Spectrum_6_2019
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DIE ANDERE
Text Natalie Meleri
Illustration Noëmi Amrein
Schönheit ist wie ein Chamäleon
Von füllig über schlank zu kurvig: Ein Blick in die Welt der weiblichen Schönheitsideale zeigt,
dass diese so unbeständig sind wie das Wetter im April. Wie sollen wir den Überblick behalten?
Was bedeutet Schönheit? Eine
nichtrepräsentative Umfrage via
meinen Instagram-Account zeigt unser
kompliziertes Verhältnis zur Schönheit
auf. «Das typisch männliche oder
weibliche Schönheitsideal ist immer
noch stark in den Köpfen der Leute vertreten»,
antwortet eine Person. «Es ist
wichtiger, sich wohl zu fühlen, als einem
Ideal zu entsprechen», lautet eine andere
Antwort. «Die Gesellschaft gibt uns
vor, was schön ist», schreibt eine dritte
Person. Der Grieche Thukydides soll
gesagt haben: Schönheit liegt im Auge
des Betrachters. Schaut man sich Werbungen
heute an, sieht das ganz anders
aus. Oft wird ein Schönheitsbild suggeriert,
das erstrebenswert ist und wie Minions
passen wir uns an. Wer sich den
Idealvorstellungen entziehen will, muss
gegen einen Strom aus Beautyprodukten
schwimmen und versuchen, dabei
nicht unterzugehen und den Überblick
zu verlieren. Neu sind Schönheitsideale
jedoch keineswegs. Bereits vor dem Zeitalter
von Selfies und Selbstoptimierung
waren sie allgegenwärtig. Spulen wir zurück.
Rundungen der Renaissance
In der Renaissance bevorzugt man
Frauen mit weiblichen Rundungen.
Die ideale Frau soll einen anständigen
Busen und ein breites, gebärfreudiges
Becken haben. Zu jener Zeit ist die Reproduktion
zentral. Dafür sind Frauen
schliesslich da. Auch rosige Wangen
und ein leichtes Doppelkinn haben
nicht geschadet, da sie auf Wohlstand
hindeuten. Und Gott bewahre, wenn
der Teint der Frau nicht blass genug ist.
Schliesslich möchte ein wohlhabender
Mann nicht andeuten, dass seine Frau
der frischen Luft und prallen Sonne
ausgesetzt ist und womöglich noch arbeiten
muss. Nein, nein: Eine Frau hat
dekorativ im Salon zu sitzen und dabei
nett auszusehen. Viel mehr Bewegung
als gelegentliche Spaziergänge im akkurat
gepflegten Park liegt auch nicht
drin. So kann frau ihre Figur kaum beeinflussen.
Mit Korsett zur Sanduhr-Figur
Im Frühbarock stehen füllige Frauen
immer noch hoch im Kurs. Erst später
steigt die Vorliebe für enge Korsetts. Eine
sanduhrförmige Figur zu haben, gilt als
erstrebenswert. Genügend Luft zu bekommen,
war für die Damen Nebensache.
Dass das Aussehen stimmt, war die
Hauptsache. Dass Korsette zu Organverlagerungen
und einem deformierten
Brustkasten führen können, haben Ärztinnen
und Ärzte erst viel später herausgefunden.
So manche Dame wird sich
das aber bereits gedacht haben, wenn
sie mal wieder zu Bewusstsein gefächert
werden musste.
Die Garçonne der 1920er Jahre
Die ersten Anzeichen der Emanzipation
machen sich in den 1920er Jahren
bemerkbar. Weibliche Schönheit wird
androgyner, die Garçonne ist geboren.
Kleider und Haare der Frauen werden
kürzer und die Figur flacher. Sonnenschutz,
um die noble Blässe zu bewahren,
ist jedoch noch immer der Frau
treuster Begleiter. Erst in den 1950er
Jahren, als Urlaub in der Sonne in Mode
kommt, steigt der gebräunte Teint zu Beliebtheit
auf. Kleider aus, Bikini an: Haut
zu zeigen, ist von da an in.
90-60-90
In den 1980er Jahren feiert die Sanduhr
in der Ära der Topmodels ihr Comeback
mit der berühmten Formel 90-60-90.
Brustumfang-Taillenumfang-Hüftumfang.
Die wenigsten Frauen sind jedoch
so gebaut. Aber die Lösung ist simpel: So
wenig wie möglich essen. Was bei diesem
Ideal ebenfalls untergeht: Die Formel
rechnet sich auf eine Körpergrösse
von 1,80 Metern. Nicht gerade eine verbreitete
Grösse unter Frauen.
Doppel-D im Fitness
Heute ist vieles üppiger. Gesünder geworden
ist unsere Beziehung zur Schönheit
aber nicht. Grosse Brüste, ein riesiger
Hintern, aber eine schmale Taille
sind angesagt. Viel Sport sollte man
auch noch treiben. Wie frau sich aber
mit Doppel-D im Fitness abstrampeln
soll, bleibt schleierhaft. Das Ideal ist
unrealistisch und manche Frauen legen
sich mehrmals unters Messer, um es zu
erreichen. Andere helfen mit Bildbearbeitungsprogrammen
nach. Schliesslich
sind Schönheitsoperationen teuer und
wie lange das Ideal noch gilt, scheint
unklar.
Du bist schön!
Schönheitsideale verändern sich, aber
natürlich werden sie nie der Vielfalt an
Frauen gerecht. Die neuste Bewegung
heisst «Body Positivity» und steht dafür,
dass jede Person ihren Körper lieben
sollte, wie er ist. Falls sich dieser Trend
durchsetzen sollte, liegt Schönheit wirklich
im Auge des Betrachters – und der
Betrachterin. ■
12.2019
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