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Augenblick_22_v3

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Fukuda, Shigeo (1987): „Lunch With a Helmet On“.<br />

Auf den zweiten Blick<br />

Künstler alter und neuer Provenienz haben es gerne gemacht:<br />

Bilder erzeugen, in denen andere Bildchen – manchmal erotisch<br />

pikant, manchmal nur zum Staunen – zu finden waren.<br />

Und wer kennt nicht den kleinen Wettbewerb, wenn wir dieses<br />

Suchspiel in der Gruppe spielen?<br />

Wir kennen außerdem die sogenannten<br />

Vexierbilder, bei deren Betrachtung es<br />

vor allem darauf ankommt, den inneren<br />

Blickwinkel zu wechseln, damit sich<br />

ein anderes Bild erschließt. Schließlich<br />

kennen wir auch den Spruch „in den<br />

Schuhen eines Anderen gehen“, also<br />

einen Perspektivwechsel auszuführen.<br />

Diese Beispiele eint ein Vorgehen, das<br />

der Betrachter einer Szene vornehmen<br />

muss, um ein anderes Szenario zu erkennen:<br />

den Wechsel des bisher offenkundigen<br />

Bezugsrahmens. Das Ganze<br />

ist also oft „einen zweiten Blick wert“.<br />

Damit erschließt sich dann sofort eine<br />

neue Wahrnehmungsmöglichkeit des<br />

betreffenden Szenarios. Neue Einsichten<br />

sind möglich, andere Aspekte oder<br />

Wahrheiten sind für den Einzelnen erschließbar.<br />

Dieser zweite Blick ist oft<br />

gepaart mit einem vorangehenden<br />

kurzen Innehalten, um die innere Aufmerksamkeit<br />

auf andere Aspekte in der<br />

Szene zu lenken.<br />

Die Aufmerksamkeit ist ein Teil der<br />

Wahrnehmung; in der Psychologie und<br />

auch der Soziologie wurde dazu ausgiebig<br />

geforscht. Wir wissen daher: Wir<br />

nehmen mit all unseren Sinnen wahr<br />

und nehmen das für wahr, was wir aufgenommen<br />

haben. Unser Gehirn muss<br />

ständig Außeneindrücke bewerten<br />

und in Sekundenbruchteilen entscheiden,<br />

ob etwas gefährlich sein kann oder<br />

nicht. Deshalb verwendet es als Deutungstendenzen<br />

die sogenannten Gestaltgesetze,<br />

nach welchen Eindrucksfragmente<br />

für eine Deutung einer<br />

Szene gruppiert werden. Nicht zuletzt<br />

sagt uns das Gesetz der Erfahrung, ob<br />

wir ein Reizmuster bereits kennen und<br />

was wir darüber aus unserer Vergangenheit<br />

wissen.<br />

Dieses Aufnehmen ist – neben den Ressourcen,<br />

die uns aus der Sinneswahrnehmung<br />

zufließen – stark beeinflusst<br />

von sozialen Regelsystemen und kognitiven<br />

Prozessen. Diese Wissens- und<br />

Denkprozesse sind nicht nur individuell<br />

vorhanden, sondern auch sozial verwoben.<br />

Ein wichtiges Element dafür ist<br />

die Ausbildung, wir sprechen hier von<br />

der sogenannten Sozialisation. Was<br />

wir also im Leben gelernt haben, ist ein<br />

wichtiger Bestandteil unserer Überzeugungen.<br />

Weitere wichtige Elemente<br />

sind unsere Erfahrungen, Erlebnisse<br />

und Schicksale. Aus all diesem entwickelt<br />

sich die Wahrnehmung der Welt<br />

und liefert uns Hinweise für die Deutung,<br />

den Aufbau und das Verständnis<br />

unserer Welt.<br />

Vorgehensweisen in der Systemtheorie:<br />

Bottom-up und Top-down<br />

Wir leben heute in einer Welt, in der<br />

sehr viele Überzeugungen und Wissensgebäude/konstrukte<br />

nebeneinander<br />

existieren. Einerseits gibt es die<br />

Spezialisten, die sich dem Erforschen<br />

einzelner Funktionen und Teilsysteme<br />

verschrieben haben und eine wertvolle<br />

Informationsquelle darstellen. Sie<br />

versuchen, Systeme von unten her zu<br />

verstehen: Anhand der Kenntnis von<br />

(einzelnen) Systemfunktionen und -bestandteilen<br />

schließen sie auf das System<br />

als Ganzes. In der Systemtheorie<br />

nennt man dieses Vorgehen Bottom-up.<br />

Daneben gibt es Generalisten, die ein<br />

System als Ganzes in den Mittelpunkt<br />

ihrer Überlegungen und Forschungen<br />

stellen. Sie sind an den Wechselwirkungen<br />

zwischen einzelnen Funktionen<br />

und Teilsystemen interessiert. Sie versuchen,<br />

Systeme von oben her zu verstehen:<br />

Das System als Ganzes wird als<br />

Wechselwirkung und Wirkungsbeziehung<br />

zwischen einzelnen Systembausteinen<br />

verstanden. In der Systemtheorie<br />

nennt man diese Vorgehensweise<br />

Top-down.<br />

Das Top-down- und Bottom-up-Vorgehen<br />

beschreibt also zwei entgegenge-<br />

www.spoon-tamago.com<br />

Abbildung:wikimedia.org<br />

setzte Wirkrichtungen in Verständnisprozessen:<br />

Top-down geht vom Übergeordneten<br />

zum Speziellen (Deduktion),<br />

Bottom-up geht den umgekehrten<br />

Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen<br />

(Induktion). In beiden Fällen geht es<br />

darum, ein möglichst zutreffendes Bild<br />

oder Abbild von Systemen zu schaffen,<br />

um anhand dessen ein System besser<br />

zu verstehen, Vorhersagen über Funktion<br />

oder Fehlfunktion und gegebenenfalls<br />

Reparaturen ableiten zu können.<br />

Beide Herangehensweisen haben ihre<br />

gleichwertige Berechtigung und können<br />

sich in ihrem Erkenntnisgewinn<br />

gegenseitig stützen. Schwierig wird es,<br />

wenn Vertreter einer der beiden Seiten<br />

ihre Herangehensweise über jene der<br />

anderen Seite stellen. Der Bottom-up-<br />

Ansatz erzeugt Sicherheit durch Einzeldatenerhebung<br />

und liefert zwar eine<br />

Fülle von Einzelinformationen, aber<br />

diese müssen mit Top-down-Ansätzen<br />

in ein Verständnis des Systemverhaltens<br />

eingebunden und gedeutet werden.<br />

Dabei ist ein eher assoziatives Vorgehen<br />

nötig, welches viele Deutungen<br />

zulässt, bis ein schlüssiges Systemmuster<br />

gefunden ist. Dies mag auf viele<br />

manchmal etwas chaotisch wirken<br />

Hollar, Wenzel (1607–1677): Landschafts-Kopf<br />

Wichtig ist, sich immer bewusst zu sein<br />

darüber, dass mit einer Zerlegung eines<br />

Systems in seine Einzelteile zwar das<br />

System materiell erhalten bleibt, aber<br />

seine Gesamtfunktionalität nicht mehr<br />

vorhanden ist. Aristoteles wird der Satz<br />

zugeschrieben: Das Ganze ist mehr als<br />

die Summe seiner Teile. Aber ein Verständnis<br />

der Gesamtfunktionalität<br />

ist oft nur möglich, wenn man die genaue<br />

Funktionsweise der beteiligten<br />

Bausteine kennt. Hier ist alles immer<br />

„einen zweiten Blick“ wert.<br />

Dies trifft beispielsweise auf unser Gesundheitswesen<br />

zu. Hier finden wir<br />

neben den schulmedizinischen Zugängen<br />

auch viele naturheilkundliche Anwendungen,<br />

wobei sich bei beiden Zugänge<br />

jeweils verschiedene „Denkschulen“<br />

entwickelt haben. Wenn wir<br />

die jeweiligen Befürworter fragen, hat<br />

jedes dieser Systeme seine Berechtigung.<br />

Gleichzeitig sind auch viele interessante<br />

Ansätze zu finden, bei denen<br />

wir allein durch das Kennenlernen ihrer<br />

Konzepte bereits das Erlebnis eines<br />

Wechsels des Bezugsrahmens haben<br />

können.<br />

Schulmedizinische und alternative<br />

Ansätze in Bezug auf das Sehen<br />

Was hat das mit unserem Sehen oder<br />

mit den Augen zu tun? Die Augen stellen<br />

unser wichtigstes Werkzeug für die<br />

Bewältigung unserer Umweltanforderungen<br />

dar. Fehlt dieses, müssen wir<br />

uns auf andere Wege „besinnen“, wie<br />

wir dies leisten können.<br />

Im Bereich des guten und gesunden<br />

Sehens ermöglicht uns die Vielfalt an<br />

neuen Denkansätzen deren Integration<br />

in neue Konzepte hinsichtlich des<br />

Umgangs mit dem Sehen. Dies dient<br />

uns zur Einsicht in seelische Vorgänge,<br />

zum Umgang mit Sehstörungen,<br />

zur Anwendung alternativer Heilkunde<br />

auf Augenbeschwerden – und dies gemeinsam<br />

mit oder neben der Schulmedizin.<br />

Aber es gibt einen Unterschied:<br />

Die Schulmedizin versucht, Verständnis<br />

und Verfahren zu schaffen, welche<br />

möglichst allgemeingültig sind,<br />

sich also auf jeden Menschen anwenden<br />

lassen. Alternative Ansätze stellen<br />

oft das Individuum in den Mittelpunkt,<br />

ihre Verfahren lassen sich oft nicht verallgemeinern.<br />

Aber vielleicht beruht ja<br />

die zunehmende Nutzung alternativer<br />

Behandlungsmöglichkeiten ganz einfach<br />

nur auf dem Mehr an persönlicher<br />

Zuwendung, die wegen ökonomischen<br />

Zwängen im Bereich der Schulmedizin<br />

zu gering geworden ist?<br />

Die Bedeutung der Schulmedizin ist<br />

allgegenwärtig. Ärzte sind von Amts<br />

wegen Begutachter von sehr vielen<br />

menschlichen Verhaltensweisen – bezogen<br />

auf seelische Prozesse, Ernährungsgewohnheiten,<br />

kognitives Vermögen,<br />

Berufszugänge, Belastbarkeiten<br />

usw.<br />

Alle Ergebnisse aus den sogenannten<br />

alternativen Behandlungsmöglichkeiten<br />

im Bereich Gesundheit müssen<br />

sich einerseits im heute geltenden System<br />

messen lassen an den Regeln der<br />

Schulmedizin. Dies bedeutet auf jeden<br />

Fall, dass die Anwender von alternativen<br />

Konzepten sich soweit in das geltende<br />

Wissen einarbeiten müssen, dass<br />

sie die Unterschiede schlüssig benennen<br />

können. Andererseits sind Begegnungen<br />

zwischen alternativen Gesundheitspraktikern<br />

und Medizinern heute<br />

immer häufiger möglich. Die Kommunikation<br />

auf Augenhöhe, die Vernetzung<br />

untereinander und die gegenseitige<br />

Anerkennung des Nutzens ist eine<br />

sehr positive Entwicklung. Denn wenn<br />

der Austausch gelingt, lernt jeder Beteiligte<br />

Neues dazu. Ein zweiter Blick<br />

lohnt sich also immer.<br />

Belen M. Mündemann<br />

Weitere Info:<br />

http://www.bnr-art.com/doolitt/foresteyes.htm<br />

http://www.sehtestbilder.de/<br />

https://www.youtube.com/watch?v=oWfFco7K<br />

9v8<br />

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