BLATTWERK AUSGABE No.8 – September bis November 2018
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traut eine Tafel zu errichten. Wie kann das sein? Manche<br />
mögen sagen: „Was ändert schon eine Tafel oder ein<br />
Stein?“ Das sind wohl eben jene, die sich die Frage stellen:<br />
„Was kann ich schon ändern?“ Es ist eben nicht nur ein<br />
Gegenstand, sondern es sind der Gedanke und die Haltung<br />
dahinter, die Hoffnung geben. Hoffnung darauf, dass man<br />
nicht vergisst. Vergessen bedeutet ignorieren, ignorieren<br />
bedeutet wegschauen - und wohin das führt, wissen wir.<br />
Wir erinnern an die Kriegsopfer, eben nur 80 Jahre später.<br />
Vielleicht kann der Mensch sich mit so einem Grauen erst<br />
dann auseinandersetzen, wenn genug Zeit vergangen ist<br />
und die nötige Distanz geschaffen wurde, um nicht mehr<br />
als schuldig zu gelten. Im Moment sind wir es. Wir sind<br />
schuldig, wegzusehen und abgestumpft zu sein. Uns berührt<br />
es doch gar nicht mehr, immerhin haben wir ja alle<br />
unsere eigenen Probleme.<br />
Im Duden wird jemandes gedenken als „an etwas ehrend,<br />
anerkennend zurückdenken“ bzw. „sich an dessen Existenz<br />
erinnern“ definiert. Ist es nicht unsere Pflicht, an jene zu<br />
erinnern, die ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen<br />
können, und jene zu ehren, deren Würde zu Lebzeiten<br />
genommen wurde?<br />
Natürlich muss man sich erinnern, man muss gedenken.<br />
Viele Menschen wurden im Nationalsozialismus ermordet,<br />
ohne dass man heute genau weiß, wer sie waren. Da ihnen<br />
der Wert ihres Lebens durch eine menschenverachtende<br />
Ideologie genommen wurde, ist es unsere Aufgabe, uns<br />
an ihre Existenz und an ihr Leben als Mensch zu erinnern.<br />
Egal ob in Form von Tafeln, Steinen, Gedichten, Liedern,<br />
… wir müssen uns erinnern, wir müssen uns besinnen.<br />
Als meine Familie 1972 aus der damaligen Tschechoslowakei<br />
nach Österreich flüchtete, hatte sie nichts, <strong>bis</strong> auf<br />
die Kleider, die sie am Körper trug. Die Österreicher waren<br />
ungeheuer hilfsbereit, jeden Tag kam jemand und brachte<br />
Kleidung oder Essen. Nie hatte jemand aus meiner Familie<br />
das Gefühl unerwünscht oder nicht willkommen zu sein.<br />
Die Menschen wussten, was es heißt, vor einem Regime zu<br />
flüchten, sie wussten, dass keiner freiwillig seine Heimat<br />
verlässt. Doch heute? Die Menschen stehen dem Wort<br />
„Flüchtling“ grundsätzlich skeptisch gegenüber. Reden wir<br />
von einem Kriegsflüchtling? Na gut, der kann immer noch<br />
Terrorist sein. Reden wir von einem Wirtschaftsflüchtling?<br />
Also, da gibt es ja wirklich keinen Grund, zu flüchten, außerdem<br />
hat er ein Handy, so schlecht kann es dem gar<br />
nicht gehen.<br />
Wir stehen gerade wieder mal an einem Wendepunkt in<br />
unserer Gesellschaft. Der Rassismus hat Einzug in den<br />
Alltag gehalten und wir müssen uns wieder entscheiden,<br />
welche Art von Mensch wir sein wollen. Stehen wir schulterzuckend<br />
daneben und denken uns „Naja, so schlimm<br />
ist das auch nicht“ oder „Das wird schon wieder“ oder erinnern<br />
wir uns, wo uns dieser Weg schon einmal hingeführt<br />
hat. Gedenken ist heute wichtiger denn je, die zahlreichen<br />
Menschen, die einen grausamen Tod fanden, haben keine<br />
Stimme mehr, um uns zu warnen vor den Untaten, zu berichten<br />
und zu sagen : „Bitte lasst nie wieder zu, was sie uns<br />
angetan haben!“ Auch die Überlebenden, die Zeitzeugen,<br />
werden weniger. Die, die das Grauen erlebt und überlebt<br />
haben, können bald nicht mehr selbst davon berichten.<br />
Wir müssen dies weitertragen und ihre Botschaft lauthals<br />
hinausschreien. Es reicht kein Fingerzeig mehr.<br />
Mit dem Gedenken beginnt es, diesem müssen aber auch<br />
Taten folgen. Oft höre ich den Satz „So etwas wie damals<br />
kann nie wieder passieren!" Können wir uns da so sicher<br />
sein? Ich stamme aus einer Volksgruppe, der diese Frage<br />
leider allzu oft schmerzlich durch den Kopf kreist. Die<br />
Antwort darauf weiß ich nicht, doch die Zeichen sind da.<br />
Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, sterben auf<br />
dem Weg in ein besseres Leben. Können Sie sie noch sehen?<br />
Die Bilder von ertrunkenen Flüchtlingen? Von verhungernden<br />
Kindern? Von Kriegsopfern? Man sieht weg,<br />
man will sich mit diesem Grauen nicht befassen. Werden<br />
wir auch einmal ihrer gedenken? Werden unsere Kinder<br />
und Kindeskinder einmal Steine, Tafeln usw. errichten, um<br />
an die Tausenden von Menschen zu erinnern, die starben,<br />
weil sie sich und ihre Familie retten, weil sie nicht im Krieg<br />
leben wollten?<br />
DER RASSISMUS HAT EINZUG IN DEN ALLTAG<br />
GEHALTEN UND WIR MÜSSEN UNS WIEDER<br />
ENTSCHEIDEN, WELCHE ART VON MENSCH<br />
WIR SEIN WOLLEN. STEHEN WIR SCHULTERZUCKEND<br />
DANEBEN UND DENKEN UNS „NAJA, SO SCHLIMM IST<br />
DAS AUCH NICHT“ ODER „DAS WIRD SCHON<br />
WIEDER“ ODER ERINNERN WIR UNS, WO UNS<br />
DIESER WEG SCHON EINMAL HINGEFÜHRT HAT.<br />
Wo ist das Mitgefühl geblieben, das so viele aufbringen<br />
können, wenn sie heute vor einer Gedenktafel stehen,<br />
aber nicht, wenn sie Bilder von Krieg und Zerstörung sehen?<br />
Weil es eine andere Kultur, eine andere Religion, ein<br />
anderer Kontinent ist <strong>–</strong> weil es nicht „unsere Leut“ sind?<br />
Mögen unsere Kinder uns verzeihen.<br />
Wenn man mich also fragt, wie wichtig Gedenken in<br />
der heutigen Zeit ist, sage ich als Autorin, als Romni, als<br />
Mensch: Es ist verdammt wichtig und wir dürfen niemals<br />
damit aufhören, uns zu erinnern. An die Opfer, an die Täter,<br />
an jene, die all dies zulassen konnten, und uns immer<br />
wieder die Frage stellen, ob wir nicht auch mittlerweile zu<br />
genau jenen gehören, die all dies zulassen.<br />
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