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impulse08Tagungsbericht - Lebenshilfe Berlin

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<strong>Lebenshilfe</strong> für Menschen mit geistiger Behinderung · Fachtag der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong> am 16. April 2008<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong><br />

Wohnen mit Au(f)sicht


Häuser sind ...<br />

„Ich bau mIr eIn haus, In dem Ich leben wIll“ - wunschhäuser vom bew Karow<br />

Vorwort<br />

Vorwort<br />

Im Jahr 2007 wurde von den Keramikgruppen ein Kunstprojekt zum Thema Wohnen im BEW Karow in Angriff genommen und gemeinsam<br />

umgesetzt. Nach einer intensiven individuellen Beratung konnte jeder Künstler sich unter Anleitung sein eigenes Heim herstellen. Die Ergebnisse<br />

waren insgesamt sehr eindrucksvoll und reichten vom Tadsch Mahal bis zu einem Bauernhaus.<br />

Die Wunschhäuser konnten von Januar bis Oktober 2007 im Rahmen einer Ausstellung im Freizeithaus Weißensee betrachtet werden. Zusätzlich<br />

zum Freizeithaus wurde auch die Möglichkeit genutzt, sich als Kunstgruppe auf dem Sommerfest und dem Weihnachtsmarkt der <strong>Lebenshilfe</strong><br />

<strong>Berlin</strong> zu präsentieren und an der jährlichen Ausstellung „Ermutigung“ in Fürstenwalde zu beteiligen.<br />

In den Keramikgruppen werden Dinge des täglichen und persönlichen Bedarfs, Plastiken und Produkte für Ausstellungen hergestellt, teilweise<br />

auch für den Verkauf.<br />

wohnturm – nach Gaudi<br />

Potala Palast – tibet<br />

westerburg – im Harzvorland<br />

thailändisches Haus<br />

Leuchtturm – am Atlantik<br />

Einsam stehendes Haus – irgendwo in Deutschland<br />

Mecklenburgisches Haus<br />

tadsch Mahal – Indien<br />

Zum vierten Mal fand der jährliche Fachtag der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong> zu<br />

einem aktuellen Praxisthema statt. „Wohnen mit Au(f)sicht“, das (f) in<br />

der Klammer verweist auf das Spannungsfeld, in dem sich unterschiedliche<br />

Wohn­ und Lebensformen behinderter Menschen befinden.<br />

Den Ablauf haben wir in diesem Jahr etwas verändert und auf Workshops<br />

und Arbeitsgemeinschaften verzichtet, um mit acht Expertenbeiträgen<br />

unterschiedliche Aspekte des Themas zu beleuchten. Wir<br />

hoffen, Ihnen eine gute Mischung aus Theorieansätzen, interessanten<br />

Praxisbeispielen und provokanten Aussagen geboten zu haben. In der<br />

vorliegenden Dokumentation finden Sie eine Wiedergabe aller Tagungsbeiträge.<br />

Gegliedert in der Chronologie des Fachtages. Vom Inhaltsverzeichnis<br />

aus können Sie alle Referate je nach Interesse auch direkt<br />

ansteuern.<br />

Zwischen den Beiträgen bitten wir Sie um Ihre Aufmerksamkeit für<br />

eine kleine Fotoausstellung von Objekten, die behinderte Menschen<br />

als Antwort auf die Frage „Wie willst Du wohnen?“ gestaltet haben.<br />

Gedacht als spielerische Ergänzung und um die Wahrnehmung zu<br />

öffnen, für die Menschen, um die es uns geht. Ihre Bedürfnisse, ihre<br />

Wünsche nach Selbstbestimmung und die optimale Organisation<br />

ihres Unterstützungsbedarfes sind schließlich die Ausgangspunkte<br />

für unsere Arbeit.<br />

Wir wünschen Ihnen eine fruchtbare vertiefende Beschäftigung mit<br />

dem Thema, dass Sie Spaß beim Lesen haben und dass diese Dokumentation<br />

Ihnen hilft, Erkenntnisse und Anregungen des Fachtages<br />

in Ihre Praxis umzusetzen. Wir freuen uns über das wachsende Interesse<br />

und werden auch im nächsten Jahr wieder einen Fachtag veranstalten.<br />

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare und hoffen, Sie auch<br />

im nächsten Jahr wieder begrüßen zu dürfen.<br />

Für die <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong> grüßt Sie ganz herzlich<br />

Ihre<br />

Christiane Müller­Zurek<br />

Öffentlichkeitsarbeit und Marketing,<br />

christiane.mueller-zurek@lebenshilfe-berlin.de<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 2


Begrüßung<br />

Referat 1<br />

Referat 2<br />

Referat 3<br />

Referat 4<br />

Die Gorillas<br />

Referat 5<br />

Referat 6<br />

Referat 7<br />

Referat 8<br />

Resümee<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

GEORG SCHNITZLER, <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Daheim statt Heim – Bundesinitiative für ein Leben behinderter<br />

und älterer Menschen in der Gemeinde<br />

SILVIA SCHMIDT, SPD­Bundestagsabgeordnete, Bundesinitiative „Daheim statt Heim“<br />

Wohnen wie andere – Unterstütztes Wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

MARTIN RÖSNER, Leben mit Behinderung Hamburg<br />

Contec­Untersuchung zur Wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der Behindertenhilfe<br />

in Bayern – Fachlich­inhaltliche Bewertung und Schlussfolgerungen<br />

RENATE BAIKER, <strong>Lebenshilfe</strong> Bayern<br />

THEA – Telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung<br />

THOMAS RINKLAGE, Xit GmbH forschung.planung.beratung, Nürnberg<br />

IMPROVISATIONSTHEATER BERLIN<br />

Elternwünsche<br />

JUDY GUMMICH und HEIDE BESUCH, Eltern beraten Eltern e.V.<br />

Mittendrin statt außen vor – Dezentrales Wohnen für Menschen mit hohen<br />

Assistenzbedarfen<br />

DR. HEIDE VÖLTZ, alsterdorf assistenz nord, Verbund der Evangelischen Stiftung Alsterdorf<br />

Persönliches Budget in einer stationären Einrichtung für Menschen mit Behinderung<br />

SUSANNE SELLIN, Behindertenhilfe der v. Bodelschwingschen Anstalten Bethel,<br />

Region Bielefeld/Ostwestfalen<br />

Einsatz des Persönlichen Budgets<br />

Überwindung der Trennung von Eingliederungshilfe und Pflege<br />

JOACHIM SPEICHER, <strong>Lebenshilfe</strong> Einrichtungen GmbH Worms<br />

früher: „Paritätisches Kompetenzzentrum Persönliches Budget“ Mainz<br />

UTE SCHÜNEMANN, MARTIN SCHÜTZHOFF, <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong><br />

InHALt<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 3<br />

4<br />

8<br />

12<br />

20<br />

26<br />

33<br />

35<br />

38<br />

40<br />

43<br />

48


Guten Morgen meine Damen und Herren,<br />

liebe Besucherinnen und Besucher dieses 4. Fachtags<br />

Impulse 2008 der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong>,<br />

mein Name ist Georg Schnitzler, Geschäftsführer der <strong>Lebenshilfe</strong><br />

gGmbH, der Betriebsgesellschaft, d.h. des Trägers der vielen Einrichtungen<br />

und Dienste für Menschen mit geistiger Behinderung im Verbund<br />

der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong>.<br />

Die Kundgebung der Gewerkschafter, die Sie hier heute Morgen<br />

empfangen hat, galt uns, der Betriebsgesellschaft mit unseren ca.<br />

800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.<br />

Sie – und übrigens wir auch – sind unzufrieden mit dem, was wir an<br />

Gehältern zahlen können. Und weil im öffentlichen Dienst hier in<br />

<strong>Berlin</strong> gerade viele Streikaktionen laufen, rumort es auch bei uns.<br />

<strong>Berlin</strong> ist – unser Regierender Bürgermeister hat es auf den Punkt<br />

gebracht – arm aber sexy. <strong>Berlin</strong> ist – auch ein Zitat von Wowereit –<br />

Ostdeutschland, das sich aber, so meine Erfahrung, mit Westberliner<br />

Erwartungen und Ansprüchen konfrontiert sieht. Wir werden in den<br />

nächsten Wochen ausloten, wie wir unseren Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern eine Gehaltsaufbesserung bieten können. Verrückterweise<br />

fällt uns das für unsere Mitarbeiter in den ambulanten Diensten,<br />

also vor allem im Betreuten Einzelwohnen, besonders schwer,<br />

obwohl doch eigentlich hier die Zukunft liegt. Wir leiden darunter,<br />

dass wir im Betreuten Einzelwohnen mit 30,08 Euro für die Fachleistungsstunde<br />

exakt 27 Cent weniger in Rechnung stellen können als<br />

vor 13 Jahren, während z.B. die Hessen 50,66 Euro zahlen. Soweit zu<br />

den ökonomischen Rahmenbedingungen unseres heutigen Themas.<br />

„Wohnen mit Aufsicht“ oder „Wohnen mit Aussicht“ – „Individuelle<br />

Assistenz für Menschen mit Behinderung“ unter diesem Titel haben<br />

wir Sie heute eingeladen.<br />

Wir freuen uns über knapp 150 Gäste, sogar ein paar mehr Anmeldungen<br />

als im vergangenen Jahr. Die meisten von Ihnen kommen<br />

aus <strong>Berlin</strong>, einige aus Brandenburg, nach unserer Liste hatten Sie,<br />

Jutta Renner aus Kiel den weitesten Weg. Die meisten von Ihnen sind<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behindertenhilfe, aber auch<br />

Menschen mit Behinderung, Angehörige, Freunde, Politiker und unsere<br />

Gegenüber aus den Bezirksämtern und der für uns zuständigen<br />

<strong>Berlin</strong>er Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Einige<br />

wenige möchte ich namentlich begrüßen: Die SPD­Bundestagsab­<br />

bEGrüSSunG<br />

geordneten Silvia Schmidt und Mechthild Rawert, Angela Budäus,<br />

Elisabeth Schuckenböhmer, Wolfgang Pape­Wunnenberg und Uwe<br />

Lehmann aus der Senatsverwaltung, unsere frühere Vorsitzende, Prof.<br />

Dr. Monika Seifert und Ulrich Arndt, heute Vorsitzender der <strong>Lebenshilfe</strong><br />

<strong>Berlin</strong>. Herzlich willkommen.<br />

Der Untertitel: „Ambulant vor / statt / und / oder stationär“ beschreibt<br />

den Rahmen der Vorträge, die Sie heute hören. Diese beiden Begriffe<br />

beschreiben zunächst einmal Rechtsformen. Wenn ich mit Menschen<br />

zu tun habe, die nicht in der Behindertenhilfe zuhause sind, merke<br />

ich immer wieder – und es nervt mich jedes Mal mehr – wie antiquiert<br />

und von vorgestern diese Begriffe sind. Immer muss ich sie erklären<br />

und es gelingt mir meist nur unvollständig. Vor allem ist die Realität<br />

der Lebenssituation und der Betreuung nicht deutlich unterscheidbar.<br />

Ein zentraler Begriff bleibt „die eigene Wohnung“. Nun haben<br />

wir aber z.B. ambulant betreute Wohngemeinschaften, in denen vier<br />

bis sechs Menschen mit Behinderung als unsere Untermieter leben<br />

und zugleich von uns betreut werden – nicht einzeln, sondern als<br />

Gruppe. Eigene Wohnung?<br />

Andererseits: In den nächsten Wochen werden wir eine neue – stationäre<br />

– Wohnstätte in Betrieb nehmen, die aus 10 Zweizimmerwohnungen,<br />

jeweils mit geräumiger Wohnküche und Bad besteht. Die<br />

Wohnungen gehören zu einem neugebauten Mietshaus des geförderten<br />

Wohnungsbaus, die Wohnungen sind jeweils erreichbar über<br />

ein ganz normales öffentliches Treppenhaus, im Haus leben weitere<br />

ebenfalls ganz normale Mieter. Keine eigene Wohnung? Es gibt viele<br />

Beispiele, die deutlich machen, dass die klassische Zweiteilung in der<br />

Welt des Wohnens von Menschen mit Behinderung verschwimmt.<br />

In allen Formen der Assistenz für Menschen mit Behinderung steht<br />

die Individualisierung auf der Tagesordnung. In Wohnheimen werden<br />

dafür Zeitbudgets ausprobiert oder der Kühlschrank im eigenen<br />

Zimmer. Andererseits: Die Altenhilfe macht es uns vor, wie in Wohngemeinschaften<br />

persönlich zugemessene Leistungen der Pflegeversicherung<br />

und der Sozialhilfe gemeinschaftlich genutzt, verpoolt<br />

werden. Ich vermute, dass Nutzer des Persönlichen Budgets noch<br />

ganz andere Formen der – auch gemeinsam genutzten – Assistenz<br />

finden und ausprobieren werden. Und wenn dann auch noch die<br />

Pflegeversicherung mitmacht beim Persönlichen Budget, z.B. mit den<br />

Leistungen für die Pflegestufe Null, dann wird die Unterscheidung in<br />

den Rechtsformen ambulant und stationär bald endgültig auf dem<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 4


Misthaufen der Geschichte landen. Zumindest der Geschichte der<br />

Behindertenhilfe.<br />

Einen richtungweisenden Anlauf hat im vergangenen Jahr der Deutsche<br />

Verein genommen. Unter der Federführung von Klaus Lachwitz,<br />

dem Justitiar und Leiter des <strong>Berlin</strong>­Büros der <strong>Lebenshilfe</strong>­Bundesvereinigung<br />

hat der Ausschuss „Teilhabe“ eine Empfehlungen des<br />

Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung zentraler Strukturen in der<br />

Eingliederungshilfe unter dem Titel Verwirklichung selbstbestimmter<br />

Teilhabe behinderter Menschen! vorgelegt. Sehr zur Lektüre zu empfehlen.<br />

Die <strong>Lebenshilfe</strong> Bundesvereinigung hat in diesen Tagen nachgelegt<br />

und ein Orientierungs­ und Diskussionspapier zum Thema „ambulant/stationär“<br />

veröffentlicht unter dem Titel „Auf das Wunsch­ und<br />

Wahlrecht kommt es an: Teilhabe sichern – Trennung ambulant/stationär<br />

überwinden“. Sie finden dieses Papier draußen auf den Infotischen.<br />

Unsere Beiträge heute sind praktischer, polititscher, konkreter. Ich<br />

hoffe, die Referenten berichten auch von Beispielen, Vorbildern und<br />

anderen anschaulichen Geschichten zu ihrem Thema.<br />

Zu einigen der folgenden Vorträge einige Anmerkungen vorweg:<br />

Für die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ spricht die SPD­Bundestagsabgeordnete<br />

Silvia Schmidt. Gleich zu Anfang – und prompt sind<br />

wir, die Veranstalter dieses Fachtags, missverstanden worden. Als<br />

wollten wir, die <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong>, sagen, dies sei nun auch unser<br />

Impuls, unsere Botschaft dieses Tages. Nein, soweit sind wir – noch ? –<br />

nicht. Wir betreiben 12 Wohnstätten und werden, ich hatte es Ihnen<br />

dargestellt, bald eine neue aufmachen.<br />

Aber wir haben uns bei der Programmgestaltung für diesen Tag gedacht,<br />

dass eine kleine aufmunternde Provokation am frühen Morgen<br />

nicht schaden kann.<br />

Wie es gehen kann und wie eine Hausgemeinschaft aus ambulant und<br />

stationär zusammenwachsen kann, zeigt dann ein Beispiel aus Hamburg.<br />

Die anschließende Pause nutzen wir, um den Film zu zeigen,<br />

den die Hamburger mitgebracht haben.<br />

Am Beispiel Bayern wird vorgerechnet, welche wirtschaftlichen Vorund<br />

Nachteile eine Ambulantisierung der Behindertenhilfe mit sich<br />

bringt. Bei THEA werden Sie sich vielleicht fragen, was telematische<br />

Hilfen in der Behindertenhilfe mit ambulant und stationär zu tun haben.<br />

Die Antwort: Sie erleichtern die Kommunikation und damit die<br />

Aufsicht und eine bedarfsorientierte Steuerung der Assistenz.<br />

bEGrüSSunG<br />

Gegen die Mittagsmüdigkeit setzen wir die Gorillas ein, ein Improtheater<br />

allererster Güte, lassen Sie sich überraschen.<br />

Danach kommen Eltern zu Wort, sie gehören bei der <strong>Lebenshilfe</strong> zu<br />

denen, nach deren Wünschen wir uns richten ebenso wie wir natürlich<br />

und in erster Linie nach den Wohnvorstellungen junger Menschen<br />

fragen.<br />

Auf die Frage, die uns immer begleitet: Und was ist mit den Menschen<br />

mit schweren und mehrfachen Behinderungen antwortet heute eine<br />

weitere Hamburger Einrichtung, die Ev. Stiftung Alsterdorf. Und zum<br />

Schluss fällt zweimal das Stichwort „Persönliches Budget“, bevor wir<br />

ein Resümee ziehen und Sie einladen, vor dem Nachhauseweg noch<br />

ins Gespräch zu kommen.<br />

Wir haben dem Tag einen Rhythmus gegeben, der heißt: Halbstündige<br />

Beiträge, eine viertel Stunde Nachfrage und Diskussion, neun Referenten,<br />

ein Resümee und die Gorillas. Die Impulse stehen im Vordergrund,<br />

wir verzichten in diesem Jahr auf Gruppenarbeit und Podiumsdiskussion.<br />

Wir freuen uns wenn Sie sich zu Wort melden und<br />

hinterher noch einen Moment bleiben zum Gespräch, zu Nachfragen<br />

und zum Kontakteknüpfen. Zwischendurch sollten Sie einen Blick in<br />

die Ausstellung von Hausmodellen werfen, die als Kunstprojekt unter<br />

dem Titel „Ich baue mir ein Haus“ in unserem Treffpunkt des Betreuten<br />

Einzelwohnens in Karow entstanden ist.<br />

Durch den Tag führt sie Christiane Müller­Zurek, die neue Leiterin<br />

unserer Öffentlichkeitsarbeit und frühere Vorsitzende der <strong>Lebenshilfe</strong><br />

<strong>Berlin</strong>. Ich wünsche Ihnen und uns einen anregenden Tag mit viel<br />

Stoff zum Nachdenken und viel Spaß. Vielen Dank.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 5


Referenten<br />

Silvia SchmidT<br />

marTin röSner<br />

renaTe Baiker<br />

ThomaS rinklake<br />

heide BeSuch und Judy Gummich (v.l.n.r)<br />

dr. heide völTz<br />

SuSanne Sellin<br />

Joachim Speicher<br />

REFERENTEN<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 6


Häuser … Wohnturm nach Gaudi<br />

Inge liesegang, 61 Jahre<br />

Frau Liesegang ließ sich von der verspielten Form<br />

des Hauses inspirieren.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 7


undesinitiative „Daheim statt Heim“<br />

SILVIA ScHMIDt Mdb ist behindertenbeauftragte der SPD-bundestagsfraktion und Initia-<br />

torin der bundesinitiative „Daheim statt Heim“<br />

Die Initiative setzt sich ein für die konsequente umsetzung des Grundsatzes „ambulant<br />

vor stationär“. Denn teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ein Grundrecht für alle<br />

bürger.<br />

rEFErAtE<br />

Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ von Silvia Schmidt<br />

WAS WILL DIe InITIATIVe?<br />

1. Die Verwirklichung der Rechte älterer Menschen und der Menschen<br />

mit Behinderung auf ein Leben in der eigenen Häuslichkeit<br />

und in der Gemeinde.<br />

Heime sind eine Sonderwelt, in denen die Menschen von der Teilhabe<br />

am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. In der Sonderwelt<br />

„Heim“ wird die Menschenwürde auf freie Entfaltung eingeschränkt.<br />

Der Staatsrechtler Prof. Dr. Höfling hat einmal aufgelistet, welche<br />

Grundrechte verletzt werden:<br />

> das Grundrecht auf Leben<br />

> auf körperliche Unversehrtheit<br />

> das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />

> der Anspruch auf Achtung der Menschenwürde<br />

> das Grundrecht der körperlichen Bewegungsfreiheit<br />

und Freizügigkeit<br />

Die Charta der Rechte hilfe­ und pflegebedürftiger Menschen, die aus<br />

dem Runden Tisch Pflege hervorgegangen ist, und die vom BMG und<br />

BMFSFJ herausgegeben worden ist, spricht eine deutliche Sprache!<br />

Alle nur erdenklichen Selbstverständlichkeiten bei einem selbstbestimmten<br />

Leben zu Hause wie Nahrungszufuhr beispielsweise, werden<br />

darin geregelt. Ich zitiere: „Ihre Mahlzeiten sollen Sie möglichst<br />

auch außerhalb der regulären Essenszeiten – Ihrem Lebensrhythmus<br />

und Appetit entsprechend – zu sich nehmen können. Zwischenmahlzeiten<br />

und Getränke sollen jederzeit zur Verfügung stehen.“<br />

Die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ wurde von Wissenschaftlern,<br />

Politikern, Pflegekräften, Behindertenbeauftragten, Trägern großer<br />

sozialer Einrichtungen und Betroffenen am 1. Dezember 2006 gegründet.<br />

2. Wir fordern ambulant statt stationär, d.h. einen Baustopp für<br />

neue Heime und den Abbau bestehender Heimplätze.<br />

Tatsächlich aber werden immer neue Heime aus dem Boden gestampft.<br />

Jüngstes Beispiel ist der Ort Igersheim in Baden­Württemberg:<br />

In der Presse wird der erste Spatenstich für den Bau eines<br />

1<br />

Seniorenzentrums gefeiert, es wird der „Pioniergeist“ der Verantwortlichen<br />

hochgejubelt und der Bürgermeister stellt sich als Wohltäter<br />

für seine Bürger dar. Igersheim ist kein Einzelfall, sondern ist Alltag<br />

in unserem Land. Beispielsweise baut die <strong>Lebenshilfe</strong> Ostallgäu eine<br />

Wohlanlage für 33 Menschen mit Behinderung.<br />

Den Baustopp für Heimneubauten und Abbau von bestehenden Heimplätzen<br />

fordern inzwischen 1.658 Unterstützer, darunter mitgliederstarke<br />

Sozialverbände wie der Sozialverband Deutschland, die Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Gemeinsam leben – gemeinsam lernen e. V., Mensch<br />

zuerst Netzwerk People First Deutschland e.V. und die Evangelische<br />

Stiftung Alsterdorf in Hamburg. Alle Verbände und Einzelunterzeichner<br />

zusammengerechnet, vertritt die Bundesinitiative „Daheim statt<br />

Heim“ bereits mehrere Millionen Bundesbürger.<br />

Die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ kritisiert nicht das Pflegepersonal<br />

in den Heimen. Im Gegenteil, die Menschen dort leisten<br />

schwere und aufopferungsvolle Arbeit, die von unserer Gesellschaft<br />

viel zu wenig honoriert wird.<br />

Wie ist die gegenwärtige Situation? Derzeit leben über 900.000<br />

Menschen in Heimen. Der freie Journalist Christoph Lixenfeld hat in<br />

seinem soeben erschienen Buch „Niemand muss ins Heim“ neueste<br />

Zahlen vorgelegt:<br />

> Über 300.000 alte Menschen müssen sich im Heim ein<br />

Zimmer mit einem wildfremden Menschen teilen.<br />

> Mindestens 100.000 Menschen könnten zu Hause<br />

versorgt werden, wenn Geld in den Ausbau der ambulanten<br />

Infrastruktur gesteckt würde.<br />

> Jeder vierte könnte noch zu hause oder in wohngemeinschaf<br />

ten betreut werden!<br />

Warum ist es nicht wie im Hamburger Alsterdorf möglich, Menschen<br />

mit geistiger Behinderung in kleinen Wohnungen ein selbstbestimmtes<br />

Leben zu ermöglichen? Wir brauchen auch keine neuen<br />

Pflegeheime für ältere Menschen mit Behinderung. Hier haben wir<br />

die Schnittstelle mit der Pflegeversicherung. Anstatt Pflege in Fachpflegeheimen<br />

zuzulassen, kann sich auch die <strong>Lebenshilfe</strong> dafür einsetzen,<br />

dass kleine Wohngruppen mit ambulanter Pflege eingerichtet<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 8


undesinitiative „Daheim statt Heim“<br />

werden. Das ist in Alsterdorf und auch in Hephata Mönchengladbach<br />

geschehen – warum sollte das andernorts nicht gehen?<br />

Die älteren Menschen stimmen längst mit den Füßen ab und zögern<br />

den Einzug in ein Heim so lange wie möglich hinaus. Mit durchschnittlich<br />

87 Jahren ziehen die Menschen schweren Herzens in ein<br />

Heim und leben dort im Durchschnitt noch ein Jahr und drei Monate.<br />

Sie ziehen ins Heim, weil sie Hilfe brauchen und sich dorthin begeben,<br />

wo sie Hilfe erhalten. Es ist doch widersinnig!<br />

Viel klüger, aber vor allem auch menschenfreundlicher wäre es, die<br />

Hilfe zu den Menschen zu bringen. Dies gelingt längst in Dänemark,<br />

das von oben herab einen Baustopp für neue Heime beschlossen<br />

hat. Das gelingt in Schweden seit 30 Jahren, in dem über 250.000<br />

Menschen mit Alltagskompetenz als Assistenten arbeiten. Das gelingt<br />

in Bielefeld, in dem die Menschen in kleinen Wohnquartieren<br />

leben und ambulant betreut werden.<br />

Deutschland ist Schlusslicht in Europa, was die Gemeinde nahen Unterstützungssysteme<br />

angeht. Die Ratifizierung der UN­Konvention<br />

über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist deshalb besonders<br />

dringlich. Teilhabe fängt nicht beim Wohnen an. Von Anfang<br />

an müssen Kinder mit Behinderung Teil der Gesellschaft sein. Ihre<br />

Anwesenheit in Schulen und Kindergärten muss Normalität sein.<br />

Förderung und Zugehörigkeit von Anfang an – das ist Inklusion. Das<br />

fordert die Konvention – anstatt Eingliederung im Nachhinein, Zugehörigkeit<br />

von Anfang an fördern!<br />

Das Umbenennen von Heimen in Wohnstätten hilft dann eben auch<br />

nichts. Es muss von Anfang an ein selbstbestimmtes Leben gefördert<br />

werden. Voraussetzung dafür ist die Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen.<br />

Ohne Zugang z.B. zu Informationen, Gebäuden oder auch<br />

Bildungschancen gibt es keine Gleichberechtigung und keine selbstbestimmte<br />

Teilhabe.<br />

rEFErAtE<br />

3. Wir fordern daher den flächendeckenden Aus- und Aufbau individuell-<br />

bedarfsdeckender vernetzter Unterstützungsangebote für<br />

ältere und behinderte Menschen.<br />

Unsere Gegner sind die Kartelle der Heimträger und Leistungsanbieter.<br />

Längst haben sich Investoren auf den Bau von Billigheimen eingestellt.<br />

Sie bauen „Pflegefabriken“ für diejenigen, die sich keinen<br />

Platz in einer „Residenz“ leisten können. Die Heime werfen Renditen<br />

von bis zu zehn Prozent ab.<br />

Ein Artikel in einer der letzten Ausgaben des „Stern“ macht dies<br />

deutlich: Seit Ende vorigen Jahres hält der Investor Guy Wyser­Pratte<br />

fünf Prozent an der börsennotierten Curanum AG in München, die<br />

mit 7.638 Pflegeplätzen einen Jahresgewinn von rund acht Millionen<br />

Euro erwirtschaftet. Wer noch etwas Gerechtigkeitssinn hat, wer<br />

noch ein Gefühl hat für Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit, der<br />

kann nicht hinnehmen, dass mit der Pflegebedürftigkeit der Menschen<br />

ein Geschäft gemacht wird.<br />

Auf das Kostenargument trifft man aber allerorts: Kostenintensiv ist<br />

ein Begriff, der mir, wenn er benutzt wird, immer etwas wehtut.<br />

Wenn ich miterleben muss, dass eine Gesellschaft es nicht fertig<br />

bringt, Menschen zu unterstützen, die ihre Unterstützung brauchen,<br />

und ständig nur von Kosten redet, wird mir teilweise schwindlig.<br />

Ich verweise auf den Fall Leonhard in Hamburg. Man hat billigend<br />

in Kauf genommen ­ das Gutachten hat es aufgezeigt –, dass das<br />

Leben dieses Mannes automatisch verkürzt wird, wenn er in eine<br />

Einrichtung kommt. Das ist skandalös. Es geht um SGB XII § 13. Dort<br />

steht: Ambulanten Leistungen der Sozialhilfe ist nur so lange Vorrang<br />

zu gewähren, solange sie nicht mit unzumutbaren Mehrkosten<br />

verbunden sind. In diesem Paragrafen ist aber auch geregelt, dass<br />

die Versorgung zumutbar sein muss. Das war im Fall Leonhard überhaupt<br />

nicht so. Man hat sich über das Kriterium der Zumutbarkeit<br />

hinweggesetzt.<br />

Der berechtigte Bedarf eines Einzelnen, das Wunsch­ und Wahlrecht,<br />

muss nicht nur im Persönlichen Budget Ausdruck finden; vielmehr<br />

muss dieser Bedarf, egal wie klein er ist, uns dazu veranlassen, der<br />

Menschenwürde eines jeden Einzelnen auch gerecht zu werden. In<br />

Kommunen und Ländern muss man endlich erkennen, dass die ambulante<br />

Versorgung insgesamt auch kostengünstiger ist. Pflegehochburgen<br />

und Wohnheime können sich die überschuldeten Kommunen<br />

nicht mehr leisten.<br />

Der Kostenvergleich von ambulant und stationär der überörtlichen<br />

Sozialhilfeträger zeigt: 23.172,00 Euro je Leistungsberechtigtem im<br />

Jahresdurchschnitt 2006 für stationäres Wohnen stehen 11.890,00<br />

Euro im ambulanten Wohnen entgegen. Das sind klare Zahlen!<br />

Umsteuern heißt hier aber nicht kaputt sparen: Mit der Förderung<br />

ambulanten Wohnens werden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen.<br />

Neben dem Teilhabeaspekt, den ich schon beschrieben habe, eröffnen<br />

sich durch die Belegung von bisher freiem Wohnraum neue<br />

Möglichkeiten zur Gestaltung des gemeindenahen Raums. Menschen<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 9


undesinitiative „Daheim statt Heim“<br />

mit Behinderung mitten in der Gesellschaft sind Mieter, Käufer und<br />

somit auch ein wirtschaftlicher Faktor. Gleichermaßen sind dies auch<br />

ältere Menschen. Das kann und darf nicht länger ignoriert werden.<br />

4. Die Bundesinitiative „Daheim statt Heim“ fordert die Garantie der<br />

Wahlmöglichkeiten der Betroffenen.<br />

Denn, wenn wir das Wunsch­ und Wahlrecht nicht im Gesetz aufnehmen,<br />

sondern immer wieder beiseite schieben – im SGB IX steht,<br />

dass es bei der Budgetverteilung keine Mehrkosten geben dürfe –,<br />

dann brauchen wir uns mit Selbstbestimmung und dem Gedanken<br />

der Teilhabe überhaupt nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir müssen<br />

die Bereiche SGB IX – das Budget darf die vorhergehenden Kosten<br />

nicht übersteigen –, SGB XII § 13 aufgreifen und ändern.<br />

Schwerstmehrfach behinderte Menschen müssen genauso wie jeder<br />

andere Mensch die Möglichkeit haben, da zu leben, wo sie leben<br />

möchten, egal wie hoch das Budget ist. Ich kann Ihnen versichern<br />

– das zeigen die Evangelische Stiftung Alsterdorf, der große Träger<br />

Hephata und das Johanneswerk –: Man ambu lantisiert; man nimmt<br />

schwerstmehrfachbehinderte Menschen aus den Einrichtungen heraus,<br />

ohne dass das höhere Kosten nach sich zieht.<br />

5. Wir fordern die Gewährleistung des Grundsatzes „Daheim<br />

statt Heim“ in allen gesetzes- und verwaltungstechnischen<br />

Regelungen und auf allen ebenen und in der Praxis.<br />

Es gibt positive Beispiele aus der Praxis, wie das nordrhein­westfälische<br />

Unna zeigt. Mit einfachsten Instrumenten wie einer Wohnberatung<br />

können in hervorragender Weise Kosten bei der Pflegeversicherung,<br />

der Krankenversicherung, der Eingliederungshilfe und der<br />

Altenhilfe gespart werden.<br />

Bei unseren Wohnungsbaugesellschaften stehen viele Wohnungen<br />

leer. Wir müssen keine neuen Einrichtungen bauen, sondern im Rahmen<br />

unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten dafür sorgen, dass<br />

verstärkt barrierefreier Wohnraum geschaffen wird. Für KfW­Kredite<br />

sind im Bundeshaushalt 2008 100 Mio. Euro eingestellt. Ähnlich dem<br />

Co2­Gebäudesanierungsprogramm werden zinsgünstige Kredite vergeben.<br />

Nocheinmal: Ambulante Pflege ist kostengünstiger.<br />

Während die Kosten der stationären Pflege von 1997 bis 2004 um<br />

31 Prozent stiegen, betrug die Ausgabensteigerung im selben Zeitraum<br />

im ambulanten Bereich gerade einmal 5 Prozent. Vor diesem<br />

Hintergrund frage ich mich ernsthaft, warum wir immer noch so den<br />

Schwerpunkt auf den stationären Bereich legen.<br />

6. Wir fordern die Beteiligung der Betroffenen an dem Reformprozess<br />

nach der Devise „nichts über uns ohne uns“.<br />

Die Leistungs­ und die Kostenträger haben kein Interesse daran, den<br />

Menschen mit Behinderungen das Wunsch­ und Wahlrecht zu gewähren.<br />

Die Menschen mit Behinderungen könnten ja den Wunsch<br />

äußern, woanders zu leben als dort, wo sie jetzt leben. Deshalb müssen<br />

wir die älteren und die Menschen mit Behinderung darin bestärken<br />

rEFErAtE<br />

und sie dabei unterstützen, ihre eigenen Zukunftsperspektiven zu<br />

entwickeln und nicht klein beizugeben, wenn ihnen ein freier Heimplatz<br />

angeboten wird.<br />

Die Stadt Bielefeld – an vorderster Front der Dezernent Tim Kähler –<br />

betont: Wir schaffen konsequent die Nachfrage nach Heimplätzen<br />

ab, wir lassen diese Nachfrage gar nicht mehr aufkommen, weil wir<br />

so viele andere Alternativen für ein selbst bestimmtes Leben im Alter<br />

schaffen.<br />

Im Mittelpunkt unserer Initiative stehen der Mensch und seine Wahlfreiheit<br />

für „Daheim“ statt Heim. Unterstützen Sie uns mit Ihrem<br />

Eintrag in unsere Unterstützerliste! Unterstützen Sie uns, in dem Sie<br />

vor Ort aktiv werden!<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 10


Häuser ... Potala Palast, Tibet<br />

Peter schütze, 45 Jahre<br />

Herr Schütze bevorzugt übersichtliche, klare Formen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 11


Wohnen wie andere –Unterstütztes Wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG 1 hat das Konzept des Unter-<br />

stützten Wohnens in der Hausgemeinschaft entwickelt, um auf der<br />

Grundlage dieses Konzeptes seine Wohnangebote zu modernisieren<br />

und inhaltlich weiterzuentwickeln. Das Konzept wird als Beitrag zur<br />

Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe verstanden.<br />

Das Konzept hat unterschiedliche historische, fachliche und sozialrechtliche<br />

Ausgangspunkte, die bei der Entwicklung des Konzepts der Hausgemeinschaft<br />

einbezogen wurden.<br />

1. AusgAngspunkte<br />

säulen der eingliederungshilfe: stationär und ambulant<br />

LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG ist ein Elternverein mit ca. 1.500<br />

Mitgliedern. Nach den Erfahrungen der Aussonderung und Ermordung<br />

von behinderten Menschen im deutschen Faschismus wurde<br />

der Elternverein 1956 von einem Hamburger Juden gegründet. Zunächst<br />

setzte sich der Verein für die Beschulung von behinderten Kindern<br />

ein.<br />

In den siebziger Jahren wurde das Konzept der stadtteilintegrierten<br />

Wohngruppe als Alternative zum Heim entwickelte und in Hamburg<br />

als die Wohnform für Menschen mit Behinderung durchgesetzt. Jeweils<br />

acht Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarf<br />

(alle Bedarfsgrupppen) leben selbstbestimmt und mit einer hohen<br />

Lebensqualität in einer Wohnung im normalen Wohnumfeld zusammen.<br />

Rechtlich handelt es sich bei der Wohngruppe allerdings um<br />

ein (Kleinst-)Heim.<br />

In Hamburg werden seit 20 Jahren auch ambulante pädagogische<br />

Leistungen für Menschen mit Behinderung angeboten, die in der<br />

eigenen Wohnung leben. Die Pädagogische Betreuung im eigenen<br />

Wohnraum (PBW), wie in Hamburg die Fachleistungsstunde heißt,<br />

ist ein Erfolgsmodell: Die PBW ermöglichte vielen Wohngruppenbewohnern<br />

in die eigene Wohnung zu ziehen. Trotz stetiger Reduzierung<br />

des Umfangs der Unterstützung ziehen nur wenige Menschen<br />

in eine Wohngruppe zurück. LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG<br />

unterstützte 2007 erstmals mehr Menschen ambulant als stationär.<br />

Trotz Pflegeversicherung und Hilfe zur Pflege werden Menschen<br />

1 Leben mit Behinderung Hamburg, Sozialeinrichtungen, gemeinnützige GmbH: Rahmen-<br />

konzeption für betreute Wohngruppen. Hamburg 1995<br />

martin rösner ist Bereichsleiter Unterstütztes Wohnen West LeBen mit BeHinDerUnG<br />

HamBUrG.<br />

mit der Hausgemeinschaft „max-B“ wurde ein Konzept entwickelt, das stadtteilintegriertes<br />

Wohnen in der eigenen Wohnung unabhängig vom Unterstützungsbedarf und unabhängig<br />

von der Leistungsform realisiert.<br />

referate<br />

Wohnen wie andere – unterstütztes Wohnen in der Hausgemeinschaft von Martin Rösner<br />

2<br />

mit hohem Unterstützungsbedarf von einem Leben in der eigenen<br />

Wohnung mit ambulanten Hilfen eher ausgeschlossen. Wirtschaftliche<br />

Rahmenbedingungen führen bei vielen Klienten nur zu ein bis zwei<br />

persönlichen Kontakten pro Woche. Im Durchschnitt erhalten die Klienten<br />

3–3,5 Stunden face-to-face-Leistung.<br />

Ende der 90er Jahre hatten sich zwei Säulen in der Hamburger Eingliederungshilfe<br />

herausgebildet: die (stationäre) Wohngruppe und die<br />

pädagogische Betreuung in der eigenen Wohnung. Die Rahmenbedingungen<br />

ambulanter Hilfen verhinderten jedoch, dass viele Menschen<br />

mit Behinderung eine wirkliche Entscheidung zwischen Wohngruppe<br />

und eigener Wohnung treffen konnten.<br />

Unzufrieden mit dieser Situation und aufgrund der Erfahrung, dass viele<br />

Menschen mit Behinderung sich mehr soziale Kontakte wünschten,<br />

baute bzw. ließ LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG zwei Häuser<br />

mit je 9 bzw.14 Wohnungen für ein bzw. zwei Personen bauen. Die<br />

Mieter erhalten die eben genannten Leistungen durch Dienstleister<br />

ihrer Wahl. Soziale Kontakte im Haus werden durch Mitarbeiter von<br />

LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG erfolgreich unterstützt.<br />

Wohnen wie andere: Wohnwünsche von jungen Menschen<br />

mit Behinderung<br />

Von großer Bedeutung für die konzeptionellen Überlegungen zur<br />

Weiterentwicklung der Wohn- und Unterstützungsangebote war die<br />

Untersuchung von Frau Dr. Metzler zu den Wohnwünschen von jungen<br />

Menschen mit Behinderung2 .<br />

Frau Dr. Metzler kam in der Untersuchung zu dem nicht wirklich<br />

überraschenden Ergebnis: „Menschen mit Behinderung wollen ihr eigenes<br />

Leben gestalten und eingebunden sein in das soziale Netzwerk<br />

mit Menschen ohne Behinderung.“ Nur 13% der Befragten wollten in<br />

einem Heim wohnen.<br />

Bei der Planung neuer Wohn- und Unterstützungsstrukturen, die Bedürfnisse<br />

von Menschen befriedigen wollen, muss dieses Ergebnis<br />

berücksichtigt werden. Die eigene Wohnung – ob sie nun allein oder<br />

gemeinsam mit anderen bewohnt wird, ist für Menschen mit Behinderung<br />

genauso wichtig wie für alle anderen Menschen.<br />

2 Metzler, H.; Rauscher; C.: Wohnen inklusiv. Wohn- und Unterstützungsangebote für<br />

Menschen mit Behinderungen in Zukunft. Projektbericht. Hrsg. vom Diakonischen<br />

Werk Württemberg. Stuttgart 2004<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 12


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

Bei der Planung von Wohn­ und Unterstützungsangeboten müssen<br />

deshalb Wohnungsgrößen realisiert werden, die es den Menschen<br />

möglich macht, Einfluss auf ihre realen Lebensbedingungen zu nehmen.<br />

Die Personenzahl im gemeinschaftlichen Leben innerhalb einer<br />

Wohnung sollte deshalb nicht vier bis fünf Personen übersteigen.<br />

Ambulant vor stationär: bessere Rahmenbedingungen<br />

für ambulante Unterstützung<br />

Will man mit dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ ernst machen<br />

und die Rahmenbedingungen für ein Wohnen in der eigenen Wohnung<br />

verbessern, braucht es mehr als die bloße Veränderung von Wohnungsgrößen.<br />

Die Rahmenbedingungen können auf zwei Wegen verbessert<br />

werden:<br />

1. der umfang der ambulanten hilfen wird vergrößert.<br />

Durchschnittliche pädagogische Unterstützungsumfänge von 3,5 Stunden<br />

pro Woche verhindern, dass viele Menschen mit Behinderung ihren<br />

Wunsch nach einem Wohnen in der eigenen Wohnung realisieren<br />

können.<br />

Von ambulanten Wohngemeinschaften in <strong>Berlin</strong> wurde die Grundidee<br />

einer ambulanten Tagespauschale zur Idee einer ambulanten<br />

Leistung für ein Wohnen in Gemeinschaft (Wohn­ und Hausgemeinschaft)<br />

weiterentwickelt.<br />

In der Zielvereinbarung zwischen LEBEN MIT BEHINDERUNG HAM­<br />

BURG SOZIALEINRICHTUNGEN gGmbH und der Behörde für Soziales,<br />

Familie, Gesundheit u. Verbraucherschutz zur Weiterentwicklung<br />

des stationären und ambulanten Hamburger Hilfesystems für behinderte<br />

Menschen konnte eine neue ambulante Leistung, die ambulant<br />

betreute Wohngemeinschaft3 vereinbart werden. Ambulante<br />

Tagespauschalen für alle Hilfebedarfsgruppen (Metzler, HMBW­Verfahren)<br />

betragen durchschnittlich ca. 75% der stationären Maßnahmenpauschale.<br />

Der Umfang ambulanter Leistungen konnte damit<br />

deutlich angehoben werden. Ein Zugang zur ambulanten Unterstützung,<br />

auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, wurde<br />

formell geschaffen. Die Zukunft wird zeigen, ob mit der Inanspruchnahme<br />

dieser Leistung für Menschen mit großem Unterstützungsbedarf<br />

auch bedarfsdeckende Unterstützung organisiert und erbracht<br />

werden kann. Auf diesem Weg sind von allen Beteiligten noch hohe<br />

Anforderungen zu bewältigen.<br />

2. die organisation der ambulanten und stationären leistungserbringung<br />

rückt näher zusammen und erfolgt aus einer<br />

hand und aus einem Team.<br />

Zur den Rahmenbedingungen ambulanter Leistungsorganisation gehört,<br />

dass Fahrzeiten pauschal einberechnet sind und nicht entsprechend<br />

des realen Umfangs abgerechnet werden können. Dies führt<br />

dazu, dass kurze Unterstützungszeiten oder spontane bzw. ungeplante<br />

Unterstützung nicht wirtschaftlich erbracht werden können.<br />

Will man erreichen, dass mehr Menschen mit Behinderung in der<br />

3 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/soziales­familie/infoline/allgemeine­<br />

informationen/sgb­12/ambulant­betreute­wohngemeinschaft.html<br />

eigenen Wohnung leben können, müsste sich dies ändern. Erreichbar<br />

wäre dies durch eine reale Abrechnungsmöglichkeit der Fahrzeit<br />

oder durch eine Verbindung ambulanter und stationärer Leistungserbringung.<br />

Da eine reale Abrechnung der Fahrzeiten mit dem Kostenträger äußerst<br />

unwahrscheinlich zu erreichen ist, müssen Wohn­ und Unterstützungskonzepte<br />

unabhängig vom Kostenträger vorangetrieben werden.<br />

Das Zusammenrücken von stationärer und ambulanter Leistung<br />

ist deshalb eine unverzichtbare Option.<br />

Ambulantisierung: ein Sparprogramm?<br />

Die Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit u. Verbraucherschutz<br />

(BSG) ist 2005 an die Leistungserbringer mit der Idee herangetreten,<br />

künftig 30% der stationär betreuten Menschen d.h. ca. 800 Menschen<br />

in Hamburg mit ambulanten Hilfen zu unterstützen zu erreichen.<br />

4 Insbesondere Menschen der Bedarfsgruppen 1 und 2 sollten<br />

aus Wohngruppen ausziehen. Nachdem erkennbar wurde, dass dies<br />

nicht ausreichen würde, um das Ziel zu erreichen, sollten auch Menschen<br />

mit Bedarfgruppe 3 einbezogen werden.<br />

Das Ziel der der BSG wurde deutlich formuliert: nachhaltige Kostensenkungen<br />

sollten erreicht werden. Im gleichen Zeitraum wurden der<br />

Haushalt der Hamburger Eingliederungshilfe 12 Millionen Euro5 gekürzt.<br />

Die wirtschaftliche Logik dieses Vorhabens liegt auf der Hand:<br />

die Fallkosten für Menschen mit geringerem Unterstützungsbedarf<br />

sind trotz Einführung der Bedarfgruppen, die mit unterschiedlich hohen<br />

Maßnahmepauschalen auf den unterschiedlich hohe Bedarfe reagieren,<br />

bei ambulanten Hilfen insbesondere bei den niedrigen Bedarfsgruppen<br />

deutlich geringer als die stationären. Der Einspareffekt gegenüber<br />

den stationären Hilfen ist dort am größten. 6<br />

4 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/bsg/soziales/behinderung/ambulant­<br />

betreutes­wohnen­datei,property=source.pdf, S. 3<br />

5 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/pressemeldungen/2004/juni/23/2004­06­23­<br />

bsf­haushalt.html<br />

6 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/pressemeldungen/2008/februar/13/2008­02­13­<br />

bsg­ambulantisierung.html<br />

rEFErAtE<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 13


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

Die Folgen eines solchen Programms sind allerdings fatal. Menschen<br />

mit großem Unterstützungsbedarf würden in stationären Einrichtungen<br />

konzentriert. Die Teilhabe am Leben der Gesellschaft und Gemeinschaft<br />

würde sich, nach mehreren Nullrunden bei den Erlösen in den letzten<br />

Jahren und aufgrund der geringen Steigerungsraten der Maßnahmenpauschalen<br />

in den Bedarfgruppen 4 und 5, auf ein beaufsichtigtes<br />

Zusammensein in einer Wohnung reduzieren.<br />

Dieses Programm fügte der Idee eines selbstbestimmten Lebens in<br />

einer eigenen Wohnung einen unermesslichen Schaden zu:<br />

> Es würde einen nicht unwesentlichen Teil der Menschen mit Behinderung<br />

von einem selbstbestimmten Leben in der eigenen Wohnung<br />

ausschließen.<br />

> Die ökonomisch bedingte Verkürzung von Ambulantisierungsbemühungen<br />

enthält einen unauflösbaren Widerspruch: die mit dem<br />

unterstützten Wohnen in der eigenen Wohnung verbundene Idee<br />

eines selbstbestimmten Lebens mit Teilhabe am Leben der Gesellschaft<br />

wird gerade denen verwehrt, die davon am meisten profitieren<br />

würden. Vollends unerträglich wird es, wenn in biologistischer<br />

Manier und in Ignoranz gegenüber der fachlichen Weiterentwicklung<br />

der Rehabilitationstheorie unterstütztes Wohnen in der eigenen<br />

Wohnung an individuelle Kompetenzen gekoppelt wird.<br />

> Ambulantisierung würde zu einer Zwangsbeglückung: Wer verließe<br />

eine zufrieden stellende und selbstbestimmte Lebenssituation in<br />

einer Wohngruppe freiwillig, wenn er oder sie als Motiv der Ambulantisierung<br />

Einsparungen und die Reduzierung von Unterstützungsleistungen<br />

vermutet?<br />

> Eine fiskalisch gesteuerte Engführung von Ambulantisierung entzöge<br />

einer von Kostenträgern und Leistungserbringern gemeinsamen<br />

vorangetriebenen und verantworteten Arbeit an der Weiter­<br />

entwicklung der Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe jegliche<br />

vertrauensvolle Grundlage.<br />

Obwohl in Hamburg wesentliche Rahmenbedingungen dieses Programms<br />

verändern werden konnten, gilt es weiterhin wachsam zu<br />

sein. Die Gefahr der Aussonderung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf<br />

ist vorläufig abgewendet, aber noch nicht gebannt.<br />

Im einem Konsenspapier zur Weiterentwicklung der Hamburger<br />

Ein gliederungshilfe für Menschen mit Behinderung7 erklärten am<br />

07.03.2005 der Sozialhilfeträger (BSF), die Spitzenverbände der Freien<br />

Wohlfahrtspflege, Verbände der Träger privater Einrichtungen<br />

und die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen,<br />

dass der Übergang zu ambulanten Hilfen freiwillig erfolgen<br />

solle und reversibel sein kann. Damit wurde für die betroffenen Men­<br />

7 http://www.lagh­hamburg.de/homepage032002/Konsens.htm<br />

schen und ihre Angehörigen und rechtlichen Betreuer die notwendige<br />

Sicherheit bezüglich der Freiwilligkeit des Prozesses geschaffen<br />

Grundsätzlich muss die Erkenntnis, die schon Prof. Dörner vor vielen<br />

Jahren zum Ausgangspunkt seiner Ambulantisierung in Gütersloh8 machte, zur Grundlage von Strukturveränderungen gemacht werden:<br />

Bei der Veränderung von Systemen und Strukturen der Eingliederungshilfe<br />

muss man mit dem Schwierigen beginnen. Menschen<br />

mit hohem Unterstützungsbedarf müssen am Ausgangspunkt und<br />

nicht am Ende dieser Überlegungen stehen. Nur so kann verhindert<br />

werden, dass Menschen mit großem Unterstützungsbedarf auf der<br />

Strecke bleiben. Erforderliche Veränderungen für die Menschen mit<br />

geringem Unterstützungsbedarf zu erreichen, ist auf diesem Weg<br />

nicht mehr schwierig.<br />

„Ambulant vor stationär“ kann deshalb nur für alle gelten: Jeder<br />

Mensch, egal wie behindert, muss ein Recht auf das Wohnen in der<br />

eigenen Wohnung mit der dafür erforderlichen Unterstützung haben.<br />

Dieses Recht darf nicht abhängig gemacht werden vom Vorhandensein<br />

bestimmter Fähigkeiten. Jeder Mensch kann in der eigenen<br />

Wohnung leben, wenn die für die Organisation der Unterstützung<br />

notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.<br />

Noch muss um das Recht auf ein Wohnen in der eigenen Wohnung<br />

gekämpft werden. Das Persönliche Budget gibt auch Menschen mit<br />

hohem Unterstützungsbedarf und ihren Unterstützern ein Mittel in<br />

die Hand, den Wunsch nach dem Leben in der eigenen Wohnung in<br />

die eigene Hand zu nehmen und die dafür notwendigen finanziellen<br />

Mittel einzufordern. Vielleicht könnten diese Budgetanträge sogar<br />

dazu beitragen, ausreichende Unterstützung für ein Leben in der<br />

8 Dörner, K.: Auf dem Weg zur Heimlosen Gesellschaft,<br />

http://bidok.uibk.ac.at/library/imp27­03­doerner­gesellschaft.html<br />

rEFErAtE<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 14


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

eigenen Wohnung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf<br />

durchzusetzen. Damit wäre es möglich, dass Menschen mit Behinderung<br />

endlich ihr Wunsch­ und Wahlrecht wahrnehmen und sich für<br />

eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn­ und Unterstützungssituation<br />

entscheiden könnten.<br />

2. DAS konZePT DeR HAUSGeMeInScHAFT<br />

Die Hausgemeinschaft – das Wohnhaus<br />

Leitidee des Konzepts der Hausgemeinschaft war ein Haus, in dem<br />

Menschen mit Behinderung unabhängig vom Umfang ihres Unterstützungsbedarfs<br />

und der Art der Hilfe in der eigenen Wohnung leben<br />

können. Die Konkretisierung der Grundidee soll am Beispiel der<br />

ersten Hausgemeinschaft am Rande des Hamburger Schanzenviertels<br />

vorgestellt werden.<br />

Im September 2006 hat LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG zwei<br />

stationäre Wohngruppen für 14 Menschen geschlossen. Sie zogen<br />

zusammen mit fünf weiteren Personen in die erste Hausgemeinschaft<br />

und erhalten dort stationäre oder ambulante Leistungen.<br />

In der Hausgemeinschaft MAX­B leben 19 Menschen in elf Wohnungen.<br />

Im Haus sind acht Wohnungen für Menschen vorhanden<br />

sein, die alleine in einer Wohnung leben wollen. Gemeinschaftlich<br />

bewohnte Wohnungen werden von max. vier Personen bewohnt.<br />

Die Bewohner einer Wohngemeinschaft werden ambulant unterstützt,<br />

die anderen beiden Wohngemeinschaften sind stationäre<br />

Wohngruppen.<br />

In der Hausgemeinschaft werden bei zwölf Personen ambulante und<br />

bei sieben Personen stationäre Leistungen erbracht. Im Haus wohnen<br />

derzeit Menschen mit den Bedarfgruppen zwei bis vier. Mehrere<br />

Bewohner haben eine Pflegestufe. Bewohner mit ambulanter Unterstützung<br />

und einer Pflegestufe werden von einem Pflegedienst<br />

unterstützt.<br />

Die Funktionsräume für Mitarbeiter (Büro) sind nicht Teil der Wohnungen.<br />

Alle Bäder sind barrierefreie Duschbäder, ein Pflegebad wird<br />

gemeinschaftlich genutzt. Im Haus gibt es weitere gemeinschaftlich<br />

genutzte Räume, die Begegnung und Kontakte innerhalb des Hauses<br />

ermöglichen und für Feste außerhalb der Wohnung genutzt werden<br />

können.<br />

Die Hausgemeinschaft – Teil eines Wohnprojekts<br />

Die Hausgemeinschaft ist aktiver Teil eines Wohnens in lebendiger<br />

Nachbarschaft. Das Haus ist gut mit barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

erreichbar und liegt in einem Umfeld von leicht Einkaufsmöglichkeiten<br />

und attraktiven Freizeitangeboten.<br />

Das Haus ist eines von neun Häusern des Wohnprojekts MAX­B<br />

Arbeiten Wohnen Kultur. Das ganze Wohnprojekt wurde von einer<br />

Wohnungseigentümergemeinschaft bestehend aus Baugemeinschaften<br />

und einer Baugenossenschaft gemeinsam mit der Architektin<br />

Iris Neitmann errichtet. Leitidee des Projektes war die Reali­<br />

sierung einer „dörflichen Nachbarschaft in der Stadt mit Platz für<br />

alle Lebensphasen“. 9 Es sollt über die einzelnen Hausgemeinschaften<br />

hinaus ein städtisches Quartier gestaltet werden, in dem alle Generationen<br />

ihren Raum finden.<br />

Auf über 8000 qm entstanden in neun Häusern 105 Miet­ und Eigentumswohnungen<br />

für 150 Erwachsene und 72 Kinder. Jedes Haus<br />

verfügt über Gemeinschaftsräumen. In einem Haus befinden sich 4<br />

Praxen, 2 Büros und ein Cafe. Gemeinsam werden drei ineinander<br />

übergehende Innenhöfe, eine Tiefgarage und ein Blockheizkraftwerk<br />

genutzt. 10 Einzelne Häuser haben sich ein Motto wie z.B. „Jung und<br />

Alt“ gegeben. Im Wohnprojekt leben in zwei Häusern Menschen mit<br />

geistiger und psychischer Behinderung.<br />

Ein Teil der Häuser sind als Eigentümerprojekte, der andere Teil wurde<br />

von einer Baugenossenschaft realisiert. Das Wohnprojekt wurde<br />

von der Architektin gemeinsam mit den künftigen Bewohnern unter<br />

großem kommunikativem Aufwand geplant. Auf den regelmäßigen<br />

Wohnprojekttreffen wurde das gesamte Bauvorhaben in den einzelnen<br />

Phasen diskutiert, geplant und entschieden.<br />

Das Wohnprojekt wurde 2007 vom Hamburger Senat als ein vorbildliches,<br />

famlienfreundliches Wohnquartier ausgezeichnet. Besonders<br />

der gemeinschaftliche Ansatz gegenseitiger Hilfe und Unterstützung,<br />

das Zusammenleben verschiedener Generationen und Kulturen, die<br />

Freizeitmöglichkeiten und die familien­, behinderten­ und kindgerechte<br />

Gestaltung überzeugten die Jury. 11<br />

Das Wohnprojekttreffen tagt auch heute noch regelmäßig. Der gemeinsame<br />

Nenner des Wohnprojekts – die „Lust an gemeinschaftlichen<br />

Aktivitäten“ 12 – wird gepflegt. Unter Beteiligung aller Bewohner<br />

wurde ein erstes Projektfest organisiert und durchgeführt. Das<br />

Wohnprojekttreffen beschäftigt sich nach dem Ende der Bauphase<br />

jetzt stärker mit sozialen Fragen des Zusammenlebens. Am Trägertreffen<br />

nehmen Bewohner der Hausgemeinschaft regelmäßig teil.<br />

Die Hausgemeinschaft – eigentum und Vermietung<br />

Die Hausgemeinschaft wurde im Eigentum einer Baugenossenschaft<br />

im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus realisiert. Das Haus wurde<br />

so geplant, dass später durch einfache Umbauten die Gesamtfläche<br />

eines Geschosses in drei Wohnungen aufgeteilt werden kann und einer<br />

anderen Nutzung zugeführt werden könnte. Der behinderungsbedingte<br />

Mehraufwand für die vollständige Barrierefreiheit und das<br />

Pflegebad wurde durch Mittel der Aktion Mensch unterstützt.<br />

LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG hat sich bewusst gegen Eigentum<br />

und die damit verbundene Rolle als Vermieter entschieden. Wir<br />

9 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/stadtentwicklung­umwelt/bauen­<br />

wohnen/familienfreundliches­wohnquartier/wettbewerb­altona­maxb­arbeiten­<br />

wohnen­kultur,property=source.pdf, S. 1<br />

10 http://www.wk­hamburg.de/fileadmin/pdf/ueberuns/JB_06_SG.pdf, S.18<br />

11 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/stadtentwicklung­umwelt/bauen­<br />

wohnen/familienfreundliches­wohnquartier/2007­preisverleihung.html<br />

12 ebenda, S.17<br />

rEFErAtE<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 15


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

wollen Menschen mit Behinderung möglichst nur als Dienstleister<br />

gegenübertreten. Die Baugenossenschaft vermietet erfreulicherweise –<br />

dies ist leider nicht selbstverständlich – direkt an die Menschen mit<br />

Behinderung, auch an die Bewohner der Wohngemeinschaft.<br />

Die Flächen der beiden Wohnungen, in denen stationäre Dienstleistungen<br />

erbracht werden, sind an LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG<br />

vermietet. Die Kosten der Gemeinschaftsräume sind anteilmäßig auf<br />

alle Mieter umgelegt.<br />

Die Hausgemeinschaft – das Heimgesetz<br />

Die stationäre Leistungserbringung für sieben Menschen in zwei<br />

Wohnungen unterliegt den üblichen Anforderungen des Heimgesetzes.<br />

Die Bedeutung einer künftigen Weiterentwicklung des Heimgesetzes<br />

zu einem Verbraucherschutzgesetz, das auch ambulante<br />

Leistungserbringer einbezieht, bleibt zunächst abzuwarten.<br />

Die ambulante Leistungserbringung bei 12 Bewohnern unterliegt<br />

nicht dem Heimgesetz. Mietvertrag und Dienstleistungsvertrag sind<br />

nicht gekoppelt. Die Mieter wählen den Dienstleister, sofern erforderlich,<br />

selbständig oder mit Unterstützung ihrer rechtlichen Betreuer<br />

aus.<br />

Die Hausgemeinschaft – die organisation der Leistungserbringung<br />

Unter dem Dach der Hausgemeinschaft werden von einem Hausteam<br />

stationäre Leistungen erbracht. Die Mitarbeiter des Hausteams<br />

erbringen auch ambulante Leistungen für Mieter, wenn diese sich<br />

entscheiden, ambulante Leistungen vom stationären Leistungserbringer<br />

einzukaufen. Der Vorteil einer Beauftragung des Hausteams<br />

mit der ambulanten Leistung ist die Möglichkeit, erforderliche Unterstützungsleistungen<br />

kleinteilig oder kurzfristig zu erbringen.<br />

rEFErAtE<br />

Zu den verschiedenen ambulanten Leistungen gehören Pädagogische<br />

Betreuung im eigenen Wohnraum (PBW), Wohnassistenz und ambulante<br />

betreute Wohngemeinschaft. Ambulante pflegerische Leistungen<br />

der Pflegeversicherung und der Hilfe zur Pflege, die eine Zulassung<br />

als Pflegedienst zur Voraussetzung haben, werden von einem Pflegedienst<br />

in Zusammenarbeit mit dem Hausteam erbracht.<br />

Im Hausteam arbeiten Sozialpädagogen, pädagogische und pflegerische<br />

Fachkräfte, Assistenzkräfte, Reinigungskräfte und junge Menschen<br />

im Freiwilligen Sozialen Jahr/ZDL. Derzeit umfasst das gesamte<br />

Team 10,35 Stellen. Der Pflegedienst ist momentan mit ca. einer halben<br />

zusätzlichen Stelle tätig. Nachtbereitschaft wird vom Hausteam<br />

geleistet. Menschen, die einen höheren nächtlichen Unterstützungsbedarf<br />

haben, der nur durch eine Nachtwache gedeckt werden kann,<br />

können nicht einziehen, da eine Nachtwache mit den Kostensätzen<br />

nicht finanzierbar.<br />

Der persönliche Hilfeplan ist der Ausgangspunkt einer Planung und<br />

Organisation der unterschiedlichen Unterstützungsleistungen in der<br />

Hausgemeinschaft. In der Planung und Organisation wird kein qualitativer<br />

Unterschied zwischen stationärer und ambulanter Leistung<br />

gemacht. Die Planung pflegerischer Hilfen ist Bestandteil der Hilfeplanung<br />

und erfolgt ggfs. in enger Abstimmung mit den Mitarbeitern<br />

des Pflegedienstes. In der Hilfeplanung werden Ressourcen des<br />

familiären und sonstigen Netzwerkes erfasst und eingeplant.<br />

Bei der Umsetzung der Hilfeplanung in die Organisation des Alltags<br />

und in den Dienstplan wird zwischen folgenden Unterstützungsstrukturen<br />

unterschieden:<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 16


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

> ansprechbarkeit/notruf<br />

Jede Wohnung im Haus ist mit einem Notruf ausgestattet. Mitarbeiter<br />

können darüber hinaus jederzeit von Bewohnern für kleine<br />

ungeplante Hilfen angesprochen werden.<br />

> Planungsgespräche / besondere unterstützung<br />

In regelmäßigen Planungsgesprächen planen Bewohner und Bezugsmitarbeiter<br />

die Aktivitäten der nächsten Zeit. Besondere Unterstützungssituationen<br />

wie z.B. Facharztbesuche werden ebenfalls<br />

vom Bezugsmitarbeiter oder einem anderen festgelegten<br />

Mitarbeiter unterstützt.<br />

> tägliche unterstützung<br />

Alltägliche (Lern­)Unterstützung wird durch im Dienstplan geplante<br />

Mitarbeiter erbracht. Die konkrete Planung der Unterstützung<br />

wird vom Bezugsmitarbeiter vorgenommen.<br />

> gemeinschaftliche angebote<br />

In der Hausgemeinschaft organisieren Bewohner ihr soziales Leben<br />

innerhalb des Hauses häufig selbst. Sie laden sich gegenseitig<br />

ein und treffen Verabredungen zu gemeinsamen Aktivitäten.<br />

Mitarbeiter organisieren zusammen mit Bewohnern gelegentliche<br />

Kaffeerunden, gemeinsame Mahlzeiten am Wochenende, oder<br />

Filmabende.<br />

Anders als in der klassischen ambulanten Arbeit wird ein Teil der<br />

Unterstützungsleistung durch Mitarbeiter erbracht, die nach Dienstplan<br />

eingeteilt sind. Der Anteil geplanter oder terminierter Unterstützungsprozesse<br />

hat im Vergleich zur Wohngruppe zugenommen.<br />

Zu den, mit dem Wechsel verbundenen Schwierigkeiten gehörten,<br />

dass ein Arbeiten in einem Haus mit mehreren Bewohnern auf mehreren<br />

Stockwerken eine neue Form der persönlichen und kollektiven<br />

Arbeitsorganisation erfordert. Die Bewohner der Hausgemeinschaft<br />

hatten allerdings damit weniger Probleme als Mitarbeiter: Sie nutzten<br />

die, sich aus den Umstellungsschwierigkeiten ergebenden Unterstützungslücken<br />

und Freiräume, aktiv für Selbsthilfeprozesse.<br />

Im Hausteam der Hausgemeinschaft wird heute eine Mischung aus<br />

ambulanten und stationären Arbeitsstrukturen praktiziert. Die Zusammenarbeit<br />

mit dem Pflegedienst ist eng und hat große Bedeutung<br />

für eine erfolgreiche Arbeit bei einzelnen Bewohnern.<br />

Die Hausgemeinschaft – Hausversammlung<br />

und Interessenvertretung<br />

Der Veränderungsprozess wird durch eine regelmäßige Versammlung<br />

aller Bewohner des Hauses unterstützt. Ein Bewohner wurde<br />

von der Hausversammlung zum Interessenvertreter gewählt.<br />

3. eRGeBnISSe UnD ZUkUnFTSTHeMen<br />

rEFErAtE<br />

ergebnisse ambulant unterstützten Wohnens in der Hausgemeinschaft<br />

und in ambulanten Wohngemeinschaften<br />

Hausgemeinschaft<br />

Alle Bewohner der Hausgemeinschaft, d.h. auch diejenigen, die<br />

stationär leben, schätzen die Bedeutung der „eigenen“ Wohnung<br />

sehr hoch ein. Das Selbstbewusstsein in Bezug auf die Kompetenzen<br />

einer eigenständigen Lebensgestaltung ist gewachsen, die eigenen<br />

Unterstützungsbedarfe sind klarer konturiert.<br />

Soziale Kontakte zwischen den Bewohnern der Hausgemeinschaft<br />

sind vielfältig und werden eigenständig und unabhängig von Mitarbeitern<br />

gepflegt. Konflikte im Zusammenleben, die es in der Wohngruppe<br />

mit sieben Personen gab, haben sich deutlich verringert.<br />

Die Bewohner der Hausgemeinschaft sind bekannte und akzeptierte<br />

Mitglieder des Wohnprojekts. Nachbarschaftliche Kontakte sind alltäglich<br />

und werden in unterschiedlichen Intensitäten gepflegt.<br />

Die Möglichkeiten des Stadtteils werden alltäglich für Einkauf und<br />

Freizeit genutzt.<br />

Die Hausbewohner haben sich mit der Hausversammlung ein eigenes<br />

Forum gegeben, in dem sie Fragen des Zusammenlebens besprechen<br />

und regeln, sowie gemeinsame Interessen formulieren und<br />

verfolgen.<br />

Ambulante Wohngemeinschaften<br />

In 2006 und 2007 wurden bei LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG<br />

sieben Wohngruppen mit insgesamt 52 Plätzen in 12 ambulante<br />

Wohngemeinschaften umgewandelt.<br />

Das bisherige Ergebnis des Ambulantisierungsprozesses, d.h. das Ergebnis<br />

der Umwandlung einer stationären in ambulante Unterstützung,<br />

wird von 2007 bis 2010 von der Hochschule für angewandte<br />

Wissenschaft, Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Pflege<br />

und Management evaluiert. 50 Nutzer von Wohngruppen, Angehörige<br />

und Mitarbeiterinnen werden von zu den Ergebnissen befragt.<br />

Die Zwischenergebnisse werden am 29.04. in Hamburg am Fachtag<br />

„Wohnen wie andere – Von der Wohngruppe zum Wohnen mit<br />

ambulanter Unterstützung“ vorgestellt. Der Zwischenbericht kann<br />

demnächst beim LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG angefordert<br />

werden.<br />

Trotz großer, mit dem Umwandlungsprozess verbundener Unsicherheiten<br />

kann konstatiert werden:<br />

> Die Mieter erleben, wie schon zuvor, einen hohen Grad der Selbstbestimmung<br />

und sind überwiegend mit ihrer Lebenssituation sehr<br />

zufrieden. Im Bereich der Alltagsunterstützung besteht ebenfalls<br />

eine hohe Zufriedenheit.<br />

> Die Freizeit wird aktiver gestaltet und als weniger langweilig empfunden.<br />

Der Kontakt zu Freunden und Mitbewohnern hat zuge­<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 17


wohnen wie andere –unterstütztes wohnen in der Hausgemeinschaft<br />

nommen. Familieangehörige haben eine große Bedeutung. Menschen<br />

mit Behinderung werden allerdings mehr besucht, als dass<br />

sie andere Menschen aktiv besuchen.<br />

> Mitarbeiter sind in dieser Phase des Prozesses für Nutzer wichtiger<br />

geworden. Individuelle Unterstützungsbedarfe haben sich aber<br />

gleichzeitig reduziert.<br />

Die positiven Ergebnisse des bisherigen Prozesses beruhen auf intensiver<br />

Kommunikation: Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter mussten<br />

und müssen von den Chancen dieses Weges überzeugt werden.<br />

Voraussetzung für eine gute Entwicklung war und ist, dass alle Beteiligten,<br />

insbesondere aber Mitarbeiter und Angehörige bereit sind,<br />

die bisherige, stationär geprägte Arbeits­ und Erwartungshaltung infrage<br />

zustellen, sich auf den eingeschlagenen Weg einzulassen und<br />

aktiv an seiner Ausgestaltung mitzuwirken.<br />

Ganz wichtig hierbei ist Vertrauen: Gegenseitiges Vertrauen im Prozess<br />

und die Bereitschaft Fehler für Veränderung zu nutzen. Vor allem<br />

aber: gemeinsames Vertrauen in die Kompetenzen von Menschen<br />

mit Behinderung, die meistens besser in der Lage sind, ihr Leben in<br />

die eigene Hand zu nehmen, als dies Angehörige und Mitarbeiter<br />

meinen.<br />

Die Zukunft: umfassende soziale und gesellschaftliche Beteiligung<br />

30 Jahre stadtteilintegrierte Wohngruppe, 30 Jahre Leben im Stadtteil<br />

haben gezeigt, dass mit Wohnen im Stadtteil gesellschaftliche<br />

Teilhabe erreicht wird. Der Abbau von Barrieren, die Teilhabe be oder<br />

verhindern, wird noch eine lange Zeit unsere Aufmerksamkeit und<br />

Energie erfordern. Dieses Ziel verfolgen wir mit der Gewissheit, dass<br />

die barrierefreie Gestaltung unserer Umwelt nicht nur Menschen mit<br />

Behinderung, sondern allen Menschen, alten Menschen und Familien<br />

ebenso nützt.<br />

30 Jahre Leben im Stadtteil haben aber auch gezeigt, dass Wohnen<br />

im Stadtteil nicht automatisch dazu führt, dass Menschen mit Behinderung<br />

umfassend am sozialen und gesellschaftlichen Leben beteiligt<br />

sind. Zu einem Leben in der eigenen Wohnung gehört neben<br />

einem Mehr an Selbstbestimmung auch eine stärkere gesellschaftliche<br />

Teilhabe. Menschen mit Behinderung wollen anerkannte und<br />

wertgeschätzte Mitbürger sein. Mit der Ambulantisierung von Unterstützungsleistungen<br />

rückt die Frage der Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben in den Mittelpunkt.<br />

Mehr Selbstbestimmung ist durch gute Wohn­ und Unterstützungskonzepte,<br />

sowie durch veränderte rechtliche und organisatorische<br />

Strukturen zu erreichen. Teilhabe am Leben der Gesellschaft wird<br />

jedoch nicht allein durch die Beseitigung von Teilhabebarrieren, nicht<br />

allein durch gute rechtliche und strukturelle Voraussetzungen erreicht.<br />

Umfassende Beteiligung von Menschen mit Behinderung am<br />

sozialen und gesellschaftlichen Leben13 will im alltäglichen Leben erarbeitet<br />

und erkämpft werden.<br />

13 Aktion Mensch, Zukunft gestalten mit dem lokalen Teilhabeplan, Bonn 2005, S. 4<br />

Das Konzept der Hausgemeinschaft setzt noch stärker als das Wohngruppenkonzept<br />

auf ein vernetztes und sich veränderndes Wohnen<br />

in Nachbarschaft. Im Rahmen eines Projektes werden wir daran<br />

arbeiten, Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben des<br />

Stadtteils praktisch zu verbessern. Die wichtigsten Themenfelder und<br />

Ziele dieses Projektes werden sein:<br />

Themenfeld Ziele<br />

Soziale Kontakte mit Freunden, Angehörigen,<br />

Nachbarn und Unterstützern<br />

Angebote im Stadtteil<br />

> Konsum<br />

> Freizeit<br />

> Bildung<br />

rEFErAtE<br />

> Kontakte eigenständig pflegen<br />

> Besuche bei Freunden machen<br />

> Nachbarschaftliche Kontakte ausbauen<br />

> Barrieren abbauen<br />

> Angebote öffnen und nutzen<br />

> Angebotsspektrum durch Zusammenarbeit<br />

erweitern<br />

> Treffpunkte im Stadtteil kultivieren<br />

Kulturelle Aktivität im Stadtteil > kulturell im Stadtteil präsent sein<br />

z.B. durch Schreibwerk­statt, Musik,<br />

Theater, Fotografie<br />

politische Beteiligung > Interessenvertretung stärken<br />

> Mitarbeit an der Weiterentwicklung<br />

des Wohnprojekts<br />

> Mitarbeit in Gremien im Stadtteil<br />

> Runder Tisch Barrierefreiheit<br />

Von ganz besonderer Bedeutung für die Erreichung der Ziele wird<br />

es dabei sein, im Stadtteil Unterstützer und Kooperationspartner für<br />

diesen Prozess zu gewinnen. In den nächsten Jahren gilt es eine eigen<br />

erfolgreiche Praxis zu entwickelt und von erfolgreichen Aktivitäten<br />

anderer zu lernen.<br />

Ich denke es ist deutlich geworden: Der Grundsatz „ambulant vor<br />

stationär“ erfordert mehr als den Abbau stationärer Plätze und die<br />

Unterstützung des Wohnens in der eigenen Wohnung. „Ambulant<br />

vor stationär“ ist ein Programm, für das Gleichstellung, Selbstbestimmung<br />

und Teilhabe für alle Menschen mit Behinderung sowohl<br />

Ausgangspunkt wie auch Ziel ist. Die Weiterentwicklung von ambulanten<br />

Wohn­ und Unterstützungsangeboten für Menschen mit<br />

großem Unterstützungsbedarf ist dafür ebenso erforderlich wie die<br />

Arbeit an einer umfassenden sozialen und gesellschaftlichen Beteiligung<br />

von Menschen mit Behinderung.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 18


Häuser ... Westerburg –<br />

im Harzvorland<br />

eberhard Gaetke, 44 Jahre<br />

Wohnen in einer Burg, wie ein Ritter –<br />

dies gefällt Herrn Gaetke. Und man kann<br />

die Burg zum Spielen benutzen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 19


contec-Studie zur wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der behindertenhilfe in bayern<br />

FAcHLIcH-InHALTLIcHe BeWeRTUnG UnD<br />

ScHLUSSFoLGeRUnGen<br />

Die Contec Gesellschaft für Organisationsentwicklung mbH, Bochum<br />

hat 2006/2007 auf gemeinschaftliche Initiative der <strong>Lebenshilfe</strong> Landesverband<br />

Bayern e.V. und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes<br />

Landesverband Bayern e.V. und mit Unterstützung des Bayerischen<br />

Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familien und Gesundheit<br />

eine Untersuchung zur „Wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung<br />

der Behindertenhilfe“ durchgeführt.<br />

Die Studie war ein Ergebnis zur 2006 vorhandenen Ausgangssituation<br />

in Bayern im Hinblick auf die Rahmenbedingungen und den Tenor<br />

der Diskussionen um die Ausgestaltung ambulanter Versorgung von<br />

Menschen mit Behinderung.<br />

1. AUSGAnGSSITUATIon In BAyeRn<br />

Um den Hintergrund der 2006 durchgeführten Studie zur „Wirtschaftlichkeit<br />

der Ambulantisierung der Behindertenhilfe in Bayern“ und<br />

das darin enthaltene Studiendesign verstehen zu können, muss man<br />

die konkrete Ausgangssituation zum Thema Ambulantisierung im<br />

Freistaat Bayern zu dieser Zeit berücksichtigen.<br />

Grundsätzlich kann man sagen, dass zu diesem Zeitpunkt das Ambulant<br />

Unterstützte Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung<br />

in Bayern im bundesweiten Vergleich nur sehr gering ausgebaut war.<br />

Diese Situation war Konsequenz der schwierigen Rahmenbedingungen<br />

für diesen Bereich. Die wesentlichen Rahmenbedingungen<br />

sollen im Folgenden kurz dargestellt werden:<br />

> Im Jahr 2006 bestand in Bayern eine getrennte Kostenträgerschaft<br />

für ambulante und stationäre Leistungen. Für ambulante Leistungen<br />

waren die örtlichen Träger der Sozialhilfe (in Bayern sind dies 96<br />

Kommunen und kreisfreie Städte) zuständig, für den stationären Bereich<br />

die überörtlichen Träger der Sozialhilfe (7 Regierungsbezirke).<br />

> Die strukturelle und finanzielle Situation in den bayerischen Kommunen<br />

und Bezirken ist extrem unterschiedlich. Vor diesem Hintergrund<br />

sind auch die Rahmenbedingungen der Angebote zum<br />

rEnAtE bAIKEr ist referentin für wohnen und offene Hilfen im <strong>Lebenshilfe</strong> Landes-<br />

verband bayern e.V.<br />

Eine konsequente Ambulantisierungsstrategie erfordert eine umfängliche wirtschaftliche<br />

betrachtung und muss die Interessen von Menschen mit sehr hohen Hilfebedarfen<br />

im blick haben, um die Ausgrenzung von restgruppen zu vermeiden.<br />

rEFErAtE<br />

contec-Studie zur Wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung<br />

der Behindertenhilfe in Bayern von Renate Baiker<br />

3<br />

Ambulant Unterstützten Wohnen vor Ort sehr unterschiedlich. In<br />

zahlreichen Kommunen war keine Bereitschaft zu spüren, Vereinbarungen<br />

zum Ambulant Unterstützten Wohnen zu schließen, da<br />

dieses Angebot im Gegensatz zum stationären Wohnen die angespannten<br />

kommunalen Haushalte zusätzlich belastet hätte.<br />

> Seitens der überörtlichen Sozialhilfeträger entstand ein zunehmender<br />

Druck auf Anbieter stationärer Wohnformen, Personen<br />

der Hilfebedarfsgruppe 1 und 2 (nach dem H.M.B.­W.­Verfahren)<br />

in die ambulante Versorgung zu überführen, wobei aber häufig<br />

eine ambulante bzw. kommunale Versorgungsstruktur fehlte. Die<br />

stationären Kostenübernahmen wurden teilweise nur noch halbjährlich<br />

erteilt, auf der ambulanten Seite konnte aufgrund der o.g.<br />

Situation das Angebot nicht entsprechend auf­ und ausgebaut<br />

werden.<br />

> Aus Sicht der Kostenträger sollten alle Personen der Hilfebedarfsgruppen<br />

1 und 2 ambulantisiert werden, also die Personen mit vermeintlich<br />

geringem Hilfebedarf. Die Frage, ob die Zuordnung zu<br />

den stationär vorgesehenen Hilfebedarfsgruppen Rückschlüsse<br />

auf den tatsächlichen Hilfebedarf in einer ambulanten Versorgung<br />

und Aussagen über den individuellen Wunsch und die Fähigkeit<br />

zum Leben in einer ambulanten Versorgung unter den vorhandenen<br />

Rahmenbedingungen zulassen, wurde in diesem Zusammenhang<br />

nicht thematisiert. Personen mit hohem Hilfebedarf spielten bei<br />

den Überlegungen der Kostenträger keine Rolle bei der Frage der<br />

Ambulantisierung von Hilfen.<br />

> Und schließlich wurde das Thema Ambulantisierung, wie sicher in<br />

vielen anderen Bundesländern auch, seitens der Kostenträger vor<br />

allem unter den Blickwinkel finanzieller Fragestellungen betrachtet.<br />

Hierbei wurden, wie meist in dieser Diskussion, die Kosten vollstationären<br />

Wohnens mit den reinen Unterstützungskosten im ambulanten<br />

Wohnen (in Bayern zu diesem Zeitpunkt meist zwischen 3 und 5 Stunden<br />

pro Woche bei einem Stundensatz von häufig weit unter 30)<br />

verglichen.<br />

> Die Frage der Ambulantisierung wurde ausschließlich als Frage der<br />

Wohnambulantisierung diskutiert.<br />

> Die Gespräche um eine ambulante Versorgung von Menschen mit<br />

Behinderung wurden seitens der Kostenträger mit Blick auf ein pau­<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 20


contec-Studie zur wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der behindertenhilfe in bayern<br />

schaliertes, vom Umfang der individuellen Unterstützungsstunden<br />

her sehr begrenztes Angebot der Leistungen im Ambulant Unterstützten<br />

Wohnen geführt. Weitergehende Unterstützungsbedarfe<br />

im ambulanten Bereich und damit andere für den langfristigen Erfolg<br />

von Ambulantisierungsmaßnahmen erforderliche Hilfen wie<br />

z.B. Integrationshilfen, Freizeitangebote u.ä. wurden in der Regel<br />

nicht berücksichtigt.<br />

Das bedeutet, dass Rahmenbedingungen gesetzt waren, die im Prinzip<br />

eine Ambulantisierung von Leistungen erschwerten, wenn nicht<br />

gar aktiv verhinderten. Zu diesem Zeitpunkt war es kaum möglich,<br />

inhaltliche Diskussionen um Ausgestaltung und die notwendigen<br />

strukturellen, finanziellen Hilfen zu führen. Diese Auseinandersetzung<br />

wurde mit dem Finanzargument verhindert und in den Systemproblemen<br />

zerrieben.<br />

Diese schwierige Ausgangslage hat die beteiligten Verbände und das<br />

Sozialministerium dazu veranlasst, eine Studie zu initiieren, die neue<br />

Impulse in der Ambulantisierungsdiskussion setzten sollte.<br />

2. ZIeL DeR UnTeRSUcHUnG<br />

Da der Versuch, rein fiskalische Argumentationslinien mit inhaltlichen<br />

Argumenten zu kontern, nicht zum gewünschten Erfolg führte, wurde<br />

im Rahmen der Studie nun versucht, den fiskalischen Argumenten<br />

mit einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu begegnen, um hierüber<br />

eine erneute inhaltliche Diskussion anzustoßen.<br />

Bislang wurden in der fiskalischen Betrachtungsweise von Ambulantisierungsprozessen<br />

die Kosten einer stationären Versorgung mit den<br />

reinen Betreuungskosten im ambulanten Bereich – aus unserer Sicht<br />

unzulässig verkürzt – verglichen mit dem naheliegenden Ergebnis,<br />

dass eine ambulante Wohnversorgung wesentlich kostengünstiger<br />

ist als eine stationäre Versorgung.<br />

Die vorgelegte Studie ging hier bewusst einen anderen Weg. Ziel<br />

der Untersuchung war ein umfassender Kostenvergleich ambulanter<br />

und stationärer Behindertenhilfe. Es ging somit um eine genauere<br />

Betrachtung der volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Ambulantisierungsmaßnahmen.<br />

Der Blick war nicht auf die einzelne Person<br />

gerichtet, sondern auf das „System Behindertenhilfe“. Dieser umfassende<br />

Ansatz führte auch dazu, dass alle für eine ambulante<br />

Versorgung notwendigen ambulanten Hilfen und Sozialleistungen<br />

mit in den Blick genommen wurden, nicht nur die reinen Betreuungsleistungen<br />

im Rahmen Ambulant Unterstützten Wohnens.<br />

Soll Ambulantisierung ein „Erfolgsmodell“ werden, müssen neben<br />

wohnbezogenen Hilfen auch die Rahmenbedingungen für Vernetzung,<br />

Integration und Verankerung der Menschen mit Behinderung<br />

in ihrem Wohnumfeld geschaffen werden, wie dies die Erfahrungen<br />

zum Beispiel aus Norwegen eindrücklich zeigen. Ambulantisierung<br />

ist mehr als wohnbezogene Hilfen.<br />

Ziel der Studie war es also zusammenfassend, eine volkswirtschaftliche<br />

Datenbasis für die weitere inhaltliche Diskussion um die Ausgestaltung<br />

von Ambulantisierungsmaßnahmen zu gewinnen.<br />

3. GRUnDAnnAHMen DeR UnTeRSUcHUnG<br />

rEFErAtE<br />

Diese grundsätzlichen Überlegungen haben zu Grundannahmen geführt,<br />

vor deren Hintergrund die nachfolgenden Ergebnisse zu bewerten<br />

sind. Im Rahmen der Studien wurden von folgenden Thesen<br />

ausgegangen:<br />

a) Grundsätzlich ist eine ambulante versorgung für alle menschen<br />

mit behinderung unabhängig von der art und schwere<br />

ihrer behinderung möglich.<br />

Die Entscheidung darüber, ob eine Person ambulant versorgt<br />

werden kann, liegt nicht grundsätzlich im Hilfebedarf der Person<br />

selbst begründet, sondern ist abhängig von den von außen gesetzten<br />

Rahmenbedingungen, unter denen eine ambulante Versorgung<br />

erbracht werden kann.<br />

b) die derzeit in der stationären versorgung erbrachten leistungen<br />

bilden den tatsächlichen hilfebedarf einer Person ab.<br />

Zu diesem Hilfebedarf gehören neben dem direkten Betreuungsaufwand<br />

und dem Pflegeanteil auch die Gestaltung der Freizeit,<br />

die notwendigen Fahr­ und Begleitdienste, die hauswirtschaftliche<br />

Versorgung etc., also alle relevanten Leistungen, die auch im<br />

Rahmen einer Überführung stationärer in ambulante Leistungen<br />

Berücksichtigung finden müssten.<br />

Hierbei wurde die Frage, ob nach jahrelangen Deckelungsphasen,<br />

einer kostenneutralen Systemumstellung auf Hilfebedarfsgruppen<br />

und prospektive Entgelte sowie einer damit einher gehenden jahrelangen<br />

Netto­Absenkung der Entgelte die erbrachten Leistungen<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 21


contec-Studie zur wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der behindertenhilfe in bayern<br />

tatsächlich bedarfsdeckend sind, nicht berücksichtigt. Im Gegenzug<br />

dazu blieb auch die Fragestellung, ob es im Einzelfall im<br />

Rahmen stationärer Versorgung zu einer Überversorgung kommen<br />

kann, unberücksichtigt. Im Rahmen der Studie wurde also<br />

die tatsächlich erbrachte Leistung als sachgerecht und notwendig<br />

unterstellt.<br />

c) es wird in der ambulanten versorgung von einzelwohnen<br />

ausgegangen.<br />

Hierbei wurde unterstellt, dass von den betroffenen Personen<br />

Einzelwohnen erwünscht ist. Dabei sollte nicht in Abrede gestellt<br />

werden, dass auch ambulante Wohngemeinschaftsmodelle inhaltlich<br />

sinnvoll sind, wenn diese von den Betroffenen gewünscht<br />

werden und diese sowohl organisatorisch als auch finanziell attraktiver<br />

sein können. Allerdings wurde bewusst eine Extremposition<br />

in die Studie eingebracht, um hierüber wieder den Blick auf<br />

inhaltliche Positionen und Diskussionen lenken zu können.<br />

d) eine ambulante leistungserbringung umfasst alle notwendigen<br />

Teilhabe- und Pflegeleistungen, nicht nur wohnbezogene<br />

leistungen.<br />

Will man das System Behindertenhilfe ambulantisieren, so ist es<br />

erforderlich, dass gesamte Leistungsspektrum zu überführen.<br />

Aussagen darüber, welche Leistungen im konkreten Einzelfall<br />

erforderlich sind, sind werden hierbei nicht getroffen. Ambulantisierung<br />

hat aus diesem Blickwinkel Auswirkungen auf verschiedenste<br />

Leistungsbausteine die bei einer Veränderung des Systems<br />

bzw. einer Simulation einer Überführung berücksichtigt werden<br />

müssen.<br />

e) schlussendlich legt eine volkswirtschaftliche betrachtungsweise<br />

nahe, dass ambulantisierungsmaßnahmen auswirkungen<br />

auf alle sozialleistungsträger haben.<br />

Auf Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung, aber auch auf<br />

die Bereich Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt, auf<br />

Wohngeldausgaben etc. Vor diesem gedanklichen Hintergrund<br />

erfolgte die Datenerhebung der Studie. Für die Erhebung relevant<br />

waren<br />

> nutzerbezogene Daten wie Hilfebedarfsgruppe, Pflegestufe,<br />

stationärer Kostensatz, Barbeträge und Zusatzbarbeträge,<br />

Bekleidungsbeihilfe, Einkommen etc.<br />

> der derzeitige quantitative Betreuungsaufwand (erbrachte Leistungen<br />

und zeitlicher Aufwand) im stationären Bereich<br />

> die konzeptionellen Rahmenbedingungen der stationären Einrichtungen,<br />

z.B. Zentralküche, zentrale Wäscheversorgung, hauswirtschaftliche<br />

Tätigkeiten in der Wohngruppe o.ä. (qualitativ)<br />

> die Infrastruktur im Bereich der regionalen ambulanten Versorgung<br />

(qualitativ)<br />

rEFErAtE<br />

Der derzeitige Betreuungsaufwand wurde im stationären Bereich erhoben<br />

und in der Folge in eine ambulante Versorgung simuliert. Die<br />

konzeptionellen Rahmenbedingungen der stationären Einrichtungen<br />

wurden berücksichtigt, da sich diese Leistungen entweder in der Erfassung<br />

des individuellen Betreuungsbedarfs oder in den Entgelten<br />

für zentrale Versorgung niederschlagen. Die ambulanten Infrastrukturvoraussetzungen<br />

wurden zum einen mit Bezug auf die örtliche<br />

Preisgestaltung erhoben, zum anderen mit Blick auf die grundsätzlich<br />

vorhandene Infrastruktur für eine ambulante Versorgung. Die<br />

örtlichen Voraussetzungen hierfür sind in einem Flächenstaat mit<br />

einerseits großstädtischer Infrastruktur und sehr stark ländliche geprägten<br />

Gebieten andererseits sehr unterschiedlich. Die Erhebung<br />

wurde daher im großstädtischen Bereich, in einer Kleinstadt sowie in<br />

einem ländlich geprägten Gebiet durchgeführt.<br />

Für die weitere Auswertung der Studie wurde versucht, die stationären<br />

Kostenanteile entsprechenden ambulanten Kostenkomplexen<br />

gegenüberzustellen:<br />

a) Teilhabeleistungen:<br />

> stationär: Maßnahmepauschale<br />

> ambulant: Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe<br />

b) bereich „leben“:<br />

> stationär: Grundpauschale, Barbetrag, Bekleidungsbeihilfe<br />

> ambulant: Hilfe zum Lebensunterhalt/Grundsicherungsleistun gen<br />

c) bereich „wohnen“:<br />

> stationär: Investitionspauschale<br />

> ambulant: Kosten für Unterkunft/Heizung, evtl. Wohngeldleistun gen<br />

d) bereich Pflege:<br />

> stationär: Pauschale Kostenerstattung (nachrichtlich)<br />

> ambulant: Pflegesachleistungen<br />

Die Simulation der derzeit stationär erbrachten Leistungen in eine<br />

ambulante Versorgungsstruktur ergab, dass – über alle Sozialleistungsträger<br />

und alle erforderlichen Sozialleistungen hinweg – unter<br />

vorgenannten Grundannahmen eine Ambulantisierung der Behindertenhilfe<br />

über alle Hilfebedarfsgruppen hinweg nicht kostengünstiger<br />

wird. Dies heißt nicht, dass sich die Bilanz für einen einzelnen<br />

Sozialleistungsträger oder für bestimmte Teilbereiche oder in Bezug<br />

auf den Einzelfall kostenmäßig nicht positiv auswirken kann. aus einer<br />

volkswirtschaftlichen warte und in bezug auf alle sozialleistungsträger<br />

zeigt sich jedoch, dass die Grundsatzannahme<br />

der Kostenträger – ambulant ist billiger als stationär – so nicht<br />

ohne weiteres zutrifft. 1<br />

Selbstverständlich müssen diese rechnerischen Ergebnisse auf der<br />

Basis der in die Studie eingeflossenen Grundannahmen interpretiert<br />

und bewertet werden.<br />

1 Die konkreten Ergebnisse können in der Veröffentlichung der Contec Gesellschaft für<br />

Organisationsentwicklung mbH (Hrsg): „Wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der<br />

Behindertenhilfe“, Bochum, 2007 nachgelesen werden.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 22


contec-Studie zur wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der behindertenhilfe in bayern<br />

4. ZenTRALe eRGeBnISSe UnD BeWeRTUnG<br />

Die rechnerischen Ergebnisse sind an dieser Stelle eher von untergeordneter<br />

Bedeutung. Von weit größerem Interesse ist die inhaltliche Bewertung<br />

der Ergebnisse und deren Gehalt für die weitere Diskussion.<br />

Die in der Studie dargestellten Ergebnisse sind, wie bereits oben erwähnt,<br />

in hohem Maße den ihr zugrunde liegenden Grundannahmen<br />

und Thesen, hier vor allem der Ambulantisierungsstrategie – eine<br />

vollständige Überführung des bisherigen stationären Systems in ambulante<br />

Versorgungsstrukturen sowie Einzelwohnen – geschuldet.<br />

Diese beiden Aspekte haben selbstverständlich in den finanziellen<br />

Auswirkungen massive Konsequenzen. Aber bereits an dieser Stelle<br />

wird deutlich, dass maßgeblich für qualifizierte Aussagen über eine<br />

mögliche Kostenbilanz von Ambulantisierungsmaßnahmen eine inhaltliche<br />

Auseinandersetzung über eine Ambulantisierungsstrategie und<br />

die damit verbundenen mittel­ und langfristigen Konsequenzen ist.<br />

Erst wenn inhaltliche und strukturelle Grundentscheidungen getroffen<br />

sind, ist eine belastbare volkswirtschaftliche Berechnung der Konsequenzen<br />

möglich.<br />

Folglich ist es erforderlich, die in der Studie zugrunde gelegten Grundannahmen<br />

des Einzelwohnens (z.B. mit Blick auf Themen wie nächtliche<br />

Versorgung, Personaleinsatz, u.ä.), der Frage des tatsächlichen<br />

ambulanten Hilfebedarfs (bezogen auf alle im Einzelfall erforderlichen<br />

Lebensbereiche), eine eventuell von der Zielsetzung der Leistung abhängige<br />

notwendige hilfeleistungsbezogenen Differenzierung des<br />

Personaleinsatzes im ambulanten Bereich, die Nutzung von Synergieeffekten<br />

im ambulanten Bereich, etc. inhaltlich zu diskutieren.<br />

Jede Veränderung einer der in Frage stehenden Grundannahmen führt<br />

in der Folge zu einer Veränderung der Kostenbilanz der Ambulantisierungsmaßnahmen<br />

in der Behindertenhilfe. Hierbei sind nicht nur die<br />

jeweiligen Auswirkungen auf alle Sozialleistungsträger zu berücksichtigen,<br />

sondern auch die inhaltlichen, strukturellen und finanziellen<br />

Konsequenzen für das verbleibende stationäre System. Nur<br />

über einen solchen Weg können Aussagen für das System Behin­<br />

dertenhilfe getroffen werden. Sind die wesentlichen inhaltlichen und<br />

strategischen Fragestellungen nicht beantwortet, greift eine auf Einzelaspekte<br />

reduzierte Kostenbetrachtung zu kurz.<br />

Zahlreiche Aspekte, die im Rahmen einer grundlegenden Studie zu<br />

den Auswirkungen einer Ambulantisierung des Systems Behindertenhilfe<br />

berücksichtigt werden müssten, konnten in dieser Studie<br />

nicht berücksichtigt werden. Exemplarisch sind dies u.a. folgende<br />

Aspekte:<br />

> Nicht berücksichtigt werden konnten die Rückwirkungen einer<br />

Ambulantisierung nur bestimmter Personengruppen auf das weiterhin<br />

bestehende stationäre System.<br />

> Daneben wurden im Rahmen der Kostenbilanz noch nicht alle<br />

notwendigen finanziellen Aspekte in ausreichender Weise berücksichtigt,<br />

um eine vollständige Kostenbilanz erstellen zu können.<br />

> Es wurden keine Erhebungen des tatsächlichen ambulanten Bedarfs<br />

vorgenommen.<br />

> Gleichzeitig wurde die Frage einer möglichen Veränderung des<br />

Hilfebedarfs ambulant versorgter Menschen nicht berücksichtigt,<br />

was nur im Rahmen einer Langschnittstudie möglich gewesen<br />

wäre.<br />

> Keine Aussagen waren darüber möglich, ob die derzeitige stationäre<br />

Ausstattung inhaltlich und finanziell hinreichend ist.<br />

> Des weiteren muss berücksichtigt werden, dass die Studie nicht repräsentativ<br />

ist, sondern nur eine Möglichkeit der Annäherung an<br />

die Frage der finanziellen Auswirkungen von Ambulantisierungsmaßnahmen<br />

darstellt. Die Stichprobe der Studie bildet zwar die<br />

prozentuale Verteilung der Hilfebedarfsgruppen in stationären<br />

Einrichtungen in Bayern ab, ist allerdings für repräsentative Aussagen<br />

zu klein.<br />

Aus der Studie ergeben sich zahlreiche Bereiche, die mit Blick auf das<br />

Thema Ambulantisierung von Hilfen in der Behindertenhilfe inhaltlich<br />

diskutiert werden müssten.<br />

5. konSeqUenZen FüR DIe WeITeRe DISkUSSIon<br />

rEFErAtE<br />

Welche Schlüsse können nun aus der vorgelegten Studie gezogen<br />

werden? Grundsätzlich kann das Resümee gezogen werden, dass die<br />

Frage der Kostenbilanz der Ambulantisierung von Leistungen der Behindertenhilfe<br />

nicht ausschließlich aus einem fiskalischen Blickwinkel<br />

beantwortet werden kann. Die Kostenvergleichsberechnungen sind<br />

immer abhängig von inhaltlichen Entscheidungen, die zwischen den<br />

beteiligten Akteuren ausgehandelt werden müssen.<br />

> Im Rahmen der Studie wurde deutlich, dass der verkürzte Kostenvergleich<br />

zwischen stationären und ambulanten Versorgungsformen,<br />

der bislang häufig die Kostendiskussion prägt, zu kurz<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 23


contec-Studie zur wirtschaftlichkeit der Ambulantisierung der behindertenhilfe in bayern<br />

greift. Qualifizierte Aussagen zu einer Kostenbilanz können nur<br />

aus einem volkswirtschaftlichen Blickwinkel vorgenommen<br />

werden.<br />

> Das Kostenargument muss an dieser Stelle hinter eine zwingend<br />

erforderliche Diskussion über die ambulantisierungsstrategie<br />

(z.B. Welche Personengruppen sollen ambulantisiert werden?)<br />

und die damit verbundenen inhaltlichen und strukturellen<br />

rahmenbedingungen (Bis zu welchem zeitlichen Umfang wird<br />

eine ambulante Versorgung genehmigt? Welche ambulanten<br />

Wohnformen sollen angeboten werden? etc.) zurücktreten.<br />

> Gleichzeitig muss in der Diskussion berücksichtigt werden, dass<br />

die Frage der Ambulantisierung von Hilfen nicht nur auf die Frage<br />

des Wohnens reduziert werden kann, sondern dass i.d.R. weitere<br />

Teilhabe­ und Integrationsleistungen hinzu kommen müssen,<br />

wenn Ambulantisierung ernst genommen wird und gelingen soll.<br />

> Diskutiert und bewertet werden müssen in diesem Zusammenhang<br />

aber auch die inhaltlichen, strukturellen und finanziellen<br />

der gewählten Ambulantisierungsstrategie auf den stationären<br />

Bereich und die in ihm verbleibenden Personen.<br />

> Für eine gelingende Ambulantisierung der Leistungen der Behindertenhilfe<br />

müssen die infrastrukturellen voraussetzungen<br />

geschaffen werden. Dies erfordert neben den grundsätzlichen<br />

inhaltlichen Entscheidungen auch die Bereitschaft, in den Aufbau<br />

dieser Infrastrukturen zu investieren.<br />

Wie bereits zu Anfang erwähnt, ist der Ausgangspunkt der Studie<br />

die in gewisser Weise festgefahrene Situation in Bayern im Jahr<br />

2006. Die Ergebnisse der Studie sind hiermit vor diesem Hintergrund<br />

zu sehen. Heute im Jahr 2008 stellt sich die Situation in Bayern an<br />

einigen Stellen durchaus deutlich verändert dar. Seit 01.01.2008<br />

wurde durch die Änderung des Bayerischen Ausführungsgesetzes<br />

zum Sozial gesetzbuch XII die Kostenträgerschaft für die Eingliede­<br />

rungshilfe vereinheitlicht und auf der Ebene der überörtlichen Sozialhilfeträger<br />

zusammengeführt. Hierdurch konnte ein hemmender<br />

Aspekt beim Ausbau Ambulant Unterstützen Wohnens, nämlich die<br />

widerstreben den Interessen der verschiedenen Sozialhilfeträger in<br />

Bezug auf den Ausbau dieses Leistungsangebots, beseitigt werden.<br />

Landesweite Verhandlungen um die Rahmenbedingungen ambulanter<br />

Versorgung wurden aufgenommen. Der Hauptausschuss des<br />

Verbands der bayerischen Bezirke als Zusammenschluss der überörtlichen<br />

Träger der Sozialhilfe in Bayern hat im vergangenen Herbst eine<br />

vielbeachtete Resolution verabschiedet, die konstatiert, dass Menschen<br />

mit Behinderung eigenständig, alleine oder in Wohngemeinschaften<br />

leben können, wenn sie geeignete ambulante Leistungen<br />

der Eingliederungshilfe erhalten und notwendige Rahmenbedingungen<br />

für Krisenbewältigung, Angebot für Freizeitgestaltung und Tagesstrukturierung<br />

und Integration in das soziale Umfeld vorhanden sind.<br />

Damit anerkennen die Sozialhilfeträger zwischenzeitlich auch öffentlich,<br />

dass beim Ausbau der Angebote des Ambulant Unterstützten<br />

rEFErAtE<br />

Wohnens auch weitergehende Hilfen über die eigentliche Unterstützung<br />

in der Wohnung hinaus erforderlich sind, wenn Ambulantisierungsmaßnahmen<br />

langfristig gelingen sollen.<br />

Hintergrund der Studie war es, für Bayern neue Impulse in der Ambulantisierungsdiskussion<br />

zu setzen. Ziel der Auftraggeber war es, über<br />

diesen Weg die einseitige Kostendiskussion zu verlassen und wieder<br />

zu einer inhaltlichen Diskussion um die Rahmenbedingungen und<br />

Ausgestaltung der Ambulantisierung von Hilfen in der Behindertenhilfe<br />

zurückzukommen. Seit der Veröffentlichung der Studienergebnisse<br />

wurde an verschiedenen Stellen kontrovers über die Anlage<br />

der Studie, ihre Grundannahmen und natürlich ihre Ergebnisse diskutiert.<br />

Somit kann man zu de Schluss kommen, dass die Studie bei<br />

allen Unzu länglichkeiten und der zum Teil berechtigten Kritik an der<br />

Anlage und Ausgestaltung eines der zentralen Ziele erreicht hat: eine<br />

(erneute) vermehrt inhaltliche Diskussion über die Inhalte und Strukturen<br />

ambulanter Leistungen der Behindertenhilfe.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 24


Häuser … Thailändisches Haus<br />

Gabi hentschel, 47 Jahre<br />

Für Frau Hentschel war wichtig, dass sie es möglichst immer warm hat,<br />

an dem Ort, an dem sie leben möchte. Sie hält sich gern im Freien auf.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 25


telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung (tHEA)<br />

1. TecHnIScHe HILFen UnD SoZIALe ARBeIT<br />

In der sozialen Arbeit hält die Telematik bisher vergleichsweise langsam<br />

Einzug. Dabei kann sie auch dort einen hohen Nutzen stiften.<br />

Der Begriff „Telematik“ ist zusammengesetzt aus „Telekommunikation“<br />

und „Informatik“. Erstmalig aufgeworfen wurde er im Jahr 1978 von<br />

Nora und Minc1 . Die beiden Franzosen sprechen seinerzeit in ihrem<br />

Bericht an den französischen Präsidenten von einer „wachsenden Verflechtung<br />

von Rechnern und Telekommunikationsmitteln, [...] die einen<br />

völlig neuen Horizont eröffnet“.<br />

Bereiche, in denen telematische Lösungen vorrangig eingesetzt werden<br />

sind folgende:<br />

> Verkehrstelematik (Fahrzeuginformations­ und Navigatonssysteme,<br />

Verkehrsmanagementysteme und ­zentralen, Verkehrslenkung,<br />

Mautsysteme)<br />

> Gebäudeautomatisierung (Facility Management), E­Commerce<br />

> Gesundheitstelematik/Telemedizin (E­Health), Bildungstelematik<br />

(E­learning), Sicherheitstelematik<br />

Von Anbietern sozialer Dienstleistungen wird vielfach die Quadratur<br />

des Kreises erwartet: Die Anforderungen an die Leistungsqualität werden<br />

von den Kostenträgern und zuständigen Kontrollorganen immer<br />

strikter formuliert. Die Zahlungsbereitschaft der Kostenträger für<br />

qua litativ hochwertige Dienstleistungen nimmt hingegen tendenziell<br />

ab. Neben den Ansprüchen der Finanzierungsträger, Medizinischen<br />

Dienste, Heimaufsichten und Gesetzgeber ist das Sozialwesen durch<br />

einen verschärften Wettbewerb zwischen den Einrichtungen begleitet,<br />

der durch persönliche Budgets, HBG­bezogene pauschalierte Entgelte,<br />

einen potenziellen Angebotsüberhang sowie durch verschärften<br />

Kostendruck bei sinkenden Einnahmen in Schwung gehalten wird.<br />

Eine Chance, die Zielkonflikte etwas zu minimieren, bieten telematische,<br />

sensortechnische und weitere IT­Lösungen. Der verstärkte<br />

Einsatz von (Informations­)Technologien kann helfen, solche soziale<br />

Dienstleistungen zu rationalisieren und ggf. kostengünstiger herzustellen,<br />

die durch einen hohen Anteil an Warte­ und Wegezeiten,<br />

zeitlichen Friktionen und unwahrscheinlichen Leistungseintrittsrisiko<br />

1 Nora, Simon/Minc, Alain (1978): L‘informatisation de la société. Avec. Paris, Seuil<br />

tHoMAS rInKLAKE ist Diplom Soziologe und Mitarbeiter der unternehmensberatung<br />

xit GmbH forschung.planung.beratung, nürnberg.<br />

Das Modellprojekt „tHEA“ zeigt, wie für Menschen mit behinderungen neue Autonomie-<br />

und Sicherheitsgrade im Alltag stabilisiert werden können, wenn telematische Hilfen<br />

eine Möglichkeit zur Kommunikation mit professionellen und nicht professionellen Helfern<br />

anbieten.<br />

charakte ri siert sind. Entsprechende Technologien bieten hier nicht nur<br />

die Mög lichkeit, mit geringerem Personalaufwand eine gewünschte<br />

Versorgung zu garantieren, sondern können vor allem – bei kluger<br />

Konstruktion – auch die Qualitätsstruktur des Dienstleistungsangebotes<br />

aus Sicht des Klienten sogar verbessern.<br />

Bereits bekannt sind die Bilder von Pflegerobotern, die verschiedentlich<br />

als die Lösungen eines zu erwartenden „Pflegenotstands“ bezeichnet<br />

werden. Was Pflegerobotern jedoch fehlt, ist die emotionale Intelligenz<br />

und die Qualität menschlicher Beziehungen. Die künstliche Robbe<br />

„Paro“, die auf Zuwendung reagiert und diese auch einfordert, ist<br />

ein Versuch, Emotionalität technisch zu vermitteln. Eine ernsthafte<br />

Konkurrenz für den Menschen ist „Paro“ jedoch nicht. Allerdings soll<br />

„Paro“ das auch gar nicht sein. Vielmehr soll das Haustier ersetzt<br />

werden, um das sich im Alter ggf. nicht mehr gekümmert werden<br />

kann oder das aus hygienischen Gründen im Krankenhaus nicht sein<br />

darf. Hier kommt Technik sinnvoll zum Einsatz, ohne dass die Rolle<br />

des Menschen geschmälert oder gar ersetzt werden soll.<br />

Das Modellprojekt THEA ist beispielhaft für die Erprobung des sinnvollen<br />

Einsatzes telematischer Lösungen in der Behindertenhilfe, die<br />

Sicherheit bieten und den zwischenmenschlichen Kontakt durch Technik<br />

unterstützen.<br />

2. PRojekTHInTeRGRUnD UnD PRojekTIon<br />

rEFErAtE<br />

Telematische Hilfen zur eingliederung und Autonomieförderung (THeA) von Thomas Rinklake<br />

4<br />

2.1. Der nutzen telematischer Angebote in der Behindertenhilfe<br />

Die deutsche Landschaft der Behindertenhilfe ist in Bewegung. Es<br />

gibt Grund zu der Annahme, dass die Behindertenhilfe in 20 Jahren<br />

vom heutigen Standpunkt aus praktisch nicht wiedererkennbar ist.<br />

Kennzeichen und Stichworte dieser Umwälzungen sind folgende Aspekte<br />

der aktuellen sozialpolitischen Diskussion:<br />

> Zukunft der Eingliederungshilfe<br />

> Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe<br />

> Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache<br />

> mehr Selbstbestimmung für Menschen mit geistiger Behinderung<br />

> Maximierung der Planungsfreiheit<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 26


telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung (tHEA)<br />

> Autonomie bei Vereinbarung und Verwendung benötigter<br />

Hilfeleistungen<br />

> Individualisierung der Leistungserbringung und Bedarfsdeckung<br />

durch persönliche Budgets<br />

> zukünftig möglicher Fachkräftemangel in der Behindertenhilfe<br />

> „ambulant vor stationär“<br />

> „Daheim statt Heim“<br />

> private Anbieter<br />

> neue Mixes auf Anbieterseite<br />

Auf der Leistungserbringerseite stellen die krassen Unterschiede der<br />

Finanzierungssicherheit stationärer und ambulanter Angebote ein<br />

Hindernis dar. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen<br />

hatten bisher angesichts dieser Bedingungen häufig keine echte<br />

Wahlmöglichkeit zwischen ambulanten und stationären Leistungen.<br />

Der gesetzliche Vorrang ambulanter Leistungen geht daher wegen<br />

fehlender, ungesicherter oder unzureichender Angebote weitgehend<br />

ins Leere. Telematische Hilfen könnten in diesem Zusammenhang einen<br />

Beitrag leisten, ambulante Formen der Leistungserbringung voranzutreiben.<br />

Besonderen Schwung erhält die sozialpolitische Reise der Behindertenhilfe<br />

durch die demographische Entwicklung der Menschen mit<br />

Behinderungen. 2 Die demographische Datenbasis in der Behindertenhilfe<br />

ist deutlich dünner als für die Gesamtbevölkerung, da die amtliche<br />

Statistik z. T. nicht die Grundlagen für Vorausberechnungen liefert.<br />

Anhaltspunkte liefern Zahlen aus dem Schulwesen, den Werkstätten<br />

für Menschen mit Behinderungen (WfbM), den Integrationsämtern<br />

oder Angaben von den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe.<br />

Konsens besteht in der Frage, dass die Fallzahlen der Eingliederungshilfe<br />

zumindest mittelfristig zunehmen werden. 3<br />

Als Gründe für den zu erwartenden Anstieg des Bedarfs und der<br />

Zunahme der Fallzahlen sind vor allem der medizinische Fortschritt<br />

sowie eine verbesserte Pflege, Betreuung und Förderung zu nennen.<br />

Die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung ist deutlich<br />

gestiegen und erstmals erreicht eine ganze Generation mit angeborener<br />

bzw. erworbener Behinderung das Rentenalter. Neben einer<br />

zahlenmäßigen Zunahme der Menschen mit Behinderung ist es somit<br />

auch und vor allem die sich verändernde Altersstruktur, die die Behindertenhilfe<br />

vor neue Herausforderungen stellt.<br />

Die skizzierten Eckpunkte der sozialpolitischen Diskussion und die<br />

demographischen Entwicklungen in der Behindertenhilfe münden<br />

nicht zuletzt in einem zunehmenden Kostendruck. Während die Zahlungsbereitschaft<br />

der Kostenträger tendenziell abnimmt, nimmt die<br />

2 Komp, Elisabeth (2006): Sinnerfüllte Lebensphase Alter für Menschen mit Behinderung.<br />

Neuwied; Landesverband für Körper­ und Mehrfachbehinderte Baden­Württemberg<br />

e.V. (2006) „50plus – Menschen mit Behinderung im Alter“ – Verantwortung und<br />

Perspektive für die Behindertenhilfe und ­selbsthilfe. Stuttgart<br />

3 Vgl.: Deutscher Verein (2007): Entwicklung der Fallzahlen in der Eingliederungshilfe.<br />

In: NDV Februar 2007, S. 33–44<br />

Zielgruppe gleichzeitig zu, ebenso wie der Wettbewerb um Klienten,<br />

die ihrerseits vermehrt über Wahlmöglichkeiten verfügen werden.<br />

Telematische Hilfe leisten in anderen Bereichen sozialer Dienstleistungen<br />

bereits einen Beitrag zur Gestaltung der gegenwärtigen und<br />

künftigen Herausforderungen (vgl. Abschnitt 2.2.). Es stellt sich die<br />

Frage, ob und wie auch die Behindertenhilfe von technischen Neuerungen<br />

und innovativen Betreuungskonzepten profitieren kann. Tele ma­<br />

tische Hilfen verbreitern die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen<br />

Kunden und Mitarbeitern4 und können, abhängig von den Bedürfnissen<br />

und Fähigkeiten der Kunden, aufgrund ihrer visuellen Komponente<br />

schriftlichen oder telefonischen Kontakten überlegen sein.<br />

2.2. Ausgangspunkt SoPHIA<br />

rEFErAtE<br />

SOPHIA steht für „Soziale Personenbetreuung – Hilfen im Alltag“<br />

und war in der Zeit von 2002 bis 2004 ein Modellprojekt zum Erhalt<br />

und zur Verbesserung der Lebenssituation älterer Menschen in und<br />

um Bamberg. Nach dem erfolgreichen Verlauf des Modellprojekts ist<br />

SOPHIA nun ein Verbund von mehreren Firmen, deren Gesellschaften<br />

hauptsächlich aus der Wohnungswirtschaft kommen.<br />

Ausgangspunkt des Projekts war die Frage, wie das Leben im Alter<br />

durch technische Lösungen sinnvoll unterstützt werden kann, um<br />

den Verbleib in der eigenen Wohnung möglichst lange zu gewährleisten.<br />

Jeder Mensch hat das wohlbegründete Bedürfnis, sein Leben selbstbestimmt<br />

und sicher in den vertrauten vier Wänden zu gestalten.<br />

Oftmals genügt jedoch bereits eine kleine Veränderung und plötzlich<br />

sind verschiedene Dinge des Alltags nicht mehr zu bewältigen.<br />

Eine Stufe wird zum Hindernis, der Einkauf zur Strapaze oder die<br />

Wohnung zum Gefängnis. SOPHIA soll in diesem Zusammenhang<br />

Sicherheit bieten, und vor allem auch Teilhabe am sozialen Leben<br />

ermöglichen.<br />

Eine zentrale Säule von SOPHIA ist die Möglichkeit zur Bildkommunikation<br />

mit einer rund um die Uhr erreichbaren Servicezentrale über<br />

das eigene Fernsehgerät.<br />

4 Ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche<br />

Form verwendet. Es sind jedoch stets beide Geschlechter gemeint.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 27


telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung (tHEA)<br />

Die technischen Voraussetzungen belaufen sich dabei auf eine hochwertige<br />

Webcam, einen Fernseher, externe Lautsprecher, ein USB­<br />

Richtmikrofon und ein Standard­Booksize PC mit Modem. Die intuitive<br />

Bedienbarkeit des Systems erfolgt über eine seniorengerechte<br />

Infrarot­Fernbedienung, die ohne Bedienungsanleitung und Vorkenntnis<br />

bedient werden kann.<br />

SOPHIA bedeutet jedoch nicht einfach „nur“ Bild­Kommunikation.<br />

Die Bildkommunikation ist vielmehr in ein Gesamtbetreuungskonzept<br />

eingebettet. SOPHIA geht den Teilnehmern bei alltäglichen Aufgaben<br />

zur Hand, die schwer fallen oder lästig sind. Ein Anruf bei der<br />

Servicezentrale genügt und ein starkes Netzwerk aus professionellen<br />

und ehrenamtlichen Dienstleistern kümmert sich um Einkaufsservice,<br />

Putzhilfe, Handwerker etc. SOPHIA ist dabei immer nur so nah, wie<br />

es gewünscht wird. Es werden nur die Arbeiten abgenommen, die<br />

selbst ausgewählt wurden. Die Teilnehmer können sich ihre Unabhängigkeit<br />

bewahren. Die Servicezentrale wird in der Zeit von 9 bis<br />

18 Uhr von Ehrenamtlichen betrieben, die in Form von Paten für die<br />

SOPHIA­Kunden zur Verfügung stehen. Nach 18 Uhr übernimmt der<br />

Arbeiter­Samariter Bund in Köln die Servicezentrale und steht für<br />

Notfälle zur Verfügung.<br />

Die Paten führen mit den Teilnehmern Gespräche, nehmen Erinnerungsanrufe<br />

vor, vermitteln die genannten Dienstleistungen oder<br />

einmalige Hilfen, geben verschiedenste Informationen und machen<br />

auch schon mal am Bildschirm bei Gymnastikübungen mit. Darüber<br />

hinaus helfen die Paten auch bei den jährlich stattfindenden Teilnehmertreffen<br />

mit.<br />

Über SOPHIA können die Nutzer jedoch nicht nur mit der Servicezentrale<br />

kommunizieren, sondern auch jederzeit mit anderen SOPHIA­<br />

Kunden oder Freunden und Angehörigen, die vom heimischen PC<br />

aus an SOPHIA teilnehmen. Sie erhalten die dazu erforderliche Software<br />

zur Selbstinstallation.<br />

Neben der Bildkommunikation mit der Servicezentrale und weiteren<br />

SOPHIA­Teilnehmern, bildet ein Sicherheitspaket eine weitere Säule<br />

des SOPHIA­Konzepts. Das Sicherheitspaket besteht aus einem Armband<br />

und einer Basisstation sowie einem optionalen Adapter zur Anbindung<br />

von haus­ und sicherheitstechnischen Systemen.<br />

Der Erfolg und der Nutzen des SOPHIA­Konzepts wurden nicht zuletzt<br />

durch die Teilnehmerzahlen widergespiegelt. Deutschlandweit<br />

nehmen inzwischen über 800 Personen teil. SOPHIA stellt sowohl<br />

die technische als auch die konzeptionelle Grundlage für das Modellprojekt<br />

THEA dar.<br />

3. DAS MoDeLLPRojekT THeA<br />

3.1. Projektkonzeption<br />

Auftraggeber des Projekts THEA war die Fachabteilung Behindertenhilfe<br />

der Diakonie Neuendettelsau, die April bis September 2007<br />

gemeinsam mit verschiedenen Partnern den Einsatz telematischer<br />

Hilfen bei Menschen mit Behinderung in fünf stationären Wohnbereichen<br />

der Region Obernzenn/Rothenburg erprobt hat. Externe Partner<br />

waren die SOPHIA GmbH & Co. KG, die das technische Wissen<br />

und einen wertvollen Erfahrungsschatz aus der Praxis der Altenhilfe<br />

liefern konnten. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation von<br />

THEA erfolgte durch die xit GmbH forschen.planen.beraten und die<br />

Katholische Universität Eichstätt­Ingolstadt.<br />

Kernstück von des Projekts war in einem ersten Schritt die Möglichkeit<br />

zur Bildschirmkommunikation der teilnehmenden Kunden bzw.<br />

der Wohnbereiche mit einer von Ehrenamtlichen betriebenen Servicezentrale<br />

zu Zeiten, die von den Kunden vorrangig selbständig,<br />

ohne unmittelbaren Kontakt zu einer begleitenden Person, gestaltet<br />

wurden. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, dass die Bewohner<br />

verschiedener teilnehmender Wohngruppen untereinander kommunizieren.<br />

Der angenommene praktische Nutzen von THEA wird in den in Tabelle 1<br />

skizzierten Dimensionen deutlich.<br />

Tabelle 1: nutzen von Thea<br />

1 alltagsmanagement<br />

Unterstützung diverser Handlungen und Hilfe beim<br />

Treffen von Entscheidungen. Kunden können an<br />

wichtige Handlungen erinnert werden (Einnahme von<br />

Medikamenten, Termine, Ernährung usw.) bzw.<br />

zum selbständigen Handeln motiviert und in ihrer<br />

Selbstkontrolle unterstützt werden.<br />

2 soziale Kontakte Sicherung sozialer Kontakte auch außerhalb regulärer<br />

Betreuungszeiten. Kunden werden regelmäßig und<br />

zuverlässig angerufen. Ebenso besteht die Möglichkeit,<br />

situativ und spontan den Kontakt zu suchen, insbesondere<br />

auch zu befreundeten Bewohnern anderer<br />

Wohngruppen, die an THEA teilnehmen. Dies hilft<br />

Isolation und Ausgrenzung zu vermeiden. Ebenso kann<br />

die Kontaktaufnahme zu anderen Bezugspersonen<br />

oder Leistungserbringern angeregt oder auch gelenkt<br />

werden. Bei entsprechender Qualifikation der Bezugsperson<br />

sind auf dem Weg telematischer Hilfe auch<br />

psychosoziale Begleitung möglich.<br />

3 Konfliktmanagement<br />

Möglichkeit, in Konfliktsituationen einzugreifen. Die<br />

Situation kann durch visuellen Kontakt besser eingeschätzt<br />

werden. Die Bezugsperson kann helfen die<br />

Situation zu klären, zu beruhigen, zu schlichten,<br />

verbale Hilfestellung zur Konfliktlösung geben oder<br />

weiterführende Maßnahmen einleiten.<br />

4 sicherheit Telematische Hilfen helfen Sicherheit herzustellen. Durch<br />

den visuellen Kontakt können die aktuelle Befindlichkeit<br />

und Situation des Kunden besser eingeschätzt und<br />

Risikopotentiale erfasst werden.<br />

5 Informationen Der Kunde hat die Möglichkeit Informationen abzufragen<br />

und solche, die für ihn regelmäßig von Bedeutung sind,<br />

zuverlässig zu erhalten.<br />

6 entwicklungsbegleitende<br />

maßnahmen<br />

rEFErAtE<br />

Telematische Hilfen unterstützen die Durchführung<br />

entwicklungsbegleitender Maßnahmen, die keinen<br />

direkten persönlichen Kontakt erfordern.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 28


telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung (tHEA)<br />

Folgende mögliche Angebotspakete wurden formuliert:<br />

Tabelle 2: angebotspakete<br />

a > Anruf der Servicemitarbeiter beim Kunden (Kontakt, Information, Beratung,<br />

psychosoziale Begleitung, Lernprozesse)<br />

> Entwicklung von Patenschaften<br />

> Möglichkeit für den Kunden im Notfall Kontakt aufzunehmen<br />

b > Aktiver Anruf durch den Kunden (Kontakt, Information, Beratung,<br />

psychosoziale Begleitung, Lernprozesse)<br />

> Kontakt zwischen Kunden<br />

c > A und B<br />

> Zusatzfunktion 1: Menü mit „links“ zu diversen Informationen<br />

d > A und B / optional C<br />

> Zusatzfunktion 2: Armband (Vitalfunktionen, Alarm)<br />

Insbesondere die Angebotsvarianten A und B sollten im Rahmen des<br />

Modellprojekts erprobt werden. Den Schwerpunkt bildete der planmäßige<br />

Anruf der Bezugsperson in der Servicezentrale beim Kunden<br />

(Variante A). Die bevorzugte Anwendung dieser Variante versprach,<br />

insbesondere bei eingeschränkten Projektressourcen in der<br />

Modellphase, ein Höchstmaß an Kontinuität und Verbindlichkeit. Die<br />

Anwendung telematischer Hilfen kann somit für die Anwender am<br />

ehesten zur Normalität werden und die Leistungserbringung durch<br />

THEA kann auf diesem Wege am besten gesteuert werden.<br />

3.2. Technik<br />

Aufgrund des Kostendrucks wurde vom Auftraggeber entschieden,<br />

die teilnehmenden Wohngruppen an das bestehende SOPHIA System<br />

in Bamberg anzuschließen. Eine Betreuung durch SOPHIA, die<br />

über technische Aspekte hinausgeht, war nicht vorgesehen. So bildete<br />

man mit dem THEA­Nutzerkreis ein eigenes SOPHIA­Subsystem,<br />

das neben dem System der SOPHIA­Nutzer bestand.<br />

Das System selbst wurde gegenüber dem SOPHIA­System für Senioren<br />

nicht geändert. Ziel war es, zu testen, ob Menschen mit Behinderung<br />

genauso gut mit dem System zurechtkommen wie dies<br />

Senioren in einem Alter von mehr als 80 Jahren tun.<br />

Das Videokommunikationssystem wurde ursprünglich so eingerichtet,<br />

dass alle Nutzer untereinander kommunizieren konnten. Im<br />

Nachhinein wurden die Telefonbücher der einzelnen Nutzer(­gruppen)<br />

an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst.<br />

Das Konzept, keine eigene technische Zentrale zu installieren, war<br />

auf Grund der sonst entstehenden Investitionskosten vernünftig. Ein<br />

daraus resultierendes Problem war, dass mehrere gleichzeitig eingehende<br />

Anrufe in der THEA­Zentrale nicht auf mehrere Plätze verteilt<br />

werden konnten, wie es in der vollständigen SOPHIA­Zentrale der<br />

Fall ist.<br />

rEFErAtE<br />

3.3. Teilnehmer<br />

Der Einsatz telematischer Hilfen sollte einem differenzierten Personenkreis<br />

(Fähigkeiten im Bereich der Kommunikation, Wohnsituation,<br />

Technikinteresse) zur Erprobung angeboten werden. Bei der Auswahl<br />

der teilnehmenden Wohnbereiche erschien es zweckmäßig, solche Bereiche<br />

zu nehmen, in denen während der Betriebszeiten der THEA­<br />

Servicezentrale direkte Begleitung durch Mitarbeiter nicht bzw. eingeschränkt<br />

zur Verfügung steht und die Kunden die Zeit selbständig,<br />

ohne unmittelbaren Kontakt zu einer begleitenden Person, gestalten.<br />

Insgesamt haben 31 Kunden aktiv an THEA teilgenommen. Hinzu<br />

kamen insgesamt 11 passive Teilnehmer. „Aktiv“ bedeutet, dass die<br />

Teilnehmer gezielt von der Servicezentrale angerufen wurden und<br />

auch selbst Anrufe vornehmen können. „Passiv“ bezieht sich dagegen<br />

auf die Kunden, die nicht unmittelbar an THEA teilnehmen, da<br />

sie dazu aus verschiedenen Gründen (Technikverständnis, Artikulationsfähigkeit<br />

etc.) nicht in der Lage sind. Diese „passiven“ Kunden<br />

wurden jedoch nicht von THEA ausgeschlossen, sondern bekamen<br />

im Projektverlauf auch die Gelegenheit, in die Nutzung von THEA<br />

einzublicken. Die Evaluation des Projektverlaufs bezieht sich auf die<br />

im Mittelpunkt stehenden aktiven Nutzer, die auch Projekt begleitend<br />

zu ihren Erfahrungen mit THEA befragt wurden.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 29


telematische Hilfen zur eingliederung und autonomieförderung (tHea)<br />

3.4. Servicezentrale<br />

Die THEA-Servicezentrale bestand aus acht ehrenamtlichen Mitarbeitern<br />

und einer hauptamtlichen Kraft. Die Zentrale wurde an drei und<br />

zum Projektende hin an fünf Wochentagen in der Zeit von ca. 18 bis<br />

22 Uhr betrieben. Ein darüber hinaus gehender Betrieb war vor dem<br />

Hintergrund der personellen Ressourcen nicht möglich.<br />

4. Evaluation<br />

Im Rahmen der Projektevaluation wurden sowohl die Teilnehmer, die<br />

Mitarbeiter in den Wohnbereichen und die Mitarbeiter der Servicezentrale<br />

befragt. Nachstehend finden Sie einige Ergebnisse der Evaluation.<br />

Die Mehrheit der Teilnehmer (60%) befand THEA nach eigener Aussage<br />

für gut. Die Teilnehmer, die THEA nur bedingt gut oder gar<br />

schlecht fanden waren Teilnehmer, die tendenziell einen größeren<br />

Unterstützungsbedarf haben und möglicherweise nicht die ideale<br />

Zielgruppe von THEA darstellten.<br />

Die Mitarbeiter der Servicezentrale haben am Projektende in gemeinsamer<br />

Runde erörtert, inwiefern THEA für die einzelnen Nutzer<br />

geeignet ist. Die Ergebnisse sind Abbildung 2 zu entnehmen.<br />

19,4<br />

19,4<br />

19,4<br />

6,5<br />

35,5<br />

voll und ganz geeignet<br />

eher gut geeignet<br />

teils, teils<br />

eher ungeeignet<br />

völlig ungeeignet<br />

Abbildung 2: Wie gut ist THEA für die einzelnen Teilnehmer<br />

geeignet? Einschätzung der Mitarbeiter der Servicezentrale (Angaben:<br />

Anteil der Teilnehmer in %)<br />

Die Mitarbeiter der Wohnbereiche würden anderen Wohnbereichen<br />

den Einsatz von THEA zu einem Drittel „eher“ oder “voll und ganz“<br />

weiterempfehlen. Ein weiteres Drittel spricht eine eingeschränkte<br />

Weiterempfehlung aus. Als Gründe für die Einschränkung wurden<br />

die Betriebszeiten und die begrenzte Integration in den Arbeitsalltag<br />

aus Mitarbeitersicht genannt. Der wichtigste genannte Grund war jedoch<br />

der, dass die Zielgruppe eher im ambulanten als im stationären<br />

Wohnbereich zu suchen sei.<br />

Neben den verschiedenen Einschätzungen der Projektbeteiligten gibt<br />

die Dokumentation der THEA-Kontakte weitere interessante Hinweise<br />

auf die Nutzung (vgl. Abbildung 3).<br />

Neben dem Top-Thema „Geplauder“ zeigen sich viele weitere Themen.<br />

Besonders interessant ist die Beratung in 18 Fällen und in<br />

weiteren vier Fällen die Unterstützung bei besonderen kritischen<br />

Ereignissen. THEA wurde nach einer Eingewöhnungsphase somit<br />

durchaus auch inhaltlich genutzt.<br />

Geplauder<br />

Abendveranstaltung<br />

Ausflüge/Reisen<br />

Allgemeines Tagesgeschehen<br />

Feiern/Festtage<br />

Arbeit<br />

THEA<br />

Andere Bewohner<br />

Beratung/Information<br />

Besondere Ereignisse<br />

Vorstellung<br />

Rückruf<br />

Begrüßung/Verabschiedung<br />

94<br />

86<br />

82<br />

63<br />

59<br />

58<br />

40<br />

18<br />

4<br />

32<br />

Abbildung 3: Gesprächsthemen der Kontakte zwischen Teilneh-<br />

mern und Servicezentrale<br />

Alle Teilnehmer standen in Kontakt mit der Servicezentrale. Zwei<br />

Drittel der Kontakte ging von der Servicezentrale aus. In einem Drittel<br />

der Gespräche haben die Teilnehmer die Initiative ergriffen.<br />

Von der zusätzlichen Möglichkeit, mit Teilnehmern anderer Wohnbereich<br />

Kontakt aufzunehmen, machten insgesamt 13 Teilnehmer<br />

Gebrauch. Die Frequenz ging dabei von täglichen bis hin zu seltenen<br />

punktuellen Kontakten.<br />

5. ZEntralE ErkEnntniSSE Zur WEitErEntWicklung<br />

referate<br />

0 50 100 150 200 250 300 350<br />

Die Modellphase hat gezeigt, dass THEA von der Mehrheit der Teilnehmer<br />

gut genutzt wurde. Technische Entwicklungen sind nicht<br />

oder nur in geringem Umfang erforderlich. Die Bedienbarkeit des<br />

vorhandenen technischen Systems hat sich prinzipiell als unproblematisch<br />

heraus gestellt. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass die Ergänzung<br />

der Betreuung durch telematische Angebote für die Behindertenhilfe<br />

durchaus möglich und sinnvoll sein kann.<br />

Bei einer Projektfortführung müssten jedoch verschiedene konzeptionelle<br />

Anpassungen und Weiterentwicklungen vorgenommen werden.<br />

Diese Entwicklungsarbeiten beziehen sich auf die Bereiche Nutzerkreis,<br />

Nutzungssituation, Leistungsspektrum, Ehren- vs Hauptamt,<br />

Organisation/Ausstattung und Betrieb der Servicezentrale sowie die<br />

Einbeziehung von Interessensgruppen (Mitarbeiter, Angehörige, gesetzliche<br />

Betreuer usw.).<br />

89<br />

110<br />

294<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 30


telematische Hilfen zur Eingliederung und Autonomieförderung (tHEA)<br />

Das Thema der „hybriden Dienstleistungen“, in denen personale<br />

Dienstleistungen und technische Lösungen zu einer neuen, individualisierten<br />

Wertschöpfungskonfiguration verschmelzen, ist in der Sozialwirtschaft<br />

noch nicht angekommen. Hier bieten sich erhebliche<br />

Innovationspotenziale, und auch entsprechende „Pioniergewinne“.<br />

THEA „light“, wie es ausprobiert wurde, zeigt, dass es geht, zeigt<br />

aber auch, dass es so, wie es geht, nicht weit genug geht.<br />

Die Attraktivität eines THEA Produktes, und damit auch die Wertschöpfung<br />

aus Sicht des Klienten und des Unternehmens, verlangt<br />

die konzeptionelle Erweiterung von THEA.<br />

a. THEA müsste aus der Spielzeug­Ecke herausgeholt werden und in<br />

die Wertschöpfungsketten des Unternehmens integriert werden.<br />

An welcher Stelle in welchem Dienstleistungsprozess wird die<br />

Leistungsqualität verbessert? Wo lassen sich in den Leistungsprozessen<br />

durch THEA möglicherweise Kosten abbauen? Für welche<br />

THEA­Teilleistungen besteht Zahlungsbereitschaft?<br />

b. THEA stiftet offensichtlich für einzelne Klientengruppen unterschiedliche<br />

Nutzengewinne. Man müsste die THEA­Wirkungen<br />

sehr viel klientenspezifischer nachweisen und den Fokus eher auf<br />

Teilnehmer aus dem ambulanten Bereich richten.<br />

c. Eine Weiterführung von THEA müsste durch Workshops mit Mitarbeitern<br />

angetrieben werden, in denen die Technik so formatiert<br />

werden sollte, dass sie auch aus Mitarbeitersicht zu einem<br />

unterstützendem Tool werden kann, zu einer entlastenden und/<br />

oder qualitätsfördernden und/oder kostensparenden Variante im<br />

alltäglichen Arbeitsprozess.<br />

d. Der Zugriff auf THEA war zwar überraschend hoch, verlangt aber<br />

auf Dauer die Integration in ein „Content­System“, das für den<br />

einzelnen Klienten auch andere Informationsnutzen – wie z.B. ein<br />

Intranet – bietet. Die technische Basis dafür liegt bereits vor. Im<br />

Rahmen von SOPHIA wird es bereits entsprechend umgesetzt.<br />

e. THEA hat kritische Größen. Die Ehrenamtlichen in der Servicezentrale<br />

wollen etwas zu tun haben, wollen „traffic“, zu wenig Teilnehmer<br />

führen zu Enttäuschungen; (zu) viele Teilnehmer führen<br />

aber in der Konsequenz zu Stress und hohen Vorhaltekosten, die<br />

nicht unbedingt realisiert werden können. Insofern wird THEA als<br />

kleines Modell, auch angesichts der Investitionskosten, für einzige<br />

Wohngruppen nicht überlebensfähig sein, sondern verlangt eine<br />

andere Größenordnung. Hier allerdings bieten sich wahrscheinlich<br />

auch interessante Geschäftsmodelle an.<br />

f. Dieses Geschäftsmodell ist noch nicht ausgereift, weil die unterschiedlichen<br />

Nutzenwirkungen für verschiedene Klientengruppen<br />

angesichts der geringen Teilnehmerzahl nicht ausreichend valide<br />

beurteilt werden können. Außerdem, das zeigt THEA deutlich,<br />

muss THEA in die „normalen Geschäftsprozesse“ des Unternehmens<br />

integriert werden, um überhaupt seine Nutzenpotenziale<br />

entfalten zu können.<br />

6. AUSBLIck<br />

rEFErAtE<br />

Wir regen eine Überlegung für ein größeres Modellprojekt an, in<br />

dem die skizzierten THEA­Erweiterungen vorgenommen werden<br />

können und in dem die THEA­Effekte, als integraler Bestandteil von<br />

Leistungsprozessen, klientenspezifischer gemessen werden können.<br />

Dazu möchten wir ­ vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrungen<br />

­ mit interessierten Trägern und Anbietern eine gemeinsame<br />

Lösung für ein größeres Folgeprojekt suchen.<br />

Für Träger und Anbieter, die zwar prinzipiell interessiert sind, den<br />

unmittelbaren Sprung in den Praxistest jedoch scheuen, möchten<br />

wir einen „THEA­Check“ entwickeln. Der „THEA­Check“ soll als<br />

Entscheidungshilfe einen Beitrag dazu leisten, zu bestimmen, ob und<br />

in welchen Bereichen THEA in der Praxis einsetzbar wäre und welche<br />

Effekte zu erwarten sind.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 31


Häuser … Leuchtturm –<br />

am Atlantik<br />

leuchtturm – am atlantik,<br />

hans-Georg Klimmeck, 68 Jahre<br />

Herr Klimmeck wollte die weite See bei sich haben<br />

und gestaltete dann noch liebevoll<br />

verschiedenes praktisches Zubehör.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 32


Improvisationstheater berlin<br />

Die Gorillas Improvisationstheater <strong>Berlin</strong><br />

„Deine Phantasie ist nicht impotent, solange du nicht tot bist; du bist nur eingefroren.<br />

Schalte den verneinenden Intellekt aus und heiße das Unbewusste willkommen...“<br />

Keith Johnstone<br />

Erfinder des modernen<br />

Improvisationstheaters<br />

DIE GorILLAS<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 33


Improvisationstheater berlin<br />

„Hier ist der Zuschauer der wahre Regisseur“ schrieb die Welt am<br />

Sonntag ganz richtig über die Gorillas. Beim Improvisationstheater<br />

werden sämtliche Darstellungsformen wie Sprech­, Bewegungs­,<br />

oder Musiktheater in die Spielszenen einbezogen. Die Interaktion zwischen<br />

Publikum und Akteuren ist gewollt; die Zuschauer sind live dabei,<br />

wenn aus ihren Themenvorschlägen, Worten und Orten Geschichten<br />

auf der Bühne entstehen. Alle Szenen sind im wahrsten Sinne des<br />

Wortes einmalig, jeder Song ist ein Unikat und jede Show eine Premiere.<br />

Doch kann man zu Themen wie dem persönliche Budget überhaupt<br />

improvisieren und es unterhaltsam darstellen? Ja, man kann!<br />

„Impulse 2008 ­ Wohnen mit Au(f)sicht“ setzten die Gorillas spontan<br />

mitreißend in Szene. Sie spielten und sangen, was das Publikum<br />

wollte. Improvisierten Wohnsituationen im Flur und in der Küche.<br />

Bildeten lustige und kluge Dialoge aus den Wortfetzen, die aus dem<br />

Publikum gerufen wurden.<br />

DIE GorILLAS<br />

Irrwitzig, lustig, erhellend – einmal ganz anders und immer ganz spontan,<br />

aus dem Stand heraus. Der Auftritt der Gorillas war ein kleiner<br />

Höhepunkt. Zeitlich gut gelegen, gleich nach der Pause, gut um wieder<br />

beim Thema und in der Tagung anzukommen. Als idealer Einstieg<br />

in die zweite Hälfte der Fachtagung. Entdecken Sie nun weiter, gemeinsam<br />

mit den Referenten, die Chancen, Risiken und Herausforderungen<br />

vielfältiger Wohn­, Lebens­ und Betreuungsformen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 34


Wünsche von Familienmitgliedern mit Behinderungserfahrung<br />

Heide BesucH (links), eltern beraten eltern e.V. und Judy GummicH (rechts), Projektleiterin<br />

„Lebensübergänge“ ebenfalls bei eltern beraten eltern e.V.<br />

NormalisieruNgspriNzip, iNtegrative WohNformeN,<br />

heterogeNität uNd vielfältige, soziale verNetzuNgeN<br />

Sohn: Ja klar möchte ich „ganz normal“ mit anderen jungen Leuten<br />

zusammen in der WG. wohnen. Alle arbeiten, studieren oder gehen<br />

zur Schule. Vielleicht fährt einer auch Moped oder Auto? – Mit den<br />

Leuten möchte ich etwas unternehmen, zum Billard gehen oder Partys<br />

feiern. Ich möchte in meinem Kiez bleiben, in dem ich groß geworden<br />

bin. Hier kennen mich viele Leute, die mich brauchen.<br />

Mal schnell rüber zu meinen Eltern, gucken, ob meine Mutter nicht<br />

traurig ist. Klasse wäre es, mit dem Bruder im Sommer zum Schwimmen<br />

zu gehen. – Unsere Leute aus der Kirchengemeinde sind auch<br />

so nett, da war ich in der Kita.<br />

Ich möchte ausprobieren, wie es mit dieser WG klappt oder ob es in<br />

einer gemischten WG besser geht? Meine Freundin bleibt dann über<br />

Nacht, das ist doch klar. Mein alter Klassenkamerad, mit dem Rolli muss<br />

dabei sein! Wenn wir etwas zusammen machen, lacht er immer.<br />

Wenn ich in der WG oder bei der Arbeit Stress habe, rufe ich meine<br />

Oma an und erzähle ihr alles oder sause mal eben zu meiner Familie.<br />

Einen Garten fände mein Vater schön, wichtiger fände ich aber die<br />

U-Bahn und viele Läden, in denen man rumstöbern kann.<br />

transparenz, zusammenarbeit, fließende Übergänge, zukunftswerkstatt<br />

Mutter: Immer dieses nicht Loslassen können, was uns da untergeschoben<br />

wird. Damit haben wir die Schuld, wenn es schwierig ist.<br />

– Dabei darf ich gar nicht loslassen. – Meine Elternpflicht ist, unsere<br />

Söhne und Töchter lebenslang zu begleiten. Wir sind das hoch motivierte<br />

und nachhaltigste Netzwerk unserer Kinder!<br />

Diese Ressource wollen wir einsetzen und nicht außen vor lassen. –<br />

Transparenz in den Lebenszusammenhängen des WG-Alltags gibt<br />

uns Sicherheit und Vertrauen. Wir wollen nicht nur ab und zu Besucher<br />

sein, sondern uns einbringen und ein Gefühl für das Leben unserer<br />

Kinder bekommen. Die Übergänge von zu Hause zur WG sollen<br />

fließen. Selbstbestimmung soll an erster Stelle stehen! Mal sind die<br />

jungen Leute in der WG, mal bei den Eltern. Kein Reglement durch<br />

Dienstpläne, sondern freie Wahlmöglichkeit.<br />

menschen mit Behinderung und ihre Familien wünschen sich inklusive Angebote in ihrem<br />

sozialen umfeld und erwarten von mitarbeitern eine Begegnung auf Augenhöhe.<br />

reFerAte<br />

Wünsche von familienmitgliedern mit Behinderungserfahrung von Heide Besuch<br />

5<br />

Wir Eltern, die jungen Leute und die Assistenten sind ein Team, das<br />

zusammen arbeitet, um für die individuellen Bedürfnisse der Bewohner<br />

Sorge zu tragen. Unser soziales Netzwerk kann bei jungen<br />

Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, z.B. im Rahmen der<br />

Zukunftskonferenz, Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung begleiten.<br />

Durch alle Möglichkeiten des normalen Miteinanders nutzen wir<br />

die soziale Spiegelung, damit entsteht Solidarität und Sicherheit für<br />

unsere jungen Menschen.<br />

veränderung des Beziehungsfeldes: du bist oK!<br />

Tochter: Total komisch ist mir, wenn ich bei den WG-Besprechungen<br />

dabei bin. – Hier sitzt mein Bruder, da die Betreuer und Eltern. Furchtbar,<br />

wie er sich fühlen muss, wenn dann Dinge besprochen werden,<br />

die nicht klappen. Wir hier – Du da!<br />

Da wird sortiert, das macht ihn klein und ist sehr peinlich. – Ich würde<br />

mir das nicht gefallen lassen, er muss es aushalten? In einer normalen<br />

WG gäbe es solche Situationen gar nicht! Ich wünsche mir für Ihn,<br />

dass wir sehen, wo er richtig Klasse ist und das ihm auch uneingeschränkt<br />

zeigen. Du bist OK Bruder, und wir erziehen und therapieren<br />

nicht ewig an dir herum. Du darfst an den Herausforderungen<br />

auch mal scheitern. Wir trauen dir zu, dass du weißt, wie du es dann<br />

anders machen kannst.<br />

Kulturelle Werte<br />

Tante: Schwierig ist es, Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund<br />

achtsam zu erfassen. Da ist es möglicherweise undenkbar, Menschen<br />

mit Assistenzbedarf an einem anderen Ort als in der Familie zu<br />

pflegen. Wir brauchen für Familien mit Migrationshintergrund Entlastung,<br />

altersentsprechende Angebote und Weiterentwicklungsmöglichkeiten!<br />

sorge, machtmissbrauch, isolation<br />

Vater: Große Sorge macht uns die Isolation in Wohnstätten und WGs,<br />

in die unsere Söhne und Töchter mit Assistenzbedarf geraten können.<br />

Durch fehlende Außenperspektiven und Korrektive besteht die Möglichkeit,<br />

in einem Umfeld von ausschließlich professionell helfenden<br />

Menschen leben zu müssen, die das Zusammenleben bestimmen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 35


Wünsche von familienmitgliedern mit Behinderungserfahrung<br />

Totale Abhängigkeiten von den Unterstützern können entstehen, die<br />

zu Verhaltensoriginalitäten, Ohnmachtsgefühlen und Überanpassung<br />

führen können. Geringe Entwicklungsmöglichkeiten verhindern die<br />

Persönlichkeitsreife. Es ist gefährlich, solche geschlossenen Systeme<br />

nicht zu hinterfragen! Wir brauchen die gemeinsame Verantwortung<br />

des sozialen Umfeldes und die Entwicklung des Community-Care-<br />

Gedankens, für eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung des<br />

unterstützten Wohnens mit einer permanenten Überprüfung der<br />

ethischen Ansprüche<br />

Gute Ideen werden gesucht, engagierte Menschen gebraucht, für<br />

den Paradigmenwechsel zum Normalisierungsprinzip der Inklusion!<br />

referate<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 36


Häuser... Einsam stehendes Haus<br />

– irgendwo in Deutschland<br />

Joachim hentschel, 63 Jahre<br />

Für Herrn Hentschel war es wichtig, Ruhe und Abgeschiedenheit zu haben;<br />

nur seine Frau – auf der Couch liegend – und er sollten dort wohnen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 37


Mittendrin statt außen vor oder Mittendrin ist näher dran<br />

ALSTeRDoRF ASSISTenZ noRD GGMBH IM VeRBUnD DeR eV.<br />

STIFTUnG ALSTeRDoRF, HAMBURG<br />

Dezentrale Wohnangebote für Menschen mit hohem Assistenzbedarf<br />

wie z.B. bei nahezu allen stellvertretenden Tätigkeiten im Alltag,<br />

stark eingeschränkten Möglichkeiten zur verbalen Kommunikation,<br />

bei Pflege Tag und Nacht, bei der Umsetzung eines Unterbringungsbeschlusses,<br />

bei langjährigen Erfahrungen in stationären Einrichtungen<br />

Sechs Thesen vor dem Hintergrund des Einsatzes von (knapper werdenden)<br />

Ressourcen, der Nachfragen von Klienten, der Ablauforganisation<br />

und der Anforderungen an Mitarbeitende.<br />

These 1: Mittendrin ist näher dran<br />

> an den Assistenzbedarfen der Klienten<br />

> am Auftrag der sozialen Rehabilitation<br />

> an zukunftsfähigen Wohn­ und Arbeitsmöglichkeiten für Klienten<br />

und Mitarbeitende<br />

> an dezentralen und leitungsfähigen Strukturen von Organisationen<br />

These 2: Der Institution auf´s Dach zu steigen ermöglicht<br />

neue Perspektiven<br />

> Durchlässigkeit der Systeme schaffen<br />

> „Auswildern“ als integraler Bestandteil von Assistenzplanungen<br />

> attraktive Übergänge gestalten: stationäre – ambulantisierte ­<br />

ambulante Angebote, Wohnen im Appartement, Satelliten­Wohnungen,<br />

die ambulant betreute WG, die Senioren­WG, …<br />

These 3: Die Umsetzung hoher Assistenzbedarfe braucht<br />

organisatorisch schlanke Lösungen<br />

> gezielter Ressourceneinsatz: Assistenz setzt dort (und nur dort an),<br />

wo das Handicap des Menschen beginnt<br />

> Differenzierung der Leistungen in Grundassistenz und persönliche<br />

Assistenz<br />

> Übergreifende Einsätze von Mitarbeitenden in unterschiedlichen<br />

Assistenzangeboten – Tag und Nacht<br />

> Einsatz von Technik zum Schaffen von Freiräumen<br />

Dr. HEIDE VöLtz ist bereichsleiterin der alsterdorf assistenz nord gGmbH im Verbund<br />

der Evangelischen Stiftung Alsterdorf.<br />

Dezentrale wohnangebote für Menschen mit hohen Assistenzbedarfen lassen sich auch<br />

vor dem Hintergrund knapper werdender ressourcen umsetzen. Dazu bedarf es maßgeschneiderter<br />

netzwerke im Stadtteil.<br />

These 4: Der Mensch wohnt nicht nur – Bildung und Beschäftigung<br />

für Menschen mit hohen Assistenzbedarfen<br />

> Wohnen und Arbeiten im Quartier<br />

> als Mensch mit Assistenzbedarf und in der Verantwortung für<br />

das Gemeinwohl sichtbar werden: Baumscheibenpflege, Objektpflege,<br />

Hausmeister, kleine Serviceangebote in der Nachbarschaft<br />

> Unterstützung zum Gelingen des Alltags aus der Nachbarschaft<br />

gewinnen<br />

These 5: Mittendrin ist gleich nebenan<br />

> Fachlichkeit und Professionalität bringen die Mitarbeitenden –<br />

Inte grationsfähigkeit bringen allein die Menschen in den Nach­<br />

barschaften und im Stadtteil<br />

rEFErAtE<br />

Mittendrin statt außen vor oder Mittendrin ist näher dran von Dr. Heide Völtz<br />

6<br />

> Give and take: Freiwilligenarbeit gezielt andocken und selber<br />

anbieten<br />

> professionelle Sozialarbeit vernetzt sich mit den Akteuren im<br />

Stadtteil<br />

These 6: Damit es gelingt, brauchen wir Mitarbeitende, die ambulant<br />

denken und handeln<br />

> nicht der Ort, an dem Mitarbeitende tätig sind, oder die<br />

Assistenz bedarfe der Klienten zählen, sondern allein die Haltung<br />

und die Angebote, die daraus erwachsen<br />

> die Ambivalenz von Institutionsinteressen erkennen und konstruktiv<br />

gestalten<br />

> Mut zum Risiko, Übernahme von Verantwortung, ein hohes Maß<br />

an Selbstkenntis und „Selbstführung“ durch Fortbildung, kollegiale<br />

Beratung, Coaching und konkretem Tun<br />

> Führungskräfte, die dies ausdrücklich unterstützen, fordern und<br />

fördern<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 38


Häuser … Mecklenburgisches<br />

Haus<br />

hartmut hellge, 62 Jahre<br />

Herr Hellge wollte unbedingt in seinem Land bleiben<br />

und suchte nach einer möglichst schlichten Form.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 39


Das Persönliche budget im wohnheim am Stadtring<br />

Das Wohnheim am Stadtring ist eine stationäre Einrichtung des<br />

Stiftungsbereiches Behindertenhilfe der von Bodelschwingschen Anstalten<br />

Bethel mit 25 Plätzen, die sich aufteilen in drei Gruppen mit je<br />

vier Plätzen, 11 Apartments und einem Doppelapartment für Menschen<br />

mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen.<br />

In den Jahren 2003 bis 2007 erprobte unsere Einrichtung das persönliche<br />

Budget. Die erste Phase des Modellprojekts PerLe dauerte von<br />

August 2003 bis September 2005. Im Vordergrund des Interesses<br />

stand die Frage der Anwendung des Budgets durch die Bewohnerinnen<br />

und Bewohner. Die bis dahin gemachten Erfahrungen erforderten<br />

2005 einen Neustart unter klareren, für alle Beteiligten verbindlicheren<br />

Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen bezogen sich<br />

nicht nur auf die Menschen, die das Budget in Anspruch nehmen<br />

wollen, sondern auch auf die institutionelle Seite und damit auf die<br />

Organisationsstruktur des Wohnheims.<br />

Das Budget ist ein Teil der Maßnahmepauschale, die für die Komplexleistung<br />

der Einrichtung („alles inklusive“) seitens des Landschaftsverbandes<br />

gezahlt wird. Insofern mindert der Anteil des Budgets die<br />

Summe, die zum Einsatz von Personal im Wohnheim am Stadtring<br />

zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass in der Höhe des Budgets<br />

Personal reduziert werden muss, damit das Budget frei zur Verfügung<br />

steht.<br />

Die Organisationsstruktur eines stationären Betriebs ist demgegenüber<br />

an zeitlicher Präsenz und einer ganzheitlichen Leistungserbringung<br />

orientiert (Anwesenheit von morgens bis abends an sieben Tagen<br />

in der Woche). Dieses Modell unterstellt, dass durch die präsenten<br />

Mitarbeitenden in der gesetzten Zeit alle anfallenden Arbeiten (die<br />

als Aufgaben definiert sind, in der Regel aber nicht als Einzelleistung)<br />

erledigt werden. Begleitung in der Einrichtung ist der Normalfall,<br />

Begleitungen außerhalb der Einrichtung können nur erfolgen, wenn<br />

gleichzeitig die Präsenz im Haus gewährleistet ist, sie müssen also<br />

gesondert geplant werden.<br />

Da das persönliche Budget prinzipiell freizügig sein muss (sonst hat<br />

es den Namen nicht verdient), muss ein Teil der bisherigen Präsenzzeit<br />

in Geld zur Verfügung stehen. Das bedeutet auch eine Reduzierung<br />

der bisher in der Präsenzzeit erbrachten Leistungen zur Teilhabe am<br />

Leben in der Gemeinschaft (nicht der sonstigen Bestandteile der<br />

Komplexleistungen).<br />

SuSAnnE SELLIn ist teamleiterin im wohnheim am Stadtring in bielefeld, Stiftungsbereich<br />

behindertenhilfe der von bodelschwinghschen Anstalten bethel.<br />

Im rahmen des Modellprojekts PerLe wurde der Einsatz des Persönlichen budgets in einer<br />

stationären Einrichtung erprobt und von teilnehmern und Mitarbeitenden insgesamt positiv<br />

bewertet.<br />

rEFErAtE<br />

Das Persönliche Budget im Wohnheim am Stadtring von Susanne Sellin<br />

7<br />

Die bisherige Berechnungsgrundlage war eine „gegriffene Größe“.<br />

Sie war zwar plausibel, aber rein rechnerisch ermittelt. Die tatsächliche<br />

Inanspruchnahme im Jahr 2004 lag unter 10% des ermittelten<br />

Betrages. 2004 wurden knapp 16.000 Euro als Budgets verwendet,<br />

die entsprechenden Leistungen wurden zu 44% durch Mitarbeitende<br />

des Wohnheims am Stadtring erbracht und zu 56% durch externe<br />

Anbieter.<br />

Geht man von 25 am Modell teilnehmenden Personen und einer (im<br />

Vergleich zur vorherigen Berechnung) halbierten Summe aus, wären<br />

für die Laufzeit von 12 Monaten ca. 82.000 Euro zur Verfügung zu<br />

stellen, was etwa zwei Vollkräften entspricht. Legt man nur die Personen<br />

zu Grunde, die aktiv mit dem persönlichen Budget umgehen,<br />

so ergibt sich ein Betrag von ca. 46.000 Euro für den gleichen Zeitraum.<br />

Das entspricht etwa der dreifachen Höhe des Betrages, der<br />

2004 tatsächlich verwendet wurde.<br />

Das persönliche Budget ist prinzipiell freizügig, aber nicht beliebig.<br />

Es geht um Leistungen für Menschen mit Behinderungen, die ihnen<br />

die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen sollen. Der<br />

Gesetzestext ist orientierend: … alltägliche und regelmäßig wiederkehrende<br />

Bedarfe … An die Entscheidung ist der Antragsteller für<br />

die Dauer von sechs Monaten gebunden (§17, 2 SGB IX). Notwendig<br />

folgen daraus Maßnahmen, die der Logik der Hilfeplanung und der<br />

Sozial­ und Verlaufsberichte entsprechend aus der Hilfeplanung erkennbar<br />

und in ihr festgelegt sein müssen. (Im Zeitraum X will ich Y<br />

machen. Dazu möchte ich Mittel aus meinem Budget in Höhe von<br />

X Euro einsetzen.) Insofern rückt die Hilfeplanung einmal mehr ins<br />

Zentrum. An ihr sind auch Angehörige und/oder gesetzliche Betreuer<br />

einvernehmlich zu beteiligen. An der Veränderung der Haltung, es<br />

handele sich im Prinzip um einen erweiterten Barbetrag, ist im Zuge<br />

der neuen Festlegungen zu arbeiten.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 40


Das Persönliche budget im wohnheim am Stadtring<br />

Das Budget wird eingesetzt für:<br />

> Freizeitplanung<br />

> Begleitung zur Freizeitgestaltung<br />

(Kino­ und Konzertbesuche, Schwimmen, Fußballspiel live ansehen<br />

auch Auswärtsspiele und WM­Spiele, am Treffen von Fanclub<br />

teilnehmen Begleitung der Sitzung, Wanderungen, Stadtbummel,<br />

Spaziergänge, Ausflüge, Eislaufen, Erkundung der weiteren Umgebung<br />

mit der Straßenbahn)<br />

> Bildung<br />

(Kursangebote von VHS,BBB, Sportvereine)<br />

> Zukunftsplanung<br />

(Begleitung bei der Haushaltsführung, Kochen, Waschen)<br />

> Budgetberatung<br />

Der Heimvertrag wird durch ein Änderungsprotokoll ergänzt. Die<br />

Einigung auf Inhalt und Absicht zur Verwendung des persönlichen<br />

Budgets wird im Änderungsprotokoll dokumentiert und verbindlich<br />

(Budgetnehmerin, ggf. gesetzliche Betreuerin) unterschrieben. Für den<br />

Neubeginn wurden für die Personen, die teilnehmen wollten, Ordner<br />

angelegt, in denen die relevanten Dokumente ihren Platz haben.<br />

Ein personenbezogenes Kontoblatt ermöglicht jederzeit einen Überblick<br />

über geplante, bereits durchgeführte und noch (oder nicht mehr)<br />

planbare Aktivitäten. Ansparungen für umfangreichere Aktivitäten<br />

waren in diesem Rahmen (s.o. Hilfeplanung) möglich.<br />

rEFErAtE<br />

Bewohnerinnen und Bewohner, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

und die Teamleitung beurteilen das Persönliche Budget in ihrer Einrichtung<br />

folgendermaßen:> Mehr Möglichkeiten und Selbstbestimmung<br />

durch den Einkauf von externen Begleitung/Angeboten;<br />

> Mehr Auswahl an Angeboten, die wahrgenommen werden können;<br />

> Wahlmöglichkeit: mit wem möchten die Bewohnerinnen und Bewohner<br />

was machen;<br />

> Fühlen sich durch den Vertrag, der mit ihnen geschlossen worden<br />

ist, ernst genommen;<br />

> Insgesamt wurde das Projekt von allen Mitarbeitenden als positive,<br />

ergänzende Möglichkeit sowohl für die Teilnehmer als auch<br />

Nichtteilnehmer gesehen (können vom Miterleben der Zusatzmöglichkeiten<br />

anderer durchaus profitieren, Mut zum Neuen entwickeln).<br />

> Das Projekt hat bei den Mitarbeitenden viel in Bewegung gesetzt,<br />

Betreuungszeiten für jede einzelne Bewohnerin und für jeden einzelnen<br />

Bewohner wurden überprüft und korrigiert, mehr Transparenz<br />

und Grenzsetzung.<br />

> Mehr Verbindlichkeiten – Transparenz, aber auch die Möglichkeit<br />

auf externe Anbieter verweisen zu können, schafft für alle Beteiligten<br />

mehr Sicherheit, Gelassenheit, Entlastung (Wir können und müssen<br />

nicht alles selber leisten!).<br />

> Die Budgetassistenz erfordert einen hohen Zeitaufwand, ist sehr<br />

wichtig und notwendig und sollte zusätzlich finanziert werden.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 41


Häuser … Tadsch Mahal – Indien<br />

andrea Poerschke, 39 Jahre<br />

Ein halbes Jahr arbeitete Frau Poerschke an ihrem Palast,<br />

der ihr für ihre Wohnzwecke angemessen erschien.<br />

(Dieses Bauwerk wurde in der Ausstellung „Ermutigung“<br />

in Fürstenwalde gezeigt.)<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 42


Die „Geldleistung“ in der Hilfe und unterstützung für Menschen mit behinderung<br />

Was die Mehrzahl der Leser 1991 in Jochen Schweitzers Aufsatz<br />

„Wenn der Kunde König wäre?“ 1 noch als soziale Utopie aufnahm,<br />

wurde bereits 1997 von Florian Gerster, dem damaligen Sozialminister<br />

in Rheinland­Pfalz, ohne die sonst übliche Abstimmung mit den<br />

Wohlfahrtsverbänden unter dem Begriff „Persönliches Budget“ eingeführt.<br />

Die „Geldleistung“ als Alternative zur „Sachleistung“ in der rheinlandpfälzischen<br />

Behindertenhilfe wurde etabliert, trotz aller empörten<br />

Proteste über diesen Akt der „Vollstreckung“. 2 Die seinerzeit<br />

durch das Ministerium einseitig festgesetzten Rahmenbedingungen<br />

und Teilnahmevoraussetzungen werden heute noch in Rheinland­<br />

Pfalz angewendet, obwohl seit dem 01.07.2004 bundesweit das<br />

„Trägerübergreifende Persönliche Budget“ nach § 17 SGB IX eingeführt<br />

wurde.<br />

Ermöglicht wird diese Situation durch den neuen § 17 Absatz 5 SGB IX,<br />

wonach alle Modellerprobungen zum Persönlichen Budget, die vor<br />

dem 01.07.2004 in den Bundesländern begonnen wurden, noch in<br />

der am 30.06.2004 geltenden alten Fassung des § 17 (3) SGB IX bis<br />

zum 31.12.2007 fortgeführt werden dürfen. 3<br />

In nahezu allen 36 rheinland­pfälzischen kommunalen Gebietskörperschaften<br />

ist das Verfahren etabliert. Wohl hat sich aber eine Umsetzungspraxis<br />

entwickelt, die höchst heterogen von jenen Vorgaben<br />

aus dem Jahr 1997 abweicht – im Positiven wie im Negativen.<br />

1 In: Zeitschrift für Systemische Therapie, Jahrgang 1991, Heft 4<br />

2 Seinerzeit konnten sich die wenigsten Akteure der Behindertenhilfe vorstellen, dass<br />

der Leistungsträger den behinderten Menschen selbst das Geld ausgezahlt. Man hielt<br />

das für eine unzulässige Überforderung der Behinderten, die aus pekuniären Motiven<br />

billigend in Kauf genommen würde. Die Empörung wurde dann auch noch stärker,<br />

dass die Geldbeträge, die den Menschen direkt zur Verfügung gestellt wurden, die<br />

Vergütungen, die die Leistungserbringer erhielten, weit unterschritten.<br />

3 § 17 Absatz 3 SGB IX (alte Fassung bis zum 30.06.2004): „Die Rehabilitationsträger<br />

erproben die Einführung persönlicher Budgets durch Modellvorhaben.“<br />

JoAcHIM SPEIcHEr ist Geschäftsführer der <strong>Lebenshilfe</strong> Einrichtungen GmbH in worms.<br />

Von 2004 bis 2007 war er Leiter des bundesweit tätigen „Paritätischen Kompetenzzentrums<br />

Persönliches budget“ in Mainz.<br />

Das Persönliche budget, seit 2008 als regelleistung eingeführt, eröffnet Menschen mit<br />

behinderungen ganz neue Möglichkeiten. Mit einem Geldbetrag kaufen sie sich als Kunden<br />

die für sie notwendigen unterstützungsleistungen selbst ein.<br />

Die Heterogenität (manchmal geht auch das Wort der „Beliebigkeit“<br />

um) betrifft die Fragen des Zugangsrechts zum Persönlichen Budget<br />

genauso wie die Regelungen zum Antragsverfahren und der Bedarfsfeststellung<br />

sowie das geänderte Rechtsverhältnis zwischen<br />

Leistungsträger, Leistungserbringer und Hilfeberechtigtem.<br />

Ende 2003 hatte der Bundesgesetzgeber im „Gesetz zur Einordnung<br />

des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch“ eine neue Ausgangslage<br />

geschaffen, die eine deutliche Verbesserung der bisherigen rheinland­pfälzischen<br />

Lösungen sowie darüber hinaus eine bundesweite<br />

Installierung des „Persönlichen Budgets“ zur Folge hatte.<br />

Wenn wir über das Thema „Persönliches Budget“ sprechen, so zeigt<br />

sich durchaus eine gewisse begriffliche Konfusion. Konkret gibt es<br />

in Deutschland vier, sich wesentlich von einander unterscheidende<br />

Budgettypen:<br />

1. Das Persönliche Budget in Rheinland­Pfalz (BSHG/ SGB XII) seit 1998 4<br />

2. Das Trägerübergreifende Persönliche Budget (SGB IX) seit 2004 5<br />

3. Das Pflegebudget (SGB XI) seit 2004 6<br />

4. Das Integrierte Budget in Rheinland­Pfalz<br />

(eine Kombination aus 2. und 3.) seit 20057 4 Persönliche Budgets werden im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe nach SGB XII<br />

(„Eingliederungshilfe“) an leistungsberechtigte Menschen mit Behinderung alternativ<br />

zu einer Sachleistung („Geld oder Liebe“? – „Wohnheim oder Geld?“) als pauschalierte<br />

Geldbeträge in drei Stufen ausgezahlt. Aktuelle Stufungen und Monatsbeträge<br />

sind Stufe 1 (€ 200,­), Stufe 2 (€ 400,­) und Stufe 3 (€ 770,­). Im Mai 2007 hat das<br />

zuständige Ministerium in Mainz die Obergrenze persönlicher Budgets an die Sachleistungsgrenze<br />

stationärer Hilfen nach oben erweitert.<br />

5 Vgl. § 17 SGB IX und die Budgetverordnung nach § 21 a SGB IX; s. auch: www.bud­<br />

get.paritaet.org<br />

6 umfangreiche Information und Darstellung: www.pflegebudget.de<br />

8<br />

7 umfangreiche Information und Darstellung: www.integriertesbudget.de<br />

rEFErAtE<br />

Die „Geldleistung“ in der Hilfe und Unterstützung<br />

für Menschen mit Behinderung von Joachim Speicher<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 43


Die „Geldleistung“ in der Hilfe und unterstützung für Menschen mit behinderung<br />

Eine umfassende Zahl an Praxisbeispielen einer alltäglichen Anwendungspraxis<br />

Persönlicher Budgets gibt es allerdings bisher nur in Rheinland­Pfalz<br />

zum Budgettyp 1.). Seit der Ankündigung und Einführung<br />

im Jahr 1997 ist die Zahl der Budgetnehmer/innen auf aktuell 3.000<br />

gestiegen und sie nimmt stetig zu.<br />

Den größten Anteil mit knapp 50% stellen Menschen mit seelischer<br />

Behinderung; gefolgt von Menschen mit geistiger Behinderung/Lernschwierigkeiten<br />

sowie Menschen mit Körper­ und Sinnesbehinderungen.<br />

Die Besonderheit rheinland­pfälzischer Budgets besteht bekanntlich<br />

darin, dass sich die Verfahren und die sonstigen Rahmenbedingungen<br />

mit den jetzt gültigen, in der Budgetverordnung (nach § 21a SGB IX)<br />

festgeschriebenen Regeln kaum vereinbaren lassen.<br />

Auf den Punkt gebracht: rheinland­pfälzische Persönliche Budgets<br />

sind absolut vergleichbar und in der Höhe sogar identisch mit der als<br />

„Pflegegeld“ ausgezahlten Geldleistung in der Pflegeversicherung.<br />

Daher sind sie im Unterschied zu den in der Erprobung befindlichen<br />

„Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“ (Typ 2.) weder bedarfsorientiert,<br />

noch bedarfsdeckend und auch nicht zielorientiert.<br />

(Erst im Mai 2007 wurde die Obergrenze an die Sachleistungsgrenze<br />

stationärer Hilfen (Wohnheime) angepasst!)<br />

Bislang handelt es sich um pauschalierte Geldbeträge, die dem Menschen<br />

mit Behinderung monatlich bar auf sein Girokonto überwiesen<br />

werden und die er zur Sicherung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft<br />

frei und ohne Nachweispflicht verwenden kann. Sie werden<br />

zusätzlich zu einer laufenden Grundsicherung oder Hilfe zum<br />

Lebensunterhalt gezahlt.<br />

Diese Besonderheit hat ein rheinland­pfälzischer Psychiatrie­Erfahrener<br />

kürzlich sehr treffend auf den Punkt gebracht, als er beiläufig<br />

erwähnte, dass er selbst schon mehr als zwei Jahre lang „Schizophrenie­Geld“<br />

(in einer herrlichen Analogie zum „Blinden­Geld“)<br />

beziehe. 8<br />

Nun liegt die Frage nahe, auf welche Weise die Budgetinhaber ihre<br />

Teilhabe herstellen und sichern, wenn die Geldbeträge doch pauschaliert<br />

und knapp (im Unterschied zu den Sachleistungskosten einer<br />

Wohnheimunterbringung) bemessen sind. 9<br />

8 Die Budgetverordnung schreibt als Bewilligungsvoraussetzung eine schriftliche Zielvereinbarung<br />

zwischen Antragsteller und Leistungsträger vor, die insbesondere Zielformulierungen,<br />

Regelungen zu Verwendungsnachweisen sowie zur Qualitätssicherung<br />

enthalten muss. Die bisherige rheinland­pfälzische Regelung verzichtet völlig auf diese<br />

Bedingungen.<br />

9 s. Fußnote 4<br />

HIeRZU IM FoLGenDen VIeR PRAxISBeISPIeLe<br />

UnD FALLVIGneTTen<br />

rEFErAtE<br />

Beispiel 1:<br />

Ein junger Mann (24) mit geistiger Behinderung lebt zu Hause bei seinen<br />

Eltern und besuchte bislang mehr oder regelmäßig eine Tagesförderstätte.<br />

Es gab wiederkehrende Konflikte mit dem Betreuungspersonal,<br />

da er häufig zu spät kam oder die Einrichtung vorzeitig verließ<br />

und zu Fuß nach Hause lief oder sich in der Stadt umhertrieb.<br />

Die Eltern (Vater = gesetzlicher Betreuer) entschieden sich gemeinsam<br />

mit ihrem Sohn nach eingehender Beratung durch den Sozialen<br />

Dienst des Örtlichen Trägers der Sozialhilfe ein Persönliches Budget<br />

in Anspruch zu nehmen. Es wurde ein monatlicher Geldbetrag in<br />

Höhe von 400,– Euro bewilligt und regelmäßig gezahlt. Ein Verwendungsnachweis<br />

ist nicht erforderlich.<br />

Auf einer öffentlichen Informationsveranstaltung berichtete der junge<br />

Mann selbstbewusst und sichtlich entspannt, was er nun im Unterschied<br />

zu früher tagsüber so tue.<br />

Mit seinem Vater hat er sich eine Dauerkarte im Fitness­Studio gekauft,<br />

das er fast täglich aufsucht. Er berichtet, dass die Mitarbeiter<br />

dort viel freundlicher seien. Es gäbe nie Ärger und das Schöne sei, er<br />

könne kommen, wann er wolle. Darüber hinaus erfährt man, werde<br />

der Restbetrag stetig neu verwendet. Mal zur Anschaffung verschiedener<br />

materieller Dinge, mal zur Finanzierung begleitender Hilfen<br />

und Urlaubsreisen oder sonstiger alltäglicher Aktivitäten.<br />

Im Ergebnis hat man nicht den Eindruck, dass hier ein junger Mann<br />

berichtet, dem das Fehlen einer psychosozialen Förderung durch<br />

eine Tagesstätte anzumerken wäre. Im Gegenteil, sein Bericht wirkt<br />

für seine Verhältnisse entspannt und souverän.<br />

Beispiel 2:<br />

Während derselben Informationsveranstaltung berichtet ein Mann<br />

mit seelischer Behinderung (29) in Anwesenheit seines gesetzlichen<br />

Betreuers über seine bisherigen zahlreichen Aufenthalte in psychiatrischen<br />

Kliniken und den sich daran anschließenden Wohnheimunterbringungen.<br />

Alle Versuche, in den Wohnheimen zurechtzukommen,<br />

seien gescheitert. Zumeist habe es Auseinandersetzungen wegen<br />

der Hausordnungen, der Übernahme von Haus­ und Putzdiensten<br />

und wegen der regelmäßigen Überschreitung von Alkoholverboten<br />

gegeben.<br />

Auch hier, nach einschlägiger Beratung durch den Sozialhilfeträger<br />

habe er sich entschieden, ein Persönliches Budget in Anspruch zu<br />

nehmen. Er erhalte nun den monatlichen Maximalbetrag von rund<br />

770,– Euro.<br />

Im Publikum will man wissen, wozu er das Geld verwende und zur<br />

Überraschung der Zuhörer berichtet der Budgetnehmer, dass er das<br />

Geld drei Monate gespart habe. Zwischenzeitlich habe er mithilfe<br />

und Unterstützung seines gesetzlichen Betreuers in einem Wochenblättchen,<br />

das in der örtlichen Haushalten umsonst verteilt werde,<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 44


Die „Geldleistung“ in der Hilfe und unterstützung für Menschen mit behinderung<br />

ein Inserat aufgegeben: „ ’Bin 29, männlich, seelisch behindert, suche<br />

für 8­Woche­Aufenthalt auf den Balearen eine Begleitperson.<br />

Zuschriften unter Chiffre erbeten an ….“.<br />

Er habe vier Bewerbungen erhalten und sich gemeinsam mit seinem<br />

gesetzlichen Betreuer für einen jungen Studenten der Sozialpädagogik<br />

entschieden. Mit diesem habe er die Regeln und die Bedingungen<br />

für eine gemeinsame Reise nach Mallorca ausgehandelt und<br />

schriftlich vereinbart. Der Betreuer habe in Palma de Mallorca einen<br />

deutschsprachigen Psychiater ausfindig gemacht, mit dem er alle<br />

Eventualitäten und Kriseninterventionen im Fall einer psychischen<br />

akuten Krise vorbesprochen habe. Dann habe er aus seinem angesparten<br />

Budget eine Reise für zwei Personen bei einem Billiganbieter<br />

im Reisebüro gebucht und die beiden haben eine gute Zeit auf<br />

Mallorca im November und Dezember verbracht. Auf die erstaunten<br />

und teilweise gar empörten Rückfrage der professionellen Leistungsanbieter<br />

im Publikum, wo denn hierbei die notwendigen psychosozialen<br />

Betreu ungsleistungen geblieben wären, antwortet der Budgetneh­<br />

mer knapp und denkwürdig: „ Wissen Sie das Frühstücksbuffet im<br />

Hotel in Palma de Mallorca ist etwas anderes als die Frühstücksgruppe<br />

im Wohnheim!“<br />

Beispiel 3<br />

Eine chronisch seelisch behinderte Frau (44) lebte nahezu 16 Jahre<br />

in psychiatrischen Wohnheimen. Ihr Aussehen und ihre mangelhafte<br />

Körperhygiene war stets Anlass zu Auseinadersetzungen und sogenannten<br />

„Grenzen setzenden Sanktionen“ durch das Betreuungspersonal.<br />

Eine dauerhafte depressive Grundstimmung äußerte sich<br />

auch in konsequentem Rückzugsverhalten und steter Ablehnung<br />

einer jeden Kooperation.<br />

rEFErAtE<br />

Der Intervention eines aufgeschlossenen, über das Persönliche Budget<br />

gut informierten Mitarbeiters ist es zu verdanken, dass diese Frau<br />

heute seit mehr als zwei Jahren selbständig in einer eigenen Wohnung<br />

lebt und in eigener Verantwortung ein Budget von 700,– Euro<br />

verwaltet, mit dem sie Reinigungspersonal eines hauswirtschaftlichen<br />

Dienstes (180,– Euro pro Monat), Begleitpersonen für ihre wöchentlichen<br />

Einkäufe (60,– Euro pro Monat) sowie die 14­tägige psychosoziale<br />

Beratung (90,– Euro pro Monat) bezahlt. Darüber hinaus hat<br />

sie sich in die „Arbeits­ und Ergotherapiegruppe“ eines Wohnheims<br />

eingekauft. Dort hat sie die Möglichkeit, zweimal in der Woche jeweils<br />

zwei Stunden an der Gruppe teilzunehmen und bezahlt dafür<br />

monatlich einen Pauschbetrag von 250,– Euro an den Wohnheimträger.<br />

Darin ist auch zweimal pro das Mittagessen enthalten. Der Restbetrag<br />

wird von ihr, wie in den vorangegangenen Beispielen, ganz frei<br />

und nach Bedarf verwendet. Häufig dient er zu Finanzierung von<br />

Freizeitaktivitäten, zusätzlichen Friseurbesuchen (!) oder einfach nur<br />

zur Verbesserung der ökonomischen Situation.<br />

Beispiel 4<br />

Ein geistig behinderter Mann mit schweren Verhaltensauffälligkeiten<br />

(40) lebt zuhause bei seinen Eltern, die beide älter als 70 Jahre sind.<br />

Er sollte in ein Wohnheim umziehen, jedoch war die Suche lange erfolglos.<br />

Entweder waren die in Frage kommenden Heime nicht bereit,<br />

ihn aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten aufzunehmen oder die<br />

zur Verfügung stehenden Plätze waren auf lange Sicht ausgebucht.<br />

So steht er heute auf der Warteliste eines Heimes auf Platz 14. Was<br />

geschieht aber in der Zwischenzeit? Üblicherweise interessiert das<br />

die Wohnheimträger weniger, ebenso den Leistungsträger.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 45


Die „Geldleistung“ in der Hilfe und unterstützung für Menschen mit behinderung<br />

Der Rechtsanspruch auf Leistungen zur Teilhabe besteht aber im Einzelfall<br />

und zwar genau dann, sobald der Bedarf festgestellt worden<br />

ist. Dabei bleibt festzuhalten, der Bedarf auf Leistungen zur Teilhabe<br />

artikuliert sich immer in Formulierungen wie bspw. „Hilfe zur Selbstversorgung“,<br />

„Hilfe zur Tagesgestaltung“, „Hilfe zur Arbeit“ u.ä..<br />

Der Rechtsanspruch bezieht sich entsprechend auch nur auf solche<br />

Formulierungen. Es gibt keinen Bedarf, der lauten würde: „ Ich brauche<br />

ein Wohnheim!“ Oder: „Ich brauche eines Tagesförderstätte!“<br />

Unter diesen Umständen ist das Konzept der „Betreuten Warteliste“,<br />

das von uns unter ausdrücklicher Umsetzung des Persönlichen Budgets<br />

erfunden worden ist, eine realistische Perspektive, auch in solchen<br />

Bedarfssituationen zeitnah tätig werden zu können, in denen<br />

Menschen im üblichen Sachleistungssystem nicht sofort auf Hilfe<br />

rechnen dürfen.<br />

Der Mensch mit geistiger Behinderung konnte in unserem Beispiel<br />

weiter zuhause wohnen bleiben. Er und seine Eltern nutzten die umfassende<br />

Budgetberatung, die sie durch einen Wohnheimträger und<br />

dessen Case­Management­Beauftragten (nicht identisch mit dem<br />

Wohnheimträger, auf dessen Warteliste er sich befand) erhalten haben.<br />

Sie erhielten den maximalen Budgetbetrag zur Sicherung der<br />

Teilhabe in Höhe von 770,– Euro monatlich durch den Sozialhilfeträger.<br />

Zudem wurde die psychiatrische Institutsambulanz (Leistungen<br />

nach § 118 SGB V) des Trägers mit der regelmäßigen, aufsuchenden<br />

fachärztlichen Behandlung und Betreuung beauftragt. Mit dem Geld<br />

aus dem Budget wurden psychosoziale Fachleistungsstunden in Form<br />

von Kriseninterventionen bei Bedarf und in der eigenen Familie eingekauft<br />

sowie „Babysitterdienste“. So bezeichnete die Mutter die<br />

Dienste, die durch ambulant­aufsuchendes Betreuungspersonal des<br />

beratenden Trägers immer dann erforderlich wurden, wenn die Eltern<br />

beide gleichzeitig außer waren und der behinderte Sohn beaufsichtigt<br />

werden musste. Verbleibende Restbeträge wurden aufgespart<br />

und zur Finanzierung einer begleiteten Einzelreise des Sohnes<br />

genutzt. Als nach 8 Monaten der Platz im Wohnheim frei wurde,<br />

entschieden sich der behinderte Sohn und seine Eltern gemeinsam,<br />

die über das persönliche Budget gefundene Lösung weiter fortzuführen.<br />

Aktuell plant die Familie erstaunlich offen und gemeinsam<br />

mit „ihrem“ Betreuungspersonal die Zeit nach dem Tod der Eltern.<br />

Insbesondere weiß man nun, dass durch das Budget die unschätzbare<br />

Möglichkeit besteht, das Personal weiter zu beschäftigen, zu<br />

dem man inzwischen großes Vertrauen gefunden hat. Dabei werden<br />

offen die Varianten einer Vorbereitung und Unterbringung in einer<br />

Gastfamilie genauso in den Blick genommen wie der Wechsel in eine<br />

betreute Wohngemeinschaft, in der allerdings das Personal nicht wie<br />

üblich einmal in der Woche im Schlüssel 1:12 vorbeischaut, sondern<br />

in der dieselben individuell zugeschnittenen komplexen Leistungen<br />

erbracht werden, wie jetzt zuhause bei den Eltern.<br />

rEFErAtE<br />

FAZIT<br />

Das rheinland­pfälzische Persönliche Budget zeigt trotz seiner<br />

strukturellen Schwächen (= keine Bedarfsorientierung, keine Zielformulierung,<br />

kein Verwendungsnachweis, pauschalierte Beträge)<br />

erstaunliche Ergebnisse in der Sicherung der Teilhabe behinderter<br />

Menschen. Die Geldleistung befördert offensichtlich auch unter diesen<br />

Bedingungen günstige Lösungsentwicklungen, die im herkömmlichen<br />

Sachleistungsprinzip eher schwierig oder unmöglich sind.<br />

Die Leistungserbringer, die sich an diesen Lösungen beteiligen, verändern<br />

ihren Einrichtungsbegriff, ohne allerdings die Einrichtung<br />

selbst aufzulösen. Sie bieten eben zusätzlich zum „Kerngeschäft“<br />

ambulantaufsuchende Leistungen an, für die eine eigenständige<br />

Kalkulation und Personalbewirtschaft sowie häufig eine andere Leistungsbeschreibung<br />

erforderlich ist. Weitaus stärker als bisher sind<br />

Leistungen zur Teilhabe im Blick (Stichwort: Lebensqualität und –zufriedenheit).<br />

Nicht so sehr gefragt sind die eher „mitarbeiterorientierten“ Leistungen<br />

des Therapierens, Betreuens, Pflegens, Beratens, Begleitens usw.,<br />

die von den allermeisten Budgetnehmern als Mittel zum Zweck verstanden<br />

werden und für die man sich aufgrund des Wunsch­ und<br />

Wahlrechts entscheiden kann oder auch nicht. Die Entscheidung<br />

trifft der, der das Geld hat. Wer hier als Leistungserbringer weiter<br />

„strukturkonservativ“ denkt und handelt, der erreicht die Budgetinhaber<br />

nicht.<br />

Aufgrund dieser Praxiserfahrungen darf man nun sehr gespannt die<br />

Ergebnisse der Modellerprobungen (Typen 2, 3 und 4) auf der Bundesebene<br />

erwarten und es bleibt zu wünschen, dass die verbesserten –<br />

gesetzlich im SGB IX und der Budgetverordnung sowie im SGB XI<br />

verankerten – Strukturbedingungen spätestens dann ab 2008 zu einer<br />

bundesweiten Alltagsumsetzung Persönlicher Budgets führen werden.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 46


Resümee<br />

Herr Schützhoff begann das Resümee mit einer Frage<br />

ins Publikum zu Herrn Speicher.<br />

Ein ungewöhnlicher, aber sehr passender Einstieg.<br />

Bitte lesen Sie selbst ...<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 47


Viele Fragen und neue Antworten – zusammenfassung und abschließende Gedanken zur heutigen tagung<br />

martin schützhoff: Ich habe zunächst eine Frage an Herrn Speicher,<br />

die mich angesichts seiner Ausführungen ganz persönlich als Resümee<br />

interessiert. Warum sind Sie eigentlich in die Geschäftsführung der<br />

<strong>Lebenshilfe</strong> Worms gewechselt? Die Zeiten sind für Unternehmen der<br />

Behindertenhilfe angesichts der von Ihnen aufgezeigten Perspektiven<br />

ja nicht einfach.<br />

Joachim speicher: Ich habe ja mit allem gerechnet, nur nicht damit,<br />

dass Sie mich so etwas fragen. Aber eigentlich ist es eine ganz einfache<br />

Sache. Eine Variante hat uns Frau Sellin aus Bethel heute gezeigt.<br />

Es muss einen interessieren, wie ich meine Firma am Leben erhalte.<br />

Das meine ich nicht nur wirtschaftlich, sondern besonders auch Aspekte,<br />

wie kann ich das, wovon ich überzeugt bin – und damit meine ich die<br />

Qualität unserer Erfahrung – für Weiterentwicklungen nutzen.<br />

Ich habe gesehen und gelernt, dass wir mit dem persönlichen Budget<br />

auch kein schlechtes Geld zur Umsetzung unseres Auftrags verdienen.<br />

Das ist ein wichtiger Punkt. Es gab mal eine Aussage eines<br />

Kollegen von mir, der etwas bösartig aus der klassischen Trägerperspektive<br />

formuliert hatte, dass er das Geld, das die Leute im Persönlichen<br />

Budget jetzt selbst haben, wiederhaben möchte. Es ist die<br />

Frage, wie man das macht, aber es ist ein neues Geschäftsfeld und<br />

es muss einen Geschäftsführer interessieren.<br />

martin schützhoff: Für mich hat sich der Kreis heute geschlossen.<br />

Frau Schmidt hat gesagt, wer trotzdem in ein Heim ziehen wolle,<br />

solle es doch bitte auch weiterhin tun. Sozusagen das Heim als etwas,<br />

wozu es viele Alternativen gibt. Und ich finde, Sie haben heute<br />

die Alternativen auf der anderen Seite des Spektrums sehr plakativ in<br />

ihrer Wirkung aufgezeigt.<br />

Bezogen auf <strong>Berlin</strong> muss man jedoch wissen, dass es andere Strukturen<br />

als in Hamburg oder Bayern gibt. Im Land <strong>Berlin</strong> leben bereits<br />

50% der Menschen mit Behinderung, die Leistungen im Rahmen<br />

unterstützten Wohnens erhalten, in ambulanten Strukturen. Der Anteil<br />

innerhalb der Angebote der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong> beträgt hier sogar<br />

zwei Drittel. Wir haben in <strong>Berlin</strong> eine durchschnittliche Stundenzahl<br />

im ambulant unterstützen Einzelwohnen von neun Stunden und<br />

in den ambulant betreuten Wohngemeinschaften ergeben sich im<br />

Martin Schützhoff (am Mikro) ist verantwortlich für Produkt­ und Konzeptentwicklung<br />

und Ute Schünemann (rechts daneben) ist Regionalleiterin West bei der <strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong><br />

rESüMEE<br />

Viele Fragen und neue Antworten – Zusammenfassung<br />

und abschließende Gedanken zur heutigen Tagung von Martin Schützhoff und Ute Schünemann<br />

Durchschnitt anteilig ca. 12 Stunden pro Woche und Assistenznehmer.<br />

Alle diese Möglichkeiten haben wir hier bereits. Insofern ist der<br />

Handlungsdruck, den es manchmal auch ein wenig für weitere Entwicklung<br />

braucht, bei uns in <strong>Berlin</strong> programmatisch vielleicht nicht<br />

ganz so hoch, wie woanders, wo er sehr viel offensiver formuliert<br />

wird.<br />

Trotzdem tun wir gut daran auch unsere stationären Angebote weiter<br />

zu entwickeln, wir werden sie auf absehbare Zeit, in geeigneter,<br />

individualisierter Form, – wie auch immer sie dann heißen mögen, – mit<br />

ihrer umfänglichen Verlässlichkeit auch teilweise weiter brauchen.<br />

Das hat heute auch Frau Baikers Beitrag gezeigt. Wir sollten die stationären<br />

Angebote umsichtig modernisieren und uns die Frage stellen,<br />

wen wir daran wie beteiligen.<br />

Damit möchte ich zu Frau Schünemann überleiten, die mir gesagt hat,<br />

sie habe sich gerade kurzfristig vorgenommen zu versuchen, die Perspektive<br />

von Assistenznehmern einzunehmen und soweit möglich aus<br />

dieser Perspektive heraus zu berichten.<br />

ute schünemann: In die Erfahrungswelt eines anderen zu schlüpfen,<br />

ist immer wieder ein Wagnis. Im heutigen Tagungsverlauf stellte<br />

ich mir zuweilen vor, ein Mensch mit Behinderung, der alle Zeiten<br />

durchlebt hätte, hätte uns zugehört. Ein Mensch mit dem Wissen<br />

um die historischen und aktuellen Lebensumstände von Menschen<br />

mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft, ein Mensch, der<br />

aufmerksam zugehört hat.<br />

Wäre dieser Mensch heute dabei gewesen, der in früheren Zeiten<br />

als Dorftrottel herhalten musste, von der Medizin als Idiot, als nicht<br />

lernfähig abgestempelt wurde, der in Anstalten als Insasse, Pflegling,<br />

Zögling behandelt, verwaltet und verwahrt sowie häufig medikamentös<br />

ruhig gestellt wurde. Ein Mensch, der Zeiten erlebt hat,<br />

die nahezu unvorstellbar sind, der als unwertes Leben deklariert vergast<br />

oder medizinischen Versuchen zugeführt wurde. Ein Mensch,<br />

der nach diesem Wahnsinn über den Normalisierungsgedanken,<br />

die Integrationsbestrebungen einen Teil seiner gesellschaftlichen<br />

Rehabilitation erfuhr, der heute als gleichberechtigter Bürger in der<br />

Gesellschaft verstanden sein will. Wäre dieser Mensch heute dabei<br />

gewesen, hätte er sich wahrscheinlich gewundert, von uns modern<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 48


Viele Fragen und neue Antworten – zusammenfassung und abschließende Gedanken zur heutigen tagung<br />

beseelten Vorkämpfern in Richtung Verselbstständigung, Beteiligung,<br />

Empowerment , Inklusion immer noch als ‚Bewohner’ tituliert<br />

zu werden; gar ‚mein’ oder ‚unser Bewohner’.<br />

Ich möchte kein Bewohner sein, und ich möchte auch nicht Euer<br />

Bewohner sein.<br />

Ich bin froh, dass sich z.B. mit dem Persönlichen Budget neue Wege<br />

eröffnen, die mich dabei unterstützen, mich selbst zu vertreten. Ich<br />

will nicht mehr von einzelnen Institutionen, Organisationen abhängig<br />

sein. Ich will nicht mehr zu einer vorgesetzten Zeit essen, was<br />

aufgewärmt aus der Großküche auf den Tisch kommt. Ich will nicht<br />

mehr mit acht oder neun Leuten wohnen, die ich zum Teil nicht leiden<br />

kann. Ich will nachts schlafen und nicht dauernd daran gehindert<br />

werden, weil mein Nachbar schreit! Ich will nicht mehr, dass jemand<br />

in mein Zimmer kommt und mir Sachen wegnimmt! Ich will mir<br />

meine Assistenten selbst aussuchen! Ich will meine Wohnsituation ,<br />

mein Leben, selbst bestimmen!<br />

Das wollt Ihr auch?<br />

Wenn es aber darum geht „Wer bezahlt das? Wer macht das? Wie<br />

soll’s gehen?“ bin ich auf einmal von Einzelinteressen, sogar von Euren<br />

Eigeninteressen umgeben. Und ich stehe nicht mehr mittendrin sondern<br />

außen vor! Ich bin unter anderem auch ein gesellschaftlicher<br />

Kostenfaktor. Das wissen wir alle. Für jede Gesellschaftsform – quer<br />

durch alle Zeiten – bin ich Indikator des herrschenden Menschenbilds.<br />

Am Umgang mit mir ist zu ermessen, wie viel ich gesellschaftlich<br />

wert bin, wie Ressourcen verteilt werden. Ich bin jedoch heute<br />

auf dem Weg, zugleich Auftraggeber für die von mir gewünschten<br />

Dienstleistungen zu werden, ein Kunde, der sich Leistungen einkauft,<br />

diese bewertet, beibehält oder kündigt.<br />

Wenn sich in historischen Phasen sinnvolle Chancen am Horizont eröffnen,<br />

ein Quantensprung möglich wird, ein Paradigmenwechsel,<br />

dann scheint ein solcher gerade in der Behindertenhilfe (was für ein<br />

Wortungetüm) statt zu finden. Wir alle hier erleben einen Quantensprung<br />

in Richtung Selbstbestimmung der Menschen mit einer geistigen<br />

Behinderung. Überall kracht’s im Gebälk. Strukturen lösen sich<br />

auf. Berufsrollen ändern sich. Manches bleibt beharrlich konterkarierend,<br />

anderes ist in Bewegung. Der Prozess stolpert und rollt gleichzeitig.<br />

Das Gefühl von Krise und Verunsicherung bei den Beteiligten<br />

blockiert und gibt so manchem zum Jammern Anlass. Wir brauchen<br />

jedoch nicht zu jammern. Lassen Sie uns den Blick nach vorn richten!<br />

Das Ziel ist es wert, auch wenn der Weg noch beschwerlich ist.<br />

Wir sind gefordert, mit dem Klienten in seinem Umfeld, mit seinem<br />

Umfeld die gesellschaftlichen Bedingungen zielorientiert mit zu bahnen.<br />

Dafür sind heute positive und ermutigende Beispiele referiert<br />

worden.<br />

Der Mensch mit geistiger Behinderung braucht in Zukunft, wenn wir<br />

wirklich erfolgreich sind, keine besondere Bezeichnung mehr: nicht<br />

Pflegling, nicht Schützling, nicht Bewohner, irgendwann auch nicht<br />

mehr Klient oder Klientin. Er/ sie trägt einen Namen, der – wie bei<br />

Ihnen oder mir – ausreicht: Er ist Herr oder Frau X.<br />

rESüMEE<br />

Das ist eine Aufgabe, die nicht nur Menschen mit einer geistigen<br />

Behinderung, Professionelle, Familien und Angehörige, rechtliche<br />

Betreuer, Träger etc. zu erledigen haben. Das muss politisch gewollt<br />

und unterstützt werden. Hier liegt gesellschaftliche Arbeit, Bewusstseinsarbeit,<br />

die wir wesentlich mit bewegen müssen.<br />

Ich wünsche mir bei allen Appellen und gesellschaftlichen Diskursen<br />

um die Selbstbestimmung der Menschen mit einer geistigen Behinderung,<br />

dass die Gesellschaft, die sich im Moment rapide verändert,<br />

auf humanem Kurs bleibt. Auch wenn ich weiß, dass ich immer auch<br />

Kostenfaktor bin, hoffe ich, dass, wenn vorhandene Ressourcen<br />

primär in andere Kanäle fließen, nicht wieder ein neues Paradigma<br />

mit wehenden Fahnen auf dem Markt der Möglichkeiten im Wind<br />

knattert und die Fremdbestimmung im neuen Gewand preist.; mir<br />

plötzlich erklärt wird, dass dies für mich deutlich angenehmer wäre:<br />

„Da musst Du Dich nicht mehr so mühen! Du sollst Dich nicht mehr<br />

so mühen!“<br />

Herr X und ich freuen uns, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung<br />

heute zugemutet wird, ihr eigenes Leben zu führen. Wir alle<br />

sollten sie dabei angemessen unterstützen!<br />

Große Gefühle für große Veränderungen – das Persönliche Budget<br />

als Opernarie vorgetragen.<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 49


Impulse 2008 Impressum<br />

Veranstalter und Herausgeber:<br />

<strong>Lebenshilfe</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Heinrich-Heine-Straße 15 (Annenhöfe)<br />

10179 <strong>Berlin</strong><br />

www.lebenshilfe-berlin.de<br />

Verantwortlich:<br />

Christiane Müller-Zurek,<br />

Öffentlichkeitsarbeit und Marketing<br />

christiane.mueller-zurek@lebenshilfe-berlin.de<br />

Konzept:<br />

Susanne Birk, www.kommunikationsbuero.net<br />

Design, Grafik:<br />

Tom Senft, onfire Design<br />

Fotos:<br />

Florian von Ploetz, www.florianvonploetz.de<br />

Stand: Juli 2008<br />

impressum<br />

<strong>impulse08Tagungsbericht</strong> _ 50

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