Meinviertel Juli 2019
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Mut, Glück und Aufbegehren<br />
Wilfried Bergholz 1988 an seinem Schreibtisch auf<br />
dem Dach der Schönhauser, luftig und mit freiem<br />
Blick über die Stadt / Foto: Norbert Bischoff<br />
Derselbe Ort 30 Jahre später und dieselbe<br />
Ausstattung: Stuhl, Tisch, Jacke, Schreibmaschine<br />
und Tasse / Foto: Dietmar Schenkendorf<br />
Menschen dann nach Prenzlauer Berg hinauf. Dabei<br />
kamen auch seltsame Fahrzeuge zum Einsatz, die ich<br />
vorher noch nie gesehen hatte. Mannschaftswagen<br />
vom Typ W50, an denen vorne so etwas wie Schiebeschilder<br />
montiert waren und die fuhren zu zweit nebeneinander<br />
die Straße hoch. An der Ecke Stargarder<br />
Straße fluteten die Menschen in Richtung Gethsemanekirche.<br />
Ich schloss das Fenster und stürzte die<br />
Treppe herunter. Die Polizei hatte mehrere Sperrketten<br />
gebildet. Die wurden, soweit ich das sehen<br />
konnte, überwiegend aus jungen Rekruten gebildet.<br />
Sie hatten sich untergehakt und mir schien, als hätten<br />
sie Angst. Das waren alles junge Burschen so um<br />
die 18 Jahre alt, zum Wehrdienst bei der Volkspolizei<br />
eingezogen. Ich stand vor meiner Haustür und<br />
konnte mich nicht bewegen, alles voller Menschen.<br />
Inzwischen war die Stargarder abgeriegelt und die<br />
Leute strömten weiter in Richtung S-Bahnhof. Ich<br />
sah, wie einzelne Passanten herausgegriffen und auf<br />
die Pritsche von LKWs gestoßen wurden. Seltsamerweise<br />
kann ich mich nicht erinnern, ob Parolen gerufen<br />
wurden. Ich fühlte mich wie in einem tosenden<br />
Meer, darin einige vereinzelte Schreie von Frauen.<br />
Ich versuchte zur Kirche durchzukommen. Dazu<br />
holte ich meinen Personalausweis raus, den musste<br />
man in der DDR immer dabei haben, und sagte den<br />
jungen Polizisten, dass ich hier wohne und jetzt zur<br />
Nachtschicht müsse. Sie ließen mich passieren. Auch<br />
die Stargarder war voller Menschen, eine weitere Absperrung<br />
war gleich hinter der Kreuzung, etwa da, wo<br />
früher der Bäcker war, heute ist da ein Schuhgeschäft.<br />
Auch diese Kette konnte ich passieren als „Schichtarbeiter“<br />
und sah, dass alle Seitenstraßen zur Kirche<br />
abgesperrt waren. Da hörte ich plötzlich den Chor:<br />
„Auf die Straße!“ Und ich sah, wie aus einem Fenster<br />
ein Eimer Wasser auf eine Polizeikette geschüttet<br />
wurde, daraufhin stürmten einige Polizisten in das<br />
betreffende Haus in der Stargarder Straße 3A. Aus<br />
einem Fenster im Parterre der Nr. 5 reichte eine Frau<br />
Demonstranten geschmierte Schmalzstullen heraus.<br />
Ich schob mich weiter vor und gelangte in die Kirche.<br />
Alles voller Menschen, dazwischen Fernsehteams,<br />
Verletzte wurden versorgt, es gab Tee und Stullen.<br />
Als ich wieder auf die Straße trat, sah ich Klaus Laabs,<br />
er wurde in dieser Nacht verhaftet.<br />
Eingekesselte Demonstranten am 7. Oktober 1989<br />
vor dem S-Bahnhof Schönhauser Allee / Foto: Merit<br />
Schambach<br />
Was in Leipzig die Nikolaikirche war, wurde in Berlin<br />
die Gethsemanekirche. Zwar hatte es schon vorher<br />
die Bluesmessen in der Erlöserkirche in Friedrichshain<br />
gegeben, die ich ein paar Mal besucht hatte,<br />
aber „meine“ Kirche war hier um die Ecke und<br />
mein/4<br />
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