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Meinviertel Juli 2019

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Norbert Bischoff gehörte 1989 zu den bekanntesten<br />

Liedermachern in Prenzlauer Berg, ein mutiger<br />

Sänger / Foto: Wilfried Bergholz<br />

In der Schönhauser Allee 50 HH gab es von<br />

September 1986 bis Juni 1988 die illegale Galerie<br />

von Jörg Deloch, auch ein Ort für Lesungen<br />

Repro: Wilfried Bergholz<br />

Im Grunde aber fieberten wir in der Kirche nur dem<br />

9. Oktober in Leipzig entgegen, wieder ein Montag,<br />

wieder eine Demonstration. Ich war nicht dabei und<br />

es wäre wohl auch unmöglich gewesen, die Stadt sicher<br />

zu erreichen. Diesen spannenden Abend erlebte<br />

ich in unserer Kirche. Es gab keine genauen Informationen,<br />

nur Schlaglichter wurden weitergegeben:<br />

70.000 Menschen, viel Polizei, auch Armee, Lazarette<br />

sollen eingerichtet worden sein, auch KZs. Unsere<br />

Kirche war wieder umstellt. Wie würde diese Nacht<br />

enden? Ich hielt es nicht mehr aus, schob mich durch<br />

die Absperrungen, hastig vier Treppen hoch und den<br />

Fernseher an. Was passiert in Leipzig? Was wird mit<br />

uns passieren? Nun, das Ende ist bekannt. Es gab<br />

kein Massaker. Als die Stimme von Kurt Masur (Kapellmeister<br />

des Gewandhauses) über alle Lautsprecher<br />

auf den Straßen zu hören war, wich der Druck<br />

von den Menschen: „Keine Gewalt“. Ein Appell an die<br />

Bürger, aber vor allen an die Polizei. Dieser berühmte<br />

„Aufruf der Sechs“ ist als Originalaufnahme noch im<br />

Internet erhalten. Am 27. Dezember 1989 wurde Kurt<br />

Masur Ehrenbürger seiner Stadt Leipzig.<br />

Am 10. Oktober 1989 konnte ich aufatmen. Wir<br />

hatten die Staatsmacht in die Defensive gedrängt,<br />

Zehntausende in Leipzig, Dresden, Plauen, Neuruppin,<br />

Rostock, Arnstadt, Gera, Frankfurt/Oder, Karl-<br />

Marx-Stadt (heute Chemnitz), Erfurt ... Sie hatten<br />

sich als Volk erhoben und sich gegen die gewandt, die<br />

über Jahre im Namen des Volkes sprechen wollten.<br />

„Die deutsche Geschichte ist nicht reich an Revolutionen“,<br />

wie es Wolfgang Kohlhasse beschrieb.<br />

Es begann für mich die schönste Zeit meines Lebens.<br />

Jetzt konnten endlich die Konzepte wieder hervorgeholt<br />

werden für den demokratischen Umbau unserer<br />

DDR, alles schien möglich ...<br />

Ich wünschte mir heute „Stolpersteine“ auch für die<br />

mutige Jugend der DDR, einen Ehrentag im Kalender<br />

und in den Schulen, vielleicht auch ein Denkmal<br />

in der Stargarder Straße Ecke Schönhauser. Damit<br />

niemand in Prenzlauer Berg diese Tage der Entscheidung<br />

vergisst.<br />

■<br />

Wilfried Bergholz<br />

(* 1953) wurde nach Abitur<br />

und Armeedienst mit 21 Jahren<br />

Redakteur im Jugendradio<br />

DT64.<br />

Nach seine Entlassung 1982<br />

war er freier Journalist in<br />

Ostberlin, u.a. für die Kulturzeitschrift<br />

„Sonntag“.<br />

Im Jahr 1987 veröffentlichte<br />

er sein erstes Buch „Umsturz<br />

im Kopf“ im Eigenverlag.<br />

Sein Hauptwerk ist die ausgezeichnete<br />

Autobiografie „Die letzte Fahrt mit dem<br />

Fahrrad „ 19 Gespräche mit Matteo über Mut, Glück<br />

und Aufbegehren in der DDR« (Verlag tredition, Hamburg<br />

2016). Der objektive und politisch fundierte<br />

Bericht eines Zeitzeugen wurde wiederholt als fakultative<br />

Literatur für die Sekundarstufe II empfohlen.<br />

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