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Augenblick_22_v3

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Das unsichtbare Band<br />

Blindenskilauf<br />

Ist es möglich, blind Ski zu fahren? Viele Menschen reagieren<br />

auf diese Frage erstmal skeptisch, fragend und unsicher. Selbst<br />

jene erfahrenen Skilehrer, die sich zum Lehrgang „Guiding im<br />

Blindenskilauf“ anmelden, um das Begleiten von Menschen<br />

mit Sehbehinderung und Blindheit zu erlernen, glauben im ersten<br />

Moment nicht, dass das funktionieren kann.<br />

Auf einer Piste lauern schließlich viele<br />

Hindernisse, sowohl Schneeverhältnisse<br />

als auch Hangneigung ändern sich<br />

stetig, andere Skifahrer kreuzen die<br />

eigene Spur, kein Liftausstieg gleicht<br />

dem anderen und es erscheint unmöglich,<br />

das eigene Gleichgewicht zu halten<br />

ohne etwas zu sehen.<br />

Technik und Methode<br />

Der blinde Skifahrer sieht die Skipiste<br />

nicht, keinen Buckel, keine Abzweigung,<br />

keine anderen Skifahrer. Die<br />

Funktion des Sehens wird beim Skilaufen<br />

von einem speziell ausgebildeten<br />

Guide übernommen. Der Guide<br />

schätzt vorausschauend das Gelände<br />

ein, passt die Kurven der Situation<br />

an, hat im Blick, ob andere Skifahrer<br />

den eigenen Weg kreuzen, und<br />

gibt die Fahrlinie vor. Die Kommunikation<br />

zwischen Guide und blindem<br />

Skifahrer wird durch ein Mikrofon ermöglicht,<br />

das auf dem Helm des Guides<br />

montiert und mit einem Lautsprecher<br />

verbunden ist, der mittig auf dem<br />

unteren Bereich seines Rückens sitzt.<br />

Die Fahrlinie macht er für den blinden<br />

Skifahrer beispielsweise durch folgende<br />

Kommandos sichtbar: „Geht, geht,<br />

geht und hopp, geht, geht, geht und<br />

hopp, geht, geht, geht und hopp und<br />

halt.“ Der blinde Fahrer folgt den Instruktionen:<br />

„geht, geht, geht“ bedeutet,<br />

dem Schall aus dem Lautsprecher<br />

und somit genau der Fahrlinie des Guides<br />

zu folgen, „und hopp“ heißt, eine<br />

Kurve zu fahren, „und halt“ bedeutet<br />

anzuhalten.<br />

Beide Fahrer tragen Kennzeichnungsleibchen<br />

in Neongelb mit den Aufdrucken<br />

GUIDE und BLIND. Zusätzlich fahren<br />

sie möglichst nah hintereinander,<br />

der Abstand zwischen den beiden sollte<br />

nur etwa eine Skilänge betragen. Dadurch<br />

wird ihre Zusammengehörigkeit<br />

symbolisiert und nach außen kommuniziert.<br />

So werden sie von den anderen<br />

Skifahrern auf der Piste als zusammengehörig<br />

wahrgenommen und mit respektvollem<br />

Abstand umfahren.<br />

Das unsichtbare Band<br />

Neben funktionierender Technik und<br />

deutlicher Kennzeichnung ist vor allem<br />

das unsichtbare Band zwischen den<br />

beiden Skifahrern immens wichtig.<br />

Das ist eine Verbindung, die sich nicht<br />

mit einem Wort erklären lässt und auch<br />

nicht auf materieller Ebene stattfindet.<br />

Vielmehr verbindet das unsichtbare<br />

Band die beiden Fahrer auf verschiedenen<br />

Ebenen und fügt sie zu einem<br />

Ganzen zusammen. Der Guide ist kein<br />

Guide ohne seinen blinden Skifahrer,<br />

der blinde Skifahrer ist kein Skifahrer<br />

ohne seinen Guide. Diese Verbundenheit<br />

zeigt sich durch gegenseitiges<br />

Vertrauen. Der blinde Skifahrer vertraut<br />

darauf, dass sein Guide die optimale<br />

Spur wählt, die sicher ans Ziel<br />

führt. Der Guide verlässt sich darauf,<br />

dass der Partner auf die Kommandos<br />

aus dem Lautsprecher reagiert.<br />

Fachliche Auseinandersetzung bei der<br />

Arbeit am guten Zusammenspiel, genaue<br />

Absprachen, gegenseitiges Einfühlungsvermögen<br />

und Sensibilität<br />

für die Bedürfnisse des Partners, wertschätzende<br />

Kommunikation, Konzentration<br />

bis zum letzten Schwung und<br />

Sympathie für den anderen formen<br />

das unsichtbare Band und halten das<br />

Team zusammen. Dabei ist es egal, ob<br />

der blinde Skifahrer ein Anfänger ist,<br />

ein fortgeschrittener Skifahrer oder ein<br />

Rennläufer.<br />

Die Anforderungen an den Guide sind<br />

hoch. So muss er über ein sehr gutes<br />

skifahrerisches Können verfügen, damit<br />

er sich nicht mehr auf seine eigenen<br />

Schwünge konzentrieren muss, sondern<br />

Kapazitäten und Aufmerksamkeit<br />

frei hat für die Antizipation der Situation,<br />

das Anpassen der Fahrlinie, die ununterbrochenen<br />

Kommandos und den<br />

immer wiederkehrenden Blick auf den<br />

blinden Fahrer. Es spielt dabei keine<br />

Rolle, mit welchen Ambitionen das Skifahren<br />

stattfindet, ob es um einen Skiurlaub<br />

oder um Renntraining geht, um<br />

Anfängerunterricht oder Techniktraining.<br />

Das unsichtbare Band steht dabei<br />

für eine Verbindung zwischen Menschen,<br />

die für andere nicht sichtbar ist.<br />

Ann-Kristin Ehling<br />

Abb.: Luc Viatour/www.Lucnix.be<br />

Alles eine Frage der<br />

Anpassung?<br />

Sehfehler und Körperhaltung:<br />

Zusammenhänge und therapeutische<br />

Möglichkeiten der Posturologie<br />

Unsere Körperhaltung wird durch verschiedene äußere und innere<br />

Faktoren beeinflusst. Die Posturologie (engl./frz. „posture“:<br />

Haltung und griech. „logos“: Lehre) untersucht diese Einflussfaktoren<br />

und bietet verschiedene Möglichkeiten, um therapeutisch<br />

auf das Haltungssystem einzuwirken.<br />

Dr. Bernhard Bricot hat mit seinen<br />

Unter suchungen über das tonische<br />

Haltungssystem den Grundstein für die<br />

heutige Vorgehensweise in der Posturologie<br />

gelegt. Er betrachtet die Haltung<br />

als kybernetisches System. Ein<br />

Ungleichgewicht beziehungsweise eine<br />

Asymmetrie in diesem gilt als Ursache<br />

für Schmerzen beziehungsweise Erkrankungen<br />

des Bewegungsapparates.<br />

Gleichgewicht und Haltung<br />

Das tonische Haltungssystem setzt<br />

sich aus einem Stützapparat (Knochen,<br />

Zähne), dem Bewegungsapparat (Muskeln,<br />

Bänder) und einem Steuerzentrum<br />

(Rückenmark, Gehirn) zusammen.<br />

Aus der Faszienforschung wissen wir<br />

heute, dass das Skelettsystem zusammen<br />

mit dem Bewegungsapparat wie<br />

ein „Tensegrity-Modell“ aufgebaut ist.<br />

Muskeln und Faszien bilden elastische<br />

Bahnen, welche alle Knochen miteinander<br />

verbinden. Somit erhält der Körper<br />

Stabilität und Elastizität in gleichem<br />

Maße. Als Bewohner der Erde sind wir<br />

jedoch noch einer weiteren Kraft ausgesetzt<br />

– der Schwerkraft.<br />

Um aufrecht stehen zu können, muss<br />

unser Körper aktiv gegen die Schwerkraft<br />

arbeiten. Der Bewegungsapparat<br />

muss also eine gewisse Grundspannung<br />

für die Aufrichtung aufbauen. Die<br />

Signale für diesen Spannungstonus erhalten<br />

die Muskeln über das Nervensystem<br />

aus komplex miteinander verschalteten<br />

Gehirnarealen. In diesen<br />

werden Informationen verschiedener<br />

Sinnesorgane gesammelt, ausgewertet<br />

und in Form neuer Reize an die Muskeln<br />

zurückgegeben. Zu den wichtigsten Rezeptoren<br />

im posturologischen Kontext,<br />

die den Input an das neuromuskuläre<br />

System senden, zählen: die Haut, der<br />

Kauapparat, das visuelle System und<br />

die Füße.<br />

Leonardo da Vincis vitruvianischer<br />

Mensch: Idealbild der Proportionen<br />

Visuelle Wahrnehmung<br />

Das Auge fängt Informationen (Lichtreize)<br />

aus der Umwelt ein und sendet<br />

diese als elektrische Impulse an das<br />

Gehirn. Um diese Aufgabe erfüllen zu<br />

können, ist das Auge mit einer Reihe<br />

verschiedener Funktionen ausgestattet.<br />

Das lichtbrechende System besteht<br />

aus Hornhaut und Augenlinse. Diese<br />

bündeln das Licht und sind für eine<br />

scharfe Abbildung auf die Netzhaut verantwortlich.<br />

Die Augenlinse kann durch<br />

Änderung ihrer Krümmung Objekte in<br />

der Ferne und in der Nähe scharf abbilden.<br />

Dieser Vorgang wird als Akkommodation<br />

bezeichnet und verkörpert<br />

den „Autofokus“ des Systems. Wenn<br />

die Länge des Auges und das lichtbrechende<br />

System nicht perfekt aufeinander<br />

abgestimmt sind, kommt es zu<br />

Abbildungsfehlern, wie Myopie (Kurzsichtigkeit),<br />

Hyperopie (Weitsichtigkeit)<br />

oder Astigmatismus (Hornhautverkrümmung).<br />

Auf der Netzhaut treffen<br />

die Lichtreize auf zwei verschiedene<br />

Rezeptorzellen – Stäbchen und Zapfen.<br />

Diese haben ganz unterschiedliche Aufgaben<br />

in der Informationsweitergabe<br />

zu erfüllen und bilden daher ein magnozelluläres<br />

bzw. parvozelluläres System.<br />

Das magnozelluläre System leitet<br />

überwiegend Informationen für die zeitliche<br />

und räumliche Orientierung weiter.<br />

Es bildet sozusagen eine „Wo- und<br />

Wann-Bahn“ zum Gehirn. Die „Was-<br />

Bahn“, und damit für die Identifizierung<br />

zuständige Informationsbahn, bildet<br />

das parvozelluläre System. Es ist für<br />

die Wiedererkennung bedeutungsvoller<br />

Formen zuständig, dazu zählen beispielsweise<br />

Gesichter oder Schrift. Im<br />

Gehirn gelangen diese ankommenden<br />

Signale in ganz unterschiedliche Areale,<br />

um dort verarbeitet beziehungsweise<br />

weitergeleitet zu werden. So gelangt<br />

ein Teil in das Zentrum für motorische<br />

Blicksteuerung. Hier landen allerdings<br />

auch Informationen aus dem Labyrinthsystem<br />

des Innenohrs, welches für die<br />

Wahrnehmung der körpereigenen Beschleunigung<br />

zuständig ist. Damit eine<br />

gewisse Bildstabilität erreicht wird,<br />

müssen die Augenmuskeln beispielsweise<br />

bei der Seitneigung des Kopfes<br />

eine ausgleichende Gegenbewegung<br />

durchführen.<br />

Die Bedeutung der visuellen<br />

Wahrnehmung für die Körperhaltung<br />

Die Augenmuskeln sind jedoch noch für<br />

eine Reihe weiterer Aufgaben verantwortlich.<br />

Dazu gehören unter anderem<br />

die Objektverfolgung, das sprunghafte<br />

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