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Einblicke

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Fotos: SLUB/Deutsche Fotothek (2). Klaus-Dieter Schumacher, SLUB/Deutsche Fotothek, mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Werkstätten Hellerau. Friedrich Weimer, SLUB/Deutsche Fotothek.<br />

Wir haben uns bemüht, alle Fotografen und Inhaber von Rechten ausfindig zu machen. Sollten versehentlich Rechteinhaber übersehen worden sein, werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen<br />

Vereinbarungen abgegolten.<br />

Morris und anderen. Sie alle träumten<br />

von der Versöhnung des Handwerks<br />

mit der Industrie und erblickten im<br />

viktorianisch übermalten Mittelalter das<br />

Ideal humaner Kultur. Dieser Traum<br />

war angereichert mit einigen höchst<br />

aktuellen sozialistischen Ideen.<br />

Der Londoner Büroangestellte<br />

Ebenezer Howard wurde fast zeitgleich<br />

in den USA vom Bazillus der Utopie<br />

befallen, hatte er doch die neoromantischen<br />

Dichter Walt Whitman und<br />

Ralph Waldo Emerson verschlungen.<br />

Howard war wie elektrisiert, kehrte<br />

nach Hause zurück und ließ dem Traum<br />

die Tat folgen: 1903 entstand die Gartenstadt<br />

Letchworth, danach Welwyn.<br />

Die „Green Britishness“ dieser<br />

Reformprojekte hüpfte alsbald auf den<br />

Kontinent und fand dort einen begeisterten<br />

Resonanzraum in den bildungsbürgerlichen<br />

Reformbewegungen um<br />

Drehstuhl (Modell<br />

EW 194/5), Stuhl mit<br />

gepolsterter Sitz fläche<br />

und Rückenlehne<br />

(Modell N 13)<br />

Dresden-Hellerau,<br />

Beim Gräbchen.<br />

Sechs Einfamilienund<br />

zwei Vierfamilien-Reihenhäuser.<br />

Architekt: Hermann<br />

Muthesius<br />

1900. Da war etwa der Holzfabrikant<br />

Karl Schmidt. Dieser produzierte ab<br />

1902 in Dresden mit großem Erfolg anspruchsvolles,<br />

handwerklich gediegenes<br />

Mobiliar. Auf Fahrradausflügen im<br />

Dresdener Umland entdeckte er jenseits<br />

der Hellerberge ein idyllisches Gelände,<br />

in dem die im schnell wachsenden<br />

Dresden explodierenden Immobilienpreise<br />

wenig galten. Schmidt, ohnehin<br />

als „Holz-Goethe“ verehrt, fand im<br />

Nationalökonomen Wolf Dohrn, einem<br />

Sproß aus kosmopolitischer Familie,<br />

einen Gesinnungsgenossen. Während<br />

der Unternehmer von einer hellen,<br />

luftigen Fabrik für schöne Möbel und<br />

glückliche Arbeiter träumte, hatte<br />

Dohrn, dem Deutschen Werkbund als<br />

Geschäftsführer eng verbunden, die<br />

Vision von glücklichen Menschen in<br />

hellen Häusern. Für beides brauchte<br />

man Architekten – und fand Richard<br />

Riemerschmid, dann Hermann Muthesius<br />

und Heinrich Tessenow. Alle drei<br />

waren eng vernetzt mit der avantgardistischen<br />

deutschen Architektenszene.<br />

Am 4. Juni 1908 gründeten sie die<br />

Gartenstadt-Gesellschaft Hellerau<br />

GmbH. Binnen weniger Jahre wuchs<br />

nun bei Dresden eine Siedlung aus<br />

s ächsischem Sand, deren Schönheit wie<br />

ein Magnet auf vermögende Bürger,<br />

Künstler und Intellektuelle aus ganz<br />

Europa wirkte. Für den Genfer Tanzpädagogen<br />

Émile Jacques-Dalcroze<br />

entstand ab 1911 das Festspielhaus,<br />

Ausbildungsort und Mekka der inter ­<br />

na tionalen rhythmischen Pädagogik<br />

und freien Tanzszene. Adolphe Appia<br />

schuf dort ein Experimentaltheater;<br />

reformpädagogische Schulversuche<br />

kamen hinzu und machten aus der<br />

Gartenstadt eine „pädagogische Provinz“.<br />

Avantgardistische Verleger wie<br />

Jakob Hegner fanden ebenso den Weg<br />

nach Hellerau wie die Dichter Paul<br />

Claudel aus Paris oder Paul Adler aus<br />

Prag. Die Namen der übrigen Gartenstädter<br />

lesen sich wie ein „Who’s<br />

Who“ der Vorkriegsmoderne.<br />

Eines dieser Hellerauer Kinder aus<br />

gutem Hause, der Homme de Lettres<br />

Peter de Mendelssohn, hat die Gartenstadt<br />

„mein unverlierbares Europa“<br />

genannt. Das gilt wohl nur für Erinnerungen,<br />

denn faktisch verlief die Utopie<br />

im Sande, als „Schlafwandler“ den Ersten<br />

Weltkrieg entfesselten. Wer nicht<br />

an der Front diente, duckte sich – oder<br />

verließ fluchtartig die Idylle, die nun<br />

auch Feldgrau trug. Helleraus Traum<br />

zerbrach in der „Urkatastrophe“ des<br />

Kontinents. Nach 1918 träumten andere<br />

dort weiter, machten Bücher und<br />

tanzten, diskutierten und schrieben,<br />

erzogen Kinder – oder sich selbst. Das<br />

aber ist eine andere Geschichte, die<br />

nach 1945 noch anders weiterging, als<br />

die Sowjetarmee Teile von Hellerau<br />

militärisch nutzte.<br />

Nach der Wende kehrte der alte<br />

künstlerische Geist wieder in die längst<br />

historisch gewordenen Bauten zurück.<br />

Das Festspielhaus etwa zählt heute zu<br />

einem der wichtigsten künstlerischen<br />

Veranstaltungsorte Dresdens und das<br />

auf dem Gelände ansässige Europäische<br />

Zentrum der Künste hat eine Strahlkraft,<br />

die weit über Stadt und Land<br />

hi nausreicht. Hellerau gehört eben<br />

längst zu unserem Weltkulturerbe, in<br />

das sich die heutige Gartenstadt gern<br />

einschreiben möchte. •<br />

Justus Ulbricht ist Historiker und Spezialist für<br />

die Kultur der Moderne. Er ist Geschäftsführer<br />

des Dresdener Geschichtsvereins

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