammeln, ist es doch<br />
zweifellos richtig, dass man ein Volk bei der<br />
Begehung seiner Feste erkennt.<br />
Der Weihnachtsmarkt ist in Brüssel grossstädtisch<br />
organisiert. An der «Rue Neuve»<br />
strahlt uns märchenhafter Glanz aus tausend<br />
Schaufenstern entgegen. Vor den grossen<br />
Warenhäusern «Innovation» und «Bon<br />
Marche» steht kontinuierlich eine vielhundertköpfige<br />
Menge, die neugierig die vielseitige,<br />
künstlerisch erstellte, vielfach höchst<br />
erfindungs- und sinnreiche Weihnachtsausstellung<br />
bewundert. In unzähligen Kinderaugen<br />
leuchtet es hell auf, — Erinnerungen aus<br />
«Tausend und eine Nacht». — Auf dem «Grand<br />
Place», dem ehrwürdigen Zeugen aus mittelalterlicher<br />
Markt- und Zunftverfassung, steht<br />
ein Wald von WeihnacKtstannen, die zum<br />
Verkauf feilgeboten sind. Selbst die materialistischte<br />
aller Einrichtungen, die Börse am<br />
Boulevard Anspach, spürt die unmittelbare<br />
Nähe des Weihnachtsfestes. Das «Barometer»<br />
der undefinierbaren Zahl von Klein- und Gelegenheitsspekulanten<br />
zeigt Geldknappheit<br />
an. Auf dem Programm des «ThSätre de la<br />
Monnaie» am gleichnamigen Platz, dessen Innenausstattung<br />
eine Nachahmung der Pariser<br />
Op£ra ist, ist das Weihnachtsmärchen aufgeführt.<br />
Endlich liest man es ganz so wie bei<br />
uns auf den Gesichtern von Jung und Alt, —<br />
Weihnachten, Freudenfest aller Christen.<br />
Wer mit unsern Weihnachtsbräuchen vertraut<br />
ist, wird eine Brüsseler Weihnachtsnacht<br />
nicht ohne etwelches Befremden miterleben.<br />
Der Vorweihnachtsabend wird von den<br />
meisten Familien im engern Kreise zu Hause<br />
gefeiert. Gegen Mitternacht läuten Klosterund<br />
Kirchenglocken zur Weihnachtsmesse,<br />
welche in manch einer Kapelle oder Kirche<br />
erhebende Bilder und wunderbaren Chorgesang<br />
darbietet. Nach Gottesdienst, kaum<br />
haben die Glocken verklungen, ist auch die<br />
stille Andacht vorbei. Sie macht der äusserlichen<br />
Freude Platz. Tausende und Zehntausende<br />
begeben sich auf hellerleuchtete Strassen<br />
und Plätze, in Cafds und Restaurants, in<br />
Bars und Dancings, welche alle die ganze<br />
Nacht offen stehen. In Ausgelassenheit wird<br />
bis Tagesanbruch die Erinnerung an die Geburt<br />
des Menschensohnes wachgehalten.<br />
Brüssel zählt etwa 850,000 Einwohner, die<br />
zahlreichen Faubourgs miteingerechnet. Es<br />
ist Sitz von Regierung und Parlament und<br />
beherbergt die königliche Familie, eine Abstammung<br />
des Hauses Sachsen-Coburg. Eine<br />
Merkwürdigkeit bietet die Bevölkerung, die<br />
sich zusammensetzt aus Flamen und Wallonen,<br />
Angehörige zweier in Rasse und Kultur<br />
ganz verschiedenartiger Völkerstämme. Zwei<br />
Sprachen begegnen sich hier, prallen oft etwas<br />
unsanft aufeinander, sind sie doch der<br />
Ausdruck des Gefühls- und Geisteslebens<br />
zweier Nationen, einer mehr abwägenden, auf<br />
Tradition bedachten, oft fast kleinlich-spiessbürgerlichen<br />
flämischen und einer eher grosszügigen,<br />
in vielen Fragen, die das Leben angehen,<br />
ziemlich largen bis oberflächlichen<br />
wallonischen. Die französische Sprache dominiert<br />
in den gesellschaftlichen Beziehungen,<br />
in Handel und Industrie, währenddem das<br />
Flämische mehr im Krämer- und Kleinhandel<br />
der unteren Stadt und dann in den meisten<br />
Faubourgs gehandhabt wird.<br />
Brüssel wartet mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten<br />
auf, von denen hier nur einige<br />
der wichtigsten genannt seien. Den Fremden<br />
interessiert am «Grand Place» nicht bloss der<br />
Weihnachtsmarkt, sondern er wird gefesselt<br />
durch die diesen Platz einrahmenden Gebäude.<br />
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