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30 HAUSBESUCH<br />
Das<br />
Gesamtkunstwerk<br />
Ein Besuch bei der Künstlerfamilie Kummer<br />
in Chemnitz, wo am Küchentisch sämtliche Probleme<br />
der Stadt gewälzt werden<br />
TEXT Marlen Hobrack<br />
FOTOS Stephan Floss<br />
Ankommen in Chemnitz: westsächsischer<br />
Singsang in den<br />
Straßenbahnansagen. Lokalkolorit,<br />
anderswo längst abgeschaft.<br />
Hier wird die Haltestelle Hauptbahnhof<br />
nicht im international verständlichen<br />
Englisch verkündet. Zynische Zeitgenossen<br />
würden vielleicht sagen, weil sich<br />
so selten jemand von außerhalb hierher<br />
verirrt. Ich stehe vor einem alten Fabrikgebäude,<br />
sehr lofty, beinahe zu cool für<br />
die Stadt, und besuche den bildenden<br />
Künstler Jan Kummer. Er ist Mitglied<br />
des Programmrats, der das Konzept<br />
für die Chemnitzer Bewerbung zur Kulturhauptstadt<br />
entwickelt. Seine Begrüßung<br />
ist herzlich – und wie immer im<br />
breiten Sächsisch. Kummer ist hochgewachsen,<br />
trägt eine große Hornbrille:<br />
Brillen gläser wie Fensterscheiben, beinahe<br />
ein leichter Erich-Honecker-Style.<br />
Was an diesem Tag fehlt, ist die sonst<br />
bei Kummer übliche Zigarette, die sich<br />
der kettenrauchende Künstler anscheinend<br />
abgewöhnt hat.<br />
Ich werde am Küchentisch platziert<br />
und sogleich mit Kafee versorgt. Meine<br />
mitgebrachten Kekse sind leider zerbröselt.<br />
Auch Beate Düber, Kummers Frau,<br />
sitzt mit am langen Tisch. Schließlich<br />
betritt Nina, eine der beiden Töchter,<br />
die Küche. Sie ist groß gewachsen wie<br />
ihr Vater. Vielleicht sind Küchentische<br />
perfekte Orte, um gravierende Probleme<br />
zu erörtern. Nicht umsonst sprach man<br />
im einstigen Ostblock auch gern mal<br />
von der „Küchenopposition“, wenn es<br />
um das heimliche Aufbegehren gegen<br />
das Establishment ging.<br />
Die Kummers sind gewissermaßen<br />
die Rockstars in der Chemnitzer Kulturszene:<br />
Die Söhne Felix und Till gründeten<br />
die Band Kraftklub. Jan Kummer<br />
Chemnitz hat viele<br />
Aufbrüche erlebt –<br />
vom Industriezentrum<br />
bis zur Stadt der<br />
Massenabwanderung<br />
war Mitglied der legendären DDR-<br />
Elektroband AG Geige und unterhält<br />
den Club Atomino. Beate Düber,<br />
Museumspädagogin und Darstellerin<br />
im Film „Die Mechanik oder: Wie man<br />
auf sich Acht gibt“, war an dem Projekt<br />
„Chemnitz CityResort“ beteiligt, das<br />
die Chemnitzer Innenstadtentwicklung<br />
kritisch beleuchtet hat. Die Töchter<br />
Nina und Lotta wiederum machen<br />
mit ihrer Band Blond Indiepop. Familie<br />
Kummer ist ein Gesamtkunstwerk.<br />
Bevor wir aber über Kultur sprechen,<br />
müssen wir über das Schmuddelkind-<br />
Image, das Chemnitz seit den Ereignissen<br />
vom Stadtfest am 26. August 2018<br />
hat, reden. „Wir sind bekannt bis nach<br />
New York“, sagt Beate Düber trocken.<br />
„Der Langzeitruf von Dresden muss<br />
natürlich erst erarbeitet werden“, fügt<br />
ihr Mann süffisant hinzu. Unser letztes<br />
Gespräch hatte Pegida zum Thema.<br />
Chemnitz, so glaubte Kummer damals,<br />
sei sicherer vor rechter Vereinnahmung.<br />
Andererseits, fügt er heute hinzu, sei<br />
die Form der Gewalt nun aber typisch<br />
für Chemnitz, eben „proletenhafter“.<br />
Kummer und seine Familie waren<br />
ganz praktisch beteiligt an der Organisation<br />
des „Wir sind mehr“-Konzerts.<br />
Ein regelrechter Energieschub sei<br />
das gewesen. „Die Stadt, die durch die<br />
Ereignisse in der Woche davor ordentlich<br />
– und nicht unverdient – auf<br />
die Birne bekommen hat, hat daraus<br />
ein Happening gemacht.“<br />
Gerade eine Stadt wie Chemnitz<br />
könne nun aber ihr Heil in Kunst<br />
und Kultur suchen. Und damit sind wir<br />
beim Thema: der Kulturhauptstadtbewerbung<br />
und ihrem Motto „AUFbrüche“.<br />
Chemnitz hat sie oft erlebt: als<br />
Industriezentrum, Ort der Massen ab<br />
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