Neue Szene Augsburg 2019-07
Stadtmagazin für Augsburg
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74<br />
AUGSBÜRGER<br />
Gastronom<br />
Beniamino Cierro<br />
BBENVENUTI steht in italienischen Landesfarben auf der<br />
Schiefertafel neben der Eingangstür. Und das, obwohl die Zeichen<br />
im Caffè Centro dieser Tage eher auf ARRIVEDERCI<br />
stehen. Nach 23 Jahren gibt Inhaber Beniamino Cierro den Espressolöffel<br />
ab. Mit der Übergabe des kleinen Lokals am Moritzplatz<br />
an Wunschnachfolger Daniel Albinger beginnt mit 74<br />
Jahren ein neuer Lebensabschnitt für den gebürtigen Italiener.<br />
Cierro wächst in den Nachkriegsjahren bei seinen Großeltern<br />
im neapolitanischen Problemviertel Forcella auf. 1968 beschließt<br />
er, das turbulente Milieu hinter sich zu lassen, um sich auf Empfehlung<br />
eines Bekannten in <strong>Augsburg</strong> eine neue Existenz aufzubauen:<br />
„Am Anfang wurde mir hier aber mein aufbrausendes<br />
Temperament immer wieder zum Verhängnis. Irgendwann stand<br />
ich vor der Entscheidung: Anpassen – oder zurück nach Italien.“<br />
Die Zukunftsperspektive in der neuen Heimat überwiegt, ebenso<br />
die Faszination für die kleinen Unterschiede: „Als ich 1968 zum<br />
Bewerbungsgespräch beim Chemiefaser-Produzenten Trevira<br />
Hoechst in Bobingen im Büro stand, hing da ein Schild, auf dem<br />
in italienischer Sprache für Jobsuchende zu lesen stand: ‚Es ist verboten,<br />
Geld im Gegenzug für einen Arbeitsplatz anzubieten!‘ Das<br />
hat mir damals imponiert, denn in Neapel war es genau andersherum.“<br />
Erst seiner langjährigen deutschen Ehefrau gelingt es, den<br />
gelernten Buchhalter mit Ruhe, Geduld und Gelassenheit zu zähmen<br />
und an die hiesigen Gepflogenheiten heranzuführen. Nach<br />
einer Umschulung zum Industriemechaniker landet Cierro beim<br />
Flugzeughersteller Messerschmitt, bevor er 1996 seinem Wunsch,<br />
mehr mit Menschen zu arbeiten, nachgibt und das „Centro“ eröffnet.<br />
Die schlauchförmige Innenstadtbar etabliert sich schnell<br />
als Treffpunkt der italienischen Community und bringt bald auch<br />
Publikum unterschiedlichster Nationalitäten, Alters- und Gesellschaftsschichten<br />
auf den Geschmack von Tramezzini, Piadine und<br />
neapolitanischem Kaffee. Als Barista, Koch und Kellner kümmert<br />
sich der mehrfache Vater um das kulinarische Wohl, als Laienpsychologe<br />
um Gäste mit Redebedürfnis und als Sozialarbeiter<br />
um private Unterstützung für Mitglieder der großen Centro-<br />
Patchwork-Familie: „Ich habe schon immer wieder Mitarbeitern<br />
geholfen, eine Wohnung zu finden oder Behördengänge zu erledigen.<br />
Vielleicht habe ich eine hilfsbereite Ader, weil ich selbst<br />
unter schwierigen Umständen aufgewachsen bin.“ Zeit, an eigene<br />
Bedürfnisse zu denken, blieb in mehr als 50 Jahren Berufsleben<br />
wenig: „Ich habe immer alles andere untergeordnet. Jetzt habe ich<br />
endlich die Möglichkeit, richtig abzuschalten und auch mal länger<br />
in den Urlaub zu fahren, ohne mir ständig Gedanken zu machen.<br />
Und dann komme ich künftig einfach als Gast hierher. Der Name<br />
‚Centro‘ bleibt ja erst mal bestehen, als mein Vermächtnis.“<br />
(Text & Foto: Fabian Schreyer)