01.02.2019 Aufrufe

BLATTWERK AUSGABE No.8 – September bis November 2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

traut eine Tafel zu errichten. Wie kann das sein? Manche<br />

mögen sagen: „Was ändert schon eine Tafel oder ein<br />

Stein?“ Das sind wohl eben jene, die sich die Frage stellen:<br />

„Was kann ich schon ändern?“ Es ist eben nicht nur ein<br />

Gegenstand, sondern es sind der Gedanke und die Haltung<br />

dahinter, die Hoffnung geben. Hoffnung darauf, dass man<br />

nicht vergisst. Vergessen bedeutet ignorieren, ignorieren<br />

bedeutet wegschauen - und wohin das führt, wissen wir.<br />

Wir erinnern an die Kriegsopfer, eben nur 80 Jahre später.<br />

Vielleicht kann der Mensch sich mit so einem Grauen erst<br />

dann auseinandersetzen, wenn genug Zeit vergangen ist<br />

und die nötige Distanz geschaffen wurde, um nicht mehr<br />

als schuldig zu gelten. Im Moment sind wir es. Wir sind<br />

schuldig, wegzusehen und abgestumpft zu sein. Uns berührt<br />

es doch gar nicht mehr, immerhin haben wir ja alle<br />

unsere eigenen Probleme.<br />

Im Duden wird jemandes gedenken als „an etwas ehrend,<br />

anerkennend zurückdenken“ bzw. „sich an dessen Existenz<br />

erinnern“ definiert. Ist es nicht unsere Pflicht, an jene zu<br />

erinnern, die ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen<br />

können, und jene zu ehren, deren Würde zu Lebzeiten<br />

genommen wurde?<br />

Natürlich muss man sich erinnern, man muss gedenken.<br />

Viele Menschen wurden im Nationalsozialismus ermordet,<br />

ohne dass man heute genau weiß, wer sie waren. Da ihnen<br />

der Wert ihres Lebens durch eine menschenverachtende<br />

Ideologie genommen wurde, ist es unsere Aufgabe, uns<br />

an ihre Existenz und an ihr Leben als Mensch zu erinnern.<br />

Egal ob in Form von Tafeln, Steinen, Gedichten, Liedern,<br />

… wir müssen uns erinnern, wir müssen uns besinnen.<br />

Als meine Familie 1972 aus der damaligen Tschechoslowakei<br />

nach Österreich flüchtete, hatte sie nichts, <strong>bis</strong> auf<br />

die Kleider, die sie am Körper trug. Die Österreicher waren<br />

ungeheuer hilfsbereit, jeden Tag kam jemand und brachte<br />

Kleidung oder Essen. Nie hatte jemand aus meiner Familie<br />

das Gefühl unerwünscht oder nicht willkommen zu sein.<br />

Die Menschen wussten, was es heißt, vor einem Regime zu<br />

flüchten, sie wussten, dass keiner freiwillig seine Heimat<br />

verlässt. Doch heute? Die Menschen stehen dem Wort<br />

„Flüchtling“ grundsätzlich skeptisch gegenüber. Reden wir<br />

von einem Kriegsflüchtling? Na gut, der kann immer noch<br />

Terrorist sein. Reden wir von einem Wirtschaftsflüchtling?<br />

Also, da gibt es ja wirklich keinen Grund, zu flüchten, außerdem<br />

hat er ein Handy, so schlecht kann es dem gar<br />

nicht gehen.<br />

Wir stehen gerade wieder mal an einem Wendepunkt in<br />

unserer Gesellschaft. Der Rassismus hat Einzug in den<br />

Alltag gehalten und wir müssen uns wieder entscheiden,<br />

welche Art von Mensch wir sein wollen. Stehen wir schulterzuckend<br />

daneben und denken uns „Naja, so schlimm<br />

ist das auch nicht“ oder „Das wird schon wieder“ oder erinnern<br />

wir uns, wo uns dieser Weg schon einmal hingeführt<br />

hat. Gedenken ist heute wichtiger denn je, die zahlreichen<br />

Menschen, die einen grausamen Tod fanden, haben keine<br />

Stimme mehr, um uns zu warnen vor den Untaten, zu berichten<br />

und zu sagen : „Bitte lasst nie wieder zu, was sie uns<br />

angetan haben!“ Auch die Überlebenden, die Zeitzeugen,<br />

werden weniger. Die, die das Grauen erlebt und überlebt<br />

haben, können bald nicht mehr selbst davon berichten.<br />

Wir müssen dies weitertragen und ihre Botschaft lauthals<br />

hinausschreien. Es reicht kein Fingerzeig mehr.<br />

Mit dem Gedenken beginnt es, diesem müssen aber auch<br />

Taten folgen. Oft höre ich den Satz „So etwas wie damals<br />

kann nie wieder passieren!" Können wir uns da so sicher<br />

sein? Ich stamme aus einer Volksgruppe, der diese Frage<br />

leider allzu oft schmerzlich durch den Kopf kreist. Die<br />

Antwort darauf weiß ich nicht, doch die Zeichen sind da.<br />

Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, sterben auf<br />

dem Weg in ein besseres Leben. Können Sie sie noch sehen?<br />

Die Bilder von ertrunkenen Flüchtlingen? Von verhungernden<br />

Kindern? Von Kriegsopfern? Man sieht weg,<br />

man will sich mit diesem Grauen nicht befassen. Werden<br />

wir auch einmal ihrer gedenken? Werden unsere Kinder<br />

und Kindeskinder einmal Steine, Tafeln usw. errichten, um<br />

an die Tausenden von Menschen zu erinnern, die starben,<br />

weil sie sich und ihre Familie retten, weil sie nicht im Krieg<br />

leben wollten?<br />

DER RASSISMUS HAT EINZUG IN DEN ALLTAG<br />

GEHALTEN UND WIR MÜSSEN UNS WIEDER<br />

ENTSCHEIDEN, WELCHE ART VON MENSCH<br />

WIR SEIN WOLLEN. STEHEN WIR SCHULTERZUCKEND<br />

DANEBEN UND DENKEN UNS „NAJA, SO SCHLIMM IST<br />

DAS AUCH NICHT“ ODER „DAS WIRD SCHON<br />

WIEDER“ ODER ERINNERN WIR UNS, WO UNS<br />

DIESER WEG SCHON EINMAL HINGEFÜHRT HAT.<br />

Wo ist das Mitgefühl geblieben, das so viele aufbringen<br />

können, wenn sie heute vor einer Gedenktafel stehen,<br />

aber nicht, wenn sie Bilder von Krieg und Zerstörung sehen?<br />

Weil es eine andere Kultur, eine andere Religion, ein<br />

anderer Kontinent ist <strong>–</strong> weil es nicht „unsere Leut“ sind?<br />

Mögen unsere Kinder uns verzeihen.<br />

Wenn man mich also fragt, wie wichtig Gedenken in<br />

der heutigen Zeit ist, sage ich als Autorin, als Romni, als<br />

Mensch: Es ist verdammt wichtig und wir dürfen niemals<br />

damit aufhören, uns zu erinnern. An die Opfer, an die Täter,<br />

an jene, die all dies zulassen konnten, und uns immer<br />

wieder die Frage stellen, ob wir nicht auch mittlerweile zu<br />

genau jenen gehören, die all dies zulassen.<br />

7

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!