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Meinviertel Juli 2019

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Rubrik<br />

Die Therapeutin fing an, Fragen zu stellen, über die<br />

ich noch nie nachgedacht hatte. Ob ich nicht vorher<br />

Bescheid sagen könne, wenn zum Beispiel das Bad<br />

gewischt werden müsste. Dann könnte man die Arbeit<br />

aufteilen oder abgeben. Ich versuchte, mir das<br />

ernsthaft vorzustellen mit dem Bescheid sagen. Ich<br />

hätte wirklich gerne sagen wollen: „ja, ich versuchs“,<br />

aber es ging einfach nicht. Ich fing an zu heulen und<br />

sagte: „Nein! Genau das kann ich eben nicht!“ Die<br />

Therapeutin sah zu ihm. „Aber Sie könnten das doch,<br />

oder?“ Ja, klar konnte er das. Und plötzlich lag das<br />

Missverständnis dick und schwer mitten auf dem<br />

runden Tisch. Es passte alles zusammen und war so<br />

einfach. Ich konnte nicht fassen, dass wir es nicht<br />

selbst herausgefunden hatten.<br />

Er hatte es noch nicht erkannt und redete gerade<br />

davon, dass ich mein Chaos bräuchte und er mich<br />

darin nicht einschränken wolle. „Wie sehen sie denn<br />

das?“, fragte die Therapeutin. Ich sah ihn an: „Weißt<br />

du eigentlich, dass ich beim Mohrrüben schneiden<br />

nicht aufhören kann die Scheibchen zu zählen und<br />

dass ich beim Autofahren immer die Strommasten<br />

zählen muss?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf.<br />

Ich erklärte: „Na, ich bauche Ordnung und Struktur.<br />

Das hilft mir. Da fühle ich mich sicher. Es gibt<br />

keine Ordnung in mir drin. Deshalb fühle ich mich<br />

so verdammt wohl bei dir. Weil du soviel Ordnung<br />

in dir hast.“ Er sagte „Hmm“ und dann erklärte<br />

es sich fast von selbst, dass andersherum auch ein<br />

Schuh draus wurde. Er hatte in mir etwas gefunden,<br />

das seinem Pragmatismus entgegenwirkte. Er wollte<br />

freier werden in seiner Seele, die kreativer war als er<br />

es ihr erlaubt hatte bisher.<br />

Es wurde uns klar, warum wir uns gefunden hatten.<br />

Ich brauchte etwas von seiner Struktur und er von<br />

meiner Leichtlebigkeit. „Seit wir zusammen sind,<br />

kann ich Musik machen ohne ein schlechtes Gewissen<br />

zu haben, dass ich damit kein Geld verdiene“,<br />

sagte er. Und ich sagte, dass ich viel besser arbeiten<br />

kann, seit es ordentlicher ist um mich herum. Am<br />

Abend saßen wir zuhause in der Küche. Wir hatten<br />

alles Brauchbare aus dem Kühlschrank geholt und<br />

auf dem Tisch ausgebreitet. Als ich anfing den Kühlschrank<br />

wieder einzuräumen sagte er: „Hör mal auf,<br />

Ordnung zu machen. Ich bin noch nicht fertig damit,<br />

Unordnung zu machen!“<br />

■<br />

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