MEDIAkompakt_MK_24
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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />
DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART AUSGABE 02/2018 05. 07. 2018<br />
media<br />
kompakt<br />
NEXT<br />
WAS PASSIERT NACH DER HAFT? INSIGHTS, S.8<br />
DAS SAGEN DIE STERNE FÜR DICH FUTURE, S.20<br />
ACHTUNG, FERTIG, LIEBE! SOCIETY, S.39
2<br />
EDITORIAL<br />
mediakompakt<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
Der Nächste bitte! Was kommt als nächstes? Welche Herausforderung<br />
steht bevor? Wie geht es weiter im Leben? Oder ganz kurz: „NEXT“. So ist<br />
die aktuelle Ausgabe der <strong>MEDIAkompakt</strong> betitelt, die Nummer <strong>24</strong>. Sie wird<br />
von den Studierenden des Studiengangs Mediapublishing der Hochschule<br />
der Medien verantwortet wird. Von der Konzeption über die inhaltliche<br />
Ausgestaltung bis zum Layout, der Produktion und der wirtschaftlichen<br />
Umsetzung. Ganz schön beachtlich, was auf 40 Seiten vorgelegt wird.<br />
Beispiele gefällig? Ein Ehepaar, das seit 55 Jahren verheiratet (und verliebt<br />
wie am ersten Tag) ist, verrät im Interview, was ihr Geheimnis des Glücks<br />
ist. Wie sieht die nahe Zukunft der Mobilität aus? Mit Autos, Car-Sharing<br />
oder ganz anderen Konzepten? Auch dazu gibt es Antworten. Und wie<br />
könnte die digitale Bildung von morgen oder übermorgen aussehen? Dazu<br />
findet sich in dieser Ausgabe von <strong>MEDIAkompakt</strong> eine Analyse. Das<br />
Thema „Bauen in Zukunft“ wird beleuchtet, ebenso wie die Frage nach den<br />
Zukunftsängsten, die viele Menschen umtreibt. Jede Menge Lesestoff, aber<br />
überzeugen Sie sich davon am besten selbst.<br />
Ganz wichtig an dieser Stelle ist ein dickes Dankeschön an die<br />
Anzeigenpartner der <strong>MEDIAkompakt</strong>. Denn ohne ihre Unterstützung<br />
würde es diese Zeitung nicht geben.<br />
Viel Spaß beim Lesen!<br />
Reimund Abel<br />
INSIGHTS<br />
3 Das Eis in deiner Hand<br />
Fear Of Missing Out<br />
4 That‘s amore!<br />
Ein Leben lang mit einem Menschen<br />
6 Wer wohnt da neben dir?<br />
WG-Mitbewohner im Studium<br />
7 Zeit ist Geld<br />
Die Geschichte muss immer weitergehen<br />
8 Nach der Haft<br />
Ein Mörder erzählt aus seinem Leben<br />
10 Weniger arbeiten, mehr erleben!<br />
Diese Buchtipps helfen, um auszubrechen!<br />
12 Völlig ausgebrannt<br />
Frührente wegen Burnout?<br />
13 Der Nächste, bitte!<br />
Wie sich ein Therapeut während der Sitzung fühlt<br />
FUTURE<br />
14 Nächstes Zuhause: Weltraum<br />
Terraforming als Plan B für die Erde?<br />
16 Was macht mobil?<br />
Mobilität für den modernen Menschen<br />
18 In Zukunft autonom<br />
Teilautonom ist erst der Anfang<br />
20 Your next summer!<br />
Tipps für den ultimativen Sommer in Stuttgart<br />
22 Was kommt da auf uns zu?<br />
Die Folgen des Insektensterbens<br />
<strong>24</strong> 21st Century Skills in Schulen<br />
Die Digitalisierung im Bildungssystem<br />
25 Fressen oder gefressen werden<br />
Zahllose Versuchungen im Supermarkt<br />
26 Vom Ast zum Palast<br />
Die nachhaltige Architektur der Zukunft<br />
28 Next Level: Medizin<br />
Operationen in virtueller Realität<br />
29 Die Motivation am Weltuntergang<br />
Dystopische Zukunft vor Realität?<br />
Chefredaktion <strong>MEDIAkompakt</strong><br />
SOCIETY<br />
IMPRESSUM<br />
<strong>MEDIAkompakt</strong><br />
Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />
Hochschule der Medien Stuttgart<br />
HERAUSGEBER<br />
Prof. Christof Seeger; Reimund Abel<br />
Studiengang Mediapublishing<br />
Postanschrift: Nobelstraße 10<br />
70569 Stuttgart<br />
REDAKTION<br />
Reimund Abel<br />
E-Mail: abel@hdm-stuttgart.de<br />
PROJEKTLEITUNG<br />
Jessica D‘Arnese, Laura Holzinger, Laura Cüppers<br />
ANZEIGENVERKAUF<br />
Michelle Jehle, Saskia Heller, Theresa von Zepelin,<br />
Lisa Schuler, Isabell Wieland, Claudia Seibert,<br />
Lisa Hartel,Felix Melzer, Alisa Annese<br />
PRODUKTION<br />
Samuel Trautmann, Lisa Maier, Caroline Komynarski,<br />
Marina Mack, Gabriela Müller, Anzhelika Golenkrin,<br />
Lilia Koch<br />
BILDREDAKTION<br />
Vanessa Santos, Sandra Eberwein<br />
MEDIANIGHT-TEAM<br />
Lena Armbruster, Rosa Abu Dabash, Fabian Öhrle,<br />
Lucca Reder, Luisa Flaig, Anja Gehring, Leonie Tiebel<br />
DRUCK<br />
Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />
Böblinger Straße 70<br />
71065 Sindelfingen<br />
ERSCHEINUNGSWEISE<br />
Einmal im Semester zur Medianight<br />
30 Generation Zukunftsangst!<br />
Bist du bereit?<br />
31 Drum prüfe, wer sich ewig bindet<br />
Beziehungen im Wandel der Zeit<br />
32 Regional, gesund und voll im Trend<br />
Gründe, nach regionalen Waren zu greifen<br />
34 Zero Waste in Stuttgart<br />
Maßnahmen gegen die Vermüllung der Meere<br />
35 Von Apple-Jüngern und Sneaker-Sammlern<br />
Über den Markenfetisch<br />
36 Stilles Örtchen, oder doch nicht?<br />
Die Entscheidung vor der Tür<br />
37 Entscheide! Dich! Jetzt!<br />
Tipps gegen die Unentschlossenheit<br />
38 Digitalisierung trifft Kirche<br />
Welche Zuflucht bietet die Religion?<br />
39 Liebe los!<br />
Nächstenliebe in der Praxis
2/2018<br />
INSIGHTS<br />
3<br />
Das Eis in<br />
deiner Hand<br />
FOMO, Fear Of Missing Out: Ein Phänomen, das<br />
immer mehr Menschen erfasst. Nur nichts verpassen,<br />
ja keinen Trend verschlafen. Immer auf dem Sprung<br />
sein. Aber brauchen wir das wirklich? Eine Analyse.<br />
VON ALISA ANNESE<br />
Das Handy klingelt. Flo fragt, ob du Lust<br />
auf einen Grillabend hast. Noch<br />
spontan zum Supermarkt und dann ab<br />
zum Grundstück. Coole Leute, schönes<br />
Wetter, gute Musik und angenehme<br />
Stimmung. Dir geht es gut, du hast eine tolle Zeit.<br />
Solange, bis das Smartphone brummt. Ein paar<br />
Leute aus deiner alten Klasse haben auf Facebook<br />
und Insta ein Bild gepostet: feiernde Meute auf<br />
dem Felix Jaehn-Konzert. Du wirst unruhig, kein<br />
Bock mehr auf Grillen. Wieso bist du nicht auch<br />
auf einem coolen Event? Dieses ständige Gefühl,<br />
etwas zu verpassen, und das moderne Phänomen<br />
dahinter, hat mittlerweile einen Namen: FOMO,<br />
Fear Of Missing Out. Doch was genau ist FOMO<br />
eigentlich? Und wie sehr hat es sich auch in dein<br />
Leben geschlichen?<br />
„Wir wollen die<br />
ganze Welt haben<br />
und dabei nichts<br />
verpassen.“<br />
Wie kann es sein, dass durch Social Media<br />
deine Laune von top auf flop geht, fragt man sich.<br />
Dan Ariely, ein amerikanisch-israelischer Psy -<br />
chologe, erklärt es so: Wir messen unser Glück<br />
nicht nur daran, wie es für uns gerade ist.<br />
Vielmehr hängen wir dem nach, wie es hätte sein<br />
können. What if? Das heißt, wenn wir nicht<br />
wüssten, dass Bekannte gerade auf einem coolen<br />
Konzert sind, würden wir einfach den Grillabend<br />
ge nießen. Oder auch mal einen Tag allein auf der<br />
Couch mit Ben & Jerry‘s.<br />
Aber durch die Bilder, die wir unreflektiert Tag<br />
für Tag konsumieren, meinen wir zu wissen, dass<br />
es etwas Besseres für uns gibt. In unserer<br />
Vorstellung sehen wir unsere Welt auf einer<br />
höheren Ebene, eine spaßigere, perfektere Welt.<br />
Der Kontrast zwischen der Welt in unserer Vor -<br />
stellung und der harten Realität macht uns sehr<br />
unzufrieden und unglücklich, manchmal gerade -<br />
zu depressiv. Und zwar selbst dann, wenn unser<br />
Leben eigentlich wirklich toll ist.<br />
Unsere Generation tanzt zu einer ganz eigenen<br />
Melodie. Wir arrangieren unser Essen, um ein Bild<br />
für Social Media zu machen. Und posten Bilder,<br />
die uns makellos an Traumstränden oder auf Par -<br />
tys zeigen. „Wir teilen alles“, heißt es. Doch in<br />
Wirklichkeit ist Social Media kein Abbild der<br />
Realität. In Wirklichkeit ist es die Illusion eines<br />
scheinbar perfekten Lebens. Oder würdest du das<br />
un vorteilhafte Bild von dir mit Doppelkinn pos -<br />
ten? Oder deine Probleme und Schwächen öffent -<br />
lich breit zu treten?<br />
Auch vor Beziehungen macht das Phänomen<br />
FOMO keinen Halt. Wir streben nach dem<br />
Perfekten. Wir schauen uns Hollywood-Streifen<br />
an. Und strahlende Paare auf Facebook und Insta.<br />
Und fragen uns mit Blick auf unsere Beziehung:<br />
Gibt es vielleicht etwas Besseres? Etwas, das uns<br />
mehr erfüllen oder glücklicher machen würde<br />
und unsere Bedürfnisse erfüllt?<br />
Vielmehr geht es darum, die eigene kleine per -<br />
fekte Welt zu entdecken. Glücklich darüber zu<br />
sein, einen liebenswerten Menschen an seiner Sei -<br />
te zu haben. Fähig zu sein, das wirklich zu sehen,<br />
zu genießen und wertzuschätzen. Das macht zu -<br />
frieden und „satt“.<br />
Wie in diesem Beispiel. Ein Vater geht mit<br />
seinen Kindern in die Stadt, will ihnen ein Eis<br />
ausgeben. Erdbeere, Vanille und Schokolade!<br />
Freudestrahlend nehmen die Kleinen das Eis ent -<br />
gegen. Dann sehen sie die Süßigkeiten, die es<br />
sonst noch im Laden gibt. Plötzlich sind sie unzu -<br />
frieden. Jeder will noch was Süßes. Da verrät<br />
ihnen der Vater sein Geheimnis vom glücklichen<br />
Leben. „Ihr habt jetzt ein Eis in euren Händen. Ge -<br />
nießt es, seid glücklich, dass ihr eins habt. Wieso<br />
schaut ihr nach dem, was ihr nicht habt? Die<br />
anderen Süßigkeiten habt ihr jetzt nicht. Wenn<br />
ihr euch nicht auf das einlasst, was ihr in eu ren<br />
Händen haltet, sondern nur nach dem anderen<br />
schaut, wird euer Eis wegschmelzen und ihr wer -<br />
det keinen Genuss mehr daran haben können.<br />
Also habt Freude an eurem süßen, köstlichen Eis.<br />
Schmeckt es und genießt es.“<br />
Foto: Unsplash
4 INSIGHTS<br />
mediakompakt<br />
Fotos: Privat<br />
That’s amore!<br />
Ein Leben lang mit einem Menschen zusammen sein? Für viele unvorstellbar. Irene<br />
und Gino Carboni aus Leonberg sind seit 55 Jahren verheiratet und verliebt wie am<br />
ersten Tag. Was ist das Rezept einer glücklichen Ehe? Ein Gespräch.<br />
VON JESSICA D’ARNESE<br />
mediakompakt: Was ist das Rezept für da s Eheglück?<br />
Gino Carboni: Auf jeden Fall ist Geduld eine wich -<br />
tige Zutat.<br />
Irene Carboni: Genau, Geduld gemischt mit Ver -<br />
ständnis und Vertrauen. Und natürlich Liebe!<br />
mediakompakt: Wer hat das Sagen in der Ehe und<br />
wie äußert sich das?<br />
Irene: Es war eigentlich immer ausgeglichen. Jetzt<br />
im höheren Alter bestimme ich ein biss chen mehr<br />
als er. Das zeigt sich dadurch, dass ich alle<br />
Angelegenheiten und Termine organisiere.<br />
Gino: Gleich geblieben ist, dass wir mit den<br />
wichtigen Entscheidu ngen immer beide einver -<br />
standen sein müssen.<br />
mediakompakt: Was schätzen Sie besonders an dem<br />
anderen und was nicht?<br />
Irene: Gino ist ein großartiger Hausmann, er hilft<br />
immer. Von seiner Mutter hat er als kleiner Junge<br />
viel über Haushalt und Küche gelernt. Seine<br />
Ungeduld ist etwas, das mich manchmal nervt.<br />
Gino: An Irene gefällt mir alles, wir haben uns<br />
einfach aneinander gewöhnt.<br />
mediakompakt: Wie sieht das gemeinsame Leben<br />
aus?<br />
Irene: Wir führen auch heute noch ein sehr<br />
erfülltes und aktives Leben. Wir nutzen den Tag<br />
und gehen viel spazieren, machen Ausflüge,
2/2018 INSIGHTS<br />
5<br />
kochen zusammen, verbringen Zeit mit der Fami -<br />
lie und hören täglich Musik.<br />
mediakompakt: Können Sie jeweils von einer posi -<br />
tiven Erinnerung aus Ihrer Ehe erzählen?<br />
Irene: Ich erinnere mich besonders an die Gebur -<br />
ten unserer beiden Töchter und an die Zeit, in der<br />
sie aufwuchsen.<br />
Gino: Das waren auch für mich sehr schöne Zeiten<br />
voller Freude.<br />
mediakompakt: War es Liebe auf den ersten Blick?<br />
Gino: Als ich sie das erste Mal sah, war ich 23 Jahre<br />
alt und mit einem Freund im Park in Freudenstadt<br />
spazieren. Ich fragte sie direkt nach dem Weg, was<br />
nur ein Vorwand war. Mit ihrem blonden Haar<br />
und den strahlend blauen Augen hat sie mir sofort<br />
gefallen.<br />
Irene: Damals war ich 19 Jahre alt und dachte:<br />
Wow, ein hübscher Kerl. Wir verabredeten uns<br />
dann zum Tanzen, wo wir uns richtig kennen -<br />
lernten.<br />
„Er war mein<br />
erster und mein<br />
einziger Mann.“<br />
mediakompakt: Gab es Hürden, die zu überwinden<br />
waren, um zusammen sein zu können?<br />
Gino: Ich kam 1959 als italienischer Gastarbeiter<br />
nach Deutschland. Im norditalienischen Verona<br />
waren wir einer deutschen Stadt zugeteilt worden.<br />
Dass ich nach Freudenstadt kam, wo ich später<br />
Irene traf, war purer Zufall. Ich arbeitete als<br />
Bauarbeiter und schickte Geld nach Hause. Die<br />
Verträge waren befristet, so war es nie sicher,<br />
wann ich zurückgehen würde. Als es soweit war,<br />
schrieben Irene und ich uns Briefe. Anschließend<br />
arbeitete ich wieder in Deutschland, wo ich<br />
irgendwann endgültig bleiben durfte. Für uns galt<br />
es aber ganz andere Hürden zu überwinden.<br />
Meine Mutter hatte eine andere Frau für mich<br />
ausgewählt: eine italienische Bäuerin aus meiner<br />
Heimat. Irene war deutsch und für meine Mutter<br />
eine Fremde.<br />
Irene: Meine deutsche Familie, vor allem meine<br />
Mutter, hatte etwas gegen unsere Verbindung, da<br />
Gino ein Italiener ist. Ich durfte ihn zwar<br />
mitbringen, aber nur bei Dunkelheit, damit es<br />
niemand mitbekam. Damals hatte man in<br />
Deutschland Italienern gegenüber eine starke<br />
Abneigung, geprägt durch den Krieg. Es gab auch<br />
Probleme, weil Gino katholisch und ich<br />
evangelisch bin. Heiraten unter diesen Um -<br />
ständen war früher nicht so leicht. Viele wollten<br />
uns umstimmen.<br />
mediakompakt: Waren Sie jeweils der erste und<br />
einzige Partner für den anderen?<br />
Irene: Er war mein erster und mein einziger Mann.<br />
Gino: Ich hatte vor der Irene keine feste Partnerin.<br />
In Italien hatte ich als kleiner Junge eine<br />
Freundin, das war nichts Ernstes.<br />
mediakompakt: Wie lief der Heiratsantrag ab?<br />
Irene: Als er mir sagte, dass er mich heiraten<br />
möchte, saßen wir auf einer Bank im schönen<br />
Schwarzwald mit Blick auf den Bärensee. Ich habe<br />
sofort Ja gesagt. Zu dem Zeitpunkt kannten wir<br />
uns knapp drei Jahre, ich fand es gut früh zu<br />
heiraten.<br />
mediakompakt: Was waren Ihre Erwartungen an die<br />
gemeinsame Ehe?<br />
Gino: Wir haben gar nicht nachgedacht, wir waren<br />
einfach verliebt. Gewusst haben wir, dass wir auf<br />
jeden Fall Kinder haben möchten.<br />
Irene: Genau. Uns war klar, dass wir bis zur Geburt<br />
des ersten Kindes beide arbeiten müssen, um alles<br />
anzuschaffen. Angefangen bei der Wasch -<br />
maschine.<br />
„Kein Mensch ist<br />
perfekt.“<br />
mediakompakt: Wann wurde geheiratet?<br />
Irene: Am 4. Oktober 1962 in einer Kirche in Ita -<br />
lien, zudem noch standesamtlich. Gefeiert haben<br />
wir bei Ginos Mutter mit leckerem Lamm und<br />
einer mehrstöckigen Torte. Später spielte Ginos<br />
Onkel Ziehharmonika.<br />
mediakompakt: Immer mehr Paare lassen sich<br />
scheiden, was denken Sie darüber?<br />
Gino: Die frühe Trennung vieler Paare spiegelt<br />
Egoismus wider.<br />
Irene: Früher hat man weniger schnell aufgegeben.<br />
Der Anspruch der Menschen ist gestiegen. Ein<br />
hoher Lebensstandard kostet Geld, was dazu<br />
führt, dass Mann und Frau viel arbeiten gehen<br />
müssen. Der Zeitmangel und der Stress wirken<br />
sich negativ auf die Ehe aus. Zudem finde ich,<br />
junge Menschen sollten sich vor Augen führen,<br />
dass kein Mensch perfekt ist. Dann würden sie<br />
vielleicht mehr Kompromisse eingehen. Ob man<br />
heiraten möchte oder nicht, muss jeder für sich<br />
entscheiden. Ein Leben ohne Ehe wäre für uns<br />
nichts gewesen, viel zu langweilig (lacht).<br />
mediakompakt: Haben sich die Erwartungen an die<br />
Ehe erfüllt?<br />
Gino: Ja, sicher!<br />
Irene: Ja, unbedingt. Wir sind sehr glücklich, dass<br />
alles so gelaufen ist.<br />
Irene und Gino<br />
Carboni lieben<br />
sich heute noch<br />
genauso wie<br />
früher.
6 INSIGHTS<br />
mediakompakt<br />
Wer wohnt da neben dir?<br />
Viele haben in ihrem Studium ihre WG-Erfahrungen gesammelt. Sei es im<br />
Wohnheim, einer Verbindung oder einer privaten WG. Ein Psychogramm<br />
von Mitbewohnern, die jeder schon mal erlebt hat.<br />
VON LUISA FLAIG<br />
Der Schnorrer<br />
Jeder kennt ihn, und wiklich<br />
jeder verabscheut ihn. Er ist der<br />
Schnorrer. Er bedient sich an<br />
anderer Mitbewohner Eigentum<br />
nur all zu gerne. Sei es das<br />
Waschmittel, ein Regenschirm<br />
oder die Lebensmittel. Er liegt<br />
immer auf der Lauer, immer will<br />
er von etwas profitieren. Er<br />
wartet nur darauf, bis er wieder<br />
et was ergattern kann. Er geht<br />
allen, wirklich allen, tierisch auf die Nerven und<br />
ist in jeder WG gefürchtet. Oder, noch schlimmer,<br />
er wird gar gehasst. Aber du findest ihn leider<br />
überall.<br />
Das Muttersöhnchen<br />
Er hat die Wäsche noch nie<br />
selbst gemacht, da er jedes<br />
Wochenende nach Hause zu<br />
seiner Mama fährt. Es heißt, er<br />
wisse nicht einmal, wo die<br />
WG-Waschmaschine steht.<br />
Wenn er nicht mit Mama tele -<br />
foniert, im Fitness-Studio oder<br />
an der Uni ist, nimmt er ab und<br />
zu an gemeinschaftlichen Akti -<br />
vi täten teil. Seine Koch kennt -<br />
nisse beschränken sich maximal auf Maultaschen<br />
aus der Packung. Soll er mal putzen, scheitert er<br />
schon bei dem Versuch, den Staubsaugerbeutel zu<br />
tauschen.<br />
Der Ordnungsfreak<br />
Ordnung ist das halbe Leben!<br />
Das ist das Motto dieses<br />
Mitbewohners, dessen Puls so -<br />
fort in die Höhe schnellt, wenn<br />
die Spülmaschine falsch ein -<br />
geräumt wurde oder er ein Haar<br />
im Abfluss der Dusche erkennt.<br />
Er nimmt den Putzplan sehr<br />
genau. Und wenn du das auch<br />
tust und immer pünktlich in die<br />
WG-Kasse einzahlt, so wirst du<br />
mit ihm keine Probleme bekommen. Der Messie<br />
und der Ordnungsfreak sind wegen ihres komplett<br />
unterschiedlichen Sauber keits empfin dens natür -<br />
liche Feinde.<br />
Die WG-Mama<br />
Sie zeichnet sich durch das<br />
Führen der Kasse oder das<br />
Organisieren des Putzplans aus.<br />
Und sie hat immer ein offenes<br />
Ohr für den Herzschmerz oder<br />
die Sorgen des Alltags ihrer Mit -<br />
bewohner. Ihre Tür steht jeder -<br />
zeit für einen Smalltalk offen.<br />
Dadurch kennt sie die Ter min -<br />
kalender aller anderen aus- wen -<br />
dig. Eindeutig zu weit geht sie<br />
allerdings, wenn sie dich fragt, wann du letzte<br />
Nacht heimgekommen ist oder wann du mit dem<br />
Lernen für die nächste Klausur anfängst.<br />
Der Snob<br />
Er ist kein typischer Student,<br />
denn er lebt auf großem Fuß. Er<br />
muss stinkreiche Eltern haben.<br />
Sein Zimmer ist vollgepropft mit<br />
technischen Gadgets, die zu -<br />
sammen den Gegenwert eines<br />
super teuren Sportwagens erge -<br />
ben. Außerdem findet sich teu -<br />
rer Likör bei ihm, den er sich<br />
gelegentlich als Digestif nach ei -<br />
nem aufwendig gekochten Din -<br />
ner gönnt. Seine Vorliebe für Sterne-Gastronomie<br />
lässt ihn die Aldi-Einkäufe seiner Mitbewohner<br />
verschmähen.<br />
Der Säufer<br />
Es ist Montagabend, und alle<br />
Mitbewohner erholen sich vom<br />
Wochenende, doch er, der<br />
Säufer, sitzt schon wieder mit<br />
dem halben Studiengang in der<br />
Küche und vernichtet ein Bier<br />
nach dem anderen. Was ist wohl<br />
seine neueste Er rungenschaft für<br />
noch schnelleres und noch<br />
effizienteres Trinken? Der Bier -<br />
trichter. Er nimmt es mit dem<br />
Studium nicht so genau, denn dafür hat er keinen<br />
Kopf, da er viel zu oft zu verkatert ist, um Vor -<br />
lesungen zu besuchen.<br />
Das Phantom<br />
Manche Mitbewohner haben<br />
ihn noch nie gesehen und<br />
wissen nicht, wie er aussieht. Er<br />
ist immer unterwegs ist, hat<br />
keine Zeit am WG-Leben teil -<br />
zuhaben. Er wohnt faktisch nur<br />
deshalb mit dir unter einem<br />
Dach, weil er nicht im Auto<br />
schlafen möchte. Wenn er sein<br />
Zimmer nicht gerade an einen<br />
komischen Untermieter abgege -<br />
ben hat und die WG mit seiner Anwesenheit<br />
beglückt, hat er viel zu erzählen. Bei dem<br />
Phantom bleibt zu hoffen, dass er bald aus- und<br />
ein besserer Mitbewohner einzieht.<br />
Der Messie<br />
Wenn du das Zimmer dieses<br />
Mitbewohners je zu Gesicht<br />
bekommen wirst, dann nur<br />
bei gedämmten Licht und<br />
mit der Ausrede: „So sieht es<br />
nicht immer aus!” Eine<br />
glatte Lüge, denn der Messie<br />
findet immer irgendwelche<br />
Ausreden, weshalb er nicht<br />
putzen muss. Auch die Klei -<br />
der des Messies können<br />
ohne jede Schwierigkeiten Wochen oder sogar<br />
meh r ere Monate auf dem Wäscheständer ver -<br />
weilen, ohne dass sie abgehängt wird. Er hat<br />
einfach Wichtigeres zu tun.<br />
Der Öko-Freak<br />
Nicht nur sein veganes Ess -<br />
verhalten unterscheidet ihn<br />
komplett von den anderen.<br />
Sobald ein Kleidersammel-Flyer<br />
ins Haus flattert, ist er der erste,<br />
der seine alte Klamotten vor die<br />
Tür stellt, denn man muss ja an<br />
seine Nächsten denken. Und wir<br />
leben sowieso alle im Überfluss.<br />
Dein Facebook-Feed wird von<br />
ihm mit PETA- und anderen<br />
Aktivisten-Videos zum Thema Tierschutz und<br />
Umwelt zugemüllt. Grausam! Willst du mit ihm<br />
eine Diskussion über Politik führen, sei bloß<br />
gewarnt!
2 /2018 INSIGHTS<br />
7<br />
Zeit ist Geld<br />
Die Geschichte muss immer weitergehen. Es scheint,<br />
als würden Medienunternehmen nur ihre Zeit absitzen<br />
und mit gut laufenden Reihen in Literatur, TV und Gaming<br />
ihr Geld machen. Oder sind wir selbst daran schuld?<br />
VON THERESA VON ZEPELIN<br />
Zeit ist Geld.“ So sagt es ein deutsches<br />
Sprich wort, und was Sprichwörter sagen,<br />
soll be kanntlich ja seine Richtigkeit<br />
haben. Genauso sehen das wohl auch<br />
Medienunternehmen. Ein Phänomen ist<br />
die Weiterführung gut laufender Reihen, sei es in<br />
der Literatur, TV oder im Gaming. Übrigens ist das<br />
keine Erfindung der Neuzeit. Das sieht man an<br />
den endlosen Reihen von Asterix-Comics, Agatha<br />
Christies unzähligen Krimis über Miss Marple und<br />
Hercule Poirot. Oder an Doctor Who und seinen<br />
seit den 60er Jahren andauernden Abenteuern.<br />
Aber auch heute schrecken die Medien nicht<br />
zurück, eine Reihe so lange fortzuführen, wie sie<br />
beim Kunden gut ankommt. Großer Vorteil: Alle<br />
Titel können gemeinsam vermarktet werden, das<br />
spart Marketingkosten. Es hat sich fast schon zu<br />
einem Sport entwickelt, die Kuh so lange zu<br />
melken wie möglich. Anders gesagt: Dem Kon -<br />
sumenten wird auch noch das letzte Geld aus der<br />
Tasche gezogen.<br />
Verlage klopfen sich vermutlich auf die<br />
Schultern, da sie es schaffen, zum Beispiel die Kin -<br />
der und Jugendlichen weiter und weiter zum<br />
Lesen zu animieren. Dann wird aus einem gut<br />
laufenden Titel ganz schnell eine Massenproduktion<br />
von Titeln. Ganz oben in der Liste<br />
sind Reihen wie „Gregs Tagebuch“ und „Liliane<br />
Susewind“. Fernseh-Produzenten sind stolz auf<br />
ihre große Fan-Base und verdienen nebenbei eine<br />
beachtliche Summe mit Merchandise-Artikeln.<br />
Das beste Beispiel sind Serien wie „Supernatural“,<br />
hier sind es aktuell 13 Staffeln. Oder eben die<br />
Sci-Fi-Serie „Doctor Who“, bei der allein die<br />
moderne Neuproduktion elf Staffeln umfasst. Und<br />
bei Spiele-Entwicklern sieht es ähnlich aus. Hier<br />
wird nicht nur der jeweilige Folgetitel immer teu -<br />
rer, sondern es werden jede Menge Zusatzinhalte<br />
(DLC) im Spiel angeboten. Ein aktuelles Beispiel<br />
dafür ist Ubisoft. Mit seinem brandneuen Spiel<br />
„Assas sins Creed: Origins“ verdoppelte das fran -<br />
zösische Unternehmen seine Erstverkaufszahlen<br />
im Vergleich zum Vorgänger. Nebenher nimmt<br />
Ubi soft mit Zusatzinhalten mehr ein als mit dem<br />
Verkauf des Spiels.<br />
Damit ist aber noch lange nicht Schluss.<br />
Heutzutage werden die Medien crossmedial<br />
vermarktet. Das bedeutet, zum neuen Spiel<br />
kommt ein Buch heraus, zum Buch wird eine App<br />
auf den Markt gebracht, und so weiter. So entsteht<br />
ein Selbstläufer, wie es Harry Potter, der<br />
bekannteste Zauberer der Literatur, zeigt. Ein und<br />
derselbe Inhalt wird einfach wieder und wieder<br />
und wieder vermarktet. Sei es als illustrierte<br />
Ausgabe oder als Jubiläumsausgabe mit dem<br />
neuem Cover.<br />
Der neueste Clou von Warner Brothers,<br />
Inhaber der Vermarktungs- und Filmrechte, ist<br />
eine App aus eigenem Hause. Sie lässt den Spieler<br />
in die Zaubererwelt eintauchen. Die App selbst ist<br />
wird kostenlos angeboten, durch halbdurch -<br />
sichtige Mikrotransaktionen, wie zum Beispiel<br />
den Kauf von Energie, wird dem Spieler das Geld<br />
auf magische Weise entzogen.<br />
Das Schlimmste: Die Zielgruppe sind nicht<br />
Erwachsene, sondern Kinder und Jugendliche, die<br />
bereit sind, ihr ganzes Taschengeld dafür<br />
auszugeben. Wie war das noch mit der Zeit und<br />
dem Geld? „Zeit ist Geld.“ Geld, das von den<br />
Taschen der Käufer in die der Unternehmen fließt,<br />
während sie sich nur Zeit nehmen müssen.<br />
Eigentlich gar nicht so dumm, denn trotz allem<br />
sind sie alle Wirtschafts unternehmen, die am<br />
Ende des Tages Plus machen müssen. Wir Kunden<br />
beschweren uns bei jedem neu erschienenen Teil,<br />
dass es die bösen Medienkraken nur auf unsere<br />
Kohle abgesehen haben, kaufen dann jedoch<br />
fleißig weiter.<br />
Die große Frage dabei: Hat das noch etwas mit<br />
Qualität zu tun? Oder lassen wir uns gerne einfach<br />
immer wieder in dieselben Welten entführen, egal<br />
um welchen Preis? Persönlich darf ich mir da<br />
selbst an die eigene Nase fassen, wenn ich die<br />
endlos langen Buchreihen in meinem Regal so<br />
anschaue.<br />
Doch inzwischen merke ich, dass ich immer<br />
häufiger meine Augen verdrehe, wenn hinten auf<br />
dem Buchrücken mal wieder „Die grandiose<br />
Fortsetzung der Bestseller-Reihe“ steht. Vielleicht<br />
sollte jeder von uns sich dieses Dilemma bewusst<br />
machen und vermehrt zu Einzeltiteln greifen,<br />
statt immer mehr Fortsetzungen zu verlangen.<br />
Denn Veränderung fängt im Kleinen an.<br />
Fortsetzungen und lange Reihen werden trotzdem<br />
auch weiterhin große Erfolge feiern, aber geben<br />
wir auch den Einzeltiteln mal wieder eine Chance,<br />
groß raus zu kommen.<br />
Foto: Trendreport
8<br />
INSIGHTS<br />
mediakompakt<br />
Nach<br />
der Haft<br />
Henry-Oliver Jakobs aus<br />
Hamburg erzählt im Interview<br />
von seiner Vergangenheit als<br />
Mörder, aus seinem Leben in<br />
Gefangenschaft und warum er<br />
heute Jugendlichen hilft, nicht<br />
auf die schiefe Bahn zu geraten.<br />
VON LISA HARTEL<br />
Foto: Michael Rauhe
2/2018 INSIGHTS<br />
9<br />
mediakompakt: Herr Jakobs, sie saßen fast zwei<br />
Jahrzehnte in Haft. Warum?<br />
Jakobs: Mit 25 Jahren wurde ich wegen Mord,<br />
versuchtem Mord, Raub und Vertuschung einer<br />
Straftat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />
verurteilt. Mitte der Neunziger habe ich auf zwei<br />
Menschen geschossen, eines der Opfer verstarb.<br />
Ich saß elf Jahre im Hochsicherheitsbereich im<br />
berüchtigten Hamburger Gefängnis „Santa Fu“.<br />
Darauf folgte die Sozialtherapie, Untersuchungs -<br />
haft und drei Jahre im offenen Vollzug. Seit 2014<br />
bin ich auf Bewährung frei.<br />
mediakompakt: Das andere Opfer hat schwer ver -<br />
letzt überlebt. Sind sie sich nach der Tat jemals<br />
begegnet?<br />
Jakobs: Nein.<br />
mediakompakt: In welchem Verhältnis standen sie<br />
zu den Opfern?<br />
Jakobs: Ich kannte meine beiden Opfer seit Jahren,<br />
und dies geschäftlich wie auch ein wenig privat.<br />
mediakompakt: Wie würden sie ihr 25-jähriges Ich<br />
beschreiben?<br />
Jakobs: Ich komme aus einer Familie, die auf St.<br />
Pauli einige Geschäfte betrieb. Unsere Familie war<br />
sehr leistungsorientiert, die Geschäfte standen<br />
immer im Vordergrund. Wenn ich jetzt sage, ich<br />
war ein Straßenkind, hört sich das seltsam an. Ich<br />
hatte immer genug Essen und Kleidung. Was es<br />
nicht gab, war familiäre Wärme.<br />
Ich habe mit sieben Jahren angefangen, Dieb -<br />
stähle zu begehen. Heute kann ich sagen, dass ich<br />
das Strafgesetzbuch bis auf Sexual straftaten und<br />
Menschenhandel durchlaufen habe. Bis zu meiner<br />
Verurteilung habe ich leider nie negative Konse -<br />
quenzen für mein Handeln er fahren.<br />
mediakompakt: Geben sie ihrem Umfeld deshalb<br />
eine Mitschuld, weil sie nie erwischt oder gestoppt<br />
wurden?<br />
Jakobs: Nein. Auf gar keinen Fall. Die Schuld bei<br />
anderen zu suchen, halte ich für sehr fragwürdig.<br />
Ich wusste, es hat mich gereizt. Durch die Gewalt<br />
habe ich mein Selbstbewusstsein aufgebaut. Das<br />
war meine persönliche Entscheidung.<br />
mediakompakt: Wann sind sie zum ersten Mal mit<br />
Schusswaffen in Berührung gekommen?<br />
Jakobs: Mit 18, glaube ich.<br />
Jakobs: Sehr monoton. Man steht morgens auf, es<br />
gibt kein Wecken. Das ist ein Irrglaube, denn es ist<br />
nur eine Lebendkontrolle. Etwa fünfmal so viele<br />
Menschen wie draußen nehmen sich im Knast das<br />
Leben. Dann gibt es Frühstück. Das Essen allge -<br />
mein ist eine Katastrophe. Ein Insasse ist zudem<br />
verpflichtet, während der Haft zu arbeiten.<br />
mediakompakt: War es ihnen wichtig, sich weiter -<br />
zubilden?<br />
Jakobs: Ich habe eine Ausbildung als Maler und<br />
Lackierer gemacht und gehörte zu den elf besten<br />
in Hamburg. Nicht nur im Vergleich mit anderen<br />
Gefangenen, sondern in ganz Hamburg. Danach<br />
habe ich viele Jahre im Gefängnis gearbeitet. So<br />
habe ich versucht, den Kopf etwas anzustrengen.<br />
Anfangs war ich aber sehr aggressiv. Damals habe<br />
ich die Schuld für meine Haft bei anderen gesucht.<br />
mediakompakt: Wie darf ich mir ihre Zelle vor -<br />
stellen?<br />
Jakobs: Der Knast war nie mein Zuhause. Ich wur -<br />
de gegen meinen Willen festgehalten. Aber natür -<br />
lich habe ich versucht, mich wohnlicher einzu -<br />
richten. Ich hatte Gardinen vor dem Fenster,<br />
damit man die Gitter nicht sieht, eigene Bett -<br />
wäsche und einen Fernseher. Alles, was ich mir<br />
durch meinen geringen Verdienst eben leisten<br />
konnte.<br />
mediakompakt: Und persönliche Dinge wie Fotos?<br />
Hingen welche an den Wänden?<br />
Jakobs: In den ersten Jahren ja. Damals war ich<br />
noch verheiratet. Ich habe zwar über all die Jahre<br />
immer Besuch bekommen, aber irgendwann<br />
nahm ich die Fotos ab.<br />
mediakompakt: Gibt es Freundschaften im Ge -<br />
fängnis?<br />
Jakobs: Zum Ende der Haft ja. Aber generell eher<br />
nicht.<br />
mediakompakt: Was war das schlimmste Erlebnis<br />
hinter Gittern?<br />
Jakobs: Während der Haft sind einige Angehörige<br />
verstorben, mein Großvater und mein Vater zum<br />
Beispiel. Vom Tod meines Großvaters habe ich<br />
abends aus dem Fernseher erfahren. Das hat mich<br />
sehr schockiert. Und als mein Vater starb, war es<br />
ähnlich. Die Wärter haben nichts von seinem Tod<br />
erzählt. Sie wussten nicht, wie ich reagiere.<br />
und durch meine langjährige ehrenamtliche Tä -<br />
tigkeit einen neuen Bekanntenkreis aufgebaut.<br />
Dazu gehören heute Polizisten oder auch Sozial -<br />
pädagogen.<br />
mediakompakt: Haben sie noch engeren Kontakt zu<br />
Ihrer Familie?<br />
Jakobs: Sporadisch. Ich führe mein eigenes Leben.<br />
mediakompakt: Ist es schwer, im Gefängnis Gefühle<br />
zuzulassen?<br />
Jakobs: Ein komplexes Thema. Bei mir gab es<br />
dieses Gefühl der emotionalen Abgestorbenheit<br />
nicht erst in der Haft, sondern auch zuvor. Damit<br />
kämpfe ich bis heute.<br />
mediakompakt: Heute helfen sie Jugendlichen,<br />
nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Was moti -<br />
viert sie dazu?<br />
Jakobs: Meine Arbeit ist für mich inzwischen zur<br />
Berufung geworden. Ich mag den Ausdruck Wie -<br />
der gutmachung nicht. Aber ich möchte mich der<br />
Aufklärung widmen. Jugendliche sehen oft das<br />
schnelle Geld, aber langfristig gesehen ist Krimi -<br />
nalität ein Minus geschäft. Es kann nicht funk -<br />
tionieren, endet im günstigsten Fall mit dem<br />
Knast, bei vielen mit dem Tod. Das bewegt die<br />
Jugendlichen. Ich versuche zu erklären, wen man<br />
bei einer Straftat alles zum Opfer macht. Auch die<br />
eigene Familie. Und dass Kriminalität sehr einsam<br />
macht.<br />
mediakompakt: Sind es bereits straffällig gewordene<br />
Jugendliche? Oder arbeiten sie präventiv?<br />
Jakobs: Beides. Im Projekt „Sozialförderndes<br />
Boxen“ arbeiten wir mit tendenziell gefährdeten<br />
Jugendlichen. Im Präventionsunterricht sprechen<br />
wir aber alle Jugendlichen an, weil es wichtig ist,<br />
im jungen Alter aufzuklären.<br />
mediakompakt: Was ist das wichtigste das sie den<br />
Jugendlichen mit auf den Weg geben?<br />
Jakobs: Kriminalität lohnt sich nie. Es zerstört<br />
alles.<br />
mediakompakt: Was wünschen sie sich für ihre Zu -<br />
kunft?<br />
Jakobs: Dass das, was ich jetzt mache, so weiter -<br />
gehen kann. Das ist nicht so einfach, weil der Staat<br />
sich raushält. Wir sind ein gemein nütziger Verein,<br />
der nur über Spenden getragen wird.<br />
mediakompakt: War ihnen beim Schusswechsel<br />
klar, dass sie ihr Opfer töten werden?<br />
Jakobs: Ja. Gewalt ist eine Spirale. Ich habe mit 13<br />
oder 14 Jahren angefangen, körperliche Gewalt<br />
ohne Waffen auszuüben, mit 15 dann mit Mes -<br />
sern und das hat einfach immer zuge nom men.<br />
Machen sie Sport?<br />
mediakompakt: Es könnte mehr sein, aber ja.<br />
Jakobs: Ich vergleiche Gewalt immer mit Sport.<br />
Man fängt klein an und steigert sich immer mehr.<br />
Und irgendwann verliert man das Em pa thie -<br />
vermögen und das Schmerzgefühl.<br />
mediakompakt: Wenn Sie zurückblicken, wie sah<br />
ihr Alltag im Gefängnis aus?<br />
mediakompakt: Hatten sie Angst vor der Freiheit?<br />
Jakobs: Nein. Ich lebe sehr strukturiert und ver -<br />
gleiche das immer mit Hardware und Software.<br />
Erstmal wollte ich mich um die Hardware, also<br />
eine Wohnung und Arbeit kümmern. Später<br />
kamen emotionalere Dinge hinzu. Wie etwa eine<br />
neue Partnerin zu finden.<br />
mediakompakt: Beschreiben sie mir den Tag der<br />
Entlassung? Ist das eine romantische Vorstellung,<br />
dass draußen Menschen auf einen warten?<br />
Jakobs: Meistens ist man da sehr einsam. Auch<br />
deshalb liegt die Rückfallquote bei Erwachsenen<br />
sehr hoch. Das liegt an vielen Faktoren, man<br />
findet schwer einen Arbeitsplatz, eine Wohnung<br />
oder neue Freunde. Ich habe Hamburg verlassen<br />
mediakompakt: Beschreiben sie sich in wenigen<br />
Worten.<br />
Jakobs: Verantwortungsvoll. Ehrlich. Die Welt, in<br />
der ich mich bewege, möchte ich etwas besser<br />
machen. Aber das Wort Gutmensch passt nicht zu<br />
mir.<br />
mediakompakt: Was ist das Beste, was ihnen je pas -<br />
siert ist?<br />
Jakobs: Meine Freundin. Und dass ich diese Arbeit<br />
habe. Die Jugendlichen sind für mich wie meine<br />
Spiegelbilder von damals. Sie profitieren von mir.<br />
Und ich lerne von ihnen.<br />
mediakompakt: Vielen Dank für Ihre Zeit und das<br />
offene Gespräch.
10<br />
INSIGHTS<br />
mediakompakt<br />
Weniger arbeiten, mehr erleben!<br />
Was kommt als NEXT: Studium abschließen! Job finden? Oft ist das der<br />
Einstieg ins Hamsterrad – gefangen in einem Nine-to-five-Arbeitsalltag.<br />
Du willst die Tage bis zur Rente nicht zählen müssen und dein Leben<br />
erleben? Dann helfen diese Buchtipps, um auszubrechen!<br />
VON LENA-MARIE ARMBRUSTER UND ROSA ABU DABASH<br />
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wie zum Beispiel Tango tanzen, Schauspielen in China oder Hongkong, Motorradrennen fahren,<br />
Fremdsprachen erlernen oder einfach nur die Welt bereisen, schafft es der Neue Reiche (wie er die<br />
Zielgruppe und sich selbst bezeichnet) sein eigenes Unternehmen mit nur vierArbeitsstunden in<br />
der Woche erfolgreich zu managen. Wie das gehen soll? Angefangen mit seiner eigenen<br />
persönlichen Geschichte, führt Ferris den Leser Schritt für Schritt durch seine Anleitung zum<br />
einem besseren Leben. Mit Hilfe von vier Schritten, die er Definition, Eliminieren, Automation<br />
und Liberation nennt, soll jeder Mensch in der Lage sein, sein Einkommen um hundert Prozent zu<br />
steigern, seine Arbeitszeit zu halbieren oder zumindest seine Urlaubszeit zu verdoppeln. Der Leser<br />
erfährt dabei nicht nur Ferris per sönlichen Weg dahin, sondern gewinnt<br />
Einblicke über andere Menschen, die tatsächlich einen Ausweg aus ihrem<br />
persönlichen Hamsterrad gefunden haben. Mit viel Humor und gnadenloser<br />
Ehrlichkeit hält uns der Autor den eigenen Spiegel vor die Nase und<br />
konfrontiert uns mit unseren schlimmsten Schweinehunden. Auch wenn es<br />
nicht für jeden möglich ist, die Schritte eins zu eins umzusetzen, bieten die<br />
vielen Tipps und Tricks eine gute Grundlage, um gewisse Situationen in<br />
seinem Leben zu überdenken und vielleicht sogar neu anzupacken.<br />
Timothy Ferris. Die 4-Stunden-Woche. Ullstein Verlag. 352 Seiten. 11,00 EUR<br />
Mit Genehmigung der Ullstein Buchverlage<br />
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2/2018 INSIGHTS<br />
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sicherung?Für Tim Chimoy ist die soziale Absicherung allerdings kein Argument mehr, denn es sei<br />
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Chimoy begleitet den Leser durch das Buch und konfrontiertihn mit<br />
Fragen. Dadurch soll der Leser zum Nachdenken animiert werden und für<br />
sich selbst erörtern, wo er sich selbst in der Zukunft sieht. Dabei steht im<br />
klaren Fokus: Ein Job ist nicht nur dafür da, um Geld zu verdienen. Es geht<br />
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12<br />
INSIGHTS<br />
mediakompakt<br />
Foto: Pixabay<br />
Völlig ausgebrannt<br />
Ständiger Termindruck, immer mehr Überstunden, zu wenig Sicherheit. Die Zahl der<br />
Menschen in Deutschland, die wegen psychischer Probleme in Frührente gehen,<br />
hat sich in den vergangen 20 Jahren verdreifacht. Einer der Gründe dafür: Burnout.<br />
VON ANJA GEHRING<br />
Burnout ist ein bisschen so wie<br />
Radioaktivität – man sieht es nicht,<br />
man riecht es nicht, man schmeckt es<br />
nicht. Und wenn man es fühlt, ist es<br />
meistens zu spät“, sagt Holger Kracke<br />
(48). Kracke beschäftigt sich seit acht Jahren mit<br />
der Krankheit, ist seit kurzem Bundesvorsitzender<br />
des Vereins für Burnout-Prävention und Pro -<br />
phylaxe. Der Verein ist der Überzeugung, dass<br />
viele Fälle mit der richtigen Vorbeugung<br />
verhindert werden könnten. „Als ich mich mehr<br />
mit dem Thema Burnout beschäftigt habe, fiel mir<br />
auf, wie wenig wir darüber wissen. Wie selten wir<br />
zuordnen können, warum es uns so geht, wie es<br />
uns geht.“<br />
Dieses Nicht-Zuordnen-Können hat bei Jürgen<br />
Schiller* am 1. Februar vor vier Jahren zum<br />
Zusammenbruch geführt. Heute weiß er, dass er<br />
zu vor fast sechs Monate lang an Burn out-<br />
Symptomen wie Angstzuständen und Schwindel -<br />
anfällen gelitten hat, bevor er nach einer Panik -<br />
attacke ins Krankenhaus kam.<br />
„Ich habe die Symptome falsch gedeutet,<br />
dachte, das geht wieder vorbei. An psychische<br />
Probleme habe ich nicht gedacht.“ Der heute<br />
52-Jährige kommt mit Verdacht auf Herzinfarkt<br />
ins Krankenhaus. Dort heißt es, er sei völlig ge -<br />
sund. Doch sein Hausarzt stellt einen Tag nach<br />
dem Zusammenbruch die Diagnose Burnout. „Im<br />
ersten halben Jahr danach erlitt ich täglich zwei<br />
bis drei Panikattacken. Es bildet sich eine Angst<br />
vor der Angst. Wenn man alleine oder in un -<br />
gewohnter Umgebung ist, reichen kleinste An -<br />
zeichen, wie leichte Atemprobleme, um eine<br />
Attacke auszulösen.“<br />
Die Bundesanstalt für Ar beits schutz und<br />
Arbeitsmedizin definiert Stress so: „Ein als<br />
unangenehm empfundener Zustand, der von der<br />
Person als bedrohlich, kritisch, wichtig und<br />
unausweichlich empfunden wird. Er entsteht<br />
besonders dann, wenn die Person einschätzt, dass<br />
sie ihre Aufgaben nicht bewältigen kann“.<br />
Eine Definition von Burnout könne laut<br />
Holger Kracke ganz ähnlich aussehen: „Alle<br />
Menschen, die an Burnout leiden, werden im<br />
Laufe der Krankheit im Grunde genommen diese<br />
zwei Sätze sagen: ,Ich kann nicht‘ und ,Ich schaffe<br />
es nicht‘.“<br />
Vor seiner Krankheit arbeitete Jürgen Schiller<br />
täglich zwischen zehn und zwölf Stunden als Ab -<br />
teilungsleiter in einer Bank, war im Gemeinderat,<br />
Vorstandsmitglied und Finanzwart eines Fuß -<br />
ballvereins. „Heute weiß ich, dass ich notorisch<br />
überlastet war, selbst kleine Erholungspausen<br />
fehlten.“ Der Stress führte zu einer ständigen<br />
Cortisol-Ausschüttung, also der Produktion eines<br />
Stress-Hormons, das zur Energiegewinnung bei -<br />
trägt. Der Körper kam nicht zur Ruhe. Nach der<br />
FAKTEN<br />
Diagnose begann sofort die Behandlung. Durch<br />
Gespräche mit Psychologen lernt Jürgen Schiller,<br />
wie wichtig es ist, auf seinen Körper zu achten und<br />
sich Ruhepausen zu gönnen. Zwischenzeitlich<br />
arbeitet er wieder. Statt zwölf Stunden am Tag aber<br />
nur noch acht, und auch nicht mehr als Ab -<br />
teilungsleiter. Seine Arbeit im Gemeinderat hat er<br />
aufgegeben, er achtet auf seine Grenzen. „Ich<br />
kann die Zeichen meines Körpers, wie Schwindel,<br />
jetzt schnell deuten und darauf reagieren“, sagt er.<br />
Wie kann man Burnout vorbeugen? Holger<br />
Krackes prägnante Antwort darauf: Mit Genuss -<br />
momenten. Auch Jürgen Schiller gibt solchen<br />
Genussmomenten mittlerweile einen Platz in<br />
seinem Leben. Er und seine Frau haben zuhause<br />
eine Sauna gebaut, er fährt Rad, macht Ent -<br />
spannungsübungen. Und er macht auch einfach<br />
mal nichts. Heute fühlt sich der Fußball-Fan<br />
wieder gesund. Aber er weiß, dass er weiter auf sich<br />
achten muss: „Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis<br />
ich wiederhergestellt war. Mein Körper war lahm -<br />
gelegt.“<br />
*Name geändert<br />
Jeder Zweite in Deutschland sieht bei sich selbst ein Burnout-Risiko, 23 Prozent beobachten<br />
an sich wiederauftretende Symptome. Diese können sein: Anhaltende Müdigkeit,<br />
Schlafstörungen und Erschöpfung, nachlassende Leistungsfähigkeit, Rückzug. Bei<br />
Erkennung dieser Symptome ist ein Arztbesuch unbedingt notwendig. Burnout ist eine<br />
psychische Krankheit, die professionelle Hilfe erfordert. Unter www.hilfe-bei-burnout.<br />
de sind Therapeuten aus ganz Deutschland aufgelistet.
2/2018 INSIGHTS<br />
13<br />
Der Nächste,<br />
bitte!<br />
Foto: Pixabay<br />
„Wie geht es Ihnen damit? Wie fühlen Sie sich dabei?“ Typische Fragen, die man<br />
im Kopf hat, wenn man an Psychotherapie denkt. Im Schnitt hat ein Therapeut<br />
30 Patienten pro Woche. Wie fühlt sich eigentlich der Therapeut während der<br />
Sitzungen und wie empfindet er den Patientenwechsel?<br />
VON CAROLINE KOMYNARSKI<br />
Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein<br />
Wartezimmer voll mit Menschen, die auf<br />
ihre Behandlung warten. Ein Name wird<br />
aufgerufen, endlich ist man dran. Doch<br />
was passiert eigentlich während der<br />
Wartezeit im Behandlungsraum? Wie empfindet<br />
der Behandelnde den immer wiederkehrenden<br />
Wechsel von einem zum anderen Patienten?<br />
Wie gehen Psychotherapeuten mit dem Kom -<br />
men und Gehen ihrer Patienten um. Gerade sie<br />
müssen mit traumatischen Erlebnissen oder psy -<br />
chi schen Erkrankungen umgehen und dennoch<br />
eine professionelle Distanz wahren können. Ein<br />
ständiger Patientenwechsel kann hilfreich sein, so<br />
wird der Fokus immer wieder auf den sich im<br />
Raum befindlichen Patienten gelegt.<br />
Therapeuten sind auch nur Menschen<br />
„Bei besonders schlimmen Geschichten<br />
kommt es vor, dass ich dies in die Sitzung des<br />
nächs ten Patienten mitnehme und mich stärker<br />
auf den aktuellen Patienten konzentrieren muss“,<br />
sagt Janina, Psychotherapeutin in Ausbildung.<br />
Mit neuen Patienten beschäftigt sie sich innerlich<br />
länger. „Während der ersten Sitzungen schwingt<br />
Unsicherheit mit. Dabei stelle ich mir die Frage,<br />
wie ich helfen kann und wo Parallelen zu anderen<br />
Patienten oder gar zum meinem Leben zu finden<br />
sind“, sagt sie. Fänden sich Gemeinsamkeiten zu<br />
ihrem Leben, fällt es schwerer sachlich zu bleiben,<br />
sie denke dann viel über den Fall nach. Manchen<br />
Therapeuten kommt der Patientenwechsel ge -<br />
legen. Zum einen hilft der Anschlusstermin dem<br />
Therapeuten einen Schnitt zu machen und sich<br />
abgrenzen zu können, zum anderen ist es<br />
manchmal notwendig Patienten zu begrenzen. Zu<br />
viel Aufarbeitung an einem Termin ist nicht<br />
sinnvoll.<br />
Der Weg der psychisch erkrankten Person wird<br />
vom Therapeuten intensiv begleitet. Patienten<br />
gewähren nirgendwo einem anderen Menschen<br />
so intime Einblicke in die Gefühlswelt. Dabei<br />
entsteht eine besondere Bindung und Nähe – auch<br />
für den Therapeuten. Janina hat ein ehrliches<br />
Interesse daran, dass der Patient gesund wird.<br />
Jedoch muss sie zugleich die Distanz wahren.<br />
Manche Patienten wird sie nie vergessen und<br />
immer im Gedächtnis behalten. Wegen einer<br />
besonderen Bindung, einer spannenden Biografie<br />
oder einer interessanten Ausprägung einer<br />
Störung. Beeindruckt ist Janina von Patienten,<br />
denen man anmerkt, dass sie an sich arbeiten, von<br />
de nen, die es schaffen, ihre Erkrankung zu<br />
überwin den oder reflektiert mit ihr zu leben. Der<br />
Erfolg eines Patienten hinterlässt bei ihr den<br />
größten Eindruck. Zeitgleich macht es sie<br />
glücklich zu wissen, dass sie helfen konnte.<br />
Dennoch fällt auch ihr nach einer erfolgreichen<br />
Therapie der Ab schied gelegentlich schwer. „Nach<br />
der Therapie hoffe ich immer, dass meine<br />
Patienten ihren Weg durchs Leben alleine<br />
meistern.“<br />
Zwei Ratschläge für den weiteren Lebensweg<br />
Am Ende der Therapie gibt Janina ihren<br />
Patienten stets diesen Ratschlag mit auf dem Weg:<br />
„Seien Sie achtsam mit sich”. Achtsamkeit spielt<br />
eine große Rolle. So können laut der Therapeutin<br />
Frühwarnzeichen und kleine Veränderungen<br />
schnel ler erkannt werden. Der Patient spüre eher,<br />
wenn es wieder in die falsche Richtung geht, es<br />
könne rechtzeitig gegengesteuert werden.<br />
„Erinnern Sie sich an die positive Psychologie,<br />
die ich mit Ihnen erarbeitet habe”, so der zweite<br />
Ratschlag. Wichtig ist, dass der Patient sich einen<br />
positiven Ausgleich im Alltag schafft. Doch ihre<br />
Arbeit endet nie, denn im Wartezimmer ne benan<br />
benötigt schon der nächste Patient ihre Hilfe.
14<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Nächstes Zuhause:<br />
Weltraum<br />
Foto: Pixabay<br />
Asteroiden, die haarscharf an<br />
der Erde vorbei rasen,<br />
Atomwaffen, oder eine<br />
mögliche neue Eiszeit – nur<br />
drei mög liche Bedrohungen<br />
für die Erde. Doch was ist der<br />
Plan B? Ein Ansatz ist<br />
Terraforming.<br />
VON MARINA MACK<br />
Entweder wir verlassen die Erde oder wir<br />
werden sterben.“ Das sagt der US-<br />
Physiker Michio Kaku. Stellt sich die<br />
Frage, was unser neues Zuhause sein<br />
wird. Die Erde ist der einzige Planet im<br />
Sonnensystem, auf dem Menschen leben können.<br />
Andere Planeten sind zu kalt oder zu heiß und<br />
haben keine geeignete Atmosphäre. Mit dem<br />
sogenannten „Terraforming“ könnte man einen<br />
für uns lebensfeindlichen Planeten bewohnbar<br />
machen. Dazu müssten Temperatur, Atmosphäre<br />
und Oberfläche umgestaltet und erdähnlich<br />
gemacht werden.<br />
Wenn man sich vorstellt, wie zum Beispiel der<br />
Mars langsam zur Erde wird und wir dorthin<br />
umziehen, fühlt man sich wie in einem Science-<br />
Fiction- Film. Tatsächlich entwickelte sich das<br />
Konzept des Terraformings aus Zukunftsroman<br />
und der Wissenschaft. Der Autor Jack Williamson<br />
prägte 1942 diesen Begriff als Erster in einem<br />
Science-Fiction Roman.<br />
Auf der Erde betreiben wir, seit es die Land -<br />
wirtschaft gibt, Terraforming. Beispielsweise, in -<br />
dem wir den Regenwald abholzen oder Flächen<br />
bewässern. Auch wenn uns die Veränderungen an<br />
der Erdoberfläche und die Klimaerwärmung in<br />
den vergangenen 5000 Jahren enorm erscheinen,<br />
wurde kein drastisches Terraforming betrieben.<br />
Außerdem können wir nicht mal mit Sicherheit<br />
sagen, ob die Veränderungen des Klimas und der<br />
Atmosphäre durch menschliches Handeln oder<br />
natürliche Ursachen wie Sonnenwinde zurück -<br />
zuführen sind.<br />
Einen anderen Planeten dagegen so zu<br />
verändern, dass wir darauf wie auf der Erde leben<br />
können, ist die Vision von Befürwortern des<br />
Terra formings. Als mögliche Kandidaten gelten<br />
Mars, Venus, Mond und Merkur, wobei der Mars<br />
der absolute Top-Kandidat ist. Dies liegt auch<br />
daran, dass er der Erde in vielen Dingen ähnelt.<br />
Die Tages länge und Achsenneigung kommen<br />
denen der Erde sehr nah. Die Masse der<br />
Marsatmosphäre ist gering im Gegensatz zur<br />
Venus mit einer 10.000- mal größeren Masse. Die<br />
Mondatmosphä re hat sogar eine Masse von nur<br />
13 Tonnen, also ein Vakuum. Beim Mond -<br />
terraforming müsste die Atmosphäre somit neu<br />
erschaffen werden, da eine Umwandlung kaum<br />
möglich wäre. Das und die geringe Schwerkraft<br />
machen den Mond zu einem ungeeigneten Kan -<br />
didaten für Terraforming.<br />
Mit der Schwerkraft auf dem Mars könnten wir<br />
ganz gut leben. Die Temperatur ist ein weiterer<br />
wichtiger Faktor. Die Durchschnittstemperatur
2/2018 FUTURE<br />
15<br />
auf dem Roten Planeten erscheint uns mit minus<br />
56 Grad Celsius eiskalt. Es wäre aber machbar, die<br />
Temperatur um 50 bis 60 Grad zu erhöhen. Venus<br />
und Merkur dagegen sind von den Temperaturen<br />
eher problematisch.<br />
Für die Venus wurde als erster Planet ein<br />
Terraformingkonzept entwickelt. Als der Planeto -<br />
loge Carl Sagan im Jahre 1961 seinen Plan<br />
vorstellte, ging er von einer Venus aus, auf der<br />
eine Temperatur von 60 Grad herrschen. Später<br />
stellte sich heraus: Die Venus ist höllisch heiß mit<br />
einer Temperatur von 465 Grad. Dennoch halten<br />
Fans von Carl Sagan am Terra forming dieses<br />
Planeten fest. Ebenso ungeeignet ist der Merkur<br />
mit seinen drastisch schwankenden Tempera -<br />
turen zwischen minus 180 Grad und plus 430<br />
Grad. Was außerdem für den Mars als perfekten<br />
Kandidaten spricht, ist, dass gefrorenes Wasser<br />
und Kohlendioxid vorhanden ist – perfekt für den<br />
Aufbau einer Atmosphäre. Weitere zu berück -<br />
sichtigende Faktoren sind ein Magnetfeld, die<br />
Solareinstrahlung, der Luftdruck und die Be -<br />
schaffenheit der Oberfläche. Wenn man den Mars<br />
also in eine zweite Erde verwandeln möchte, muss<br />
eine irdische Atmosphäre mit dem richtigen<br />
Druck erschaffen werden. Zusätzlich gilt es, einen<br />
Wasserkreislauf mit Meeren, Seen und Flüssen,<br />
Regen und Grundwasser zu erschaffen. Wir<br />
brauchen zudem eine schützende Ozonschicht,<br />
der Mars müsste deutlich wärmer werden.<br />
Zur Umsetzung gibt es viele zum Teil auch<br />
nicht umsetzbare Konzepte. Eine Möglichkeit<br />
wäre, mit genetisch manipulierten Mikroorga -<br />
nismen Algenteppiche und Moose auf dem Mars<br />
wachsen zu lassen, die mit ihrem Stoffwechsel das<br />
Klima verändern. Man könnte den Planeten mit<br />
Asteroiden aus dem All bombardieren und<br />
dadurch das Eis schmelzen und die Temperatur<br />
erhöhen. Weitere Ideen sind, die Pole mit dem<br />
Kohlendioxideis zum Schmelzen zu bringen,<br />
mithilfe von Treibhausgasen die Atmosphäre zu<br />
verändern oder riesige Spiegel in der Umlaufbahn<br />
zu platzieren, um die<br />
Oberfläche damit auf -<br />
zuheizen.<br />
Egal, welcher Plan<br />
betrachtet wird, dazu<br />
müssen Unmengen an<br />
Equipment und außer -<br />
dem tausende Arbeits -<br />
kräfte auf den Mars<br />
trans portiert werden. „Wir betreiben Trans port<br />
ins All mit völlig ungeeigneten, weil viel zu teuren<br />
Methoden“, sagt der Geologe Michael Boden von<br />
der Deutschen Raumfahrtgesellschaft. Man<br />
bedenke auch die Auswirkung auf die Umwelt<br />
durch unzählige Raketenstarts. Wenn wir Raketen<br />
mit Hilfe elektromagnetischer Be schleunigung in<br />
Richtung Mars schicken könnten, wäre das<br />
möglich. Zudem gibt Michael Boden dies zu<br />
bedenken: „Es sind riesige Materialflüsse und<br />
Ener gie ströme in Gang zu setzen, was nicht<br />
Milliarden, sondern Billionen Dollar und einige<br />
Jahrhunderte an Zeit kosten würde.“ Und wie<br />
lange bleibt so eine neue Atmosphäre denn<br />
überhaupt stabil? Zuletzt sollte aus ethischer Sicht<br />
überlegt werden: Was ist, wenn auf dem Mars<br />
bereits Leben existiert?<br />
Was ist,<br />
wenn auf dem Mars<br />
Leben existiert?<br />
Es sind jedoch sinnvolle Alternativen zum<br />
Terraforming vorstellbar. Eine davon ist das<br />
sogenannte „World House Concept“: ein zwei bis<br />
drei Kilometer hohes, erweiterbares Konstrukt auf<br />
dem Mars, das luftdicht ist und ein licht -<br />
durchlässiges Dach besitzt. Der finanzielle und<br />
technische Aufwand wäre im Gegensatz zum<br />
Terraforming deutlich geringer. Noch sinnvoller<br />
könnten gigantische,<br />
rotierende Zylinder im<br />
All sein. Es wäre mög -<br />
lich, dass dort Hun -<br />
dert tausende Men -<br />
schen ein neues<br />
Zu hause finden. Sie<br />
hätten im Weltall ihr<br />
eigenes Wetter, eine<br />
eigene Landwirtschaft, Natur und einen nor -<br />
malen Tagesrhythmus. Durch die Rotation<br />
entstünde sogar das Gefühl der Schwerkraft. Auch<br />
hier könnte man im Laufe der Zeit anbauen. „Das<br />
ist besser als jedes Terraforming“, sagt Michael<br />
Boden. Doch sollten wir tatsächlich die Erde<br />
verlassen und uns eine neue Heimat auf bauen?<br />
Enthusiasten wie der Tesla-Chef Elon Musk und<br />
der Amazon-Eigner Chef Jeff Bezos (beide<br />
Multimilliardäre) träumen davon, fast alle<br />
Menschen ins All zu holen und die Erde in eine<br />
Parklandschaft zu verwandeln. Davon hält<br />
Michael Boden nichts. Er sagt: „Die Erde muss auf<br />
gar keinen Fall abgeschrieben werden. Sicher wäre<br />
es für die Ökosphäre besser, es gäbe nur zwei bis<br />
drei Milliarden Menschen, aber auch mit den<br />
sieben Milliarden kommen wir schon klar.“<br />
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16<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Was macht mobil?<br />
Foto: Pixabay
2/2018 LIFESTYLE<br />
17<br />
Mobilität ist für den<br />
modernen Menschen ein<br />
sehr wichtiges Thema.<br />
Aber wie bewegen wir uns<br />
in Zukunft von A nach B?<br />
Ein Blick in die Glaskugel?<br />
VON FABIAN ÖHRLE<br />
Die Automobilindustrie steckt momen -<br />
tan in einer tiefen Krise, der Diesel -<br />
skandal warf ein schlechtes Licht auf<br />
einen Großteil der konventionellen<br />
Hersteller und ließ diese weltweit an<br />
Vertrauen einbüßen. Umso lauter werden nun die<br />
Stimmen, die einen Umschwung in der Mobilität<br />
fordern.<br />
Vor allem in großen Städten gibt es immer<br />
mehr alternative Verkehrskonzepte wie bei -<br />
spielsweise Car2Go, das es nun in mittlerweile 26<br />
Innenstädten gibt und von über drei Millionen<br />
Usern genutzt wird. Das Prinzip ist ganz einfach:<br />
Per App loggt sich der Nutzer in die eigene Car -<br />
2Go-Karte ein und sieht, wo Fahrzeuge stehen und<br />
ob ein Fahrzeug frei ist. Dieses kann er nun durch<br />
einen Touch reservieren und anschließend per<br />
App aufschließen und losfahren.<br />
Für viele Leute in den Städten ist dies eine<br />
willkommene Alternative zum eigenen Auto, aber<br />
auch zu Taxi, Bus und Straßenbahn, da aufgrund<br />
der mangelnden Parkplätze und extrem teurer<br />
Park häuser das Autofahren keinen Spaß mehr<br />
macht und eher als lästiges Übel empfunden wird.<br />
In den nächsten Jahren wird es hier zu einer<br />
Differenzierung kommen, das sagen uns die<br />
Experten. Wobei das Auto sicher lich als be -<br />
liebtestes Beförderungsmittel weiterhin erhalten<br />
bleiben wird. Die Veränderungen werden jedoch<br />
in der Art der Automobile, ihrer Be schaffenheit<br />
sowie deren Nutzung weiter zu nehmen. Vor allem<br />
in den Städten gibt es im Bereich der Elektro -<br />
mobilität noch riesige Ent wick lungspotentiale,<br />
zudem werden die Sha ring-Angebote weiterhin<br />
zunehmen.<br />
Der größte Unterschied zur heutigen Fort -<br />
bewegungskultur besteht hierbei laut Dr. Ulrich<br />
Schiefer, Geschäftsführer des Klein serien -<br />
herstellers At track, vor allem in der multi modalen<br />
Nutzung von Fahrzeugen, das heißt, dass es in den<br />
urbanen Zen tren nicht mehr nötig ist, unbedingt<br />
ein ei genes Kfz zu besitzen oder mit einem<br />
eigenen Wagen zu fahren, um mobil zu sein. Die<br />
Zukunfts vision ist demnach, dass sich die<br />
verschiedenen Mobilitätskonzepte mit unter -<br />
schiedlichen Fort bewegungsmitteln ergän zen. So<br />
soll es möglich werden, dass man mit dem Flug -<br />
zeug am Flughafen ankommt, von dort aus weiter<br />
mit einem Car sharing-Anbieter in die In nen stadt<br />
fährt und sich dann mit einem gemieteten E-Bike<br />
oder E-Scooter auf den letzten Teil des Weges<br />
macht.<br />
Dabei fällt jedoch auf, dass die angebotenen<br />
Sha ring-Konzepte in den urbanen Zentren vor<br />
allem auf die elektrisch angetriebenen Fahr zeug -<br />
ver sionen setzen, da hier keine großen Distanzen<br />
zurückgelegt werden müssen.<br />
Auch die Anzahl der privat genutzten<br />
Elektro-Autos wird in den nächsten Jahren zu -<br />
nehmen, da Pendler sel ten mehr als 100 km<br />
zurücklegen müssen und hier für die heutige Tech -<br />
nik der elektronisch angetriebenen Fahrzeuge<br />
schon längst ausreicht. Weiterhin bietet die<br />
Anschaffung eines Elektro autos viele Vorteile ge -<br />
genüber einem konven tionell angetriebenen Kfz,<br />
so gibt es beispielsweise in vielen Innenstädten<br />
zentrumsnahe Parkplätze, die kostenlos und nur<br />
für Elektroautos aus ge wie sen sind.<br />
Vor allem kleine Fahrzeuge werden hier<br />
gefragt sein, da die Parkplatz-Situation in den<br />
meisten großen Städten in aller Regel mangelhaft<br />
ist und deshalb die großen Automobile, die zurzeit<br />
so gern gekauft werden, wenig Sinn machen. Auch<br />
Staat und Her steller reagieren auf den Trend und<br />
bieten für die meist eher kleineren Elektro -<br />
fahrzeuge verschiedene Kaufprä mien an.<br />
Für alle diejenigen, die sich jedoch kein<br />
eigenes Elektroauto leisten können oder wollen,<br />
wird es die oben erwähnten Sharing-Angebote ge -<br />
ben, die in nächster Zeit noch weiter ausgebaut<br />
wer den. Wichtig dabei werden die niedrige<br />
Schwelle zur Nutzung der Fahrzeuge und deren<br />
Ver fügbarkeit sein. Vorstellbar wäre beispielsweise<br />
eine App, über die sich die komplette Fahrt planen<br />
lässt und so einen bestmöglichen Komfort für den<br />
Nutzer bietet.<br />
Foto: Pexels
18<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Foto: Pexels<br />
In Zukunft autonom<br />
Das assistierte oder das teilautomatisierte Fahren wird inzwischen sehr geschätzt<br />
und gerne angewendet. Egal, ob Totwinkelwarner oder automatisches Einparken –<br />
viele Helferlein im Auto erleichtern unser Leben. Doch das ist erst der Anfang!<br />
VON LILIA KOCH<br />
Die Automobilbranche schläft nicht, sie<br />
bietet Fahrern im mer mehr Funk -<br />
tionen und Komfort. In der Zukunft<br />
wird die Technologie so fortge -<br />
schritten sein, dass wir uns voll -<br />
kommen automatisiert bewegen können – ins<br />
Fahr zeug einsteigen, ein Ziel nennen!<br />
Und los geht’s. Das Auto fährt die gesamte<br />
Strecke allein, sucht sogar einen Parkplatz und<br />
parkt dann sogar noch selbstständig ein. Wäh -<br />
rend dessen muss der Fahrer oder die Fahrerin<br />
nicht auf die Straße achten und kann nebenher<br />
arbeiten oder Videos anschauen. Das autonome<br />
Fahren soll nicht nur Zeit schenken, sondern auch<br />
den Verkehr sicherer machen.Denn: Die meisten<br />
Un fälle verursacht der Mensch.<br />
Wir werden die komplette Kontrolle und<br />
Entscheidungsfreiheit schon bald an Maschinen<br />
ab geben. Heute entscheiden wir, wann wir brem -<br />
sen oder abbiegen. „Wenn wir vom auto ma -<br />
tisierten Fahren sprechen, sprechen wir von<br />
einem intelligenten System, das die Funktionen<br />
eines menschlichen Gehirns über nehmen wird“,<br />
„Wir werden<br />
die Kontrolle an<br />
Maschinen abgeben.“<br />
erklärt Cornelia Brodersen, Produktmanagerin für<br />
automatisiertes Fahren bei Bosch. Es erfasse sicher<br />
die Umgebung, verortet sich selbst und inter -<br />
pretiere, plane und entscheide aufgrund dieser<br />
Informationen, wie und wo wohin es sich be -<br />
wegen wird. Das autonome Fahren unterteilt sich<br />
in fünf Level (siehe Infobox). „Wir sind aktuell in<br />
der Übergangsphase von Level zwei zu Level drei.<br />
Der Fahrer hat noch die volle Verantwortung für<br />
das Fahrzeug, Seitentätigkeiten sind erlaubt in Le -<br />
vel drei, jedoch muss der Fahrer bereit dazu sein,<br />
jederzeit zu übernehmen“, klärt Cornelia Bro -<br />
dersen auf.<br />
Wann Level fünf erreicht wird, sei nicht sicher,<br />
denn in Deutschland gibt es für das komplett<br />
autonome Fahren keine Gesetzgebung. Die Ber -<br />
liner Charité zum Beispiel und die Berliner Ver -<br />
kehrsgesellschaft testen zurzeit Roboterbusse, die<br />
Patienten und Besucher ohne Fahrer ans Ziel brin -<br />
gen. Mit maximal zwölf km/h fahren vier Mini -<br />
busse täglich auf dem Campus und erproben die<br />
Technik. „Zurzeit werden Sonderprojekte<br />
genehmigt, bei denen Fahrzeuge ab Level vier in
2/2018 FUTURE<br />
19<br />
sogenannten restricted areas fahren dürfen“, er -<br />
läu tert die Produktmanagerin.<br />
Aktuell arbeitet Bosch, einer der größten<br />
Autozulieferer der Welt, gemeinsam mit Daimler<br />
an dem Projekt „urban automated taxis“. In Zu -<br />
kunft ist es möglich, ein autonom fahrendes Taxi<br />
mit einer App zu rufen und sich zum gewünschten<br />
Ziel transportieren zu lassen. Car- Sharing auf ei -<br />
nem ganz neuen Niveau, bei dem Menschen die<br />
Zeit im Fahrzeug sinnvoll nutzen können und kei -<br />
nen Führerschein benötigen.<br />
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Praktikum<br />
Online-<br />
Marketing<br />
„Wir arbeiten an<br />
urban automated<br />
taxis.“<br />
Die Technik und Infrastruktur der Städte soll<br />
so ausgereift sein, dass wir keine Taxi- und Bus -<br />
fahrer mehr brauchen werden, sagen Experten<br />
voraus. „Bis es so weit ist, dauert es noch, auto -<br />
nome Taxis werden wir nicht sofort flächen -<br />
deckend in allen Städten haben. Solange es den<br />
Mischverkehr geben wird, werden sowohl Taxials<br />
auch Busfahrer benötigt.“<br />
Die Zukunft verspricht einen spannenden<br />
Fortschritt in der Mobilität. Das Auto wird ein Ort,<br />
in dem wir während der Fahrt vieles tun können,<br />
von denen wir heute noch träumen. Ob ein<br />
Nickerchen im Stau oder surfen im Internet: Alles<br />
ist möglich.<br />
DIE 5 LEVEL DES<br />
AUTONOMEN<br />
FAHRENS<br />
Level 1 – Assistiertes Fahren<br />
Bestimmte Assistenzsysteme wie<br />
der Totwinkel-Warner unterstützen<br />
den Fahrer.<br />
Level 2 – Teilautomatisiertes Fahren<br />
Das Auto kann einzelne Aufgaben<br />
übernehmen, beispielsweise<br />
im Stau beschleunigen.<br />
Level 3 – Hochautomatisiertes Fahren<br />
Insbesondere auf Autobahnen kann<br />
das Fahrzeug die komplette Steuerung<br />
übernehmen. Der Fahrer muss während<br />
der gesamten Zeit aufmerksam sein.<br />
Level 4 – Vollautomatisiertes Fahren<br />
Alle Funktionen werden vom Fahrzeug<br />
übernommen. Der Fahrer muss jedoch<br />
in der Lage sein, in brenzligen Situationen<br />
zu übernehmen.<br />
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Level 5 – Fahrerlose Autos<br />
Es wird kein Fahrer mehr gebraucht.
20<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Your next summer!<br />
Du willst wissen, wie dein Sommer 2018 wird? Lass dir von unseren Profiwahrsagerinnen die Zukunft<br />
voraussagen, entdecke alte Serien neu und hol dir Freizeit-Tipps für den ultimativen Sommer in Stuttgart.<br />
Von Laura Cüppers und Leonie Tiebel<br />
Noch keine Pläne für den sommer?<br />
Die heißesten, wenn auch nicht geheimsten, fünf Stuttgart-tipps gibt‘s hier:<br />
1. Eugensplatz. Besonders im Sommer lohnt sich der Aufstieg<br />
über die Eugenstaffel zum beliebten Eugensplatz. Oben angekommen,<br />
hat man nicht nur eine wundervolle Aussicht über die<br />
Dächer Stuttgarts, sondern auch die Möglichkeit, sich ein leckeres,<br />
hausgemachtes Eis aus dem Eis-Bistro Pinguin schmecken<br />
zu lassen. Egal ob mit Freunden oder alleine mit Buch – hier bietet<br />
sich die perfekte Gelegenheit, einen sommerlichen Abend<br />
ausklingen zu lassen.<br />
2. Mineralbad. Wenn das Wetter dann mal so überhaupt<br />
nicht mitspielt, entspann doch mal so richtig in einem der<br />
drei Mineralbäder in Stuttgart. Wusstest du, dass Stuttgart<br />
das höchste Mineralwasservorkommen in ganz Westeuropa<br />
hat? Doch das Wasser ist nicht nur mineralhaltig<br />
sondern manchmal auch kohlensäurehaltig, also quasi der<br />
natürlichste Whirlpool der Welt direkt vor deiner Tür!<br />
3. Besenwanderung. Funktioniert sowohl bei Nieselregen, als auch bei 40 Grad im Schatten. Eine<br />
Wanderung durch die Weinreben Stuttgarts mit Erfrischungen in den Besenwirtschaften, die auf dem<br />
Weg liegen. Gutes Essen und guter Wein. Was will man mehr?<br />
4. Open-Air-Kino. Es hat ja durchaus seinen Reiz, sich im<br />
Hochsommer ins kühle Kino zu verziehen. Wer aber sehr auf<br />
Sonne und Frischluft steht und dabei nicht auf den Kino-Gang<br />
verzichten mag, der ist im August und September gut beim<br />
Open-Air-Kino vor dem Mercedes-Benz Museum aufgehoben.<br />
Vor imposanter Kulisse und unter freiem Himmel werden sowohl<br />
aktuelle Filme als auch Klassiker gezeigt.<br />
5. Stuttgarter Stadtstrand. Was die Ostsee kann,<br />
kann Stuttgart schon lange! Zwar haben wir hier nur den<br />
Neckar, und der Stadtstrand begrenzt sich auf wenige Quadratmeter<br />
– von der S-Bahn Haltestelle in Bad Canstatt ist<br />
man jedoch man in wenigen Gehminutn bei Liegestühlen, Sand<br />
und kühlen Getränken. Zudem gibt es dort auch echt gute<br />
Burger. Vorsicht, Öffnungszeiten beachten!<br />
Warum immer Netflix schauen und neue Serien suchten? Geh doch mal #backtotheroots<br />
und geh die Semesterferien oldschool an. Welche mtv shows suchen wir?<br />
LÖSUNG: PIMP MY RIDE / DATE MY MOM / CATFISH / FRIENDZONE<br />
Freund +<br />
+ Fisch
2/2018 FUTURE<br />
21<br />
Krebs. Back to Muddi! Zeit für einen<br />
kleinen Tapetenwechsel. Die Semesterferien<br />
sind für dich die perfekte Gelegenheit,<br />
raus aus der Party-WG und rein ins heimelige<br />
Elternhaus zu kommen. Endlich wieder<br />
Käsekuchen, Gute-Nacht-Küsschen und alte<br />
NSYNC-Poster an den Wänden. Wenn du da<br />
nicht vom Uni-Stress abschalten kannst, ist<br />
dir auch nicht mehr zu helfen.<br />
Löwe. Du bist der Grillprofi des Jahrtausends,<br />
das stinkende Hassobjekt der Nachbarn<br />
vom Balkon über dir. Jetzt ist es an der<br />
Zeit, dir eine Schürze mit coolem Aufdruck<br />
zu gönnen (#StarWurst. Vorsichtig sein du<br />
musst. Die Wurst eine dunkle Seite schon<br />
hat) und die Nachbarn mit neuen Rezepten<br />
zu besänftigen. Dein Sommermotto: Ich<br />
muss Fett verbrennen, schmeiß den Grill an!<br />
Jungfrau. An Badeseen lauern sie, an Flüssen<br />
und im Park. Eigentlich überall. Schon<br />
mal was von Anatidaephobie gehört? Google<br />
mal! Wenn du nicht aufpasst, könntest auch<br />
du bald ein Betroffener werden. Setz dich<br />
also frühzeitig mit dieser Angst auseinander<br />
und geh diesen Sommer nur in Begleitung an<br />
den See – ach, was rede ich! Aus dem Haus!<br />
Aus dem Bett! Hörst du es watscheln?<br />
Waage. Die Sonne brutzelt vor sich hin,<br />
der Kessel kocht zum Überlaufen und ein<br />
Steppenläufer hoppelt einsam durchs Bild.<br />
Langeweile pur! Alle Freunde sind verreist.<br />
Selbst der Schachspieler auf dem Schloßplatz<br />
hat keinen Bock mehr auf dich. Wie<br />
du dieser düsteren Zukunft jetzt noch<br />
entkommen kannst? Schau doch mal in den<br />
Veranstaltungstipps vorbei, dann wird dein<br />
Sommer noch legen… wait for it.<br />
Skorpion. Nur pumpen, pumpen, pumpen?<br />
Deine Freunde haben bereits jede<br />
Ausrede ausgespielt, um nicht mit dir ins Gym<br />
zu müssen, doch du bist der unaufhaltsame<br />
Gym Knopf. Halt doch mal die Luft an und<br />
geh Kompromisse ein! Deine Freunde wollen<br />
alle viel lieber entspannt im Freibad liegen.<br />
Falls du doch nicht auf’s Training verzichten<br />
kannst, schnapp dir deinen Proteinshake,<br />
den Volleyball und beache doch einfach dort.<br />
Schütze. Raus aus dem Keller! Zeit für<br />
den Computerflüsterer, sein Domizil zu<br />
verlassen. Auch wenn der Keller Videospiele,<br />
Bier und angenehme Kühle verspricht –<br />
draußen spielt die Musik. Wenn du der Sonne<br />
und den Menschen da draußen eine Chance<br />
gibst, hast du diesen Sommer die exklusive<br />
Chance, dich vom bleichen Schlossgespenst<br />
mit Zocker-Augen in Mr. Baywatch höchstpersönlich<br />
zu verwandeln. Versprochen!<br />
Steinbock. Dein Sommer fällt ins Wasser<br />
– es regnet (ja, nur für dein Sternzeichen).<br />
Hör auf, Trübsal zu blasen und mach das<br />
Beste draus! Hol dir fancy Regenstiefel,<br />
pack den knallgelben Regenmantel und das<br />
passende Quietscheentchen aus und spring in<br />
Pfützen. Kauf dir eine fleischfressende<br />
Pflanze, nenn sie Helga und gieß sie mit<br />
Regenwasser (#Pflanzentipp: Sie verträgt<br />
kein Leitungswasser). Sieh es positiv, Stichwort<br />
wettshirtdayallday und esse das nächste<br />
Mal gefälligst deinen Teller auf!<br />
Wassermann. What is love? Auf einer 90er<br />
Party in der Saturday Night findest du es<br />
heraus. Du bist zwar blue (da ba dee da ba<br />
daa), aber Ladies and Gentleman, it’s die<br />
Liebe fürs Leben! Schwing die Hüften, denn<br />
Rythm is a Dancer. Dann heißt es für euch<br />
ganz schnell „Let’s talk about Sex“, aber<br />
ihr wollt es that way. Und if you wannabe<br />
der Partner fürs Leben, dann hüpft ihr bald<br />
gemeinsam hier und dort und überall ins<br />
Abenteuerland der Liebe.<br />
Fische. Dein Sommer besteht aus Acai-<br />
Bowls, Chiasamen und eventuell einer<br />
Ginverkostung, alles was den modernen<br />
Hipster so ausmacht. Du willst anders sein,<br />
achtest auf deinen Körper und dein persönliches<br />
Umfeld, denn wer mit dir befreundet<br />
ist, muss #healthyandhappy sein. Wenn du<br />
deiner Umwelt wirklich mal was Gutes tun<br />
willst, hör auf, dein Essen zu fotografieren,<br />
pack deinen Fjällräven und dein Mate und<br />
helf bei verschiedenen sozialen Einrichtungen<br />
in Stuttgart.<br />
Widder. Deine Sommer-Headline: Semesterferien<br />
2018 oder die längste Netflix-und-<br />
Chill-Party meines Lebens. Der Strand-Body<br />
hat dieses Jahr nicht wirklich geklappt? Das<br />
Badehöschen sitzt noch nicht? Kein Problem,<br />
setz diesen Sommer einfach mal aus. Wozu<br />
gibt es dunkle Zimmer, Eimer voll Eis und laufend<br />
neue (oder alte) Serien?<br />
Stier. Holy Guacamoly – dein Sommer wird<br />
grün! Anfang August wirst du auf einmal<br />
von einer Welle der Camping-Lust gepackt.<br />
Schnapp‘ dir Sack, Pack, Partner und Flaschenöffner<br />
und raus in die Natur mit dir!<br />
Und immer dran denken: Bären haben mehr<br />
Angst vor dir, als du vor ihnen.<br />
Zwillinge. Wasser marsch! Egal ob Meer,<br />
See oder Pfütze nach dem Sommergewitter<br />
– Du bist der King of Water, die Königin der<br />
Feuchtgebiete. Bei Austrocknungsgefahr<br />
flüchtest du sogar unter die Rasensprinkleranlage<br />
im Stadtpark. Komm doch mal wieder<br />
an den Strand der Tatsachen und schalte einen<br />
Gang zurück, sonst rutschst du noch aus!
22<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Was kommt da auf uns zu?<br />
Foto: Pixabay<br />
Mit dem Summen und<br />
Brummen könnte es bald ein<br />
Ende haben. Es gibt immer<br />
weniger Insekten bei uns,<br />
das gefährdet unser<br />
Ökosystem. Welche Folgen<br />
hat das, was können<br />
wir dagegen tun?<br />
VON GABRIELA MÜLLER<br />
Es ist stiller geworden auf den Wiesen und<br />
Feldern, in Gärten und Parks. Die<br />
Insektenwelt steckt in Schwierigkeiten.<br />
An einigen Standorten gibt es manche<br />
Arten nicht mehr, oder es kommen im -<br />
mer weniger vor. Laut Ergebnissen, die der Ento -<br />
mologische Verein Krefeld über 27 Jahre ge -<br />
sammelt hat, ist die Biomasse der Flug insekten in<br />
Deutschland um 75 Prozent zurückgegangen. Die<br />
Studie sorgte nicht nur wegen der erschreckenden<br />
Zahl für Aufsehen, sondern auch, weil sie eine der<br />
wenigen Langzeitstudien über Insekten ist. Denn<br />
der Bestand der Tiere ist witterungsabhängig und<br />
kann somit oft von Jahr zu Jahr unterschiedlich<br />
sein.<br />
Mit Hilfe der Bevölkerung will der Natur -<br />
schutzbund (NABU) eine Datengrundlage gene -<br />
rieren und ruft 2018 erstmals bundesweit auf, sich<br />
an der Aktion „Insektensommer“ zu beteiligen.<br />
Ermutigt durch die jährlichen Vogelzählungen,<br />
mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat,<br />
sollen in zwei Aktionszeiträumen im Juni und<br />
August Insekten registriert werden. Falschbe -<br />
stimmungen können, so die Erfahrung, durch die<br />
große Masse an Daten ausgeglichen werden.<br />
Außerdem soll mit der Aktion erreicht werden,<br />
dass das Thema in der Bevölkerung mehr ver -<br />
ankert wird und dass Menschen bereit sind, sich<br />
damit auseinanderzusetzen. „Denn nur was man<br />
sieht und kennt, hält man auch für schützens -<br />
wert“, sagt Dr. Stefan Kress, Vorstandsmitglied des<br />
NABU Stuttgart und zuständig für das Thema<br />
Insekten.<br />
Woran liegt das Insektensterben?<br />
Als ein Grund des Verschwindens gilt die<br />
Zerschneidung der Lebensräume durch Straßen<br />
und Wohnbebauung. Auf den begrenzten Flächen<br />
kommt es zu genetischer Verarmung. Zudem hat<br />
sich die landwirtschaftliche Struktur verändert.<br />
Wiesen werden intensiver bewirtschaftet, ge -<br />
düngt und häufiger gemäht. Felder werden immer<br />
größer, somit gibt es weniger Ackerränder mit<br />
Blühstreifen und Hecken. Neben dem einseitigen<br />
Nahrungsangebot durch Monokulturen, leiden<br />
die Insekten unter dem Einsatz von Pestiziden.<br />
Eine weitere Bedrohung sind veränderte Boden -<br />
verhältnisse durch die Überfrachtung mit Stick -<br />
stoff von Abgasen und Düngemitteln. Magere,<br />
nährstoffarme Standorte, wo nur spezielle Pflan -<br />
zen überleben können, bieten eine hohe Arten -<br />
vielfalt. Viele Insekten sind daran angepasst. Diese<br />
Pflanzen werden verdrängt, da der Stickstoff das<br />
Wachstum von Pflanzen begünstigt, die auf<br />
nährstoffreichen Fettwiesen wachsen.<br />
Foto: Stefan Kress<br />
Wildbienen erkunden eine Nist- und Überwinterungshilfe.<br />
Um Insekten zu unterstützen kann man solche<br />
Insektenhotels im Garten aufstellen. Nach der Eiablage<br />
werden die hohlen Röhrchen verschlossen.
2/2018 FUTURE<br />
23<br />
Wie kann man Insekten helfen?<br />
Wer Insekten unterstützen möchte, kann<br />
einheimische Blumen, Sträucher oder Bäume<br />
anpflanzen und ihnen so eine Nahrungsquelle<br />
schaffen. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle<br />
insektenfreundlichen Samenmischungen trotz<br />
der Beschriftung die geeigneten Pflanzen ent -<br />
halten. Hier lohnt es sich, auf den einschlägigen<br />
Fachhandel zurückzugreifen.<br />
Wichtig ist, den Insekten mehr Lebensräume<br />
zu bieten. Insektenhotels dienen als Nist- und<br />
Überwinterungshilfe. Die meisten Wildbienen<br />
nisten jedoch im Boden. Eine kleine karge Stelle<br />
im Garten mit trockenem Erdboden eignet sich<br />
dafür gut. Tote Pflanzenstängel und totes Holz<br />
sollte man einfach einmal liegen lassen. Sie<br />
werden als Baumaterial genutzt. An Brennnesseln<br />
entwickeln sich einige Schmetterlingsraupen. Auf<br />
den Einsatz von Pestiziden sollte man verzichten<br />
und beim Mähen kann man „Mahd-Inseln“<br />
stehen lassen, einen Teil also nicht mähen. Schon<br />
zehn Prozent der Fläche reichen aus, damit In -<br />
sekten die restliche Fläche allmählich wieder -<br />
besiedeln können. Auch beim Einkaufen kann<br />
man Gutes tun und zum Beispiel auf Saft von<br />
Streuobstwiesen, Bio-Produkte und regionale und<br />
saisonale Lebensmittel achten.<br />
Was passiert, wenn die Insekten fehlen?<br />
Fakt ist, wir brauchen Insekten. Sie sind<br />
unverzichtbar für das Ökosystem. Fachleute<br />
sprechen von den sogenannten „Ökosystem-<br />
Dienstleistungen“, die Insekten erbringen. Als<br />
Zersetzer von organischen Stoffen sorgen sie<br />
beispielsweise für Bodenfruchtbarkeit. Vor allem<br />
meint man damit aber die Bestäubungsleistung.<br />
Vier von fünf aller Pflanzen in Deutschland sind<br />
auf Insekten angewiesen. Aktionen von Super -<br />
märkten, die ihre insektenabhängigen Produkte<br />
aussortieren, zeigen dies eindrücklich. Die Regale<br />
sind dann komplett leergeräumt oder nur lücken -<br />
haft bestückt. Es fehlen Obst- und Gemüsesorten,<br />
Küchenkräuter, Öle, Kaffee, Tiefkühlkost, Säfte<br />
und Pflegeprodukte.<br />
Insektenbestäubung führt nachweisbar zu<br />
größeren, aromatischeren Früchten und Ertrags -<br />
steigerung. Doch nicht nur für den Menschen hat<br />
der Insektenrückgang Konsequenzen. Wenn es<br />
weniger Insekten gibt, fällt gleichzeitig die<br />
Nahrungsquelle für bestimmte Tiere, wie Vögel<br />
weg, die dadurch ebenfalls seltener werden.<br />
Ökosysteme sind flexibel und können Störungen<br />
verkraften. Wenn ein System zu stark in eine<br />
Richtung verändert wird und einen bestimmten<br />
Punkt erreicht, bricht es zusammen. In der<br />
Wissenschaft spricht man von „tipping points“<br />
(Kipppunkte). Der alte Zustand ist dann nicht<br />
wiederherzustellen, egal, was man tut. „Wir<br />
wissen einfach nicht, ob diese Kipppunkte bei den<br />
Insekten jetzt schon erreicht sind“, sagt<br />
NABU-Experte Kress. Die Hoffnung habe er noch<br />
nicht aufgegeben, denn Insekten hätten ein<br />
extremes Vermehrungspotential. Solange die<br />
Arten nicht komplett ausgestorben sind, stehen<br />
die Chancen gut, dass sich der Bestand wieder<br />
erholt. Vorausgesetzt, man bietet ihnen dafür<br />
auch den nötigen Platz.<br />
NABU-AKTION „INSEKTENSOMMER“<br />
Die zweite Insekten-Zähl-Aktion dieses Jahres findet im Zeitraum vom 3. bis 12. August statt.<br />
Hierfür soll man sich einen Beobachtungsplatz suchen und im Umkreis von höchstens zehn<br />
Metern eine Stunde lang Insekten zählen. Am besten eignet sich dafür ein sonniger, windstiller<br />
Tag. Grundsätzlich soll man jedes entdeckte Insekt melden. Bei 33.000 verschiedenen Arten in<br />
Deutschland ist das aber nicht immer einfach, selbst für Experten. Deshalb hat der NABU<br />
Kernarten definiert, auf die man besonders Acht geben kann. Im August sind das unter anderem<br />
die Blaue Holzbiene, der Siebenpunkt-Marienkäfer und der Schwalbenschwanz, einer der<br />
schönsten heimischen Schmetterlinge. Weitere Informationen unter:<br />
https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/insektensommer/index.html<br />
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<strong>24</strong><br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
21st Century Skills in Schulen<br />
Foto: Pixabay<br />
Die Digitalisierung betrifft auch das deutsche Bildungssystem und stellt<br />
Schulen und Lehrer vor Herausforderungen. Wie gehen unterschiedliche<br />
Schulen damit um? Drei Standpunkte dazu.<br />
VON SAMUEL TRAUTMANN<br />
Wir sind fortschrittlicher als andere<br />
Schulen, da wir überhaupt Tablets<br />
haben“, sagt Dr. Harald Hochwald,<br />
Lehrer für Physik und Sport am<br />
Schickhardt-Gymnasium Stuttgart.<br />
Dort kommen die Schüler ab der 5. Klasse im Fach<br />
Medienbildung mit digitalen Medien in Berüh -<br />
rung. Dass es in jedem Klassenzimmer einen<br />
Rechner mit interaktiver Tafel, Internetzugang<br />
und Dokumentenkamera gibt, sei laut Hochwald<br />
kein Standard an Schulen. Das Gymnasium hat<br />
be reits viele Tablet-Projekte durchgeführt. Für die<br />
Zu kunft ist geplant, die interaktive Tafel durch<br />
Tab lets für die Lehrer zu ersetzen. Hochwald hält<br />
es für möglich, dass man „auf die Tablet-Variante<br />
umsteigt“, anstatt alte Geräte zu ersetzen, da diese<br />
„viel geschmeidiger funktioniert“.<br />
Doch er ist nicht der Meinung, dass Schüler<br />
nur mit Tablets arbeiten sollten. Es sei wichtig, für<br />
jede Aufgabe ein geeignetes Medium zu verwen -<br />
den, da der Lerneffekt sonst verloren ginge. Die<br />
Schüler sollten also sowohl den Umgang mit<br />
analogen als auch digitalen Medien erlernen.<br />
Hochwald denkt nicht, „dass Bleistift und Papier<br />
verdrängt werden.“ Durch die Mischung käme ein<br />
zeitgemäßes Arbeiten zustande. Er kritisiert das<br />
Bildungswesen insofern, „dass es ein sehr sta -<br />
tischer, langsamer Apparat und die IT-Branche<br />
sehr schnelllebig ist“.<br />
Prof. Dr. Edwin Hübner, seit 2015 Professor für<br />
Medienpädagogik an der Freien Hochschule<br />
Stuttgart und Experte für das System der<br />
Waldorfschulen, sieht die Problematik von einem<br />
anderen Standpunkt. Wenn man Schüler<br />
ausschließlich mit digitalen Medien lernen lasse,<br />
habe das zur Folge, „dass wir die Kinder medien -<br />
kompetent machen wollen, sie aber in<br />
Wirklichkeit medieninkompetent bezüglich der<br />
alten Medien machen“.<br />
Wie bei allen anderen Schulen werde auch an<br />
Waldorfschulen das Ziel verfolgt, „dass am Ende<br />
ein Schüler rauskommt, der kompetent, sprich<br />
me dien mündig ist“. Hübner ist es wichtig, dass<br />
ein Schüler „Medien gezielt nutzen kann“ und<br />
„souverän ist zwischen den verschiedenen Me -<br />
dien.“ Durch zu intensive Nutzung, beispielsweise<br />
eines Tablets, könnten die Kinder lebensunfähig<br />
und medienunmündig gemacht werden, warnt<br />
Hübner. Sie könnten von einzelnen Geräten<br />
abhängig werden. „Ich muss mich selbst beherr -<br />
schen können, wenn ich etwas anderes be -<br />
herrschen will“, sagt er, „und fähig sein, mal zwei<br />
Tage ohne auszukommen“. Hübner hofft, dass<br />
man „die Geräte gezielt einsetzt, wo es Sinn<br />
macht“, dabei aber das Buch und die Handschrift<br />
nicht vernachlässigt.<br />
Dieter Umlauf, Pädagoge und Medien fach -<br />
berater am Schulamt Fulda, hat sich um fassend<br />
mit der Thematik beschäftigt. „Ich bin seit 1988<br />
Lehrer und stelle fest, dass wir Lehrpläne leider<br />
nicht neu denken, sondern nur neu schreiben, das<br />
ist ein ganz großes Problem.“ In Ländern wie<br />
Südkorea dagegen hätten digitale Medien eine<br />
„große Selbstverständlichkeit“ und würden – im<br />
Gegensatz zu Deutschland – nicht tabuisiert.<br />
Umlauf sagt, wir geben „den Kindern nicht die<br />
Möglichkeit, schon im Vorschulalter oder in der<br />
Grundschule damit einzusteigen.“ Sie würden<br />
nicht auf das Lernen mit digitalen Medien<br />
vorbereitet.<br />
Bei der Frage, ob digitale oder analoge Medien<br />
genutzt werden sollten, gehe es nicht um ein<br />
entweder oder, sondern um ein sowohl als auch.<br />
Die Schüler sollen nach seiner Aussage lernen, für<br />
die Probleme des 21. Jahrhunderts Lösungen zu<br />
finden. „Ich kann die Probleme von morgen nicht<br />
mit Mitteln von heute lösen.“ Die Verwaltungen<br />
von Schulen und Schulämtern müssten sich den<br />
modernen Medien öffnen.<br />
Seine Erfahrung: Es gebe zu viele Verbote, die<br />
einen sinnvollen Einsatz digitaler Medien aus -<br />
schließen. „Solange wir da nicht wie andere<br />
europäische Länder progressiv nach vorne gehen,<br />
wird es aufgrund der föderalen Struktur der<br />
Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sein,<br />
bundesweit Strukturen auszubauen, die digitalem<br />
Ler nen förderlich sind.“
2/2018 FUTURE<br />
25<br />
Fressen oder gefressen werden<br />
Dutzend Neonröhren erhellen den großen Raum. Enge lange Gänge, verflochten wie im<br />
Labyrinth. Am Rand unzählige Pappschachteln, aufgereiht in Regalen. Links und rechts in den<br />
Schachteln gilt es zahllosen Versuchungen zu widerstehen. Vor allem die roten Schilder mit den<br />
durchgestrichenen Preisen locken noch mehr als die auf weißem Grund.<br />
VON FELIX MELZER<br />
Der Boden, gekachelt mit unauffälligen<br />
gelben Fliesen. Das Surren der<br />
Kühlschränke, das Rollen von Eisen<br />
auf Fliesen durchbricht die Stille. Noch<br />
steht nicht alles in den Regalen, es ist ja<br />
erst kurz nach Ladenöffnung. Ein Mann mit<br />
schwarzen Haaren, blauem T-Shirt und Jeans<br />
räumt die auf einer Palette liegende Ware in die<br />
Regale ein. Trotzdem sind auch schon einige<br />
Kunden da. Manche schieben für ihren Wochen -<br />
einkauf einen Wagen vor sich her und bleiben an<br />
jedem Regal stehen. Andere kaufen sich nur<br />
Bedarf für den Arbeitstag: Brote, Käse, Salami,<br />
Cola. Noch ist die Luft frisch. Kein Geruch nach<br />
Bier von kaputten Flaschen. Es ist erst 8 Uhr. Noch<br />
ist nicht viel los im Supermarkt an der Rosen -<br />
steinstraße in Stuttgart.<br />
Zur gleichen Zeit am anderen Ende der Stadt.<br />
Zwischen Lieferwagen, Gabelstaplern und Lastern<br />
erhebt sich vor den Toren der Stadt ein<br />
Sammelsurium aus Obst, Gemüse, Blumen und<br />
Fleisch. Händler bieten ihre Ware an, Kunden<br />
laden ein. Mitten auf dem Großmarkt hat sich ein<br />
Un ternehmen niedergelassen: Lieferladen.de. Jo -<br />
hannes Kunkel, seit vier Jahren Geschäftsführer<br />
von Lieferladen, beginnt seinen Arbeitstag wie<br />
immer. Erst werden die Liefer-Routen für den Tag<br />
geplant, im Laufe des Vormittags wird die Ware<br />
abgeholt oder angeliefert. Bestellt werden kann<br />
am Vortag bis <strong>24</strong> Uhr, geliefert wird am Folgetag.<br />
Immer mehr Menschen kaufen Lebensmittel<br />
im Internet. Laut einer Studie von Dialego bestel -<br />
len viele Nahrungsmittel online, da es bestimmte<br />
Produkte in ihrer Nähe nicht gibt. Das trifft<br />
demnach auf drei Viertel der Befragten zu. Der<br />
Wunsch nach Produkten, die nicht jeder Super -<br />
markt hat, wird immer größer. Kunden legen<br />
immer mehr Wert auf bio und lokal. Kunkel sagt,<br />
dass „der Trend zu regionalen Produkten in<br />
Zukunft wachsen wird“. Das beschreibt auch den<br />
Er folg von Supermärkten wie dem Lieferladen.<br />
Wie könnte also der Supermarkt von morgen<br />
aussehen? Der Arbeitstag von Leon (Name geän -<br />
dert) beginnt um 13 Uhr. Nachdem die Pakete in<br />
Kisten verpackt wurden, belädt er den Kühlraum<br />
des Sprinters. Leon ist Fahrer bei Lieferladen.de.<br />
„Eine Tour geht bis Abends. Viele Kunden sind<br />
Unternehmen, die wollen nur Milch und Obst.“<br />
Der Rest seien Privatpersonen. Besserverdienende,<br />
oder Leute, die sich den Aufwand für den Einkauf<br />
sparen möchten. Johannes Kunkel ergänzt, dass<br />
sich das Angebot an alle richtet, „die Wert auf<br />
frische und regionale Lebensmittel legen“. Der<br />
Kundenstamm ist breit gemischt. Es gibt die<br />
klassische Familie mit zwei Kindern, die sich be -<br />
wusst für Bioware entscheiden, ebenso wie das<br />
Ren tnerehepaar, das froh ist, nicht selber ein kau -<br />
fen gehen zu müssen.<br />
Der Gang zum Supermarkt ist längst nicht<br />
mehr nur für den Großeinkauf gedacht. Das Leben<br />
ist spontaner, eingekauft wird nebenher. Davon<br />
pro fitiert der E-Commerce. Kunkel geht davon<br />
aus, in der Zukunft werde ein Teil des Umsatzes im<br />
Lebensmittelhandel vom stationären zum On -<br />
line handel verschoben. Der stationäre Handel<br />
wird aber weiter seine Berechtigung haben. Dafür<br />
spricht, dass nur im Supermarkt die Ware per -<br />
sönlich angeschaut werden kann. So sieht es auch<br />
das Institut LINK in einer Umfrage. Allerdings<br />
werde sich die Dichte an stationären Händlern<br />
verringern, heißt es in der Studie. „Discounter<br />
und spezialisierte Händler werden von den Verän -<br />
derungen weniger betroffen sein“, erläutert<br />
Kunkel.<br />
Es ist Abend geworden. 20.30 Uhr: Leon ist<br />
von seiner Tour zurück. Auf dem Großmarkt ist<br />
nichts mehr los. Vereinzelte LKW-Fahrer sind<br />
noch da, die hier die Nacht verbringen. Leon stellt<br />
den Lieferwagen ab. Eine halbe Stunde später<br />
steht in der Rosensteinstraße der letzte Kunde an<br />
der Kasse, kurz vor Ladenschluss. Es ist Leon, er<br />
kauft sich ein Abendessen. Der überdachte<br />
Parkplatz nebenan ist fast leer. Bis auf ein Auto.<br />
Leon steigt ein. Dann ist der Parkplatz leer.<br />
Foto: Pexels
26<br />
FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Vom Ast<br />
zum Palast<br />
Wie sieht die nachhaltige<br />
Architektur der Zukunft aus?<br />
Die Ausstellung „Baubionik –<br />
Biologie beflügelt Architektur“<br />
im Naturkundemuseum<br />
Stuttgart widmete sich mit<br />
neuen Forschungsansätzen<br />
aus dem Programm<br />
„Transregio 141“ diesem<br />
Thema.<br />
VON ROSALIE SCHNEEGAß<br />
Wer bei umweltschädlicher Wirt -<br />
schaft zuerst an Verkehr und Auto -<br />
industrie denkt, wird überrascht<br />
sein: Es ist die Bau branche, die<br />
mehr Schmutz, Ener gie und<br />
endliche Rohstoffe verbraucht als alle anderen<br />
Industrien der Welt. 40 Prozent des Energie -<br />
verbrauchs und 40 Prozent der Müll pro duktion<br />
macht das weltweit aus. Gleichzeitig ist es<br />
unmöglich – im Gegenteil zu Plastikmüll oder<br />
importierten Nahrungsmitteln – auf Woh nen zu<br />
verzichten. Angesichts des Klimawandels und der<br />
Ressourcenknappheit ist es eine der größten<br />
Herausforderungen von Wissenschaft und Ar -<br />
chitektur, hier neue Lösungen zu finden. Wie<br />
schaffen wir es, mehr Menschen auf weniger<br />
Fläche unterzubringen? Wie lassen sich Häuser<br />
aus lokal verfügbaren, nachwachenden Roh -<br />
stoffen ohne Müll herstellen? Wie können wir<br />
künftig wohnen, ohne für Heizung, Licht zu viel<br />
Ressourcen zu verbrauchen und Schadstoffe zu<br />
emittieren?<br />
Die Baubionik ist da ein vielversprechender<br />
Ansatz. Denn all diese Anforderungen erfüllt die<br />
Natur bereits. Alle pflanzlichen Strukturen nutzen<br />
Sonnenenergie. Ihre Konstruktionen gehören zu<br />
einem natürlichen Kreislauf, in dem sie entstehen<br />
und abgebaut werden. Zudem sind Pflanzen in der<br />
Lage, sich bei Schäden selbst zu reparieren und<br />
mechanischen Beanspruchungen anzupassen.<br />
Für einen Sonderforschungsbereich der<br />
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der<br />
Ende 2014 eingerichtet wurde, arbeiteten Archi -<br />
tekten, Biologen und Ingenieure aus Stuttgart,<br />
Tübingen und Freiburg an naturinspirierten<br />
Foto: Kovalenko<br />
neuen Konzepten für die Architektur. Die<br />
Ergebnisse des Projekts mit der Bezeichnung<br />
„Transregio 141“ waren im Naturkundemuseum<br />
Stuttgart ausgestellt.<br />
Die einzelnen Projekte widmeten sich ganz<br />
verschiedenen Fragestellungen. Dabei geht es um<br />
be wegliche und verformbare Elemente, neues<br />
Foto: Strelitzia, Reginae, Lienhard, Baumann
2/2018 FUTURE<br />
27<br />
Design und moderne, abbaubare Materialien. So<br />
wird zum Beispiel erforscht, welche Rolle tech -<br />
nische Textilien in der Architektur der Zukunft<br />
spielen könnten. Professor Götz T. Gresser, Leiter<br />
des Deutschen Instituts für Textil- und<br />
Faserforschung dazu: „Technische Textilien<br />
haben eine ausgesprochen hohe Inno -<br />
vationskraft. Sie sind leicht und flexibel und las -<br />
sen sich deshalb im Faserverbund für Leicht -<br />
baukonstruktionen in der Architektur<br />
her vorragend einsetzen.“<br />
Ein weiterer Ansatz, der in der Ausstellung zu<br />
besichtigen war, beschäftigt sich mit verzweigten<br />
Stahlstützen, die pflanzlichen Verzweigungen<br />
sehr ähnlich sind. Stahlstützen sind in der Her -<br />
stellung meist teuer und energieaufwendig,<br />
Pflanzen dagegen bringen ähnlich stabile,<br />
komplexere Verzweigungen durch natürliches<br />
Wachstum hervor. Dabei halten sie mühelos<br />
Wind und Regen stand und sind hochindividuell.<br />
Kei ne Verzweigung gleicht vollständig der an -<br />
deren. Von den Astkonstrukten unserer<br />
heimischen Bäume bis zum Säulenkaktus: Die<br />
Baubioniker suchen möglichst viele pflanzliche<br />
Vorbilder, erstellten danach 3-D- Com -<br />
putermodelle von ihnen und testen diese mit tels<br />
Simulationen auf mechanische Belas tungen.<br />
Verzweigungen mit symmetrischen Aufbau von<br />
drei oder vier gleichwertigen Ästen, die man zum<br />
Beispiel beim japanischen Pa pierbusch findet,<br />
dienten als Vorbilder für echte Konstruktionen.<br />
So sind Ergebnisse der Baubionik zum Beispiel in<br />
Stuttgart am Flughafen zu sehen.<br />
Ein Gebäude muss viele Anforderungen<br />
erfüllen: Es soll stabil sein, eine angenehme<br />
Innen atmosphäre haben, Leitungen für Strom,<br />
Gas, Wasser, Heizung und Daten besitzen.<br />
Architekten haben seit langem die Fun -<br />
Foto: Kovalenko<br />
ktionsweisen von Tieren und Pflanzen im Auge,<br />
um sich Anregungen aus der Natur für ihre<br />
Konzepte zu holen. Der Sonderforschungsbereich<br />
„Transregio 141“ hat viel dafür getan, dass Häuser<br />
in Zukunft nachhaltiger gestaltet werden.<br />
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FUTURE<br />
mediakompakt<br />
Foto: Pexels<br />
Next Level: Medizin<br />
Medizinstudenten üben eine OP – der Patient leidet am grauen Star. Die getrübte Linse<br />
wird vom Auge abgelöst und durch eine neue ersetzt. Ein kurzer Moment reicht, um das Auge<br />
des Patienten schwer zu verletzen. Nicht aber hier, es wird in der virtuellen Realität geprobt.<br />
VON MICHELLE JEHLE<br />
Was bisher vor allem in der Gam -<br />
ing-Industrie angewandt wird, hält<br />
Einzug in die Medizin. Patienten<br />
mit schweren Ver brennungen<br />
können dank der VR-Tech nologie<br />
auf Schmerzmittel während der Ver bandswechsel<br />
verzichten. Mittels einer speziellen Brille und<br />
eines Headsets werden die Pa tien ten in die<br />
Snow-World versetzt, eine an der Universität<br />
Washington entwickelte Win terlandschaft.<br />
Der Patient bewegt sich dabei durch eine<br />
Schnee landschaft, inklusive Pinguinen und<br />
Schnee ballschlacht. Die Ablenkung soll Schmer -<br />
zen lindern – und das um bis zu 50 Prozent. Ähn -<br />
liche Ergebnisse werden sonst durch Morphium<br />
erreicht. Positive Nebeneffekte der Be handlung:<br />
Es wird keine Abhängigkeit erzeugt und die<br />
Wahrscheinlichkeit einer Depression bei Lang -<br />
zeitpatienten verringert.<br />
Auch in der Behandlung von Suchtproblemen<br />
oder Phobien findet VR Anwendung. So berichtet<br />
die Barmer Krankenkasse von Patienten, die ihrem<br />
Suchtmittel ausgesetzt werden und lernen, diesem<br />
zu widerstehen. Eine Vorbereitung auf die Zeit<br />
nach der Therapie. Arachnophobiker werden mit<br />
virtuellen Spinnen konfrontiert, um ihre Angst zu<br />
überwinden. Die Therapie ist besser zu kon -<br />
trollieren, leichter umzusetzen und kosten -<br />
günstiger als die traditionelle Form.<br />
Neben dem Einsatz als „alternative Heil -<br />
methode“ wird VR auch als Lehrmittel eingesetzt.<br />
Studenten können lebensrettende Maßnahmen<br />
ohne Gefahr üben. Sei es bei einer Operation am<br />
Gehirn oder im Umgang mit Traumapatienten.<br />
Vir tuelle Realität ermöglicht schnelleres und<br />
sicheres Lernen, bereits gewonnenes Wissen kann<br />
auf die Probe gestellt werden. Eine Prozedur, die<br />
bei Flugzeug-Piloten gang und gäbe ist. In Zukunft<br />
soll es möglich sein, Behandlungsmethoden am<br />
vir tuellen Patienten zu erforschen.<br />
Kritik wird aber geäußert, alles kann die neue<br />
Technologie laut der Wissensseite der „Welt“<br />
nicht erzeugen. In der Handhabung mit der VR<br />
erleben die Studierenden nicht, wie sich die<br />
Netzhaut anfühlt, die mit der Pinzette berührt<br />
wird. Die Übung kann theoretisch im T-Shirt<br />
durchgeführt werden – und doch sitzen die Stu -<br />
dierenden dort im Kittel, um ihr Gehirn aus -<br />
zutricksen. Dass dieser Trick auch tatsächlich<br />
funktioniert, bestä tigen viele der Operierenden.<br />
Sie sagen, sie hätten etwas gespürt und nach dem<br />
Eingriff die Pinzette am Kittel abgewischt. Eine<br />
echte, trockene und un benutzte Pinzette.<br />
Die virtuelle Realität kann die Studierenden<br />
nicht auf den Moment vorbereiten, in dem sie<br />
einem Patienten eine schlechte Nachricht<br />
überbringen müssen. Oder der Familie berichten<br />
müssen, dass die Mutter die schwere Operation<br />
leider nicht über standen hat. Sie kann Menschen,<br />
die eine Hand oder ein Bein verloren haben, die<br />
Glied maßen nicht zurückgeben. Und sie kann Be -<br />
troffene nicht von deren Depression heilen.<br />
Dennoch bietet die virtuelle Realität viele<br />
Möglichkeiten, den Menschen zu helfen und The -<br />
rapien zu unterstützen. Sie kann die Grundlage für<br />
die Erforschung neuer Behandlun gen sein und<br />
den Studierenden die Scheu vor den Umgang mit<br />
dem menschlichen Körper nehmen.<br />
Noch wird der Einsatz der Virtual Reality in der<br />
Medizin von vielen Experten eher belächelt als be -<br />
fürwortet. Es ist nicht mehr als ein Nice-to-have,<br />
das aus der Gaming-Welt in die Wissenschaft<br />
schwappt. Es liegt an uns, sich auf die Tech nologie<br />
einzulassen. Und bereit zu sein für das nächste<br />
Level der Medizin.
2/2018 FUTURE<br />
29<br />
Die Motivation<br />
am Weltuntergang<br />
Alles was den Weltuntergang<br />
zelebriert, wird verschlungen.<br />
Wenn der Mensch die<br />
dystopische Zukunft der<br />
Realität vorzieht, muss mit<br />
uns etwas im Argen liegen.<br />
VON LISA SCHULER<br />
Donald Trump fördert das Lesen! Ja, das<br />
mag erstaunen. Schließlich ist der<br />
US-Präsident hauptsächlich für seine<br />
auf <strong>24</strong>0 Zeichen limitierten Aussagen<br />
bekannt, die sich stilistisch durch die<br />
Verwendung vieler Adjektive und kurzer Sätze<br />
auszeichnen. Wirklich traurig. Denn mit seiner<br />
Vereidigung zum mächtigsten Politiker der Welt<br />
katapultierte er einen fast ebenso alten Roman an<br />
die Spitze der Bestsellerlisten. George Orwells<br />
„1984“ musste sogar nachgedruckt werden, um<br />
das Verlangen der Massen zu stillen.<br />
Ein Unternehmer wird Präsident und weckt<br />
ein Bedürfnis nach Weltuntergangsliteratur?<br />
Interessant. Hieß es nicht „Make America Great<br />
Again“? Was wird es sein? Die amerikanische<br />
Uto pie oder Orwells düstere Zukunft mit Dikta -<br />
tor, Überwachungsstaat und Wahrheits mini -<br />
sterium, das die Geschichte umschreibt und<br />
propagiert. Es dürfte eine Frage der Perspektive<br />
sein. Alternative Fakten? Vielleicht. Fakt ist, dass<br />
die Faszination von Utopie und Dystopie sogar<br />
noch älter ist als der Mann im Weißen Haus.<br />
Es war einmal die Utopie. Oder, um es<br />
genauer zu sagen: eher keinmal. Denn die Utopie<br />
besticht dadurch, nicht zu sein. „Nicht-Ort“<br />
heißt sie auf Griechisch, etwas das nirgends ist.<br />
Und doch stellt sie die ideale Gesell schaft dar. Ein<br />
Versprechen der Voll kommen heit. Aber ein<br />
unerreichbares.<br />
Die Utopie ist das vom Menschen geplante<br />
Paradies, ganz ohne göttlichen Bestimmer. Wenn<br />
das Wolkenschloss untergeht, die Utopie<br />
scheitert, nennt man es Dystopie. Sie ist das ver -<br />
lorene Paradies. Als „schlechter Ort“ übersetzt, ist<br />
sie realer und versteckt sich in zahlreichen<br />
Gewändern: apokalyptisch, post-apokalyptisch.<br />
Oder: weder noch.<br />
Wichtig ist, dass sie die Negation der Utopie ist.<br />
Die Manipulation des Individuums durch die Ge -<br />
sellschaft. Perfektion zu Lasten der Freiheit. Dieser<br />
Albtraum wird stetig auf neue Weise in ver -<br />
schiedenen Medien erzählt.<br />
Ein wiederkommendes Wiegenlied. Als wolle<br />
der Mensch sich selbst mit der dunkelsten Zukunft<br />
quälen. Der Mensch als Masochist? Wohl eher als<br />
Realist, denn in jeder Dystopie steckt ein Körnchen<br />
der Gegenwart.<br />
Foto: Pixabay<br />
Eine Not, die es zu beseitigen gilt. Ein Ideal, das<br />
angestrebt wird. Eine Technologie, die das Leben<br />
erleichtern soll. Es ist ein absolutes Armutszeugnis<br />
der menschlichen Geschichte, dass einfacher an<br />
Dys topien zu glauben ist als an Utopien. Und<br />
wenn die Vergangenheit von fanatischen Idealis -<br />
ten und machtergreifenden Tyrannen ge prägt ist<br />
und in der Gegenwart uns ihre Nach folger<br />
terrorisieren.<br />
Hoch lebe die Dystopie!
30<br />
SOCIETY<br />
mediakompakt<br />
Generation<br />
Zukunftsangst!<br />
Das nächste Kapitel steht an:<br />
die Zeit unseres Lebens. Du bist<br />
nicht bereit? Jederzeit kann es<br />
losgehen. Doch irgendetwas<br />
fehlt noch. Wo sind all unsere<br />
Pläne geblieben?<br />
VON LAURA HOLZINGER<br />
Foto: Pexels<br />
Achttausendsechshundertfünfzig. So vie -<br />
le Ergebnisse erhalte ich, wenn ich den<br />
Begriff „Zukunftsangst“ google. Ein<br />
Definitionsvorschlag: „Zukunftsangst<br />
bezieht sich auf all die Dinge, die<br />
möglicherweise noch kommen können und mit<br />
denen wir eventuell in der näheren oder auch<br />
ferneren Zukunft zu tun bekommen. Zukunft s -<br />
angst lähmt, belastet und beschäftigt aber schon<br />
heute und im Hier und Jetzt.“<br />
Ich kenne das Gefühl. Mich überkommt es<br />
jedes Mal, wenn mir diese eine, verdammte Frage<br />
gestellt wird: „Weißt du schon was du nach dem<br />
Studium machst?“ Für einen kurzen Moment bin<br />
ich dann wie „gelähmt, belastet und beschäftigt“<br />
(Danke, Google!). Aber wie darauf antworten?<br />
Man will nicht wie ein orientierungsloser Student<br />
rüberkommen.<br />
Jetzt zu sagen, man weiß es noch nicht, weil es<br />
einfach so ist, wäre zu unverschämt ehrlich. Und<br />
auch wenn wir eigentlich wissen, dass es okay ist,<br />
nicht jeden weiteren Schritt akribisch geplant zu<br />
haben, wollen wir doch den Eindruck vermitteln,<br />
die Planung der Zukunft sei in vollem Gange.<br />
Meine Antwort auf die immer gleiche Frage, eine<br />
Aneinanderreihung von nichtssagenden Floskeln,<br />
habe ich längst per fektioniert. Wenn mein Gegen -<br />
über alle Signale richtig deutet, fragt er nicht<br />
weiter nach.<br />
Willkommen im Club der Twentysomethings.<br />
Willkommen in der Quarter-Life-Crisis. In der<br />
Generation Zukunftsangst. Unsere Ängste, unsere<br />
Probleme sind sehr persönlich. Nach einer kurzen<br />
Recherche stelle ich fest, es geht vielen so. Die<br />
meisten Betroffenen haben ihr Studium beendet.<br />
Grund zur Freude? Nicht wirklich. Das Problem:<br />
Wir sehen die Zukunft vor lauter Möglichkeiten<br />
nicht mehr. Die Angst, man könnte vielleicht die<br />
falsche Entscheidung treffen und dadurch eine<br />
wei tere unattraktive Lücke im Lebenslauf ris -<br />
kieren, lähmt, belastet und beschäftigt eine<br />
gesamte Generation. Auch wenn es für Außen ste -<br />
hende „nicht so schlimm“ ist, besteht die Gefahr,<br />
in dieser Phase stecken zu bleiben.<br />
Unser Umfeld ist allerdings nicht so ganz<br />
unschuldig daran. Alle um uns herum versuchen<br />
uns permanent einzutrichtern, wie schwer es sei,<br />
einen guten Job zu finden. Wir sollten froh sein,<br />
wenn uns nach dem Studium überhaupt jemand<br />
nimmt. Alles sei viel zu gefragt, viel zu teuer. Eine<br />
wahre Gehirnwäsche , der wir uns eigentlich<br />
schon seit dem Abitur unterziehen.<br />
Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass all<br />
diese Ängste Quatsch sind. Wir sollten einfach<br />
loslegen. Womit? Völlig egal! Wenn ich mich<br />
nach meinem Studium zur Kosmetikerin um -<br />
schulen lassen, nochmal studieren oder ein<br />
Startup gründen will, dann kann ich das ver -<br />
dammt nochmal tun. In zehn Jahren werden wir<br />
uns garantiert alle wünschen, heute, hier und jetzt<br />
nicht solange gezögert zu haben. Wir sind quali -<br />
fiziert und mehr als bereit, weil wir endlich etwas<br />
bewegen und gebraucht werden wollen.<br />
Also: Los geht‘s<br />
FÜNF TIPPS<br />
è<br />
è<br />
è<br />
è<br />
è<br />
Darüber reden. Du wirst sehen, wie<br />
vielen es genauso geht wie dir. Das<br />
erleichtert ungemein!<br />
Triff dich mit einem Kumpel, der<br />
mit 35 immer noch studiert.<br />
Schreibe Leute mit interessanten<br />
Jobs auf Xing oder LinkedIn ein -<br />
fach mal an, und lass dir von ihnen<br />
erzählen, was sie machen.<br />
Vor allem: Lass dir nichts erzählen.<br />
Schon gar nicht von Leuten, die<br />
ihr Leben lang denselben Beruf<br />
ausüben und auch noch total<br />
unzufrieden damit sind!<br />
Denk‘ daran, dass du irgendwann<br />
mal auf diese Phase (ja, es ist nur<br />
eine Phase) zurückschauen und<br />
dich darüber schlapplachen wirst,<br />
wie unbegründet deine Sorgen<br />
doch waren.
2/2018 SOCIETY<br />
31<br />
Drum prüfe,<br />
wer sich ewig bindet<br />
Wer auf die Liebe seines Lebens trifft, muss nicht zwangsläufig vor den Altar treten – das<br />
moderne Märchen sieht, wenn überhaupt, auch andere Beziehungsmodelle vor.<br />
Über die Beziehung im Wandel der Zeit.<br />
VON VANESSA SANTOS<br />
Beziehung ist eines der meist disku -<br />
tierten Themen in den Medien. Wer<br />
der Flut an Artikeln Glauben schenkt,<br />
kommt zum Schluss, dass sie kein<br />
Leben lang halten. Es wird auf<br />
Scheidungsquoten und eine sinkende Anzahl an<br />
Eheschließungen verwiesen. Beziehungen werden<br />
kürzer und vor allem komplizierter. Oft wird von<br />
einer Befristung gesprochen, als würden Paare<br />
bereits bei Beginn auf ein Ende hinarbeiten.<br />
Es könnte der Anschein entstehen, dass heute<br />
weniger Paare vor den Altar treten. Statistisch<br />
betrachtet hat die Anzahl an Eheschließungen<br />
jedoch zugenommen und die Scheidungsquote<br />
liegt nur noch bei 39,56 Prozent. Die Bereitschaft<br />
zu heiraten ist also vorhanden, allerdings hat<br />
innerhalb der vergangenen Jahre eine Neu -<br />
interpretation der Beziehung stattgefunden – eine<br />
gute Partnerschaft muss nicht mehr zwangsläufig<br />
in einer Ehe enden.<br />
Auch die Rollenverteilung ist nicht mehr so<br />
festgesetzt. Wer die Ehe im Wandel der Zeit<br />
betrachtet, stellt fest, dass sie früher einer<br />
Zweckgemeinschaft<br />
gleichkam, bei der<br />
vor allem die finan -<br />
zielle Ab sicherung<br />
und der Fort be -<br />
stand der Familie<br />
im Mit telpunkt<br />
standen.<br />
Wie Marion Stel ter, freiberufliche Psychologin<br />
und Paar thera peutin in Stuttgart, sagt, ist die<br />
heutige Vor stellung der Ehe eher romantisch<br />
geprägt. Es wird nicht erwartet, dass die Frau<br />
zuhause bleibt, um sich um Mann und Kinder zu<br />
kümmern. Frauen haben die gleichen Rechte wie<br />
Männer, streben nach privater und beruflicher<br />
Selbstverwirk lichung und haben ganz andere<br />
Möglich keiten als etwa vor 50 Jahren.<br />
Neben der Ehe haben sich neue Familien und<br />
ganz neue Beziehungsformen entwickelt:<br />
Ein-Eltern-Familien, auch nicht eheliche Lebens -<br />
gemeinschaften und Partnerschaften, bei denen es<br />
keine gemeinsame Wohnung gibt oder Fern -<br />
beziehung geführt werden.<br />
Daneben wird – besonders in Großstädten –<br />
das Single-Dasein zur Norm. Während sich<br />
klassische Beziehungsmodelle auf zwei Partner<br />
beschränken, sind bei einer offenen Beziehung<br />
auch Seitensprünge erlaubt. Viele Menschen<br />
wollen nicht in einer Partnerschaft leben und<br />
geben sich mit zwanglosen One-Night-Stands<br />
zufrieden. Mag man jemanden, aber ohne Ver -<br />
pflich tungen einzugehen, entscheiden sich<br />
manche für eine lockere Affäre, bei dem der Sex im<br />
Vordergrund steht.<br />
Wer es noch komplizierter haben möchte,<br />
bezeichnet sich als Mingle – zwei Menschen, die<br />
zwar eine körperliche Beziehung führen und als<br />
Freunde viel Zeit miteinander verbringen, aber<br />
nicht wirklich zusammen sind. Niemand will auf<br />
etwas verzichten, jeder hat die Angst etwas zu<br />
verpassen. Dabei suchen viele das perfekte<br />
Gegenüber. Das Gefühl, der Partner sei<br />
nicht genug, macht sich schon<br />
bei der kleinsten Unstimmigkeit breit. Aber wäre<br />
es vor 50 Jahren nicht auch so gewesen, wenn die<br />
Möglichkeit bestan den hätte? In einer Welt, die<br />
darauf aus gelegt war, dass eine Frau nur Ehefrau<br />
und Mutter blieb, gab es wenig Spielraum, auszu -<br />
brechen. Eine Trennung war aus finanziellen<br />
Gründen häufig unmöglich, dagegen sind heute<br />
meist beide Partner finanziell unabhängig. Es<br />
muss nicht immer zur Trennung kommen, sagt<br />
die Paar therapeutin. Es gebe Paare, die um ihr<br />
Glück kämpfen: „Oft bleibt in einer Beziehung die<br />
Romantik auf der Strecke, Ver änderungen im<br />
Leben führen dazu, dass man denkt, nicht mehr<br />
zusammenzupassen“, sagt sie. Stress, eine unter -<br />
schiedliche Lebensgestaltung und wenig Zeit<br />
füreinander – das seien alles Gründe für den<br />
Wunsch einer Trennung. „Das eigentliche Pro -<br />
blem liegt darin, dass eine Therapie oft als letzte<br />
Rettung gesehen wird. Dabei ist es weitaus<br />
schwieriger einzulenken, wenn bereits so viel<br />
kaputt gegangen ist.“<br />
Marion Stelter,<br />
freiberufliche Psychologin in Stuttgart:<br />
https://www.beziehungsmuster.de/<br />
Foto: Pexels
32 SOCIETY<br />
mediakompakt<br />
Foto: Pexels<br />
Regional, gesund und<br />
voll im Trend<br />
Der Einkauf von Lebensmitteln heute ist so einfach: Im Supermarkt können wir einkaufen,<br />
was wir wollen. Zusätzlich können wir online bestellen und uns die Lebensmittel nach<br />
Hause liefern lassen. Wir sind bestens versorgt. Warum sollten wir Zeit und Mühe in<br />
Kauf nehmen, regionale Produkte auf den Teller zu bekommen? Eine Spurensuche.<br />
VON ISABELL WIELAND<br />
Für immer mehr Kunden sind regionale<br />
Lebensmittel das neue Bio. Wer wissen<br />
möchte, was in seinem Essen ist und wie<br />
viele Kilometer es zurückgelegt hat, kann<br />
nicht nur auf Wochenmärkten, sondern<br />
auch in Stuttgarts Hofläden Waren regionaler<br />
Bauern kaufen. Den Trend haben die Gründer<br />
von „StadtLandEi“ erkannt und zusammen mit<br />
dem Stuttgarter Start-Up „smark“ die Kessel-Kiste<br />
am Hauptbahnhof ins Leben gerufen. Seit Juli<br />
2017 können an einem automatisierten Holz-<br />
Pavillon in der Haupthalle rund um die Uhr<br />
regionale Produkte eingekauft werden: Eier,<br />
Maultaschen, Spätzle, Linsen und vieles mehr.<br />
Fernab von Biosiegeln beurteilen die Gründer<br />
Thomas Baur & Adnan Ribic anhand von Kriterien<br />
wie Tierhaltung, Herkunft, Nachhaltigkeit oder<br />
dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, welche<br />
Pro dukte sie anbieten. Das schöne daran: Man<br />
kann sich direkt am Automaten über Herkunft, Er -<br />
zeuger und Nährwerte informieren.<br />
Im Februar 2018 wurde der zweite Standort in<br />
Stuttgart eröffnet. Im Westen findet sich das<br />
Kessel-Lädle direkt gegenüber der U-Bahn Halte -<br />
stelle Schwab-/Bebelstraße mit über 150 Lebens -<br />
mitteln aus der Region. Eine Neuheit dabei ist der<br />
Verkauf von frischen Waren wie Obst und<br />
Gemüse. Auch das Kessel-Lädle hat sozusagen<br />
rund um die Uhr geöffnet. Neben den Waren ist<br />
auch der Aufbau der Kessel-Kiste und des Kessel-<br />
Lädles regional. Zusammen mit der Kreativ- und<br />
Upcycling-Schmiede Kesselholz-Design wurden<br />
die Holzfassaden umgesetzt. Das Holz stammt aus<br />
alten Gebäuden aus Stuttgart und Umgebung.<br />
Doch Hofläden lassen sich nicht nur in der<br />
Stadt finden, viele Landwirte veräußern direkt auf<br />
dem eigenen Hof ihre Produkte. Der Einkauf im<br />
Hofladen kann so zum Erlebnis für Groß und<br />
Klein werden. So lässt sich alles darüber erfahren,
2/2018 SOCIETY<br />
33<br />
Foto: Smark<br />
wie Tiere gehalten, ob und welche<br />
Pflanzenschutzmittel benutzt werden und wie<br />
Landwirtschaft funktioniert. Wer mal ein Ei pro -<br />
bieren möchte, dass am gleichen Tag gelegt<br />
wurde, sollte bei einem der Hofläden vorbei -<br />
schauen.<br />
Doch es gibt es viele andere Möglichkeiten,<br />
Gemüse in Stuttgart und der Region selbst<br />
anzubauen. Denn Naturbegeisterte können<br />
frisches Gemüse auf den Teller zaubern, ohne<br />
gleich aufs Land ziehen zu müssen. Das Team von<br />
„meine ernte“ beispielsweise vermietet kleine<br />
Gärten und garantiert eine Ernte während der<br />
gesamten Saison.<br />
Und so funktioniert es: Die Miet-Gärten<br />
werden im Frühjahr vom Landwirt mit mehr als<br />
20 Gemüsesorten besät. Ab Saisonstart können<br />
die Mieter den eigenen Garten genießen und ler -<br />
nen, welche Sorten wie und wann wachsen.<br />
Gartengeräte und Wasser zum Gießen werden<br />
gestellt. Frischer und gesünder geht es nicht!<br />
Zusätzlich gibt es ein Beratungsangebot mit ei -<br />
nem Gärtnerbrief per E-Mail, Sprechstunden mit<br />
dem Landwirt und vieles mehr.<br />
Wer sich nicht gleich die Pflege eines ganzen<br />
Gartens zutraut, kann sich dem Trend „Urban<br />
Gardening“ anschließen. Ziel ist, auf ungenutzten<br />
Flächen frisches Grün anzubauen und eine<br />
umwelt freundliche Versorgung mit Lebens -<br />
mitteln zu garantieren. So entstehen immer mehr<br />
Pro jekte, etwa auf leeren Parkplätzen. Der eigene<br />
Bal kon kann aber auch in ein Obst-Paradies<br />
verwandelt werden. Urban-Gardening-Anhänger<br />
sind sehr kreativ: Beete werden in alten Auto -<br />
reifen, ausgetragenen Schuhen oder auf -<br />
geschnittenen Tetrapaks angelegt und besät.<br />
Nicht nur frisch, sondern auch gesund sind diese<br />
Lebensmittel, denn es werden im Normalfall<br />
keine Pflanzenschutzmittel verwendet.<br />
Für alle Interessierten gibt es auch eine Menge<br />
an Communities mit Tipps und Tricks, wie man<br />
Urban Gardening am besten macht.<br />
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34<br />
SOCIETY<br />
mediakompakt<br />
Foto: Saskia Heller<br />
Zero Waste in Stuttgart<br />
Ein Seepferdchen umschlingt ein Wattestäbchen. Seevögel verenden qualvoll<br />
am Strand. Inseln aus Plastik treiben im Meer. Bilder, die sich ins Gedächtnis<br />
brennen. Was kann jeder von uns tun, um die Vermüllung der Meere einzudämmen?<br />
VON SASKIA HELLER<br />
Jeder Deutsche produzierte im Jahr 2015<br />
laut einer Studie des Kölner Instituts der<br />
deutschen Wirtschaft 37 Kilogramm<br />
Plastikmüll. Die Recyclingrate betrug le -<br />
diglich 49 Prozent, der Rest wird zur<br />
Energiegewinnung verbrannt. Kritiker bemängeln<br />
schon lange die geschönten<br />
Zahlen der Abfallwirtschaft.<br />
So wird ein Großteil des<br />
Plastikmülls von China auf -<br />
gekauft, um daraus neue<br />
Produkte herzustellen. Und<br />
der Abfall wird nicht einmal<br />
direkt in Deutschland<br />
recycelt. Für dieses Jahr hat<br />
China eine Reform des Ab -<br />
fallkaufs angekündigt –<br />
minderwertiger Müllsoll<br />
nicht mehr von westlichen<br />
Na tionen gekauft werden.<br />
Al so: Die Abfallwirtschaft in<br />
un serem Land muss sich was<br />
einfallen lassen.<br />
Umso wichtiger ist es,<br />
dass jeder einzelne sich Gedanken um seinen Müll<br />
macht. Zum Beispiel darüber, ob Bananen im<br />
Supermarkt in einer Plastiktüte zur Kasse getragen<br />
werden müs sen. Oder ob man den Irrsinn von<br />
gepellten und wieder in Plastik verpackten Eiern<br />
unterstützen möchte.<br />
Eine ausgesprochen clevere Alternative zum<br />
Verpackungswahnsinn bietet der Supermarkt<br />
Schütt gut im Stuttgarter Westen. Dort macht man<br />
es sich seit drei Jahren zur Aufgabe, Produkte<br />
nach haltig, möglichst regional und biozertifiziert<br />
und unverpackt anzubieten. Der Kunde bringt<br />
dazu entweder sein eigenes<br />
Ver packungsmaterial mit oder<br />
er kann im Supermarkt<br />
ökologisch verträgliche Stoff -<br />
taschen und Behältnisse in<br />
unterschiedlichen Größen er -<br />
werben. Das rein vegetarische<br />
Sortiment reicht von über -<br />
wiegend saisonalem Obst und<br />
Gemüse über Nudeln, Körner,<br />
Joghurt, Eiern, Käse bis zu<br />
Backwaren.<br />
Auch ausgefallene Produkte<br />
wie Blütenpollen für das Müsli,<br />
Waldmeisterfruchtaufstrich<br />
oder als Highlight ganz frisch<br />
Foto: Saskia Heller gemahlenes Haselnussmus<br />
finden die Kunden in dem 53<br />
Quadratmeter großen Supermarkt. „Das Lieb -<br />
lingsprodukt der Kunden sind die Shampoos. Da -<br />
von wurden 5000 Stück in zwei Jahren verkauft“,<br />
sagt Jens-Peter Wedlich, Inhaber und Gründer<br />
von Schüttgut. Shampoos, die äußerlich eher<br />
Seifen ähneln, werden einzeln in Papier verpackt<br />
und verkauft. Auch andere Drogerieartikel wie<br />
Bambuszahnbürsten und Waschmittel erfreuen<br />
sich großer Beliebtheit.<br />
Allerdings: Ein Einkauf im Schüttgut-Markt<br />
will gut vorbereitet sein. So muss sich der Kunde<br />
schon vorab Gedanken machen, welche Menge er<br />
tat sächlich benötigt und wie er die Waren trans -<br />
portieren will. Genau dadurch werde laut Wedlich<br />
der Verschwendung entgegengesteuert. Das<br />
Konzept komme gut an. Nicht nur Stuttgarter kau -<br />
fen hier gern ein. „Wir haben ein riesiges<br />
Einzugsgebiet. Die Kunden fahren aus Heilbronn,<br />
Tübingen, Ludwigsburg zu uns, sogar aus<br />
Altensteig waren neulich welche da.“<br />
Doch was kann man nun tun, wenn die Fahrt<br />
zum Zero-Waste-Supermarkt zu weit ist? Mit<br />
selbstgenähten Stoffbeuteln, zum Beispiel aus al -<br />
ten Gardinen, lassen sich zumindest die<br />
Plastiktüten im Obst- und Gemüsebereich ein -<br />
sparen. Bei Joghurt, Milch, Senf, Öl und Essig wäre<br />
es vorstellbar, vollständig auf eine Plas -<br />
tikverpackung zu verzichten und dafür lieber<br />
Mehr weg-Gläser kaufen. Wurst, Käse und Brot<br />
bes ser an der Theke kaufen, so sind auch kleine<br />
Men gen möglich. Positiver Nebeneffekt: Es ent -<br />
stehen weniger Reste. Mit ein wenig Überlegung<br />
fallen jedem von uns sicher noch mehr Wege ein,<br />
Müll zu vermeiden.<br />
www.schuettgut-stuttgart.de
2/2018 SOCIETY<br />
35<br />
Von Apple-Jüngern und<br />
Sneaker-Sammlern<br />
Aufgeschlagene Zelte, Feldbetten und Schlafsäcke, junge Menschen sitzen in<br />
Decken eingewickelt auf Campingstühlen – klingt nach einem lustigen<br />
Camping-Ausflug. Nur die Location ist ungewöhnlich: mitten in der<br />
Stadt wird tagelang kampiert. Doch warum?<br />
VON LUCCA REDER<br />
Stuttgart, 2015: Es sind Bilder, die man<br />
sonst sieht, wenn ein Pop-Star in die<br />
Stadt kommt, und man unbedingt<br />
Tickets ergattern will. Jugendliche und<br />
junge Erwachsene, sie haben teilweise<br />
extra den Weg aus anderen Städten auf sich<br />
genommen, kampieren vor dem Schuhgeschäft<br />
„Foot Locker“ in der Stuttgarter Königstraße – be -<br />
waffnet mit Zelten, Liegen, Campingstühlen und<br />
Decken.<br />
Und wofür? Für ein Paar „Yeezy Boost“.<br />
Schuhe des Rappers Kanye West in Kooperation<br />
mit Adidas. Doch nicht jeder bekommt die be -<br />
Foto: Pexels<br />
gehrten Treter. Es geht darum, ein VIP-Armband<br />
zu ergattern, das am Release-Tag der Sneaker ge -<br />
gen ein Paar der begehrten Treter eingetauscht<br />
werden kann – die Armbänder werden nach dem<br />
Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“<br />
vergeben. Die Adidas „Yeezy Boost“ kosten circa<br />
350 Euro. Die Kampierer selbst bezeichnen sich<br />
gern als „Sammler“, teilweise verkaufen sie die<br />
Schu he im Internet dann deutlich teurer an<br />
Gleichgesinnte weiter.<br />
Gehen wir der Sache noch etwas weiter auf<br />
den Grund: Für einen ganz normalen Schuh<br />
würde sicher niemand Schlange stehen. Wenn<br />
der Name eines berühmten Künstlers oder das<br />
Logo einer angesagten Marke drauf steht, wollen<br />
es plötzlich ganz viele haben, um ein Status -<br />
symbol zu besitzen. Oder, um Ein druck bei<br />
Freunden und Verwandten zu schinden.<br />
Ein weiteres Beispiel ist das Apple-Phänomen:<br />
Seit Jahren schlagen die Fans des Herstellers miot<br />
dem angebissenen Apfel im Logo ihre Lager vor<br />
den Stores auf, wenn der Release eines neuen<br />
iPhones ansteht. Bei Apple wurde dieses<br />
Phänomen sozusagen geboren. Anhänger des an -<br />
gebissenen Apfels kaufen jedes Jahr das aktuelle<br />
Mo dell des Smartphones. Unabhängig davon, ob<br />
das vorige noch funktioniert oder nicht.<br />
Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. So<br />
fängt die Markensucht bei Apple-Jüngern nicht<br />
erst an, wenn ein neues iPhone herauskommt. Bei<br />
den Apple-Messen, wenn die berühmten Keynotes<br />
(früher von Steve Jobs persönlich), gehalten wer -<br />
den, verharren die Apfel-Anbeter stundenlang vor<br />
den Toren und warten auf Einlass. Und neben<br />
Fan-Foren gibt es Stammtische oder teilweise so -<br />
gar gemeinsame Sommerausfahrten. Klingt ver -<br />
rückt? Ist aber die Wahrheit.<br />
In einer WDR-Reportage war zu sehen, wie<br />
Apple-Nutzer, die ihrem neuen iPhone amouröse<br />
Gesten entgegenbrachten, in einen Magnet -<br />
resonanztomographen (MRT) gesteckt wurden.<br />
Abwechselnd wurden Produkte von Samsung und<br />
Apple gezeigt. Während die Handys von Samsung<br />
eher vernunftbetonte Hirnareale aktivierten,<br />
regten die Apple-Geräte das Gehirn dort an, wo in<br />
der Regel emotional assoziierte Gesichter, etwa die<br />
von Freunden oder Verwandten, erkannt werden.<br />
Die Nutzer entwickelten eine emotionale Be -<br />
ziehung zu ihrem Smartphone. Die Beispiele<br />
zeigen deutlich, wie groß die Markenorientierung,<br />
beziehungsweise der -zwang in der heutigen – vor<br />
allem jüngeren – Gesellschaft geworden ist. Be -<br />
reits in Schulen wird von Mobbing-Fällen<br />
berichtet, weil ein Klassen kamerad No- Name -<br />
Klamotten trägt. Jeder ver nünftig den kende<br />
Mensch sollte sich an den Kopf fassen.<br />
Es lohnt ein kritischer Blick auf die<br />
Werteverteilung in der Gesellschaft und deren<br />
Vermittlung in der Erziehung der Jüngsten. Bei all<br />
dem kommt die Frage auf, ob mit dem Kampieren<br />
vor den Stores die höchste Stufe der Markensucht<br />
erreicht ist oder ob in den nächsten Jahren ein<br />
neuer, noch abgefahrener Trend aufkommt.<br />
Wir sind auf jeden Fall gespannt!
36<br />
SOCIETY<br />
mediakompakt<br />
Stilles<br />
Örtchen,<br />
oder doch<br />
nicht?<br />
Es könnte so einfach sein, auf<br />
den Topf setzen und Wasser<br />
marsch. Leider ist das nicht<br />
immerder Fall, oft ist das WC<br />
verschmutzt, oder es gibt<br />
einfach kein Klopapier. Für<br />
einige ist das größere Übel<br />
nicht die Ausstattung,<br />
sondern die Entscheidung vor<br />
der Tür: Damen oder Herren?<br />
VON ANZHELIKA GOLENKRIN<br />
Foto: Pixabay<br />
Stauwarnung: „Vorsicht vier Kilometer<br />
stoppender Verkehr auf der Autobahn<br />
81, zwischen Toiletten tür und Klo -<br />
schüssel“. So fühlt sich oft der Gang zum<br />
WC für uns Frauen an. Und wir alle<br />
haben in so einem Moment schon neidisch zur<br />
Seite geschaut. Wie eine gut ge ölte Maschine läuft<br />
ein Mann rein und wieder raus, ohne auch nur<br />
einen Hauch von einer Warteschlange.<br />
Dabei ist die Lösung so nah, aber zugleich<br />
doch so fern. Unisex-Toiletten! Diese würden<br />
nicht nur Vorteile für die hetero sexuellen<br />
Besucher haben, sondern auch helfen die LGBTI -<br />
Community mehr zu integrieren.<br />
„Wir alle in einer Toilette zusammen und<br />
gemeinsam?“, denkt sich der Unwissende im<br />
ersten Moment, und er malt sich das Schlimmste<br />
in seiner Fantasie aus. Doch die Realität ist nicht<br />
so dramatisch. Denn die Unisex-Toiletten<br />
bestehen aus einzelnen sanitären Anlagen, in<br />
denen die Intimität der Besucher bewahrt wird.<br />
Mehr Sorgen vor sexuellen Überfällen als zuvor<br />
muss man sich dadurch nicht machen.<br />
Insbesondere für Transgender, Transsexuelle<br />
und Intersexuelle wären Diskriminierungen und<br />
Unwohlsein auf dem stillen Örtchen nicht mehr<br />
an Tagesordnung. René Hornstein, Vorstands -<br />
mitglied im Bundes verband Trans*, und jemand,<br />
der sich ungerne für ein bestimmtes Ge schlecht<br />
definieren lässt, kennt alle diese Szenarien, die<br />
sich hinter den WC-Türen abspielen. Dabei<br />
fühlen sich Transgender-Frauen, die als „Mann“<br />
geboren worden sind nicht wohl eine Damen<br />
Toilette zu besuchen, weil sich die anderen<br />
Besucherinnen von ihr gestört fühlen und das<br />
auch zur Kenntnis geben. Auch hinter der<br />
anderen Tür sieht es nicht besser, denn dort bleibt<br />
es nicht nur bei verbalen Ausei n a n dersetzungen,<br />
sondern kann auch in starke Handgreiflichkeiten<br />
ausarten.<br />
Viele Universitäten und auch viele<br />
Hochschulen deutschlandweit setzen sich seit<br />
Jahren für die Einrichtung von Unisextoiletten<br />
ein. Auch bei uns stand das Thema Unisex-<br />
Toiletten zur Diskussion, wurde jedoch leider<br />
nicht durch gesetzt. Die Möglichkeit dazu bestand<br />
unter anderem für den großen Neubau der sogar<br />
mit fast doppelt so vielen WCs ausgestattet als<br />
rechtlich vorgesehen. Bei so viel Überschuss<br />
wären es keine größeren Mühen, einige Toiletten<br />
für uns alle anzu bieten.<br />
Foto: a.g.<br />
WAS BEDEUTEN<br />
DIE BEGRIFFE<br />
LGBTI:<br />
Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual,<br />
Transexuell/Transgender und Intersexual, es<br />
dient als Übergriff für die, die sich nicht zu der<br />
he terosexuellen Gemeinschaft zählen.<br />
Transgender:<br />
Das bezeichnet die Gruppe Menschen, die<br />
sich nicht mit ihrem angeborenen Geschlecht<br />
identifizieren wollen und dies auch nach<br />
außen hin präsentieren.<br />
Transsexualität/Transidentität:<br />
Sie möchten komplett als das jeweils andere<br />
Geschlecht akzeptiert werden und sie lassen<br />
sich mithilfe von Operationen und der Ein -<br />
nahme von Hormonen anpassen.<br />
Intersexuelle:<br />
Diese Menschen besitzen von Geburt an Ge -<br />
schlechtsorgane oder Ausprägungen bei der<br />
Pole. Sie sind dadurch schon biologisch nicht<br />
auf ein Geschlecht festgelegt.
2/2018 SOCIETY<br />
37<br />
Entscheide! Dich! Jetzt!<br />
Da ist sie wieder. Die Entscheidung, die getroffen werden will. Groß und schwer<br />
erscheint sie, könnte den Verlauf deines restlichen Lebens bestimmen. Du<br />
grübelst seit Stunden, vielleicht sogar Tagen oder Wochen, kommst auf keinen<br />
grünen Zweig. Was macht man in solchen Situationen? Wir geben Tipps.<br />
VON SANDRA EBERWEIN<br />
Wieso fällt es uns manchmal so<br />
schwer, uns zu entscheiden? Für Fe -<br />
lix Rebitschek liegt es auf der Hand:<br />
„Manchmal sind es zu wenige,<br />
meistens zu viele, und oft die<br />
falschen Informationen. Es liegt vor allem daran,<br />
dass die relevanten Informationen schlicht nicht<br />
zugänglich sind.“ Rebitschek ist wissen schaft -<br />
licher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für<br />
Bildungsforschung in Berlin und beschäftigt sich<br />
einge hend damit, wie Menschen mit Ent -<br />
scheidungen und deren Risiken umgehen. Als<br />
Leiter eines nationalen Forschungsprojekts will er<br />
uns im Umgang mit Entscheidungen unter Un -<br />
sicherheit stärken. Die gute Nachricht: Es gibt<br />
Tricks, die einem das Entscheiden leichter ma -<br />
chen können.<br />
Erstens: Problem erkennen und Ziel setzen<br />
Je besser du weißt, was du von deinem<br />
Beschluss haben möchtest, um so besser kannst<br />
du deine Entscheidungsmöglichkeiten abwägen.<br />
Wichtig ist, „das Problem zu schärfen”, sagt<br />
Rebitschek. Du musst dir eine neue WG suchen,<br />
weißt aber nur, dass du in eine schöne und gute<br />
WG ziehen möchtest? Dann stell dir die Frage:<br />
Was bedeutet schön und gut für dich? Ange -<br />
nehme Mitbewohner? Ein großes Zimmer? Eine<br />
gute Lage? Sobald du die für dich wichtigen Fak -<br />
toren kennst, kannst du sie untergliedern und<br />
priorisieren. Ein angenehmer Mitbewohner muss<br />
beispielsweise freundlich, ordentlich und pflicht -<br />
bewusst sein. Ein besonders angenehmer Mit -<br />
bewohner kocht vielleicht sogar dein Lieb -<br />
lingsgericht für dich, wenn du einen besonders<br />
schlechten Tag hattest.<br />
Zweitens: Dich nicht verrückt machen<br />
Wissen kann helfen, gut zu entscheiden. Aber<br />
Wissen hat nicht nur Vorteile, wie Rebitschek<br />
beschreibt: „Je mehr Informationen man ein -<br />
bezieht, desto höher ist das Risiko, dass man<br />
bestimmte Informationen berücksichtigt, die nur<br />
zufällig mit der zu treffenden Entscheidung zu -<br />
sammenhängen oder einfach zufällig nicht zu -<br />
sammenzuhängen scheinen.”<br />
Ein Beispiel: Du möchtest eine neue Kamera<br />
kaufen. Nachdem du seit Wochen recherchiert,<br />
Preise verglichen und Testberichte gelesen hast,<br />
scheint die Entscheidung noch schwieriger als<br />
zuvor. Zu viele Informationen können demnach<br />
durchaus einen negativen Effekt auf die Ent -<br />
scheidungsfähigkeit haben, da du einerseits den<br />
Foto: Unsplash<br />
Überblick verlierst und andererseits nicht mehr<br />
weißt, welche Kriterien dir wichtig sind. Re -<br />
bitschek dazu: „Robuste Entscheidungsfindung<br />
ver lässt sich auf eine überschaubare Anzahl von<br />
Schlüsselinformationen, und verzichtet daher<br />
auch auf Informationen.“<br />
Drittens: Auf dein Bauchgefühl hören<br />
Rebitschek bricht eine Lanze fürs Bauchgefühl.<br />
„Jeder Experte, Topmanager, Chefarzt wird Ihnen<br />
das bestätigen, wenn Sie danach fragen.“ Aber was<br />
ist unser Bauchgefühl, auch Intuition genannt,<br />
eigentlich? Das Unterbewusstsein verarbeitet und<br />
spei chert, was wir in der Vergangenheit gemacht<br />
und entschieden haben und merkt sich, ob die<br />
Ent scheidung einen guten oder schlechten<br />
Ausgang hatte. Verknüpft mit der jetzigen<br />
Situation ahnt es, wie ein ähnlicher Beschluss<br />
ausgehen könnte. Natürlich macht es bei<br />
manchen Entscheidungen wenig Sinn, aus -<br />
schließlich aufs Bauchgefühl zu hören, aber „ge -<br />
rade bei Problemstellungen, die nicht durch die<br />
Analyse von belastbaren Zahlen zu lösen sind”,<br />
liefert das Bauchgefühl „belegbar erfolgreiche<br />
Lösungen“, sagt Rebitschek.<br />
Viertens: Mit der Entscheidung glücklich sein<br />
Vor allem wenn du im Stress bist und nicht<br />
mehr weißt, wo dir der Kopf steht, fällt es dir<br />
schwer, gut zu entscheiden. Rebitscheks Tipp:<br />
Verzichte mit gutem Gewissen ganz absichtlich<br />
auf Optimierung. Die Methode nennt sich satis -<br />
ficing, ein Kunstwort aus satisfying und suffice.<br />
Sie funktioniert so: Setze dir ein „wün -<br />
schenswertes Aspirationslevel – wie viel sollte<br />
mindestens bei rum kommen”. Danach wählst du<br />
die erstbeste Möglichkeit, die das erfüllt. Laut<br />
Studien sind Satisficer nicht nur opti mistischer,<br />
sondern auch mit ihrem Leben zufriedener – im<br />
Gegen satz zu Maximierern, die ständig nach der<br />
optimalen Lösung suchen (die es so häufig gar<br />
nicht gibt).<br />
FAKTEN<br />
• Du triffst täglich etwa 20.000<br />
Entscheidungen<br />
• Mehr als die Hälfte der Deutschen<br />
entscheidet mehr mit de Verstand<br />
als mit dem Kopf
38<br />
SOCIETY<br />
mediakompakt<br />
Digitalisierung trifft Kirche<br />
Die digitale Transformation findet in vielen Bereichen des Lebens statt und beeinflusst uns<br />
vielfach. Orte, um aus dem gewohnten Alltag zu entfliehen, werden daher<br />
immer wichtiger. Welche Zuflucht bietet die Kirche?<br />
VON CLAUDIA SEIBERT<br />
Religion bringt Menschen zusammen<br />
und stiftet Gemeinschaft. Gläubige<br />
versammeln sich, um Messe zu feiern<br />
oder einfach beisammen zu sein.<br />
Solche persönlichen Begegnungen<br />
können aber nicht online stattfinden, das ist dem<br />
schnelllebigen Menschen jedoch zu unflexibel.<br />
Da bei helfen Auszeiten, dem Stress zu ent -<br />
kommen. Die Kirche bildet einen Gegensatz zum<br />
hek tischen Alltag, der durch moderne Kom -<br />
munikation und ständige Verfügbarkeit<br />
anstrengend geworden ist.<br />
Alles das sind Anzeichen einer großen,<br />
umfassenden Transformation: der Digitalisierung.<br />
Sie hat das Leben in nahezu allen Bereichen ver -<br />
ändert, zum Teilauf den Kopf gestellt und doch<br />
gibt es unberührt gebliebene Stellen. Die Kirche<br />
stellte lang einen Gegenpol zur Modernen dar,<br />
aber auch dort sind heute digitale Themen zu fin -<br />
den. Ein Internetauftritt und die Präsenz in sozia -<br />
len Netzwerken sind gang und gäbe. Viele<br />
Stimmen sind bereits der Meinung, es finde eine<br />
Art Medienreformation statt. Wie bei Martin Lut -<br />
her vor 500 Jahren.<br />
Die meisten Seelsorgeeinheiten haben mittler -<br />
weile eine Webseite, auf der sie sich präsentieren,<br />
etwa, um Termine oder Uhrzeiten für Gottes -<br />
dienste mitzuteilen. Auch die Jugendarbeit nutzt<br />
die sozialen Netzwerke. Über WhatsApp gibt es<br />
einen Gruppenchat für die Fastenzeit über den<br />
man Gedanken und Gebete miteinander teilen<br />
kann. Selbst der Papst hat einen eigenen Account<br />
auf Twitter und nimmt Stellung zu aktuellen<br />
Themen.<br />
Doch wie weit wird die Kirche in punkto Digi -<br />
ta lisierung mitziehen? Geht sie über das bisherige<br />
Maß hinaus? Öffnet sie sich sogar dem Gedanken<br />
einer virtuellen Messe? Messen sind ja über<br />
Fernsehen, Radio und Internet bereits live oder<br />
per Aufzeichnung zu erleben. Der päpstliche<br />
Segen an Ostern, der „Urbi et Orbi“ ist sogar auf<br />
diese Weise empfänglich und gilt für alle, die ihn<br />
über eines der Medien wahrnehmen. Momentan<br />
gilt dies nur für diesen speziellen Fall, aber viel -<br />
leicht kann künftig jeder Segen so empfangen<br />
wer den.<br />
Die Kirche hat den Wandel der Gesellschaft<br />
verstanden. Allerdings haben viele religiöse<br />
Themen noch immer eine starke Bedeutung. „Die<br />
Frage nach dem Sinn des Lebens, der Bedarf nach<br />
ge meinsam geteilten Werten, die Sehnsucht<br />
innerer Ruhe und das Einüben von Ritualen sind<br />
Zei chen das auch die jüngere Generation noch<br />
durchaus religiös ist“, erläutert Fabian Melchien.<br />
Er ist Gemeindereferent der Seelsorgeeinheit<br />
Allerheiligen in Karlsruhe. Die Kirche wird die<br />
Digitalisierung hoffentlich für sich einsetzen und<br />
dennoch ihre Werte nicht verändern.<br />
Das Internet kann helfen, verlorenen<br />
Menschen einen Platz zu geben und sie auf das<br />
Angebot der Hilfe und Gemeinschaft aufmerksam<br />
zu machen. Die digitale Welt kann die Kirche er -<br />
weitern und optimieren, sie muss nur auf die rich -<br />
tige Art genutzt werden. Tobia Luck, ehren -<br />
amtliche Dekanatsleiterin des BDKJ Karlsruhe,<br />
bringt es auf den Punkt: „Die Kirche kann die<br />
Foto: Unsplash<br />
Digitalisierung nutzen, um in allen Lebenswelten<br />
der Menschen präsent zu sein. Und vielleicht<br />
kann man so Menschen erreichen, die nicht von<br />
sich aus einen Gottesdienst besuchen würden.“<br />
Die Digitalisierung findet also bei Christen An -<br />
klang. Es hängt jedoch von jeder Gemeinde und<br />
je dem Menschen selbst ab, inwieweit Digi -<br />
talisierung genutzt wird. Die Kirche kann einen<br />
ru higen Pol in der Hektik des Alltags und somit ei -<br />
nen Zufluchtsort für alle darstellen – und dennoch<br />
digital auf der Höhe der Zeit sein.
2/2018 SOCIETY<br />
39<br />
Foto: eva / Pfisterer<br />
Liebe los!<br />
Nächstenliebe. Ein Wort, das im ersten Moment schnell erklärt ist. Es ist die<br />
Liebe zum Nächsten. Hört sich einfach an, oder? Von wegen!<br />
VON LISA MAIER<br />
Die Tür der Bahn schließt sich langsam.<br />
Eine junge Frau kommt angerannt. Du<br />
drückst schnell den Knopf. Die Tür<br />
springt wieder auf. Ein etwas außer<br />
Atem gekeuchtes Dankeschön. Andere<br />
Szene. Eine alte Nachbarin trägt zwei schwere<br />
Einkaufstaschen ins Haus. Du packst mit an. Ein<br />
dankbarer Blick.<br />
Kennt nicht jeder von uns solche kleinen<br />
Gesten im Alltag, die unseren Glauben an das Gu -<br />
te im Menschen stärken? Ist das christliche Nächs -<br />
tenliebe? „Aber sicher!“ denkst du vielleicht. „Na<br />
klar!“ sagt mein Bauchgefühl. Doch christliche<br />
Nächstenliebe ist weit mehr als solche kleinen<br />
Gesten.<br />
Der Begriff „Nächstenliebe“ stammt aus einem<br />
der Kernsätze im Alten Testament der Bibel. Dort<br />
heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie<br />
dich selbst“ (Levitikus 19,18). Dieser Satz hat es in<br />
sich. Zum einen ist hier die Rede von Liebe, zum<br />
an deren von meinem Nächsten und obendrein<br />
auch noch von einem selbst.<br />
Die Liebe ist die Grundhaltung der Christen.<br />
Gott hat seinen eigenen Sohn aus Liebe zu den<br />
Men schen hingegeben. Ist das nicht der größte<br />
Lie besbeweis, den es gibt? Diese hingebende Liebe<br />
verträgt kein bloßes Lippenbekenntnis. Sie er -<br />
greift Körper, Geist und Seele. Diese Liebe drängt<br />
zur Tat.<br />
Und wer dieser ominöse Nächste ist, findet<br />
man im Gleichnis vom barmherzigen Samariter.<br />
Es zeigt, wie drei Menschen mit dem Opfer eines<br />
Raubüberfalls umgehen. Ein Priester und ein Levit<br />
gehen achtlos an dem Überfallenen vorbei, ein<br />
Samariter leistet Hilfe. Er bringt den Verletzten in<br />
eine Herberge und sorgt für seine weitere Pflege.<br />
Wer ist also der Nächste hier? Das Opfer. Wie<br />
einfach! Lautet die Frage aber: Wer ist der Nächste<br />
für den Mann, der von den Räubern überfallen<br />
wurde? Dann ist die richtige Antwort:<br />
Der Samariter, der Mitleid hatte und Hilfe<br />
leistete. In der Bibel heißt es dazu von Jesus: „Geh<br />
hin und mache es genauso.“ Was kann man aus<br />
dem Gleichnis lernen? Das geben, was man hat<br />
und kann. Und das ganz ohne Erwartungen.<br />
Die Sozialarbeiterin und Diakonin Regina<br />
Schrempf macht das jeden Tag. Sie arbeitet in der<br />
Wär mestube in Stuttgart, einem Angebot der<br />
Evan gelischen Gesellschaft Stuttgart (kurz: eva).<br />
Im Leitbild der eva heißt es, dass Diakonie Aus -<br />
drucksform des Glaubens an Jesus Christus in tä -<br />
tiger Nächstenliebe sei. Wie erklärt Regina<br />
Schrempf das? „Wir wollen die Würde eines jeden<br />
Menschen achten und beachten, dass jeder ein<br />
Geschöpf Gottes ist. Jeder ist geliebt und<br />
gleichwertig“, sagt sie.<br />
Das erleben die Menschen, die von Dienstag<br />
bis Samstag hierherkommen. Es sind Menschen<br />
oh ne Wohnung, ohne Arbeit, ohne jeden Be -<br />
kanntenkreis, ohne Geld. Hartz-IV-Empfänger<br />
oder arme Rentner. Sie finden bei der eva Zu -<br />
wendung und Gehör. Sie können essen und trin -<br />
ken, duschen und Wäsche waschen. Außer dem<br />
gibt es Fernseher, Zeitungen und Gesell -<br />
schaftsspiele. Zudem verschiedene Freizeit- und<br />
Kul tur angebote, wie zum Beispiel ein wö chen -<br />
tlicher Singkreis, Kinonachmittage oder monat -<br />
lich „Gespräche am Abend“.<br />
Auf die Frage, was Nächstenliebe für sie<br />
persönlich bedeute, antwortet Regina Schrempf:<br />
„Für mich ist Nächstenliebe selbstlos und ehrlich<br />
und fordert nichts. Und es bedeutet, dass man für<br />
je manden anderen da ist und dass man versucht<br />
ihn so zu verstehen und anzunehmen, wie er wir -<br />
klich ist.“ Nach dem Besuch steht für mich fest:<br />
die Wärmestube ist nicht nur im Winter ein Ort,<br />
der Wärme. Auch im Sommer ist es ein Ort, der ge -<br />
füllt ist mit Wärme für den Nächsten.<br />
Nächstenliebe ist auch ohne den Glauben an<br />
Gott möglich. Für viele ist es jedoch leichter, in Je -<br />
sus Christus ein konkretes Vorbild zu haben.<br />
Und klar ist auch: Man muss einen Menschen<br />
nicht mögen, um ihn lieben zu können. Es geht<br />
nicht um positive Gefühle oder Romantik. Die<br />
Nächstenliebe ist eine willentliche Entscheidung.<br />
Sie zeigt sich in vielen Kleinigkeiten. An einem ge -<br />
drückten Knopf in der Bahn zum Beispiel oder<br />
einer schweren Einkaufstasche.<br />
Der US-Bürgerrechtler Martin Luther King sag -<br />
te einst: „Jeder muss sich entscheiden, ob er im<br />
Licht der Nächstenliebe oder im Dunkel der Ei -<br />
gensucht leben will.“<br />
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