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Beiträge zur Wohnungsfrage, dérive Sonderausgabe, Herbst 2019

Wohnen war und ist eines der zentralen Themen für dérive. Wir haben uns – beginnend mit den ersten Heften – immer wieder intensiv damit auseinandergesetzt; in den letzten Jahren besonders kritisch mit der Warenförmigkeit von Wohnen. In dieser Sonderausgabe veröffentlichen wir eine Reihe dieser Texte und zwar von und mit: Anita Aigner, Diana Botescu, Christoph Chorherr, Elisabeth Ertl, Edeltraud Haselsteiner, Susanne Heeg, Andrej Holm, Florian Humer, Justin Kadi, Michael Klein, Anna Kokalanova und Haotian Lin.

Wohnen war und ist eines der zentralen Themen für dérive. Wir haben uns – beginnend mit den ersten Heften – immer wieder intensiv damit auseinandergesetzt; in den letzten Jahren besonders kritisch mit der Warenförmigkeit von Wohnen. In dieser Sonderausgabe veröffentlichen wir eine Reihe dieser Texte und zwar von und mit: Anita Aigner, Diana Botescu, Christoph Chorherr, Elisabeth Ertl, Edeltraud Haselsteiner, Susanne Heeg, Andrej Holm, Florian Humer, Justin Kadi, Michael Klein, Anna Kokalanova und Haotian Lin.

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<strong>2019</strong><br />

Zeitschrift für Stadtforschung<br />

<strong>dérive</strong><br />

<strong>dérive</strong><br />

<strong>Beiträge</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wohnungsfrage</strong><br />

von Anita Aigner, Diana Botescu,<br />

Elisabeth Ertl, Edeltraud Haselsteiner,<br />

Susanne Heeg, Andrej Holm, Florian Humer,<br />

Justin Kadi, Michael Klein,<br />

Anna Kokalanova und Haotian Lin<br />

9 euro<br />

<strong>dérive</strong>


»Diese KRITIK<br />

wurde FINANZIERT<br />

von <strong>dérive</strong> LESERN<br />

und LESERINNEN.«<br />

<strong>dérive</strong> besteht seit 2000 als unabhängiger<br />

Verein für kritische Stadtforschung.<br />

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Ermäßigt € 24<br />

(Ausland plus Versandkosten)<br />

www.derive.at<br />

Zeitschrift für Stadtforschung


Editorial<br />

Wohnen war und ist eines der zentralen Themen für<br />

<strong>dérive</strong>. Wir haben uns – beginnend mit den ersten Heften –<br />

immer wieder intensiv damit auseinandergesetzt; in den letzten<br />

Jahren besonders kritisch mit der Warenförmigkeit von<br />

Wohnen. Den ersten Wohn-Schwerpunkt haben wir 2000 in<br />

Ausgabe 2 veröffentlicht, als wir uns die Wohnsituation für<br />

MigrantInnen genauer angesehen haben. Damals war der<br />

Zugang zu Gemeindewohnungen für Menschen ohne österreichischer<br />

StaatsbürgerInneschaft ein wichtiges Thema.<br />

Bereits in Heft 4 (2001) haben wir das Thema Gentrifizierung<br />

aufgegriffen, das im öffentlichen Diskurs erst Jahre<br />

später angekommen ist. Auf besonders großes Interesse ist 2003<br />

der Schwerpunkt »Produkt Wohnen« gestoßen, das Heft war<br />

rasch ausverkauft. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben,<br />

zeigt ein Ausschnitt aus dem Editorial dieser Ausgabe. Christa<br />

Kamleithner schrieb damals »Der Wohnungsmarkt hat sich in<br />

den letzten 20 Jahren grundlegend verändert: Der unmittelbare<br />

Bedarf ist gedeckt, nun geht es darum, besser zu wohnen. Wohnen<br />

wird als die Summe individueller Bedürfnisbefriedigung<br />

angesehen, das Angebot richtet sich gezielt an verschiedene Zielgruppen<br />

und Lebensstile.« Die Bedarfsdeckung ist heute wieder<br />

ein großes Thema, die damals diagnostizierte Individualisierung<br />

des Wohnungsangebots und das Themen-Wohnen trifft<br />

heute noch mehr zu als 2003.<br />

In »Wiederaufbau des Wiederaufbaus« (<strong>dérive</strong> 19, 2005)<br />

standen die Großsiedlungen der Nachkriegszeit im Fokus unserer<br />

Analyse. 2012 haben wir ein Schwerpunktheft zum Wiener<br />

Gemeindebau herausgegeben: »Vom Superblock <strong>zur</strong> Überstadt.<br />

Das Modell Wiener Wohnbau.« 2016 folgte der Schwerpunkt<br />

»Housing the Many – Stadt der Vielen«. Er erkundete Wohnen<br />

als politisches Thema, das untrennbar mit Fragen des Zusammenlebens,<br />

von Besitz und Eigentum, der Verteilung von Ressourcen,<br />

und damit dem Recht auf Stadt und dem Recht auf<br />

Zentralität zu tun hat.<br />

In vielen anderen Ausgaben haben wir einzelne <strong>Beiträge</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>Wohnungsfrage</strong> veröffentlicht, darunter beispielsweise einen<br />

Artikel über den Zugang zu Wohnraum für bulgarische und<br />

rumänische BürgerInnen in Berlin oder die Frage nach den<br />

Möglichkeiten leistbaren Wohnens in Shenzen. Beide Texte sind<br />

in dieser <strong>Sonderausgabe</strong> nachzulesen. Sie enthält Texte, die sich<br />

historisch und/oder theoretisch aus einer gesellschaftspolitischen<br />

Perspektive mit der <strong>Wohnungsfrage</strong> auseinandersetzen<br />

wie Michael Kleins Beitrag »When Spectres Return – Wohnungswesen,<br />

Wohnreform und die Vorstellung vom guten Wohnen«<br />

oder Susanne Heegs Artikel »Was wollen wir wetten?<br />

Immobilienwirtschaftliche Spekulationen und Stadtentwicklung«<br />

sowie Edeltraud Haselsteiners Beitrag »Solidargemeinschaft<br />

oder totales Ensemble – Wohnungsbau für ArbeiterInnen<br />

in der Zeit der Industrialisierung«. Es gibt <strong>Beiträge</strong>, die sich mit<br />

aktuellen Fragestellungen beschäftigen, darunter Justin Kadis<br />

Kommentar »Wie das Mietrecht die Mieten treibt und was die<br />

Politik unternimmt«, ein Interview mit Christoph Chorherr über<br />

liegenschafts- und wohnpolitische Maßnahmen wie die<br />

Einführung der Widmungskategorie »Geförderter Wohnbau« in<br />

Wien, Anita Aigners Kritik des Modells Vorsorgewohnung oder<br />

Andrej Holms Artikel »Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung«.<br />

Den Abschluss macht ein Artikel über habiTAT,<br />

einen solidarischen Zusammenschluss von Mietshausprojekten<br />

und -initiativen nach dem Vorbild des Mietshäuser Syndikats.<br />

Alle oben erwähnten Hefte sind in unserem Online-<br />

Kiosk entweder als Printexemplar oder (falls vergriffen) als PDF<br />

erhältlich. Ganz dem Thema <strong>Wohnungsfrage</strong> widmet sich<br />

unsere neuestes Ausgabe (<strong>dérive</strong> 77), die im <strong>Herbst</strong> <strong>2019</strong> zum<br />

urbanize! Festival erscheint.<br />

Eine interessante Lektüre wünscht<br />

— Christoph Laimer<br />

01


Inhalt<br />

01<br />

Editorial<br />

CHRISTOPH LAIMER<br />

04—07<br />

(AUS HEFT N° 65)<br />

When SPECTRES RETURN<br />

MICHAEL KLEIN<br />

08—12<br />

(AUS HEFT N° 40/41)<br />

WAS WOLLEN wir wetten?<br />

SUSANNE HEEG<br />

13—19<br />

(AUS HEFT N° 74)<br />

»Man ist nur dann OHNMÄCHTIG,<br />

wenn man glaubt es zu sein.«<br />

CHRISTOPH CHORHERR<br />

38—46<br />

(AUS HEFT N° 75)<br />

Wohnraum als INVESTMENT<br />

ANITA AIGNER<br />

47—49<br />

(AUS HEFT N° 10)<br />

SOLIDARGEMEINSCHAFT oder totales Ensemble<br />

EDELTRAUD HASELSTEINER<br />

50—52<br />

(AUS HEFT N° 63)<br />

MACHS ddir doch SELBST!<br />

Das Mietshäuser SYNDIKAT in ÖSTERREICH<br />

ELISABETH ERTL<br />

FLORIAN HUMER<br />

20—24<br />

(AUS HEFT N° 68)<br />

Wie das MIETRECHT die MIETEN treib und was die<br />

POLITIK unternimmt<br />

JUSTIN KADI<br />

25—30<br />

(AUS HEFT N° 64)<br />

ZUGANG zu Wohnraum für bulgarische und rumänische<br />

BÜRGERiNNEN in Berlin<br />

DIANA BOESCU<br />

ANNA KOKALANOVA<br />

31—34<br />

(AUS HEFT N° 62)<br />

Making HOUSING AFFORDABLE in fast-growing<br />

CHINESE Cities<br />

HAOTIAN LIN<br />

35—37<br />

(AUS HEFT N° 75)<br />

ENTEIGNUNG zum Zwecke der<br />

VERGESELLSCHAFTUNG<br />

ANDREJ HOLM<br />

–<br />

<strong>dérive</strong> – Radio für Stadtforschung<br />

Jeden 1. Dienstag im Monat von<br />

17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0<br />

oder als Webstream http://o94.at/live.<br />

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235<br />

03


MICHAEL KLEIN<br />

When SPECTRES<br />

R E T U R N<br />

Woh nungswesen,<br />

WOHNREFORM und die<br />

Vorstellung vom GUTEN WOHNEN<br />

<strong>Wohnungsfrage</strong>, Geschichte des Wohnungswesens,<br />

Wohnreform, Diskurse des Wohnens<br />

Alle Fotos Chris Bethell<br />

(ursprünglich für VICE fotografiert).<br />

Debatten um das Wohnen erleben gegenwärtig<br />

wieder Aktualität. Nachdem die <strong>Wohnungsfrage</strong> die<br />

Städte, das gesellschaftliche Zusammenleben in<br />

Städten und ihre Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert<br />

über weite Strecken begleitet und maßgeblich<br />

geprägt hatte, war es um sie ruhig geworden.<br />

Nun ist sie wieder da – und mit ihr einige Themen,<br />

die auf die Debatte um die <strong>Wohnungsfrage</strong> eingewirkt<br />

haben.<br />

<strong>Wohnungsfrage</strong> und Funktionalismuskritik<br />

Wenige Jahre, nachdem sich nahezu jede zeitgenössische<br />

Architektur nach der Moderne mit Selbstverständnis und<br />

dezidiert von den Wohnsiedlungen der Moderne abgegrenzt<br />

hatte, die einmal als Wohnbunker, ein anderes mal als Retortenstädte<br />

gebrandmarkt über Jahrzehnte schlechtgeredet wurden,<br />

ist das Wohnen wieder im Kanon der Architektur, der Planung<br />

und in der Öffentlichkeit angekommen. In Ausstellungen und<br />

Festivals, Konferenzen, Artikeln und Büchern wird wieder<br />

darübe r nachgedacht, wie das Wohnen in Städten für die Masse<br />

gesichert werden kann 1 – ein Wort, das zwischenzeitlich aus<br />

den (Architektur-)diskursen verbannt schien.<br />

Die Jahre der Kritik an der Monotonie und Langeweile<br />

der modernen Vorstadt, an der Funktionstrennung der modernistischen<br />

Stadtplanung und an ihrem strukturellen Mangel<br />

sind an Architektur und Planung nicht spurlos vorübergegangen. 2<br />

Die Durchmischung von Funktionen, die Gleichzeitigkeit<br />

verschie dener Programme und das romantische Bild der historischen<br />

Innenstadt werden weiterhin bemüht, wenn es um die<br />

Wunschbilder der Stadt von morgen geht, schließt man aus Renderings<br />

und Collagen von PlanerInnen. Aber fast wirkt es, als<br />

wäre die Architektur von ihrer Wirklichkeit eingeholt worden:<br />

Die historischen Innenstädte bergen nicht länger die unsanierten,<br />

aber günstigen Nischen in sich, in denen scheinbar alles möglich<br />

ist, wie noch in den frühen Tagen der Funktionalismuskritik.<br />

Sie sind nun Austragungsort in einem Wettkampf um hohe Mieten,<br />

um Aufwertung und der Frage, wer früher geht und wegzieht;<br />

und Funktionsmischung läuft oft auf die Ergänzung des<br />

Wohnungsbestandes durch Shopping hinaus oder aber auf<br />

das Einstreuen kurzzeitig mietbarer Apartments, mit denen sich<br />

über Online-Plattformen noch höhere Erträge erwirtschaften<br />

lassen als mit Wohnungsmieten. Die gegenwärtige Sorge gilt also<br />

dem Wohnen.<br />

04<br />

<strong>dérive</strong> N o 65 — HOUSING THE MANY Stadt der Vielen


SuSanne Heeg<br />

WAS WOLLEN<br />

SuSanne Heeg<br />

wir wetten?<br />

Immobilienwirtschaftliche<br />

Spekulationen und Stadtentwicklung<br />

Wir leben in turbulenten Zeiten, nicht nur, weil sich seit Anfang 2008 die Welt in einem finanzwirtschaftlichen<br />

Auf und Ab befindet, sondern auch, weil dieses Auf und Ab Auswirkungen auf<br />

die Stadtentwicklung hat. Die bauliche Entwicklung insbesondere in Finanzzentren wie Frankfurt,<br />

Paris oder London, aber auch in weiteren großen und weltwirtschaftlich bedeutsamen Städten,<br />

ist zunehmend von der Entwicklung auf den globalen Finanzmärkten abhängig. Mit der Liberalisierung<br />

nationaler Finanzsysteme und der zunehmenden Integration von Finanzmärkten hat die<br />

Vermarktlichung von Immobilien einen deutlichen Schub erhalten. Immobilien sind schon immer<br />

eine Ware gewesen, aber sie hatten durch ihre räumliche Unverrückbarkeit die Eigenheit, dass<br />

ihrem Handel Grenzen gesetzt waren. In der Regel fand der Handel in sowie die Produktion von<br />

Immobilien in lokal begrenzten Kontexten mit vorwiegend lokalen Akteuren statt. Die räumlichen<br />

Grenzen der Spekulation sind nun gesprengt worden und damit einhergehend hat die Volatilität<br />

in der baulichen Entwicklung zugenommen. Dieser Umstand soll im Folgenden näher ausgeführt<br />

werden.<br />

1. Immobilien als assets: Finanzmarktsteuerung des Immobilienmarktes<br />

Veränderungen in der Immobilienwirtschaft sind ein relativ junges Phänomen. Westeuropa<br />

war bis <strong>zur</strong> Deklaration des freien Grundverkehrs durch die Europäische Union in intransparente<br />

lokale Märkte aufgeteilt. Grenzüberschreitende und überregionale Immobiliengeschäfte wurden<br />

kaum getätigt (Heeg 2004). Dazu trugen Regulierungen auf der nationalen Ebene – wie die<br />

Kontrolle ausländischer Immobilieninvestitionen oder die Besteuerung von Immobilienbesitz und<br />

-transaktionen – sowie Regulierungen auf der lokalen Ebene wie Flächenwidmungen, Bauordnungen<br />

und Auflagen des Denkmalschutzes bei. Immobilienentwicklung war aufgrund dieser<br />

Regelungen von lokalem Wissen und der Nähe zu politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern<br />

abhängig. Eine hohe Unsicherheit und Wissensintensität von Immobilieninvestitionen<br />

erforderte insofern den aufbau von lokalen vertrauensbeziehungen zwischen Projektentwicklern/<br />

Bauträgern, Banken als Kapitalgebern und der öffentlichen Hand als Rahmen setzendem Akteur.<br />

die immobilienwirtschaft zeichnete sich in diesem Sinne dadurch aus, dass ihr wirtschaftlicher<br />

Aktionsradius stark auf die jeweilige Region beschränkt war.<br />

Ein fundamentales Problem der Immobilienfinanzierung in der Vergangenheit war die enorme<br />

Kapitalintensität der Investitionen. Große Kapitalsummen wurden auf lange Sicht in Immobilien<br />

gebunden, deren Ertragsfähigkeit von vielen schwer bestimmbaren Faktoren, wie der lokalen<br />

Wirtschaftsentwicklung, den immobilienzyklen, dem technisch-organisatorischen Wandel etc.<br />

abhingen. Der überwiegende Teil der Immobilienfinanzierung wurde über Kredite der Banken<br />

abgewickelt. die Risiken der Finanzierung bündelten sich an zwei Stellen: beim eigentümer, der<br />

auf eine zumindest stabile Ertragsfähigkeit der Immobilie angewiesen war, um den Kredit bedienen<br />

zu können, und bei der Bank, die das Kreditausfallrisiko trug. Diese Situation änderte sich durch<br />

011 08<br />

Susanne Heeg Was wollen wir wetten? Immobilienwirtschaftliche Spekulationen und Stadtentwicklung<br />

011


CHRISTOPH CHORHERR<br />

»Man ist nur<br />

dann OHNMÄCHTIG,<br />

wenn man glaubt es zu sein.«<br />

Aktuelle liegenschafts- und wohnpolitische Maßnahmen in Wien<br />

Sozialer Wohnbau, Liegenschaftspolitik, Bauordnung,<br />

Mietrecht, Baurecht, Mietkauf, städtebauliche Verträge, Klimawandel,<br />

Gemeinnützigkeit, Genossenschaften, Baugruppen<br />

Christoph Chorherr, langjähriger Planungssprecher der Wiener Grünen,<br />

spricht im Interview mit <strong>dérive</strong> über die Novelle der Wiener Bauordnung und<br />

damit über die Möglichkeiten kommunaler Politik <strong>zur</strong> Regulierung des Bodenmarktes<br />

und Maßnahmen für den sozialen Wohnbau. Gemeinsam mit<br />

der SPÖ haben die Grünen als Koalitionspartner in Wien diese Novelle Ende<br />

November 2018 beschlossen. Das Gespräch führten Robert Temel und<br />

Christoph Laimer.<br />

Die Novelle der Bauordnung betrifft mehrere Punkte, darunter als besonders wichtige<br />

Aspekte Maßnahmen gegen den Klimawandel und für leistbares Wohnen. Was sind die Gründe,<br />

die eine Änderung der Widmungsbestimmung in Zusammenhang mit dem geförderten Wohnbau<br />

notwendig machten?<br />

Wichtig ist mir, dass die Novellierung einerseits den sozialen Aspekt mit der Widmungskategorie<br />

geförderter Wohnbau aufgreift, aber auch andere wesentliche Themen zum Ziel hat.<br />

Während wir das Interview führen, findet in Polen die UN-Klimakonferenz statt. Mit der neuen<br />

Bauordnung haben wir wirklich einschneidende Maßnahmen gesetzt. Wir sorgen zwar nicht<br />

zu 100 % aber weitestgehend dafür, dass bei Neubauten fossile Energieträger im Regelfall nicht<br />

mehr <strong>zur</strong> Anwendung kommen. Es sind nun nicht nur Ölheizungen verboten und auch bei<br />

Sanierungen untersagt, sondern vor allem auch Gasetagenheizungen. Mit Energieraumplänen<br />

können wir nun sicherstellen, dass in weiten Teilen der Stadt Abwärmenutzung und vor allem<br />

erneuerbare Energieträger in der Wärme- und in der Warmwasserversorgung eingesetzt werden.<br />

Es ist bezeichnend für die aktuelle Politik, dass darüber überhaupt nicht geredet wird.<br />

Der Wärmebereich verbraucht mehr Energie als der Verkehrssektor, wenn er auch weniger<br />

CO2 produziert. Unsere Maßnahme ist so einschneidend als ob wir sagen würden, ab <strong>2019</strong> werden<br />

keine Autos mit Verbrennungsmotoren – mit Ausnahme von Feuerwehr, Rettung und noch<br />

ein paar Transportfahrzueugen – mehr zugelassen. Man stelle sich das vor – genau das machen<br />

wir im Gebäudesektor.<br />

Weiters haben wir Maßnahmen gegen die Flächenverschwendung erlassen, die erreichen<br />

sollen, dass die Errichtung von einstöckigen Einkaufszentren in Betriebsgebieten erschwert<br />

wird, indem die Begrenzung, ab der eine Widmung als Einkaufszentrum notwendig ist, von<br />

2.500 auf 1.000 m 2 herabgesetzt wird.<br />

Nun zum Kern der Novelle, dem sozialen Wohnbau. Boden ist bekanntlich keine vermehrbare<br />

Ressource. Die verstärkte Nachfrage nach Wohnraum und damit nach Boden hat vor<br />

allem in den letzten Jahren zu einem dramatischen Preisanstieg der Bodenpreise geführt, die<br />

eins zu eins auf die Wohnungen überwälzt werden. Das hatte <strong>zur</strong> Folge, dass der Anteil<br />

des geförderten Wohnbaus in den letzten 10-15 Jahren von ca. 2/3-3/4 auf unter ein Drittel<br />

<strong>zur</strong>ückgegangen ist. Es wird derzeit insgesamt zwar genug gebaut, aber nicht annähernd genug<br />

im Mietpreissegment des geförderten Wohnbaus. Wien hat einen starken Überhang an Eigentumswohnungen<br />

in der Kategorie von 4.000-7.000 EUR/m 2 .<br />

11 13<br />

Christoph Chorherr — »Man ist nur dann OHNMÄCHTIG, wenn man glaubt es zu sein.«<br />

11


Justin Kadi<br />

Wie das<br />

MIETRECHT<br />

die MIETEN<br />

treibt und was die<br />

POLITIK unternimmt<br />

Wohnkosten, Miete, Mietrecht, Gemeinnützigkeit,<br />

Immobilienmarkt, Wien<br />

Ein Kommentar <strong>zur</strong> Lage am Wiener Wohnungsmarkt<br />

Die Mieten in Wien steigen seit einigen Jahren rasant. Für Menschen<br />

mit niedrigen Einkommen – und zunehmend auch für DurchschnittsverdienerInnen<br />

– wird es immer schwieriger, leistbaren<br />

Wohnraum in der Stadt zu finden. Steigende Wohnkostenbelastung,<br />

Verdrängung in periphere Lagen bis hin zu Obdachlosigkeit<br />

sind die Folgen. Die Deregulierung des Mietrechts im Jahr 1994<br />

wirkt sich jetzt – in den Zeiten des Betongolds – auf die Höhe der<br />

Mieten besonders stark aus, ebenso wie die fehlenden Sanktionen<br />

bei mietrechtlichen Vergehen. Eine Reform des Mietrechts wird<br />

auf Bundesebene seit Jahren ergebnislos diskutiert, gleichzeitig<br />

droht der Wohnungsgemeinnützigkeit eine Aushöhlung.<br />

Der im Roten Wien erbaute<br />

Lassalle-Hof in Wien Leopoldstadt.<br />

Foto: <strong>dérive</strong>.<br />

20 09<br />

Justin Kadi — Wie das MIETRECHT die MIETEN treibt und was die POLITIK unternimmt<br />

09


Diana Botescu & Anna Kokalanova<br />

ZUGANG zu<br />

Wohnraum für bulgarische<br />

und rumänische<br />

BÜRGERiNNEN in Berlin<br />

Formen des informellen Wohnens in der Ankunftsphase<br />

Wohnungsmarkt, Berlin, Zuwanderung, Informalität,<br />

Diskriminierung, Roma, soziale Mobilität<br />

Hinterhof einer sogenannten Schrottimmobilie in Berlin.<br />

Foto — Diana Botescu<br />

In vielen Städten gibt es eine rege Debatte über die <strong>Wohnungsfrage</strong>.<br />

Die aktuell verhältnismäßig stark steigenden Einwohnerzahlen, die nicht nur,<br />

aber auch mit der zunehmenden Zahl an Geflüchteten zu sehen ist,<br />

tragen dazu bei. Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der Situation in<br />

der Ankunftsphase für bulgarische und rumänische BürgerInnen am<br />

Berliner Wohnungsmarkt. Wie sehen ihr Raumbedürfnis und ihre Ressourcen<br />

aus? Welche Wohnformen stehen ihnen <strong>zur</strong> Verfügung? Mit welchen<br />

Diskriminierungen sind sie konfrontiert?<br />

25<br />

20 <strong>dérive</strong> N o 64 — Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung. Urbane Lebenswelten von Roma


Haotian Lin<br />

Making<br />

HOUSING<br />

AFFORDABLE in<br />

in Fast-Growing CHINESE Cities<br />

A SHENZHEN Perspective<br />

Danwei, Redevelopment,<br />

Population Growth, Housing Problem, Over-Marketization,<br />

Neighborhood<br />

Like many other Chinese cities, Shenzhen is experiencing intense spatial transformation.<br />

Downgraded neighborhoods are replaced with luxury housing, shopping malls and<br />

offices. Such development might improve the competitiveness of the city, but ignores the<br />

affordability of the city for lower-income groups. The reliance on the market parties<br />

to develop affordable housing has not produced satisfying results. The old Danwei<br />

housing, which is profusely present throughout Shenzhen, has a number of qualities that<br />

make it attractive for redevelopment. Might it solve the shortage of affordable housing<br />

for the young and creative class, and thereby contribute positively to the transformation<br />

of Shenzhen?<br />

According to the 11th five-year plan (2006-2010), Shenzhen will shift from<br />

manufacturing industry to creative and knowledge-intensive industries. Human capital<br />

and technology innovation are to become the new generators for economy. Many<br />

young and highly educated graduates therefore come to Shenzhen to search their fortune.<br />

However, high house prices become the first barrier for them to settle in the<br />

city. Rocketing house prices have been with no doubt the most popular topic in recent<br />

years among Chinese citizens. This article illustrates the current housing problems in<br />

Shenzhen and introduces a new renewal model to improve the affordability of housing.<br />

31<br />

42 <strong>dérive</strong> N o 62 — Sampler


ANDREJ HOLM<br />

ENTEIGNUNG<br />

ANDREJ HOLM<br />

zum Zwecke der<br />

VERGESELLSCHAFTUNG<br />

Nicht nur in Berlin, auch wie hier in Leipzig und anderen Städten<br />

fanden am 6. April Demonstrationen »gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« statt;<br />

Foto — Jannis Pfendtner<br />

Wohnungspolitik, Immobilienmarkt, Enteignung, Berlin,<br />

Mietenwahnsinn, Protestbewegung<br />

In Berlin kleben seit Wochen Plakate, die <strong>zur</strong><br />

Enteignung von großen Immobilienkonzernen wie<br />

der Deutschen Wohnen oder Vonovia aufrufen.<br />

Dass dies kein Verbalradikalismus linker Kleingruppen<br />

ist, sondern eine ernstzunehmende Forderung<br />

aus dem Herz der Berliner Mieterbewegung,<br />

zeigen die aktuellen Reaktionen. Amtliche Gutachten,<br />

Leitartikel in den überregionalen Zeitungen<br />

und politische Stellungnahmen bis in die Spitzen<br />

der Bundespolitik belegen, dass die Berliner<br />

Diskussion über die Enteignung großer Immobilienunternehmen<br />

als eine realpolitische Option<br />

angesehen wird.<br />

Gelungener Start:<br />

15.000 Unterschriften am ersten Tag<br />

Seit dem 6. April dieses Jahres werden in Berlin Unterschriften<br />

gesammelt. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co<br />

enteignen wirbt um die Unterstützung eines Volksbegehrens <strong>zur</strong><br />

Vergesellschaftung der Berliner Bestände großer Immobilienkonzerne.<br />

Um einen offiziellen Antrag auf Einleitung eines<br />

Volksbegehrens zu stellen, müssen in den kommenden sechs<br />

Monaten über 20.000 Unterschriften gesammelt werden. Nach<br />

Angabe der Initiative kamen bereits am ersten Tag – auf der<br />

großen Demonstration Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn<br />

– über 15.000 Unterschriften zusammen, so dass<br />

es keinen Zweifel am Erfolg dieser ersten Stufe gibt. In der<br />

zweiten Stufe, dem eigentlichen Volksbegehren, muss innerhalb<br />

von vier Monaten per Unterschriftensammlung die Unterstützung<br />

von sieben Prozent der wahlberechtigten Berlinerinnen und<br />

Berliner dokumentiert werden. Zurzeit entspricht das etwa<br />

170.000 Unterschriften. Ist auch diese Etappe erfolgreich, wird<br />

35 51<br />

Andrej Holm — ENTEIGNUNG zum Zwecke der VERGESELLSCHAFTUNG<br />

51


ANITA AIGNER<br />

Wohnraum als<br />

ANITA AIGNER<br />

INVESTMENT<br />

Eine Kritik der<br />

VORSORGEWOHNUNG<br />

Der erste Satz des Art. 5 Staatsgrundgesetz<br />

»Das Eigentum ist unverletzlich« ziert die Fassade des Ausweichquartiers<br />

des österreichischen Parlaments. Foto — Anita Aigner.<br />

Finanzialisierung, Anlegerwohnungen, Spekulation,<br />

Geldanlage, Immobilienmarkt, Betongold, Bodenpolitik, Kleinvermietertum<br />

Die Parole »Wohnen ist keine Ware« ist ein Statement, das unter den gegebenen politischen<br />

Verhältnissen leider mehr Wunsch als Realität ist. Der Erwerb von Wohnraum<br />

zum Zweck der Kapitalvermehrung und Vermögensbildung ohne Nutzungsabsicht<br />

gilt nicht als böses Spekulantentum, sondern als vernünftige Geldanlange in Zeiten, in<br />

denen Geld auf Sparbüchern keine Zinsen abwirft. Dass Mieten zwangsläufi g steigen,<br />

wenn immer mehr Profi teure mitschneiden, liegt zwar auf der Hand, ist aber trotzdem<br />

kein großes Thema. Anita Aigner widmet sich im folgenden Beitrag dem österreichischen<br />

Modell der so genannten Vorsorgewohnung, das aus Privathaushalten kapitalistische<br />

ImmobilieninvestorInnen macht. Das Modell bietet zahlreiche Möglichkeiten für<br />

blendende Geschäfte – speziell für die ProjektbetreiberInnen – und ist ein anschauliches<br />

Beispiel für die Finanzialisierung des Wohnsektors.<br />

Anita Aigner — Wohnraum als INVESTMENT<br />

38<br />

17


Impressum<br />

<strong>dérive</strong> – Zeitschrift für Stadtforschung<br />

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:<br />

<strong>dérive</strong> – Verein für Stadtforschung<br />

Mayergasse 5/12, 1020 Wien<br />

Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth<br />

ISSN 1608-8131<br />

Offenlegung nach § 25 Mediengesetz<br />

Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung<br />

von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den<br />

Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden<br />

Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei<br />

inter- und transdisziplinäre Ansätze.<br />

Grundlegende Richtung<br />

<strong>dérive</strong> – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als<br />

interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.<br />

Redaktion<br />

Mayergasse 5/12, 1020 Wien<br />

Tel.: +43 (01) 946 35 21<br />

E-Mail: mail(at)derive.at<br />

www.derive.at<br />

www.urbanize.at,<br />

www.facebook.com/derivemagazin<br />

twitter.com/derivemagazin<br />

www.instagram.com/derive_urbanize<br />

www.vimeo.com/derivestadtforschung<br />

<strong>dérive</strong> – Radio für Stadtforschung<br />

Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr<br />

in Wien live auf ORANGE 94.0<br />

oder als Webstream http://o94.at/live.<br />

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235<br />

AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser Ausgabe:<br />

Anita Aigner, Diana Botescu, Elisabeth Ertl, Edeltraud Haselsteiner,<br />

Florian Humer, Susanne Heeg, Andrej Holm, Justin Kadi, Michael<br />

Klein, Anna Kokalanova und Haotian Lin<br />

Anzeigenleitung & Medienkooperationen:<br />

Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at<br />

Website: Artistic Bokeh, Simon Repp<br />

Grafische Konzeption & Gestaltung:<br />

Atelier Liska Wesle — Wien / Berlin<br />

Lithografie: Branko Bily<br />

Coverfoto: Viertel Zwei, Krieau, Wien. Foto: <strong>dérive</strong><br />

Kontoverbindung<br />

Empfänger: <strong>dérive</strong> — Verein für Stadtforschung<br />

Bank: Hypo Oberösterreich<br />

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Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi,<br />

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Eurozine – Verein <strong>zur</strong> Vernetzung von Kulturmedien,<br />

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Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.<br />

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Genehmigung des Herausgebers gestattet.<br />

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»Die <strong>Wohnungsfrage</strong><br />

kann als jene<br />

Angelegenheit<br />

verstanden werden,<br />

durch die die soziale<br />

Frage in die Mitte der<br />

gesellschaftlichen<br />

Debatten getragen<br />

wurde.«<br />

Michael Klein, S. 5<br />

Mietrecht, Wohnutopien, Wohnungsmarkt, Finanzialisierung, Enteignung,<br />

Mietshäuser Syndikat, Immobilienwirtschaft, Spekulation, Bodenpolitik,<br />

Disziplinierung, Industrialisierung, Vorsorgewohnung

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