06.06.2019 Aufrufe

Augenblick_22_v3

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

BU?<br />

Erfassen eines neuen Zielobjekts sowie<br />

die Zentrierung beider Augen. Um ein<br />

Objekt, welches am Rande des Gesichtsfeldes<br />

liegt, besser identifizieren<br />

zu können, wird also zuerst ein Blicksprung<br />

in diese Richtung durchgeführt.<br />

Hat diese Bewegung noch nicht ausgereicht,<br />

wird der Kopf beziehungsweise<br />

der ganze Körper dorthin bewegt. Der<br />

visuelle Input steht also in enger Verbindung<br />

mit der Steuerung des Bewegungsapparats.<br />

Dies gilt nicht nur für<br />

aktive Bewegungen wie etwa beim<br />

Greifen oder Fangen (Auge-Hand-Koordination),<br />

sondern auch für das tonische<br />

Haltungssystem, welches für die<br />

Aufrichtung unter der Schwerkraft zuständig<br />

ist. Man könnte also sagen:<br />

„Die Augen führen, der Körper folgt!“<br />

Dr. Antonio Fimiani, ein italienischer Orthopäde,<br />

hat in einer Studie die genauen<br />

Zusammenhänge zwischen Fehlsichtigkeit<br />

und Körperhaltung untersucht.<br />

Das überraschende Ergebnis dabei war,<br />

dass schon minimale Sehstörungen<br />

eine Anpassung des neuromuskulären<br />

Systems bewirken. Darüber hinaus<br />

konnte er den verschiedenen Fehlsichtigkeiten<br />

charakteristische Haltungsveränderungen<br />

und betroffene Muskelketten<br />

zuordnen. Seinen Untersuchungen<br />

zufolge stellt der Astigmatismus<br />

das größte Problem für das neuromuskuläre<br />

Haltungssystem dar. Selbst minimale<br />

Werte (Werte von 0,25 dpt), die<br />

keine Minderung der Sehschärfe nach<br />

sich ziehen und daher aus Sicht der Augenheilkunde<br />

oder Augenoptik zu vernachlässigen<br />

sind, können posturologisch<br />

eine große Auswirkung haben.<br />

In der Abbildung 1.1 wird die Körperhaltung<br />

einer Patientin ohne Brille gezeigt.<br />

Die linke Schulter steht deutlich höher<br />

als die rechte. Die betroffene Muskelkette<br />

könnte sowohl die Laterallinie<br />

als auch die Spirallinie (myofasziale<br />

Leitbahnen nach T. Myers) sein. Eine<br />

Augenuntersuchung ergab einen Astigmatismus,<br />

der auf dem linken Auge<br />

stärker ist als rechts. In Abbildung 1.2<br />

ist die Fehlsichtigkeit durch eine Brille<br />

und das falsche posturale Gedächtnis<br />

der Füße mithilfe spezieller Einlegesohlen,<br />

die von Dr. Bricot entwickelt wurden<br />

(siehe „Therapeutische Möglichkeiten“),<br />

korrigiert. Zudem wurde mittels<br />

Unterlegung eines zwei Millimeter<br />

starken Korkkeils ein sensomotorischer<br />

Stimulus gesetzt. Das neuromuskuläre<br />

System reagierte sofort darauf. Der<br />

Körper findet nun besser ins Lot, die<br />

Schulterebene ist ausgeglichener und<br />

der Körper richtet sich besser auf.<br />

Die posturologische Untersuchung –<br />

auf der Suche nach der Ursache<br />

Im ersten Schritt wird die Körperhaltung<br />

des Patienten im Ganzen beurteilt.<br />

Anschließend werden die einzelnen<br />

aus posturologischer Sicht relevanten<br />

Rezeptoren getestet, um zu sehen,<br />

welche den größten Einfluss auf die<br />

Haltung haben. Um den Einfluss einer<br />

Brille zu überprüfen, werden Tests sowohl<br />

mit als auch ohne Brille durchgeführt.<br />

Die Funktionstüchtigkeit der Augenmuskeln<br />

wird durch einen Konvergenztest<br />

untersucht. Dabei wird ein<br />

Stift in Richtung Nasenwurzel des Patienten<br />

bewegt. Dieser bekommt die<br />

Anweisung, direkt auf die Stiftspitze<br />

zu schauen, und der Untersucher beobachtet,<br />

ob sich beide Augen gleichmäßig<br />

nach innen bewegen oder nicht.<br />

Tun sie dies nicht, bedeutet das, dass<br />

ein neuromuskuläres Ungleichgewicht<br />

vorliegt. Da die Augen bei sämtlichen<br />

Tätigkeiten in der Nähe physiologisch<br />

eine Einwärtsbewegung durchführen<br />

müssen, kann eine Schwäche in diesem<br />

Bereich neben Fehlhaltungen auch<br />

sogenannte asthenopische Beschwerden<br />

verursachen. Dazu zählen zum Beispiel<br />

Kopfschmerzen, eine schnelle Ermüdung<br />

beim Lesen oder auch Druck<br />

bzw. Schmerzen im Bereich der Augen.<br />

Im weiteren Ablauf wird untersucht, ob<br />

BU?<br />

Abb.: Dr. Antonio Fimiani<br />

Abb.: Dr. Antonio Fimiani<br />

Augenstellung vor und nach psoturologischer Behandlung<br />

sich Kauapparat oder Hautnarben als<br />

Störfelder negativ auf das posturale<br />

System auswirken. Den Füßen schenken<br />

Posturologen noch einmal besondere<br />

Aufmerksamkeit. Durch einen dynamischen<br />

Test der Sprunggelenke und<br />

das Betrachten der Fußabdrücke erhalten<br />

sie gezielte Hinweise, welche Muskelketten<br />

betroffen sind und wo genau<br />

ein sensomotorischer Stimulus gesetzt<br />

werden muss.<br />

Therapeutische Möglichkeiten<br />

der Posturologie<br />

Als wichtiger Faktor für das posturale<br />

System gilt die Haut. Auf diesen Umstand<br />

zielt das Herzstück der posturologischen<br />

Therapie ab. Dabei handelt<br />

es sich um spezielle Einlegesohlen<br />

nach Dr. Bernard Bricot, der davon<br />

ausgeht, dass die Haut der Fußsohlen<br />

die Haltungsmuster des Körpers – sowohl<br />

korrekte als auch falsche – wie<br />

ein Gedächtnis speichert. Dies erklärt<br />

beispielsweise, warum sich Blockaden,<br />

nachdem sie behandelt wurden, nach<br />

einiger Zeit wieder exakt an derselben<br />

Stelle zeigen. So werden durch den<br />

Kontakt der Füße zum Boden immer<br />

wieder die falschen Haltungsmuster<br />

aufgerufen und benutzt. Die Sohlen von<br />

Dr. Bernard Bricot geben eine Schwingung<br />

mit einer bestimmten Frequenz<br />

an einen zentralen Punkt der Fußsohle<br />

ab. Diese löscht sozusagen die falschen<br />

Muster und gibt dem Körper die<br />

Möglichkeit, ein neues korrektes Programm<br />

für die Haltung zu schreiben.<br />

Um einzelne Muskelketten zu stimulieren,<br />

werden zudem kleine Unterlegungen<br />

aus Kork unter den Sohlen angebracht.<br />

Diese Sohlen sollten mindestens<br />

zwei Jahre getragen werden, um<br />

sicherzustellen, dass der Körper die<br />

neuen Haltungsmuster zentral gespeichert<br />

hat. Die Tragedauer ist allerdings<br />

auch abhängig vom Alter des Patienten<br />

und der Anzahl der betroffenen Rezeptoren.<br />

Um die Funktion der Augenmuskeln<br />

und speziell die Konvergenzfunktion<br />

zu verbessern, kann ein kleiner Magnet<br />

im Bereich der Schläfe oder am äußeren<br />

Augenwinkel angebracht werden.<br />

Er wirkt ebenfalls über das neuromuskuläre<br />

System und erleichtert das Erlernen<br />

einer korrekten Konvergenz. Durch<br />

Augenübungen werden die Augenmuskeln<br />

zusätzlich aktiv trainiert.<br />

Haben sich Refraktionsstörungen,<br />

Hautnarben oder ein fehlerhafter Biss<br />

als Störfaktoren gezeigt, werden diese<br />

ebenfalls behandelt. Dabei ist ein fachübergreifendes<br />

Denken und die Zusammenarbeit<br />

mit Kollegen aus den Bereichen<br />

Zahnheilkunde, Augenheilkunde<br />

bzw. Augenoptik unabdingbar. In Abbildung<br />

2 kann man deutlich den Unterschied<br />

der Konvergenzfunktion vor und<br />

nach der posturologischen Behandlung<br />

sehen.<br />

Zusammenfassung, Ausblick<br />

und Dank<br />

Die posturologische Therapie ist eine<br />

globale Haltungsreprogrammierung. Je<br />

früher im Leben Fehlhaltungen erkannt<br />

und behandelt werden, desto besser.<br />

Gerade die Versorgung von Kindern<br />

und Jugendlichen vor der Pubertät ist<br />

ein spannendes Gebiet.<br />

Im Hinblick auf die Augen gibt eine im<br />

Mai 2016 vorgestellte Studie von Dr. Antonio<br />

Fimiani interessante Einsichten.<br />

Er beschäftigte sich mit dem Zusammenhang<br />

von Skoliose und Astigmatismus.<br />

Skoliose ist eine häufig vorkommende<br />

Verkrümmung der Wirbelsäule<br />

und wird in der Regel mit Sehproblemen<br />

nicht in Verbindung gebracht. Aufgrund<br />

der Erkenntnisse aus der Studie<br />

werden bei einer posturologischen<br />

Skoliosetherapie die Augen auf kleinste<br />

Refraktionsstörungen hin überprüft<br />

und gegebenenfalls korrigiert, denn<br />

das Gehirn passt die Körperhaltung<br />

den visuellen Fehlinformationen an.<br />

Daraus können als kompensatorische<br />

Veränderungen beispielsweise Verkippungen<br />

des Beckens, Verdrehungen<br />

der Wirbelsäule oder eine fehlerhafte<br />

Kieferstellung resultieren. Eine Brille<br />

wird in diesem Fall also nicht getragen,<br />

um besser zu sehen, sondern um gerader<br />

zu stehen. Inwieweit sich die Ergebnisse<br />

seiner Arbeit auf die gängige orthopädische<br />

Behandlung bei Skoliose<br />

auswirken, bleibt abzuwarten – wünschenswert<br />

wäre es!<br />

Bei Stellungsfehlern der Augen (Heterophorien)<br />

kann die Posturologie<br />

durchaus ein wirkungsvolles Mittel<br />

sein, da sie als neuromuskuläres Ungleichgewicht<br />

betrachtet werden und<br />

die posturologische Therapie genau<br />

hier ansetzt. Eine Verbesserung von<br />

Fehlsichtigkeiten (Myopie, Hyperopie<br />

oder Astigmatismus) ist im Rahmen<br />

der posturologischen Versorgung jedoch<br />

nicht zu erwarten.<br />

Für die Bereitstellung einiger Bilder und<br />

die Unterstützung möchte ich mich bei<br />

Dr. Antonio Fimiani herzlich bedanken.<br />

Weitere Informationen zur Posturologie<br />

erhalten Sie unter http://www.posturologie-forschungsgruppe.de/<br />

Stefanie Wöhrle<br />

Literaturangaben:<br />

Myers, Thomas W. (2004): Anatomy Trains.<br />

Myofasziale Meridiane. München: Urban &<br />

Fischer Verlag.<br />

Goldstein, E. Bruce (2002): Wahrnehmungspsychologie.<br />

Der Grundkurs. Berlin, Heidelberg:<br />

Springer Verlag (9. Auflage).<br />

Trepel, Martin (2015): Neuroanatomie. Struktur<br />

und Funktion. München: Urban & Fischer Verlag<br />

(6. Auflage).v<br />

Anzeige<br />

20 |<br />

| 21

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!