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6 KULTUR JOKER INTERVIEW
Blomstedt: Wenn ich die Noten
lese und die Musik nur in
meinem Kopf höre, dann ist
das ein Vorstadium. Wenn diese
Musik dann real erklingt und
ich die Schallwellen auch physisch
erlebe, dann entsteht ein
viel intensiveres Gefühl.
In Kriegszeiten sind die Menschen
unter Gefahr zusammengekommen,
um gemeinsam
Musik zu hören und davon seelisch
gestärkt zu werden – zum
Beispiel bei der Aufführung
von Schostakowitschs 7. Symphonie
am 9. August 1942 im
von den Deutschen ausgehungerten
Leningrad. Durch die
Absage aller Konzerte in der
gegenwärtigen Corona-Krise
fällt die Musik als stärkendes
Gemeinschaftserlebnis aus.
Kultur Joker: Was macht das
mit den Menschen?
Blomstedt: Ich glaube, die
Wirkung spürt man erst danach.
Die Krise stärkt das Bedürfnis
nach seelischen Inhalten. Wir
sind in unserer modernen Welt
so fasziniert, aber auch gefangen
genommen durch die vielfältigen
Eindrücke, die auf uns
einprasseln. Es schwirrt auch
so viel unbedeutende Musik in
der Luft herum wie in der Werbung
oder im Alltag. Der Verzicht
auf diese Eindrücke und
auch auf soziale Kontakte wird
das Bedürfnis nach Kommunikation
verstärken.
Kultur Joker: Ähnlich wie im
Krieg ist mit der Corona-Krise
und den jetzt eingeführten
drastischen Maßnahmen eine
besondere Lage entstanden,
die den Alltag jedes einzelnen
Menschen in der Gesellschaft
verändert. Diese Ausnahmesituation
kann zu Solidarität
führen, aber auch zu Egoismus,
wenn beispielsweise Hamsterkäufe
getätigt werden und jeder
nur an sich denkt. Was sind
Ihre Beobachtungen zur gegenwärtigen
Situation?
Blomstedt: Für mich persönlich
bedeutet die Situation nur,
dass ich mich stärker auf meine
Aufgaben konzentrieren kann.
Im normalen Leben habe ich
nicht immer genügend Zeit.
Die Berge sind so hoch – man
kann sie nie richtig besteigen.
Jetzt hat man ein paar Wochen
oder auch Monate geschenkt
bekommen, in denen man sich
das leisten kann, was man sonst
vernachlässigt. Dafür bin ich
dankbar. Natürlich wünsche ich
mir, dass diese Krise so schnell
wie möglich vorbei ist. Das ist
ja auch der Sinn dieser Maßnahmen,
dass es nachher besser
wird und wir eine Katastrophe
vermeiden können.
Kultur Joker: Sie sind 1927 geboren
und waren bei Ausbruch
des Zweiten Weltkriegs 12 Jahre
alt. Haben Sie im Krieg eher
Solidarität oder Egoismus erlebt?
Blomstedt: Ich wohnte während
des Zweiten Weltkriegs
in Schweden. Wir mussten nur
abends die Rollläden herunterlassen,
damit ein potentieller
Bomber kein Ziel finden konnte.
Unsere Lebensmittelkarten
für Kaffee, Tabak oder Spirituosen
haben wir gegen Butter
und Brot eingetauscht. Wir
haben keine Not gelitten. Die
Schulen funktionierten ganz
normal, die Propaganda haben
wir nur wenig gespürt. In dieser
Zeit habe ich für mich die Musik
entdeckt. Jeden Donnerstag
und jeden Sonntag konnte ich
in ein Sinfoniekonzert gehen.
Und täglich habe ich viele
Stunden Violine gespielt und
erst danach meine Schulaufgaben
gemacht.
Kultur Joker: Die meisten Krisen
tragen auch eine Chance in
sich. Sehen Sie eine Chance in
der Corona-Krise?
Blomstedt: Wir haben jetzt
viel Zeit zum Nachdenken.
Man muss aus solchen Krisen
immer das Beste machen. Zu
meckern oder zu trauern hilft
nicht. Jede Krise ist eine Möglichkeit
zur Verbesserung.
Kultur Joker: Sie sind ein
Mensch, dem soziale Kontakte
sehr wichtig sind. Sie kennen
die meisten Namen der Orchestermusiker,
die Sie dirigieren.
Was macht das mit Ihnen, wenn
Sie diesen Menschen nicht
mehr begegnen können?
Blomstedt: Die Erinnerungen
sind da. Das ist das einzige
Paradies, aus dem man nicht
vertrieben werden kann. Dieses
Paradies haben wir ständig
bei uns, bis unser Gehirn
stirbt. Als junger Bursche hat
mich die Musik gefesselt durch
zwei Dinge: die Schönheit des
Klangs und die Intelligenz der
Konstruktion. Später habe ich
dann gelernt, dass die Musik
vor allem ein Mittel ist, mit
den Menschen zu kommunizieren.
Jedes Orchestermitglied
ist für mich ein wichtiger
musikalischer Partner, dem
ich intellektuell und emotional
möglichst nahe kommen
möchte. Aber nur in der Musik.
Ich besuche sie nicht zuhause
bei Kaffee und Kuchen. In der
Musik begegnet man den Menschen
total, weil man sich nicht
verstellen kann. Man spielt ein
Instrument so, wie man ist. Da
entblößt man sich: im Positiven
wie im Negativen. Diese Ehrlichkeit
ist eine wunderbare
Sache. Mit Worten kann man
alles vertuschen. In der Musik
geht das nicht!
Kultur Joker: In einem Interview
haben Sie den Maler Gerhard
Richter zitiert mit dessen
Aussage: „Kunst ist die größte
Form der Hoffnung.“ Was
macht Ihnen im Augenblick
Hoffnung?
Blomstedt: Über diesen Satz
denke ich gerne nach. Der
Künstler wie auch der Komponist
lebt in einer idealen Welt.
Er schafft etwas aus seiner
Fantasie. Menschen ohne Fantasie
haben keine Hoffnung.
Nur durch die Fantasie können
wir uns vorwärts bewegen und
vielleicht auch die Welt ein
wenig verbessern. Vielleicht
nicht global, aber zumindest in
meinem eigenen Umfeld.
Kultur Joker: Herr Blomstedt
herzlichen Dank für das Gespräch
und bleiben Sie gesund.