KOLUMNE Thilo Mischke BEGEGNUNGEN Ich habe ein schlechtes Gewissen, als ich mit einem unverhältnismäßig großen Wagen durch den Stadtteil Skid Row in Los Angeles fahre. Ein Viertel nahe Downtown, über mehrere Straßenblöcke hin geballte Armut. Zwei Minuten entfernt von ökologisch korrektem Cappuccino für sechs Dollar. Von Dachterrassen, die nachts im blauen Licht der Pools leuchten, sieht man das Schachbrett der Armut. Straßen, die einem Ghetto gleichen, Zelte reihen sich aneinander. Keine Kanalisation, keine Duschen, dafür viele kranke Menschen. Kranke Seelen, die Heroin spritzen, bis ihre Körper zerstört sind. Hier lebt Cricket. Ich fahre mit dem Auto durch die Straßen, weil ich nach Menschen suche, die mir erzählen, wie sie arm wurden und arm blieben in einer Stadt, in der alles möglich ist außer versagen. Cricket wird mir davon erzählen, wird mir erzählen, dass er hier gelernt hat, worum es im Leben geht. Dass es nicht darum geht, in feinen Häusern zu leben und einen Zweitwagen zu haben. „Wer nichts verlieren kann, der hat keine Angst mehr“, wird er sagen, und es wird ein Satz sein, über den ich noch lange nachdenken werde. Er ist 200 Tage im Jahr unterwegs, Jetlag ist bei Korrespondent und Reisereporter Thilo Mischke (TV- Dokureihe „Uncovered“) ein Dauerzustand. Auf seinen Expedi tionen trifft der 38-jährige Berliner immer wieder Menschen, die ihn faszinieren. Dieses Mal: Cricket, ein Obdachloser in L. A., der ihn das Glück mit neuen Augen sehen lässt. Ich parke den Wagen, der auch vom Präsidenten der USA auf Dienstreisen genutzt werden könnte, auf einem kleinen Parkplatz außerhalb der Skid Row. Zwischen der Fünften Straße und der Gladys Avenue steht Cricket und spült den Asphalt ab. „Hier ist mein Laden“, sagt er. Dreht sich um, zeigt auf alte Pullover, die mit Bügeln an den Zaun geheftet sind, auf einer Decke davor vergilbte „National Geographic“- Ausgaben und Filzstifte. Crickets Laden, Frauen kommen vorbei, andere Männer, deren Bärte zeigen, dass sie schon lange auf der Straße leben. Sie kaufen Stifte, alte „National Geographics“ und schmutzige Pullover. „Aber wofür?“, will ich wissen. „Für ein bisschen Normalität“, „Das Leben hier macht dich zuversichtlich“, sagt Cricket. Wenn du nichts hast, dann bleibst du bescheiden. sagt Cricket. „Wir leben in den USA, hier geht es ums Kaufen und Besitzen. Für die meisten auch nur um das Gefühl, genau das tun zu können.“ Er spricht mit mir, als würden wir uns kennen, erst jetzt stellen wir uns vor. Cricket trägt kein T-Shirt, seine Haut ist vernarbt, ein Muster, das sich über seinen Oberkörper zieht. Seine Brustwarzen sind verschwunden. Ich will wissen, wo sie hin sind. Und da erzählt er mir vom Diebstahl alter Kupferleitungen in Abrisshäusern. „Aber da war noch Strom drauf“, sagt er. Und erzählt, wie er fast verbrannt wäre, wie er gerettet wurde und er danach ein anderer Mensch wurde. „Kein Crack mehr, keine Drogen, keinen Alkohol, sondern einen Plan haben“, sagt er mir. Und beeindruckt mich damit. Cricket lebt seit über 25 Jahren in der Skid Row, das Leben, es gibt hier keine Visionen von einem besseren Leben. Nur von einem besseren Nachmittag. Die Ziele hier sind nicht abgezahlte Eigenheime und Fernreisen, sondern ein Paar Socken und etwas zu essen. „Das Leben hier macht dich zuversichtlich“, sagt er. Wenn du nichts hast, dann bleibst du bescheiden. „Ich will es nicht verklären“, sagt er. „Das Leben hier ist beschissen, es ist gefährlich, und du stirbst früher.“ Ein Mann im Stuhl passt auf, ich frage Cricket, wie ich seinen Nachmittag schön machen kann. „Mit einem Keks-Milchshake“, sagt er. Ich be sorge ihm sein Getränk, und er lädt mich in sein Zelt ein. Es ist dunkel, eine junge Mexikanerin. „Nicht, was du denkst!“, sagt er wie ertappt, und dann erzählt er, dass er hilft, dass sie Hilfe braucht. Sie redet wirr, sie hat Angst vor Männern, ihr ist wohl Schlimmes widerfahren. „So funktioniert die Welt, die monatliche Einkommen kennt, nicht“, sage ich. Und er nickt, er weiß das. Hier, in der Skid Row, passt man aufeinander auf. Hier beschützen die Schwachen die Schwächsten. „Brauchst du noch was?“, frage ich. „Vielleicht einen Milchshake für sie?“, er zeigt auf die junge Frau. „Damit auch ihr Nachmittag schön wird.“ Als ich mich verabschiede, in den riesenhaften Wagen steige, denke ich darüber nach. Darüber, dass ein Milchshake den Tag rettet, und darüber, wie vielschichtig die Bedingungen sind, damit ich glücklich sein kann. Ich beginne, mich nicht nur für das Auto zu schämen, in dem ich sitze. MICHEL TERHORST BLAGOVESTA BAKARDJIEVA THILO MISCHKE 16 THE RED BULLETIN
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