Bücherstube Horn Magazin Sommer2019
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Foto: İnci Cabir<br />
Ihr Bestreben und ihr Verlangen ist es, die Welt besser,<br />
toleranter und humaner zu machen. Kämen derlei<br />
Anliegen aus dem Mund etlicher anderer Dichterinnen<br />
und Dichter, müsste man sie glatt als weltfremd und<br />
naiv bezeichnen. Aber Shafak lässt nicht nur Worte,<br />
sondern auch Taten sprechen. Und die konfrontiert ihre<br />
Leserschaft mit dem Schicksal von Unterdrückten und<br />
Rand existenzen, für die Begriffe wie Toleranz bestenfalls<br />
in den Bereich des Hohns gehören. In der türkischen<br />
Heimat brachte ihr das keineswegs nur Sympathie<br />
ein. Für einen konservativen Teil der Bevölkerung<br />
wurde Shafak zur Hassfigur. Ein Los, mit dem sie leben<br />
muss, zumal sie sich auch in türkischen Schriftstellerkreisen<br />
reichlich viele Feinde schuf. Denn ein Gutteil<br />
der Literaturszene ihres Landes sei ebenso patriarchalisch,<br />
sexistisch und homophob geprägt wie das Denken<br />
der Mächtigen.<br />
Elif Shafak ist eine geistige und kulturelle Kosmopolitin,<br />
im Osten gleichermaßen daheim wie im Westen, geboren<br />
in Straßburg, mit Wohnsitzen in Istanbul und in London.<br />
Eine Pendlerin zwischen Welten, die sich in ihrem neuen<br />
Roman „Unerhörte Stimmen“ in den Bereich zwischen<br />
das Diesseits und Jenseits begibt. Wissenschaftliche Studien<br />
belegen, dass das menschliche Gehirn nach dem<br />
letzten Atemzug noch weitere zehn Minuten und 38 Sekunden<br />
aktiv bleibt. Diese Erfahrung macht auch Leila,<br />
eine Prostituierte, die ermordet wird. Minute für Minute<br />
folgen Phasen der Rückblendungen, Erinnerungen<br />
an Freunde und Feinde, an Gerüche und Farben; all das<br />
mündet in die letzte, wichtigste Frage: Wie konnte es zu<br />
ihrem Tod kommen?<br />
Dem endgültigen Verstummen geht die Lebensgeschichte<br />
einer couragierten Frau voraus, die in einem düsteren,<br />
begrenzten Randreich ihre eigenen Wege geht. Geschickt<br />
findet Elif Shafak die Balance zwischen tragischer und<br />
berührender Erzählweise, wobei es auch an durchaus<br />
unterhaltsamen und ironischen Tönen nicht mangelt.<br />
Eine unerhört wichtige Geschichte, geschrieben von<br />
einer heraus ragenden Schriftstellerin, die ganz genau<br />
weiß, auf welcher Seite des Lebens sie stehen will und<br />
dafür jedes Risiko in Kauf nimmt.<br />
3 Fragen an …<br />
Elif Shafak<br />
Wie lange haben Sie an Ihrem neuen Roman<br />
gearbeitet?<br />
Ungefähr eineinhalb Jahre. Diese Geschichte<br />
„brodelte“ in gewisser Weise in meinem Kopf.<br />
Und ich habe sehr viele Nachforschungen und<br />
Recherchen betrieben, das liegt vielleicht auch an<br />
meinem akademischen Hintergrund, ich habe ja<br />
Polit-Wissenschaft studiert. Und für dieses Buch<br />
brauchte ich auch weitaus mehr Disziplin bei<br />
den Vorarbeiten. Eigentlich bin ich ja auch beim<br />
Schreiben sehr spontan.<br />
Aber es ging offenkundig nicht nur um<br />
den wissenschaftlichen Background?<br />
Nein. Ich sprach auch mit vielen sogenannten<br />
„Outcasts“, also „Ausgestoßenen“ – Prostituierten,<br />
Immigranten, lädierten Menschen in den letzten<br />
Winkeln von Istanbul.<br />
Das menschliche Gehirn soll nach dem letzten<br />
Atemzug noch zehn Minuten und 28 Sekunden<br />
aktiv sein. Dies ist ein zentrales Thema Ihres<br />
Romans. Woran würden Sie in diesem noch verbleibenden<br />
Zeitraum am liebsten denken?<br />
Eine sehr persönliche Frage. Aber ich würde mich<br />
wohl sehr gern an all die Momente der Freude, der<br />
Glückseligkeit, der Dankbarkeit und Liebe erinnern.<br />
Und an meine Familie und meine schönen Freundschaften.<br />
Der Name Shafak ist übrigens ein Pseudonym, denn<br />
eigentlich heißt die unbeugsame Dichterin Elif Bilgin;<br />
Safak (so die türkische Schreibweise) ist der Vorname<br />
ihrer Mutter. Und er bedeutet „Morgenröte“. Wie passend<br />
in einer Zeit der grassierenden geistigen Abenddämmerung,<br />
die eines Tages doch wieder dem Licht<br />
weichen könnte.<br />
Elif Shafak<br />
Unerhörte Stimmen<br />
Übers. v. Michaela Grabinger<br />
Kein & Aber, 432 Seiten<br />
Euro 24,70<br />
ISBN 978-3-0369-5790-6<br />
E-Book 978-3-0369-9400-0<br />
Buchmedia <strong>Magazin</strong> 38<br />
11