urbanLab Magazin 2019 - StadtLandQuartier
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MAGAZIN
FACHZEITSCHRIFT FÜR STADT- & REGIONALPLANUNG
AUSGABE 05 | SEPTEMBER 2019
STADT & LAND. Kein Platz mehr?
Barbara Ettinger-Brinckmann
STRUKTUREN & AKTEURE. Wege zum
bezahlbaren Bauen und Wohnen
Eva Stelzner
ZUKUNFTSVISION. Stadt Land Quartier
Erkenntnisse aus dem Wettbewerb
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
STADT LAND QUARTIER
ZWISCHEN REALITÄT UND ZUKUNFTSVISION
Mit Dokumentation des Studierendenwettbewerbs Stadt Land Quartier in Kooperation mit der
Wohnungswirtschaft Ostwestfalen-Lippe und des 14. Bielefelder Kongress für Stadtentwicklung
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Die Wohnungswirtschaft Ostwestfalen-Lippe
ist ein Zusammenschluss von
Wohnungsbaugenossenschaften, kommunalen,
kirchlichen und privaten Wohnungsunternehmen.
Insgesamt arbeiten
28 Unternehmen zusammen, um Ihnen
sicheren und modernen Wohnraum zu
fairen Preisen anbieten zu können.
Die Unternehmen der Wohnungswirtschaft
Ostwestfalen-Lippe sind dort zu
Hause, wo auch Sie zu Hause sind.
Mit Bauaufträgen in der Region von mehr
als 100 Millionen € im Jahr sichert die
Wohnungswirtschaft OWL Arbeitsplätze
in der Region. Gleichzeitig stellen die Unternehmen
sicher, zeitgemäßen und guten
Wohnraum anbieten zu können für
Menschen, die hier leben.
Stadt Land Quartier
Liebe Leserinnen und Leser,
der Kunstbegriff Stadt Land Quartier lässt vielschichtige Interpretationen zu. Einerseits steht dieser für
die Verbindung von Erholungs- und Naturräumen mit pulsierenden und vitalen öffentlichen Räumen,
sowie überschaubaren räumlichen Einheiten. Andererseits wird der Begriff verwendet, um auf veränderte
Beziehungen zwischen Siedlung, Landschaft, Gesellschaft und ihren Ressourcen aufmerksam zu
machen, wie zum Beispiel bei der IBA Thüringen StadtLand, die damit die kleinteilige Siedlungsstruktur
des Freistaats thematisiert. Die Regionale 2022 Das neue UrbanLand in Ostwestfalen-Lippe setzt in dem
Aktionsfeld Stadt Land Quartier den Fokus auf das polyzentrale Städtenetzwerk Ostwestfalen-Lippes,
wo sich Stadt und Land so regelmäßig abwechseln, dass von jedem Ort in der Region sowohl urbane
wie auch naturnahe Räume zu erreichen sind. Die große Zahl von kleinen Städten und Dörfern in OWL
bildet in ihren landschaftlichen Zusammenhängen das Gewebe einer baukulturell reichhaltigen und
differenzierten Kulturlandschaft für ein naturbezogenes und urbanes Leben gleichermaßen. In diesem
Zusammenhang entwickelt sich eine vernetzte Dezentralität, in der auch Dörfer als Stadt Land Quartiere
im regionalen Verbund wieder an Attraktivität gewinnen. Generell ist zu beobachten wie sich der Fokus
von Planenden und Politik vermehrt auf Dörfer, Klein- und Mittelstädte abseits der Großstädte richtet,
verbunden mit der Frage wie die Zukunft dieser Räume unter den großen gesellschaftlichen Veränderungen
unserer Zeit aussehen wird. Der traditionelle Stadt-Land Gegensatz scheint sich mehr und
mehr aufzulösen.
Aus unserer Sicht bietet der Begriff des Stadt Land Quartiers das Potential, die aktuellen städtebaulichen
Leitbilder, wie die Stadt der kurzen Wege, mit den Lebensmodellen und Wohnansprüchen von
Vielen und den wichtigen Fragen des Klima- und Naturschutzes zusammenzubringen. Der Maßstab des
Quartiers bietet dabei die Möglichkeit über Städte wie Dörfer gleichermaßen nachzudenken. Derzeit
erleben wir, wie die großen gesellschaftlichen Megatrends die Erreichbarkeit von Waren verändern. Parallel
transformiert die Digitalisierung insgesamt unsere Lebens- und Arbeitswelt, sodass immer mehr
Branchen mit wenig oder gar keinen Emissionen auskommen. Nach Zeiten der sortierten, funktionsgetrennten
Stadt sind urbane nutzungsgemischte Quartiere damit erstmals wieder greifbar.
Mit dieser Ausgabe des urbanLab Magazins möchten wir aufzeigen, welche vielschichtigen Antworten
und Konzepte die planenden Disziplinen zu diesen gesellschaftlichen Fragen und Veränderungen diskutieren.
Nicht zuletzt seit der jüngst veröffentlichten Düsseldorfer Erklärung Nichts ist erledigt! Reform
der städtebaulichen Gesetzgebung und der Gegendarstellung der SRL ist die Debatte, um die Realisierbarkeit
vertikaler nutzungsgemischter Quartiere und Städte hochaktuell. Lesen Sie dazu in dieser Ausgabe
unter anderem über Doppelte Innenentwicklung (ab S. 8), die Möglichkeiten der Bodenpolitik als
Instrument einer strategischen Transformation (ab S. 18), das Quartier der kurzen Wege (ab S. 26) und
den Beitrag der Wohnungswirtschaft zu einem regionalen Ausgleich (ab S. 38).
In diesem Sinne laden wir Sie herzlich ein, einige unterschiedliche Perspektiven auf das Stadt Land
Quartier kennenzulernen und sich ein eigenes Bild über das Thema, sowie die Realisierungschancen
mit unseren aktuellen Planungswerkzeugen zu machen. Wie schon in vorherigen urbanLab Magazinen,
ergänzen wir die fachlichen Beiträge mit Visionen und Ergebnissen der Studierenden zum Stadt
Land Quartier. Wir hoffen, Sie haben Freude an der Lektüre und möchten uns bei den Autoren herzlich
bedanken! Nicht zuletzt gilt unser besonderer Dank der Arbeitsgemeinschaft der Wohnungswirtschaft
OWL für die kontinuierliche fruchtbare Zusammenarbeit.
Prof. Oliver Hall Sprecher urbanLab
Marcel Cardinali Koordination urbanLab
INHALT
STADT & LAND
8 • Kein Platz mehr?
Doppelte Innenentwicklung und dezentrale
Konzentration als Leitbilder für nachhaltige
Stadtentwicklung und zukunftsfähige
Stadt-Land-Synergien
Barbara Ettinger-Brinckmann • Präsidentin der
Bundesarchitektenkammer
18 • Bodenpolitik als Instrument
strategischer Transformation
Eine Annäherung
Prof. Isabel Maria Finkenberger • FH Aachen
26 • Quartier der kurzen Wege
Die Stadt von vorgestern als Quartier
von übermorgen
Marcel Cardinali • urbanLab
38 • Regionalen Ausgleich stärken
Die Wohnungswirtschaft als Gestalter
von Heimat
Dr. Svenja Haferkamp • VdW Rheinland Westfalen
Allg. Preisentwicklung
Ende ‘18/Anfang ‘19: +4,8 % höchster Anstieg der Baupreise in zwölf Jahren
Rohbauarbeiten an Wohngebäuden + 5,6 %
Maurerarbeiten + 6,0% Betonarbeiten + 5,8 %, Erdarbeiten +7,0 %,
Dachdeckungs- und Dachabdichtungsarbeiten + 4,5 %
Ausbauarbeiten + 4,2 %
Nieder- und Mittelspannungsanlagen 5,6 %
Metallbauarbeiten 4,6 %
Heizanlagen- und zentralen Wassererwärmungsanlagen + 4,0 %
2,0%
Baupreise
Februar
1,7%
Mai
2014
1,6%
August
1,6%
November
1,5%
Februar
1,5%
Mai
2015
1,5%
August
1,5%
November
STRUKTUREN & AKTEURE
1,6%
Februar
2,1%
46 • Wege zum bezahlbaren Bauen
und Wohnen
Aktuelle Herausforderungen und
Lösungsansätze
Eva Stelzner • VdW Rheinland Westfalen
Mai
2016
2,2%
August
50 • Klimaneutralität im Gebäudebestand
bis 2050
Wie geht das?
Burkhard Schulze Darup • Schulze Darup & Partner
60 • Bürgerbeteiligungsprozesse und
digitale Medien
Von einer digitalen Bürgerbeteiligung durch
das myField- und das Essigfabrik- Projekt
Laura Bremenkamp • nextPlace
2,3%
November
2,8%
Februar
2,9%
Mai
2017
3,2%
August
3,6%
November
4,0%
Februar
4,1%
Mai
4,6%
August
S. 46
4,8%
November
4,8%
Baupreise
Februar
2018 2019
Allg. Preisentwicklung
66 • Zivilgesellschaftliches Engagement
für die Verkehrswende
Bürger entwickeln gemeinschaftlich
neue Lösungen für die Mobilität in Stadt
und Land
Benjamin Dally • nextPlace
S. 26
74 • Radfahrend durch die Nachbarschaft
Die Initiative Radeln ohne Alter – Ein Plädoyer
für die Einbeziehung aller im Stadtraum
Janine Tüchsen • TH Ostwestfalen-Lippe
ZUKUNFTSVISION
80 • Stadt Land Quartier
Erkenntnisse aus dem Wettbewerb
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali • urbanLab
92 • Stadt Land Quartier
Wettbewerbsergebnisse
S. 114
IN EIGENER SACHE
114 • Kreativ Quartier Demold
Potentialstudie
Marcel Cardinali • urbanLab
120 • Gedenkstätte STALAG 326
Variantenuntersuchung
Prof. Oliver Hall, Julia Krick • urbanLab
124 • HUeBro
Haushebung in Ueberschwemmungsgebieten
am Beispiel des Elbedorfs Brockwitz
Carsten Schade • urbanLab
S. 92
128 • Heimatwerker.NRW
Prof. Oliver Hall • urbanLab
Quelle: microcities: Symbiosis - Henna Finland.
STADT
UND
LAND
Barbara Ettinger-Brinckmann
Kein Platz mehr?
Doppelte Innenentwicklung und dezentrale
Konzentration als Leitbilder für nachhaltige
Stadtentwicklung und zukunftsfähige
Stadt-Land-Synergien
Deutschland ist nicht fertig gebaut. Im Gegenteil: In vielen Städten
drehen sich die Baukräne und die ländlichen Regionen mit ihrer
eigenen Lebensqualität finden immer mehr Beachtung. Die Balance
zwischen Stadt und Land herzustellen, ist ein entscheidendes
gesellschaftliches Ziel. Dabei gilt es, für jede Planungs- und Bauaufgabe
die richtigen Prozesse und Rahmenbedingungen zu identifizieren
und umzusetzen, damit am Ende gute Gebäude, Städte
und Dörfer im Sinne von Baukultur und Nachhaltigkeit
entstehen können. Die Stadt- und Regionalplanung bietet
dafür die richtigen Leitbilder.
Quelle : BSBK 2018 / Design: Heimann + Schwantes
8 Stadt & Land
Die Frage „Kein Platz mehr?“ ist schnell
beantwortet, denn die Siedlungs- und
Verkehrsfläche nimmt in Deutschland
erst 14 % der Gesamtfläche ein. Also
bleiben mehr als 80 %, die noch bebaut
werden können. Aber wollen – und dürfen
– wir dies tun? Erkenntnisse aus der
jüngsten Zeit, etwa über das Artensterben
bei Insekten, lehren uns, dass es
Grenzen der Versiegelung von Flächen
und der baulichen Nutzung von Grund
und Boden geben muss. „Kein Platz
mehr!“ muss also mit einem Ausrufezeichen
versehen werden – als Aufforderung
an alle Bauherren, Architekten, Innenarchitekten,
Landschaftsarchitekten
und Stadtplaner.
Die Forderung nach flächensparendem
Bauen ist keineswegs neu. Seit Ende
der siebziger Jahre gibt es die Einsicht,
angesichts ausufernder Stadtränder
sorgfältiger mit allen Flächen umzugehen,
doch mit der Maßgabe, zugleich
gegen Monotonie vorzugehen und eine
individuelle, aufeinander abgestimmte
Gestaltung anzustreben.
FLÄCHE UND DICHTE ZUSAMMEN
BETRACHTEN
Das Ziel des flächensparenden Bauens
formuliert auch das Baugesetzbuch in
klarer Weise in § 1a Abs. 2: „Mit Grund
und Boden soll sparsam und schonend
umgegangen werden; dabei sind zur
Verringerung der zusätzlichen Inanspruchnahme
von Flächen für bauliche
Nutzungen die Möglichkeiten der Entwicklung
der Gemeinde insbesondere
durch Wiedernutzbarmachung von
Flächen, Nachverdichtung und andere
Maßnahmen zur Innenentwicklung zu
nutzen sowie Bodenversiegelungen auf
das notwendige Maß zu begrenzen.“
Doch der Blick auf die reale Entwicklung
und die Statistik ist ernüchternd: Bei
nahezu gleichbleibender Bevölkerung
und eher zurückgehender Industrie ist
Stadt & Land 9
von 1990 bis heute die versiegelte Fläche
von 40.000 km² auf mehr als 50.000
km² angewachsen, und sie wächst weiter,
wenn auch etwas gebremst. Zwar
wurde die Zahl mittlerweile fast halbiert,
denn Mitte der Neunzigerjahre wurden
noch ca. 120 ha täglich neu versiegelt,
so das Bundesumweltamt. Doch es sind
immer noch 62 ha täglich, bei einem politisch
gesetzten Ziel für 2020 von 30 ha
(vgl. BSBK 2018: 21).
Fachleute sind davon überzeugt, dass
diese Entwicklung besser gesteuert
werden muss. Die Europäische Kommission
wollte die Mitgliedsländer bereits
2011 in ihrem Fahrplan für ein
ressourceneffizientes Europa dazu verpflichten,
vom Flächenverbrauch zu einer
Flächenkreislaufwirtschaft überzugehen,
also nur dann neue Flächen für
Versiegelung (z.B. für Wohnungen, Gewerbe,
Industrie oder Verkehrsflächen),
in Anspruch zu nehmen, wenn dafür an
„Für die städtebauliche Aufgabe,
dem Flächenverbrauch entgegenzuwirken,
wird häufig der
Begriff „Verdichtung“ verwendet,
der sich aber in der öffentlichen Diskussion
als eher abschreckend erwiesen
hat. Hier müssen geeignete Kommunikationsstrategien
konzipiert und umgesetzt
werden, dass Gebäude durchaus
behutsam in ein vorhandenes Umfeld
eingefügt werden können. Der städtische
Raum muss intensiver und besser
ausgenutzt werden, doch nicht nur um
der rein rechnerischen Verdichtung
willen, sondern auch, um der sozialen
Entdichtung entgegenzuwirken.
Barbara Ettinger-Brinckmann
Präsidentin der Bundesarchitektenkammer
anderer Stelle im gleichen Maße entsiegelt
wird. „Es wird angestrebt, die Landnahme
so zu reduzieren, dass bis 2050
netto kein Land mehr verbraucht wird.“
(KOM 2011: 18)
Die Bundesstiftung Baukultur hat im
Baukulturbericht 2018/19 diese dramatische
Entwicklung des Flächenverbrauchs
bei fast gleichbleibender
Bevölkerung dokumentiert und darauf
hingewiesen, dass sich mit höherer
Ausnutzung der Grundstücke auch erhebliche
Kosten für die kommunale
Infrastruktur einsparen ließen. So betragen
die Herstellungskosten bei der
Inanspruchnahme von 100 m² Grundstücksfläche
pro Wohneinheit 3.600
€ im Vergleich zu nahezu 30.000 € bei
1.000 m² pro Wohneinheit (vgl. BSBK
2018:24). Dies sind nur die investiven
Kosten. Finanzielle Belastungen durch
den Unterhalt oder ökologische Kosten
sind darin nicht berücksichtigt.
LEBENDIGE STÄDTE BRAUCHEN
NUTZUNGSVIELFALT
Für die städtebauliche Aufgabe, dem
Flächenverbrauch entgegenzuwirken,
wird häufig der Begriff Verdichtung
verwendet, der sich aber in der öffentlichen
Diskussion als eher abschreckend
erwiesen hat. Hier müssen geeignete
Kommunikationsstrategien
konzipiert und umgesetzt werden,
dass Gebäude durchaus behutsam
in ein vorhandenes Umfeld eingefügt
werden können. Der städtische Raum
muss intensiver und besser ausgenutzt
werden, doch nicht nur um der
rein rechnerischen Verdichtung willen,
sondern auch, um der sozialen
Entdichtung entgegenzuwirken. Denn
der Flächenanspruch eines jeden Bewohners
steigt seit Jahren. Während
1960 noch etwa 20 m² Wohnfläche
pro Einwohner genügten, sind es heute
etwa 46 m². Diese sind allerdings
sehr ungleich verteilt.
10 Stadt & Land
Der dramatische Verlust an Wohnnutzung,
gerade in den Innenstädten, hat
seine Folgen für das städtische Geschäftsleben
und für die Nutzung der
städtischen Infrastruktur. Um eine lebendige
Innenstadt zu erhalten mit einer
Vielfalt von Geschäften müssten
etwa 20 % der Bevölkerung einer Stadt
im Bereich der Innenstadt leben. Tatsächlich
fallen die Innenstädte leer, die
Siedlungsränder dehnen sich aus: Menschenleere
Innenstädte außerhalb der
Geschäftszeiten und der Rückgang an
Vielfalt von Geschäften machen dies
deutlich erkennbar. Die Bundesstiftung
Baukultur beschreibt: „Über Jahrhunderte
gewachsene, umweltfreundlich
kompakte und baukulturell wertvolle
Siedlungsgefüge werden zerstört, identitätsstiftende
Heimaträume verbaut. [...]
Dann ist der Donut-Effekt eingetreten:
außen viel substanzlose Masse, innen
hohl“ (BSBK 2018:27) – so die Diagnose
aus dem jüngsten Baukulturbericht.
KEINE VERDICHTUNG OHNE
DURCHGRÜNUNG
Besser beschrieben ist das Konzept
der intensiveren Ausnutzung städtischer
Flächen mit dem Begriff des
Baugesetzbuchs Innenentwicklung und
nicht mit Verdichtung oder Nachverdichtung.
Denn Ziel dieses Leitbilds ist
nicht, lediglich mehr Baumasse pro Flächeneinheit
zu generieren, sondern die
Stadt, ob Großstadt, Mittelstadt oder
auch Kleinstadt, weiterzuentwickeln
und zu reparieren, die städtischen
Funktionen – und dazu gehören auch
Grünräume und Plätze – zu stärken,
die Infrastruktur zu konzentrieren, um
das Leben in der Stadt so angenehm
wie möglich zu gestalten. Die Doppelte
Innenentwicklung – diesen Begriff
hat die frühere Bauministerin Barbara
Hendricks geprägt – ist die geeignete
Planungsstrategie, um unsere Städte
unter folgenden zwei Gesichtspunkten
zu entwickeln:
„Über Jahrhunderte gewachsene,
umweltfreundlich kompakte und
baukulturell wertvolle Siedlungsgefüge
werden zerstört, identitätsstiftende
Heimaträume verbaut. [...] Dann
ist der Donut-Effekt eingetreten: außen
viel substanzlose Masse, innen hohl.
Bundesstiftung Baukultur (2018)
Besser Bauen in der Mitte. Ein Handbuch zur Innenentwicklung
Ein Ziel ist, den Bestand baukulturell
aufzuwerten und die nicht vermehrbare
Ressource Grund und Boden
als Standort für Wohnen, Geschäfte,
wohnverträgliche Arbeitsplätze sinnvoller
und intensiver zu nutzen. Eine
wesentliche Aufgabe für Planer liegt
darin, die Ziele des Weiterbauens in
der Stadt und die Ausnutzung ihrer
Flächenpotentiale der Bevölkerung,
insbesondere den Nachbarn von potenziellen
Bauvorhaben, besser zu
vermitteln, Vorbehalte und Ängste abzubauen
und den Mehrwert für alle
herauszuarbeiten. Not in my backyard
(Nimby) ist nicht zukunftsfähig. Durch
gut vorbereitete Beteiligungsprozesse,
durch schöne, behutsam in ihr Umfeld
eingefügte Bauten und sorgfältig
gestaltete Fassaden ist Build in my
backyard (Bimby) das Ziel. Das ist nur
gemeinsam mit Bauherren umsetzbar,
die sich bewusst sind, dass Eigentum
verpflichtet, dass jegliches Bauen nie
nur privat, sondern immer auch öffentlich
ist: wer ein Innen baut, baut
auch ein Außen. Bauherren müssen
ermutigt werden, die qualitätssichernden
Instrumente, die der Berufsstand
der Architekten anbietet, wie z.B. den
Planungswettbewerb, anzuwenden.
Nicht nur die beste Lösung für eine
Bauaufgabe lässt sich darüber finden,
sondern auch die Öffentlichkeit in geeigneter
Weise einbinden.
Stadt & Land 11
„Die Doppelte Innenentwicklung
folgt dem Leitbild der europäischen
Stadt, die von der Durchmischung
von Wohnen und
Arbeiten geprägt ist, von der sozialen
Vielfalt und der Vielfalt an Nutzungen,
der Konzentration von abwechslungsreicher,
aber gestalterisch harmonierender
Bebauung im Wechsel mit
kleinen Stadtteilparks, begrünten Vorgärten,
schönen Bäumen.
Barbara Ettinger-Brinckmann
Präsidentin der Bundesarchitektenkammer
Das zweite Ziel der Doppelten Innenentwicklung
ist, parallel dazu das
urbane Grün zu erhalten und zu qualifizieren.
Verdichtung und Durchgrünung
müssen als Einheit konzipiert
sein. Dadurch kann der aktuelle Druck,
mehr zu bauen, in eine echte Chance
zur Stadtreparatur verwandelt werden.
Nur diese thematische Gleichzeitigkeit,
diese Doppelung, kann den städtischen
Lebensraum sichern und die städtische
Qualität und Attraktivität der Stadtquartiere
als Wohnstandort, aber auch als
Standort von Geschäften, Dienstleistungen,
Gastwirtschaften und Erholungsflächen
aufwerten. Dazu gehört auch
die Einbindung wohnverträglichen Gewerbes
und geeigneter Produktion, die
es zurück in die Stadt zu holen gilt.
Die Doppelte Innenentwicklung folgt
dem Leitbild der europäischen Stadt,
die von der Durchmischung von Wohnen
und Arbeiten geprägt ist, von der
sozialen Vielfalt und der Vielfalt an
Nutzungen, der Konzentration von abwechslungsreicher,
aber gestalterisch
harmonierender Bebauung im Wechsel
mit kleinen Stadtteilparks, begrünten
Vorgärten, schönen Bäumen. So ergibt
sich wie von selbst auch ein ökologischer
Gewinn: Die Auswirkungen des
Klimawandels wie extreme Hitze und
ungewöhnlich hohe Niederschlagsmengen
werden durch die Grünräume gemildert,
mehr Nachfrager ermöglichen
Geschäften und Gastronomie ein Überleben,
die Mischung der Funktionen vermeidet
motorisierten Verkehr und es
entsteht eine Stadt der kurzen Wege, die
sich zu Fuß oder per Rad zurücklegen
lässt. Vorbild sind die Gründerzeitviertel,
die den Krieg überlebt haben.
BAUPLANUNGSRECHT MUSS AUF
DEN PRÜFSTAND
In der Leipzig-Charta zur nachhaltigen Europäischen
Stadt haben sich die Bauminister
Europas bereits 2007 für dieses
städtebauliche Leitbild ausgesprochen.
Deutschland wird 2020 die europäische
Ratspräsidentschaft übernehmen und
im Rahmen dieser Aufgabe die Leipzig
Charta überarbeiten, denn seit 2007
haben sich natürlich die gesellschaftlichen
und technologischen Parameter
weiterentwickelt wie zum Beispiel die
Digitalisierung, die Elektromobilität oder
Demographie und Zuwanderung. Auch
in diesen Entwicklungen liegen enorme
Chancen. Mit der Davos Declaration
Baukultur 2018 – der deutsche Begriff
Baukultur hat damit Eingang in die internationale
Sprache gefunden – haben
die Kulturminister Europas beim Weltwirtschaftsforum
letztes Jahr in Davos
ergänzend verdeutlicht, dass die Verbesserung
der gebauten Umwelt inzwischen
ein europaweites politisches Anliegen ist.
12 Stadt & Land
Mit welchen Instrumenten aber kann
es gelingen, das Ziel der doppelten Innenentwicklung
zu fördern? Bietet das
Bauplanungsrecht einen geeigneten
Rahmen für kommunale Stadtentwicklungspolitik?
Im Bundesministerium
des Innern, für Bau und Heimat arbeitet
die Expertenkommission „Nachhaltige
Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“,
an geeigneten Anpassungen
des Planungsrechtes:
Die Erweiterung der kommunalen
Handlungsmöglichkeiten für bezahlbaren
Wohnungsneubau in §
34-Gebieten (Gebiete des unbeplanten
Innenbereichs, für die es
keinen Bebauungsplan gibt)
Die Verbesserung des bauplanungsrechtlichen
Instrumentariums zur
Stärkung der Innenentwicklung über
die Mobilisierung bebaubarer Innenentwicklungspotentiale
Die Stärkung gesetzlicher Vorkaufsrechte
von Gemeinden
Die Flexibilisierung der bisherigen
Obergrenzen für das zulässige
Maß der baulichen Nutzung des §
17 BauNVO, um höhere bauliche
Dichten zu erreichen
Ein weiterer Vorschlag von Planungsrechtexperten
ist, die Genehmigung von
Bauvorhaben in Gebieten von Alt-Bebauungsplänen
auch nach §34 BauGB
zu ermöglichen. In vielen Diskussionen
wird die Verkaufspolitik insbesondere
der ersten Jahre dieses Jahrtausends
beklagt und von den Kommunen eine
aktive und nachhaltige Grundstückspolitik
gefordert. Gemeinden, Bund und
Länder wie auch die ihnen gehörenden
Wohnungsunternehmen verkauften
zwischen 1999 und 2006 ca. 2 Millionen
Wohnungen. Die Erlöse wurden damals
überwiegend in die Haushaltssanierung
gesteckt (vgl. DASL 2019:9).
Nun stehen aber weder die Gelder noch
die Flächen für eine aktive Stadtentwicklungspolitik
zur Verfügung. Eindringlich
appelliert die Deutsche Akademie für
Städtebau und Landesplanung für eine
neue Bodenpolitik: „Unser Umgang mit
dem Boden ist entscheidend für die Zukunft
unserer Städte“ (DASL 2019:4). Einiges
hat der Bund bereits in Bewegung
gebracht, z.B. mit der sog. Verbilligungsrichtlinie,
nach der es der Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben (BImA) gestattet
ist, für bezahlbaren Wohnungsbau geeignete
Grundstücke preiswert an Kommunen
zu verkaufen. Auch die Bundesarchitektenkammer
setzt sich seit längerem
für eine Anpassung des Städtebaurechts
an die heutigen Anforderungen ein.
Dieses Streben nach Änderung des
Städtebaurechts geht von einem Wandel
des städtebaulichen Leitbildes aus:
In den 60er Jahren – in genau dieser Zeit
entstand die jetzige Baunutzungsverordnung
– plante man die autogerechte, die
gegliederte Stadt mit getrennten Funktionen
und ihren aufgelockerten Siedlungs-
statt Stadtstrukturen. Grundlage
dieses Konzeptes war seinerzeit u.a. die
Charta von Athen, die Anfang der Dreißigerjahre
des vergangenen Jahrhunderts
als Konsequenz des unmenschlichen
Mietskasernenbaus zu Beginn der Industrialisierung
und der Belastung der
Wohnbevölkerung durch Lärm und
Dreck die räumliche Trennung der städtischen
Funktionen – Wohnen, Arbeiten,
Verkehr, Freizeit – forderte. Dies schlägt
sich bis heute in der Baunutzungsverordnung
(BauNVO) in bestimmten Gebietstypen
nieder, die die Stadt sortiert,
und denen eine Mischung der Funktionen
entgegensteht, aber auch in Immissionsschutzgesetzen,
die zur mittlerweile
sauberen und leisen Produktion nicht
mehr passen, und in Dichtefestsetzungen
für die Bebauung je Quadratmeter
Grundstücksfläche, die sich auf die Parzelle
beziehen, an Höchstgrenzen orientieren
und von einer weit höheren so-
Stadt & Land 13
„Die richtige Mischung mit der richtigen
baulichen und sozialen Dichte und
mit hoher gestalterischer Qualität
des Gebauten ist das Erfolgsgeheimnis einer
vitalen, sozialen und nachhaltigen Stadt:
Mischen is possible!
Barbara Ettinger-Brinckmann
Präsidentin der Bundesarchitektenkammer
zialen Dichte ausgehen. Die heute sehr
beliebten Gründerzeitviertel mit der
typischen Nutzungsmischung von Wohnen
und Gewerbe könnten unter diesen
gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht
mehr ohne weiteres gebaut werden.
Immerhin hat der Gesetzgeber mit einem
neuen Gebietstyp, dem „Urbanen
Gebiet“, versucht, Abhilfe zu schaffen, in
dem für dieses Gebiet sowohl höhere
Dichtewerte wie auch mehr Mischung
von Funktionen zugelassen werden
können. Allerdings mit Einschränkungen,
denn dieser neue Gebietstyp darf
im Rahmen von § 34 nicht angewendet
werden. Außerdem setzt auch die Technische
Anleitung zum Schutz gegen Lärm
(TA-Lärm) Grenzen.
Ein zeitgemäßes Städtebaurecht sollte
aber genau das Leitbild widerspiegeln,
das mit der Leipzig-Charta nicht erst
seit heute das politisch und gesellschaftlich
erklärte Ziel des Städtebaus
ist. Die Argumentation, man könne mit
geschickter Handhabung von Ausnahmen
und spezifischen Abwägungen ja
fast alles erreichen, was man erreichen
wolle, mag zwar die Realität in den Planungsämtern
richtig beschreiben, stellt
aber die Verwaltung und die Kommunalpolitik
vor Herausforderungen und
dem Gesetzgeber kein besonders gutes
Zeugnis aus. Vielmehr sollte das
Planungsrecht die angestrebten städtischen
Strukturen als Normalfall beschreiben
und nicht lediglich durch Ausnahmen
ermöglicht werden.
SYNERGIEN VON STADT UND
LAND FÖRDERN
Doch es sind auch Erfolge zu verzeichnen,
die mit unserem Planungsrecht, also auch
der Baunutzungsverordnung, erreicht
worden sind, nämlich die klare Trennung
von Innenbereich und Außenbereich und
dem konsequenten Schutz des Außenbereichs.
Jedem Reisenden durch andere,
auch europäische Länder wird auffallen,
dass Deutschland mit diesem Instrument
seine Landschaft bisher konsequent vor
Zersiedlung hat schützen können.
Mit Innenentwicklung lässt sich insbesondere
in den Metropolen letztendlich nicht
genügend Bauland, insbesondere für
preisgünstiges Bauen, gewinnen. Zwar
gibt es in Städten Baulücken, unternutzte
Grundstücke, größere und kleinere Brachen,
auch bieten Dächer, Parkhäuser,
aufgelassene Gewerbe- und Bürobauten
und Parkplätze große Potentiale, doch ist
es – auch aus rechtlichen Gründen – nicht
einfach, alle diese zu aktivieren und zu
nutzen, obwohl dies im Sinne von Stadtreparatur
wünschenswert wäre. Auch die
Potentiale im Umland müssen integriert
werden, denn sonst droht ökologischer
Unsinn: hier zu bauen, um dort vorhandenen
Bestand verfallen zu lassen.
Die Bundesarchitektenkammer verdeutlicht
im Positionspapier Wohnungsbau
für alle ihre Forderungen: „Während
vor allem die Metropolregionen
derzeit unter starkem Wachstumsdruck
stehen, herrscht andernorts Stillstand;
manche Regionsabschnitte und Teile
des ländlichen Raums sind sogar von
Schrumpfung betroffen. Baulandmobilisierung
wird bei aller Ausschöpfung von
rechtlichen Möglichkeiten nicht immer
nur in der begrenzten kommunalen Gebietskulisse
gelingen können. Der Blick
über den kommunalen Tellerrand in die
sogenannten Städte und Kommunen
der zweiten Reihe wird immer wesentlicher.
Regionalplanung ist das geeig-
14 Stadt & Land
nete Instrument, um auch unter den
aktuellen demografischen und sozialen
Bedingungen Voraussetzungen für
verträgliche Flächenausweisungen und
Umwidmungen zu schaffen. Regionalplanung
muss Anreize für kommunale
Stadtentwicklung schaffen. Um Zersiedelungen
und den Bedeutungsverlust
der Kernstädte durch die Stadt-Umland-Entwicklung
zu vermeiden, müssen
sich solche Entlastungsstrategien
für Wohnbauflächen auf ein leistungsfähiges
öffentliches Nahverkehrssystem
sowie eine gute Breitbandversorgung
stützen. Das regionale Denken und Zusammenarbeiten
wird zwar propagiert,
ist aber immer noch kein Regelfall. Die
dezentrale Konzentration oder die Region
der korrespondierenden Zentren
sollte zum Regelfall werden.
Dazu gehört auch eine intensivierte
sowie qualitativ und quantitativ verbesserte
Mobilitätspolitik und Mobilitätsplanung.
Dabei sollte sich die
Wohnungsentwicklung entlang des Öffentlichen
Nahverkehrs und der bestehenden
Breitbandtrassen konzentrieren.
Insoweit kann dieses Leitbild der
dezentralen Konzentration hilfreich sein,
um die Attraktivität schrumpfender Regionen
zu stärken, den dort vorhandenen
Leerstand an Wohnungen zu nutzen,
neue Arbeitsplätze zu schaffen und so
den Zuwanderungsdruck auf die Wachstumsregionen
zu reduzieren. Ein funktionsfähiger
öffentlicher Nahverkehr mit
kurzer Taktung und preisgünstigem, einfachen
Tarifsystem sowie ein guter Breitbandausbau
sind dafür erforderlich, um
die Infrastrukturdefizite in Bezug auf Arbeitsplätze,
Bildung, Gesundheitsvorsorge,
Handel und Kultur auszugleichen.
SCHAFFUNG VON WOHNRAUM
HAT PRIORITÄT
Das Konzept der Dezentralen Konzentration
richtet sich vor allem an
Wachstums- und Großstadtregionen
und bietet einen Entwicklungsrahmen
für die Stadt vor der Stadt, also
für die Ränder unserer Siedlungen.
Einzelne Zentren werden Kristallisationspunkte
der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Entwicklung. Mit diesem
Leitbild sollen mehrere Suburbanisierungstrends
kanalisiert werden,
damit Infrastrukturprobleme besser
beherrschbar sind, die Zersiedelung
von Landschaft begrenzt wird und
vor allem die nach wie vor wachsende
Flächenversieglung eingeschränkt
werden kann. Schließlich entspricht in
Deutschland der Leerstand an Wohnungen
etwa dem des Wohnungsbedarfs.
Bei der Aktivierung der Städte
und Dörfer im Umland, der Ankerstädte,
so der Begriff der Bundesstiftung
Baukultur, gilt natürlich auch, möglichst
wenig neues Bauland an den
Rändern auszuweisen, sondern auch
dort die Innenentwicklungspotentiale
zu nutzen und die vorhandenen Ortskerne
zu stärken. Der vorhandene
Baubestand – schon allein wegen der
ihm innewohnenden ‚grauen Energie‘
– muss einbezogen werden. Und das
alles begleitet von der Forderung nach
gestalterischer Qualität.
Diese beiden planerischen Strategien
– 1. die Doppelte Innenentwicklung mit
Konzepten für Dichte, Mischung und
städtisches Grün sowie 2. die Dezentrale
Konzentration zur Aktivierung der
Potentiale im Umland bei sorgfältiger
Entwicklung von Bauland und gleichzeitigen
Maßnahmen gegen Zersiedelung
– hat die Bundesarchitektenkammer
gemeinsam mit den Architektenkammern
der Länder in zwei Positionspapieren
(vgl. BAK) konkretisiert.
Für die Zukunft der Städte, insbesondere
unter dem Aspekt der Bereitstellung
von ausreichendem Wohnraum,
müssen aus Sicht der Architekten
und Stadtplaner folgende Ziele umgesetzt
werden:
Stadt & Land 15
1
Wohnraum muss vorrangig dort
entstehen, wo schon gewohnt wird.
Dadurch werden bestehende Infrastrukturen
besser genutzt und weniger
Flächen müssen neu versiegelt werden.
2
Das Quartier als strukturelle und
gestalterische Einheit muss Bezugsebene
sein und mit geeigneten Planungsinstrumenten
gestärkt werden.
3
Für lebendige und wirtschaftlich
tragfähige Stadt-Land-Verbünde
müssen kommunale Grenzen und
Landesgrenzen überwunden werden.
4
Chancen der technischen Entwicklung
wie neue, leise Produktion,
selbstfahrende Autos müssen frühzeitig
erkannt und genutzt werden für die
Rückgewinnung von Parkplätzen und Straßenräumen
für Grün- und Lebensräume.
5
Förderprogramme müssen praxisnah
und niedrigschwellig für Kommunen
und Akteure entwickelt werden.
An das Fördern muss die Forderung
an gute Gestaltung geknüpft werden.
6
Bauflächen im Bestand müssen
gezielt identifiziert und aktiviert
werden, dabei müssen auch Wege
beschritten werden, die ggfls. noch
neu und rechtlich unsicher sind wie
die Aufstockung von Wohn- und Nichtwohngebäuden
wie Parkhäuser oder
Supermärkte, die (Teil-) Umnutzung
von Bürobauten oder die Bebauung von
problematischen Zwischenräumen oder
die Qualifizierung von Einfamilienhausgebieten.
Hierzu sollte ein bundesweites
‚Kataster der Potentiale‘ erarbeitet werden,
das zu einem neuen Umgang mit
Strukturen ermutigt und zu einer neuen
funktionalen Vielfalt führen kann.
Für die baulich-räumliche Organisation
unseres Zusammenlebens muss die
europäische Stadt das zentrale Leitbild
sein, die durch die Vielfalt ihrer Bewohner,
die Vielfalt ihrer Nutzungen und die
sorgfältige Gestaltung ihrer Architekturen,
Straßen, Grünräume und Plätze
charakterisiert ist. Die richtige Mischung
mit der richtigen baulichen und sozialen
Dichte und mit hoher gestalterischer
Qualität des Gebauten ist das Erfolgsgeheimnis
einer vitalen, sozialen und
nachhaltigen Stadt: Mischen is possible!
Literatur & Abbildung
Bundesstiftung Baukultur (BSBK) (2018): Besser Bauen in der
Mitte. Ein Handbuch zur Innenentwicklung, Potsdam 2018
KOM (2011): Mitteilung der Kommission an das Europäische
Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und
Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Fahrplan
für ein ressourcenschonendes Europa, Brüssel, den 20.9.2011
KOM(2011) 571 endgültig
DASL (2019): Der Boden der europäischen Stadt. Debatten
Papier des Ausschusses Bodenpolitik der Deutschen Akademie
für Städtebau und Landesplanung e.V., Februar 2019
BAK (2019): Baulandkommission.Vorschläge der Bundesarchitektenkammer
(BAK), 2019. <https://www.bak.de/berufspolitik/
bezahlbarer-wohnungsbau-fuer-alle-2/vorschlaege-der-bak-fuer-die-baulandkommission-10042019.pdf>
(letzter Zugriff:
24.07.2019)
BAK (2019): Bezahlbarer Wohnungsbau für alle. Positionspapier
der Bundesarchitektenkammer, 2019. <https://www.
bak.de/w/files/bak/04/preise/dnk-2018/180523_positionspapier-bezahlbarer-wohnungsbau-fuer-alle.pdf>
(letzter Zugriff:
24.07.2019)
Fotos: Till Budde, Berlin
Barbara Ettinger-
Brinckmann
Präsidentin der
Bundesarchitek-
tenkammer
Seit 1980 als freiberufliche Architektin tätig.
Gesellschafterin der ANP Architektur- und
Planungsgesellschaft in Kassel. Von 2004 bis
2013 Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer
Hessen. Seit 2013 Präsidentin der
Bundesarchitektenkammer. Weiterhin stellvertretende
Vorsitzende des Stiftungsrats der
Bundesstiftung Baukultur, Vizepräsidentin des
Bundesverbands der Freien Berufe, Mitglied des
DIN-Präsidiums, des Präsidiums der DGNB, der
Wissenschaftlichen Kommission der Deutschen
Stiftung Denkmalschutz und des wissenschaftlichen
Beirats des Instituts für Stadtbaukunst.
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Stadt & Land 17
Isabel Maria Finkenberger
Bodenpolitik als Instrument
der strategischen
Transformation
Eine Annäherung
MetroGartenStadt
Quelle : BBSR Bonn 2017
Zwischenstadt, Zukunftslabor
DEUTSCHLAND 2019 – PROLOG
Jeden Tag werden rund 58 ha Land
als Siedlungs- und Verkehrsflächen
neu ausgewiesen. Dies entspricht einer
Flächenneuinanspruchnahme von
circa 82 Fußballfeldern (BMU 2019).
Die durchschnittliche Wohnfläche pro
Kopf entspricht derzeit 46,5 qm (Statistisches
Bundesamt 2019) – Tendenz
steigend. Die Innenstädte werden bis
zur Unkenntlichkeit globalisiert und unter
Rahmenbedingungen der angeblich
sozialen Marktwirtschaft massiv nachverdichtet.
Boden und Wohnraum sind
Spekulationsobjekte und im wirtschaftlich
boomenden Deutschland wächst
die Kinderarmut. An den Rändern unserer
Städte und Kommunen entstehen
zumeist schlecht angebundene
Neubaugebiete, die nach wie vor das
Einfamilienhaus als zentrale Typologie
zelebrieren. Wunderbar nach derzeitigen
energetischen Maßstäben in Son-
18 Stadt & Land
dermüll-Plastik verpackt und auf Parzellen,
die aufgrund der Bodenpreise oft
so klein und wenig nutzbar sind, dass
sie dann auch gleich mit pflegeleichten,
dafür aber ökologisch hochproblematischen
Steingärten gestaltet werden.
Zum Gärtnern hat man in diesen monofunktionalen
Strukturen aufgrund
der weiten Wege zu Nahversorgung und
Arbeit ja eh keine Zeit mehr. Für eine
Plastikrutsche pro Garten ist dann aber
trotzdem noch Platz. Da rutscht und
schaukelt dann jeder ganz sicher für
sich alleine. Die RASt 06, die Richtlinien
für die Anlage von Stadtstraßen, zelebrieren
die Weite unter dem Deckmantel
der Verkehrssicherheit. Die Stellplatzbreiten
müssen aufgrund der Landlust
vieler Stadtbewohner*innen, symptomatisch
repräsentiert durch Land Rover
und Jeep, um bis zu 30 cm verbreitert
werden. Und weil die vielen Autos den
Schulweg unsicher machen, muss man
die Kinder selbstverständlich auch mit
diesen Gefährten zur Schule oder zum
Kindergarten bringen. Der öffentliche
Nahverkehr ist teilweise so schlecht und
teuer, die Bequemlichkeit im Gegensatz
oft so hoch, dass dem motorisierten Individualverkehr
ungeniert gefrönt wird.
Eingekauft wird bei Discountern mit
zahlreich verfügbaren Parkplätzen, konsumiert
werden Fleisch- und Milchprodukte
zu Minimalpreisen und in großen
Mengen, welche die Produktionskosten
kaum und nur unter den horrendesten
Bedingungen decken können, dafür
aber für 206,6 Millionen Tonnen CO 2
pro Jahr (agrarheute 2018) verantwortlich
sind. Zugegeben – die Flugbilanz
der Bundesbürger ist 12,5 Mal so hoch
(Ebd.) – aber Kleinvieh macht auch Mist.
Und nur, weil es noch schlimmer geht ist
ja etwas Schlechtes nicht gleich gut. Und
ja: Es gibt auch die Anderen – jene, die
alternativen Raum-, Wohn-, Mobilitätsund
Konsumpraxen leben. Aber das sind
zu wenige und diese Praxen sind noch
nicht gesellschaftsfähig genug, um politisch
nach dem aktuellen Kenntnisstand
aus Wissenschaft und Praxis Einzug in
die Realität zu finden. Das Thema Klimawandel
ist dank Greta Thunberg und ihren
Mitstreiter*innen, aber auch durch
die immer häufiger auftretenden Hitzewellen
mit knapp 40 Grad im Schatten
endlich oder zumindest vorübergehend
in der gesellschaftlichen Mitte angekommen
– 47 Jahre nach Erscheinen der
vom Club of Rome beauftragten Studie
Die Grenzen des Wachstums (Meadows
1972). Jetzt heißt es auch entsprechend
Handeln und die Große Transformation
(wbgu 2011, Paech 2018) anzugehen.
Welche Rolle aber können dabei die Planer*innen
spielen?
„Es ist genug. Täglich verstoßen wir, verstoßen
Gesellschaft und Politik gegen
den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.
Mit der westlichen Lebenseinstellung,
alles jederzeit machen und haben zu
können, ist es vorbei. Unser Leben muss
sich an einem neuen, ökologisch vertretbaren
Maß ausrichten. Wir dürfen nicht
länger warten, bis sich das von Lobbyisten
beeinflusste Zögern und Abwarten
ändert. Wir müssen politisch denken
und handeln, müssen uns einmischen,
Eigeninitiative entwickeln und zivilen Ungehorsam
proben. Wir müssen zeigen,
dass der tägliche Umweltwahnsinn, wie
beispielsweise der ungebremste Flächenfraß,
der Vorrang von Neubauten
oder der Fetisch Mobilität, nicht alternativlos
ist. Ansonsten brauchen wir über
eine Zukunft nicht mehr nachzudenken.
Wir sind dran.“ So formuliert der Bund
Deutscher Architekten 2019 seine auf
dem 15. BDA-Tag in Halle verabschiedeten
Positionen für eine Klimagerechte Architektur
in Stadt und Land. Die hier zitierten
Ausführungen des I. Postulats „Politisch
denken und sich einmischen“ werden
durch neun weitere ergänzt: Erzählungen
für ein neues Zukunftsbild, Achtung
des Bestands, Intelligenz des Einfachen,
Bauen als materielle Ressource, Vollständige
Entkarbonisierung, Neue Mobilitätsformen,
Polyzentralität stärken, Kul-
Stadt & Land 19
„Runtergebrochen behauptet das:
„Stadt Land Quartiere“ sind Nachbarschaften,
welche mit dem ganzen
zeitgenössischen Repertoire
der Stadtplanung und nach dem disziplinär
derzeitig allgegenwärtig debattierten Leitbild
der Europäischen Stadt (BBSR 2010)
mit einer entsprechend reduzierten Dichte
in ländlichen Regionen, in Klein- und Mittelstädten,
entworfen werden können.
Isabel Maria Finkenberger Prof. Dipl.-Ing.
sondern mit der intelligenten Nutzung
der in den Dörfern und Kleinstädten
vorhandenen Potentiale im Bestand und
mit der Entwicklung neuer Freiraumtypologien,
die typische Freiraumstrukturen
des ländlichen Raums integrieren
und trotzdem öffentliche Räume sind.“
Im Folgenden ein weiterer Versuch mit
dem Fokus auf das Dazwischen – Zwischen
Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt
und Land (Sieverts 1997).
DAS STADT LAND QUARTIER ALS
INSEL DER GLÜCKSELIGEN
Dilemma zwischen
Wunsch und Wirklichkeit
tur des Experimentierens und Politische
Versuchsräume. (vgl. Ebd.) Und auch
unter den Wissenschaftler*innen und
Planenden auf dem ARL-Jahreskongress
2019 Postwachstum und Transformation.
Planen – Steuern – Wirtschaften in Kassel
wurde die Repolitisierung der planenden
Disziplinen eingefordert.
Der folgende Text erörtert das Dilemma
zwischen Wunsch und Wirklichkeit und
zeigt beispielhaft auf, wie eine mögliche
Transformationsstrategie aussehen
könnte, die alternative Lebens- und
Handlungspraxen ermöglicht. Der Begriff
Stadt Land Quartier ist in diesem
Zusammenhang nicht unproblematisch,
bietet aber gleichwohl einen guten Anlass
zur Auseinandersetzung. Er behauptet
– kritisch formuliert – ein alternatives
Stück Siedlungsgefüge, das man entwerfen
könne und welches das Dilemma
des Status Quo überwindet. Eine etwas
andere Interpretation haben Kathrin
Volk und Martin Hoelscher in ihrem Text
Dorf-Konversionen (Volk/Hoelscher 2018)
gewagt und die hierfür relevanten Themen
und Maßnahmen formuliert. „Für
das Wohnen wird es wichtig sein, auch in
ländlichen Räumen zeitgemäße Formen
des Zusammenlebens zu ermöglichen.
Das ist weniger mit der Realisierung von
der Urbanität städtischer Räume adaptierenden
Neubauvorhaben verbunden,
„Das Stadt Land Quartier vereint das Beste
aus Stadt und Land.“ Damit beginnt
fast jede Präsentation entwurflicher
Auseinandersetzungen. Eine menschliche
Dichte mit Eigentum und Gartennutzung
zur Selbstverwirklichung, den
direkten Zugang zur offenen Landschaft,
die (vielfach heraufbeschworene) Gemeinschaft
in überschaubarer Größe,
Sicherheit, Ruhe und Entschleunigung
– und gleichzeitig Zugang zu sämtlichen
Versorgungsinfrastrukturen, Bildungsund
kulturellen Institutionen sowie die
Nähe zu einer Großstadt mit dem hierfür
selbstverständlich notwendigen Autobahnanschluss.
Die als negativ bewerteten
Eigenschaften der Stadt – Anonymität,
die unerwünschte Begegnung mit
dem Unerwarteten und dem Fremden
sowie die gesundheitsgefährdenden
Nebenwirkungen und alltäglichen Grabenkämpfe
aufgrund von Verkehr, Lärm,
Luftqualität, Hitzeentwicklung, baulicher,
kultureller und menschlicher Dichte und
Mischung und jene des Landlebens – infrastrukturelle
und ökonomische Abgekoppeltheit,
Versorgungsengpässe, eine
fehlende kritische Masse bei fast Allem,
der Ausschluss aus der (vielfach heraufbeschworenen)
Gemeinschaft und die
Unmöglichkeit, sich dieser zu entziehen,
sind passé in einem Stadt Land Quartier.
Runtergebrochen behauptet das: Stadt
Land Quartiere sind Nachbarschaften,
welche mit dem ganzen zeitgenössi-
20 Stadt & Land
schen Repertoire der Stadtplanung und
nach dem disziplinär derzeitig allgegenwärtig
debattierten Leitbild der Europäischen
Stadt (BBSR Bonn 2010) und mit
einer entsprechend reduzierten Dichte
in ländlichen Regionen, in Klein- und Mittelstädten,
entworfen werden können.
Was aber bedeutet Entwurf in diesem
Zusammenhang? Und was sind die Mittel
und Wege der Planenden?
Diese Insel der Glückseligen hat einen
prominenten Vorläufer – die Gartenstadt
des britischen Stenotypisten
Ebenezer Howard, die er in seinem
Buch 1898 unter dem Titel Tomorrow.
A Peaceful Path to Real Reform entwarf
und 1902 mit dem Titel Garden Cities of
To-morrow neu auflegte. Im Gegensatz
zu den meisten realisierten gleichnamigen
Siedlungen, war seine Gartenstadt
ein städtebauliches, auf ökonomischen
Prinzipien basierendes Konzept, welches
als autarke Idealstadt ausformuliert
werden sollte und die Vorteile des Gegensatzpaares
Stadt und Land zu einem
Dritten Pol Stadt-Land vereinen sollte. In
ihrer Größe begrenzt und von einem die
Stadt versorgenden Land(wirt)schaftsgürtel
umgeben, waren neben ländlich
geprägten und auf Selbstversorgung
basierenden Wohnsiedlungen unter anderem
auch Fabriken und Produktionsstätten
sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen
vorgesehen. Unter heutigen
Gesichtspunkten erscheint insbesondere
die Idee radikal, die Gartenstadt als
genossenschaftliches Modell zu entwickeln.
Dadurch, und durch die Vergabe
der Parzellen in Erbpacht, sollten zukünftige
Spekulationen vermieden und
Mieten geringgehalten werden. Kapitalerträge
sollten entsprechend in die Gemeinschaftseinrichtungen
reinvestiert
werden. Der Spekulationsgewinn bei
der Umwandlung von billigem Agrarland
in wertvolles Bauland wiederum sollte
der Allgemeinheit der neuen Stadt zugutekommen
und einen großen Teil der
Neubaukosten tragen.
Die Tragik des Konzeptes der Gartenstadt
formuliert sich im Grundsatz:
Angetreten, den Gegensatz zwischen
Stadt und Land zu überwinden, wurde
Howards integriert konzipierte Gartenstadt
zum Symbol der Nutzungstrennung
und damit zur Vorreiterin der
Klassischen Moderne. Während jedoch
die beiden Versuche der Manifestation
seiner Idee, Letchworth und Welwyn
Garden City, unter anderem daran
scheiterten, dass sie durch das sich
rasant ausbreitende Eisenbahnetz von
der Metropole London als Vorstädte
einverleibt wurden, sind erst durch den
steigenden motorisierten Individualverkehr
jene monofunktionalen Siedlungsflächen
entstanden, für die Thomas
Sieverts 1997 den Begriff Zwischenstadt
prägte. Mobilität als Schlüssel von
Chance und Scheitern. Auch heute eine
zentrale Zukunftsaufgabe.
ÜBERSCHAUBARKEIT SCHLÄGT
DIE FREIE STADTLUFT
„Eine Umfrage der Bundesstiftung Baukultur
zeigt deutlich, dass sich knapp
80 % der Befragten kleinere räumliche
Einheiten als Wohnort und Lebensmittelpunkt
wünschen. Insgesamt bevorzugen
sogar 45 % das Leben in einer
ländlichen Gemeinde. Nur etwa ein
Fünftel sucht das Leben in der Großstadt
– und das sind in der Mehrzahl
„Nachverdichtung und Innenentwicklung,
vertikale Mischung,
Hybridisierung, Programmierung,
die Addition neuer Typologien
und Programme und Klimaanpassung
sind mehrheitlich urbane Formeln, die in
den Mittelrand, Mittel- und Kleinstadtkontexten
noch in der Pubertät feststecken
und auf den erlösenden Kuss warten.
Isabel Maria Finkenberger Prof. Dipl.-Ing.
Von der Gartenstadt
zum Stadt Land Quartier?
Stadt & Land 21
junge Leute zwischen 18-29 Jahren. (vgl.
BSBK 2017) Bei der genannten Umfrage
waren finanzielle und sonstige Rahmenbedingungen
bewusst ausgeklammert.
Die Gründe, warum es trotzdem
immer mehr Menschen in die Städte
treibt, ist also nicht in ihren tatsächlichen
Wohnortvorstellungen begründet,
sondern geht vielmehr mit dem Studien-
und Arbeitsplatzangebot sowie mit
der urbanen Infrastruktur und ihren
vielfältigen Nutzungsangeboten einher.“
Dies formulieren die Auslober*innen
des studentischen Ideenwettbewerbes
Stadt Land Quartier. (Wohnungswirtschaft
OWL/urbanLab – TH OWL 2018) In der
Digitalisierung und den damit einhergehenden
Veränderungen bezüglich der
Arbeitsweise und des Konsumverhaltens
steckt ein großes Potential, welches
„Es braucht neue Bewertungsparameter
mit dem Ziel einer synergetischen
Transformation von Landschaft,
landwirtschaftlicher und
Energieproduktion und von Siedlungsflächen
sowie einer alternativen ökonomischen
und ökologischen Handlungspraxis
hin zu einer Postwachstumsökonomie.
Isabel Maria Finkenberger Prof. Dipl.-Ing.
zukünftig eine freiere Wohnortwahl ermöglicht
– zumindest für diejenigen,
die ein eingeschränktes Angebot an
Mobilitäts-, Bildungs-, Gesundheits-,
Einzelhandels- und kulturellen Infrastrukturen
zugunsten des sogenannten
Landlebens in Kauf nehmen wollen und
können. Eingeschränkt in ihrer Dichte
und zumeist schlecht angebunden sind
auch jene monofunktionalen Gebiete im
Speckgürtel der großen Zentren, die als
suburbane Strukturen oder Zwischenstadt
entstanden sind – zu einer Zeit,
wo Boden noch unendlich erschien und
das Leitbild der autogerechten Stadt als
Heilsversprechen die Politik bestimmte.
Blendet man „finanzielle und sonstige
Rahmenbedingungen“ jedoch nicht
aus, wird eine ganz andere Geschichte
erzählt. Menschen, die liebend gerne
aufgrund der kürzeren Wege und besseren
Infrastrukturen in der Stadt leben
oder in ihrem bekannten sozialen Umfeld
verbleiben wollen, finden ebendort
keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.
Nicht nur die Wohnungen sind nach
jahrzehntelangen Fehlentscheidungen
und dem Überlassen wohnpolitischer
Fragestellungen an den freien Markt,
knapp – auch die Bodenkonkurrenzen
steigen massiv an und treiben die Wohnungspreise
und -mieten in die Höhe. Als
Konsequenz hat sich eine „fast unsichtbare
städtische Region zwischen den
traditionellen Kernen, die weder durch
dramatische Prozesse der De-Industrialisierung,
Effekte des demographischen
Wandels noch als Wachstumsmetropole
wahrgenommen wird“, herausgebildet.
Christoph Grafe bezeichnet diese
„Stadt zwischen Düsseldorf, Essen und
Wuppertal“ als „Habitat Mittelrand“, die
„in der Außenwahrnehmung [eine] verstädterte
Region ohne Eigenschaften“
ist, in der derzeit jedoch „große Veränderungen
durch hohes Wachstum mit
einer hohen Bevölkerungsdichte zu einer
komplexen Stadtregion mit alten
dörflichen und kleinstädtischen Kernen
und eigenen Zentralitäten“ anstehen.
(2015) Viele dieser Veränderungen entstehen
in Eigenregie und fragmentarisch.
Gleichwohl sind gerade hier große
Potentiale vorhanden, mit einer neuen,
urban geprägten Klientel und deren
Lebensstilen den Bestand gemeinsam
mit den Vor-Ort-Wohnenden und -Agierenden
zu transformieren und programmatisch
anzureichern. Und durch
den weiter wachsenden Druck von den
Innenstädten an die Ränder, müssen
auch die Planungen mit dem anzuwendenden
Instrumentarium erwachsen
werden. Auch hier gilt es, integriert zu
denken, strategisch zu entwickeln und
zukunftsweisend zu planen.
22 Stadt & Land
Zurück auf null zur Insel der Glückseligen:
Spannender als die Frage nach der Planbarkeit
von Stadt Land Quartieren erscheint
die Entwicklung von Transformationsstrategien
für unsere bestehenden Siedlungs-,
Landwirtschafts- und Freiraumstrukturen.
Der ein oder andere Masterplan von
Quartieren oder Nachbarschaften, beides
unscharfe Begriffe für ein „geschlossenes
merkmalsgleiches oder -ähnliches Gebiet,
dessen Größe und geometrische Form
nicht festgelegt sind" (Lexikon der Geographie
2001), ist sicherlich ein Teil dieser
Strategien. Mehr aber als um die räumliche
Organisation bestimmter Funktionen,
die bloße Nachnutzung von Bestandsstrukturen
oder die Vereinfachung der
komplexen Lebensumfelder auf Stadt und
Land, geht es hier um wesentlich grundsätzlichere
Themen: Wie können unsere
heutigen, überwiegend monofunktional
gegliederten Siedlungsstrukturen abseits
der Innenstädte resilient und integriert
weiterentwickelt werden? Und wie können
unsere Freiraumstrukturen so weitergedacht
und vor weiterer Versiegelung
weitestgehend gesichert werden, dass sie
auch zukünftig genau die Qualität bieten,
die sich breite Teile der Bevölkerung wünschen
– den direkten Zugang zur Landschaft,
Ausgleich, Erholung und Weite?
Nachverdichtung und Innenentwicklung,
vertikale Mischung, Hybridisierung, Programmierung,
die Addition neuer Typologien
und Programme und Klimaanpassung
sind mehrheitlich urbane Formeln,
die in den Mittelrand, Mittel- und Kleinstadtkontexten
noch in der Pubertät
feststecken und auf den erlösenden Kuss
warten. Aber auch die Transformation der
Landschaft und der Landwirtschaft unter
veränderten Rahmenbedingungen hinsichtlich
Klima, Wasser, Ernährung, Ökologie,
Energie- und Mobilitätsinfrastrukturen
nach dem Prinzip der Defragmentierung
und durch die Etablierung neuer Synergien
und systemischer Zusammenhänge
zu einem Metabolismus Mittelrand wird
zukünftig unumgänglich sein.
Sprich: Es braucht neue Raumbilder
abseits der polarisierenden Definition
von Stadt-Land, Zentrum-Peripherie,
suburban-urban. Es braucht neue Bewertungsparameter
mit dem Ziel einer
synergetischen Transformation von Landschaft,
Landwirtschaft, Energieproduktion
und von Siedlungsflächen sowie einer
alternativen ökonomischen und ökologischen
Handlungspraxis hin zu einer
Postwachstumsökonomie. Es braucht ein
neues Raumgerüst mit differenzierten
Raumzusammenhängen, in dem sich die
differenzierten Binnenräume auf unterschiedlichen
Maßstabsebenen zueinander
verhalten, jeweils jedoch ihre eigenen
Begabungen weiterentwickeln. Es braucht
neue Zentralitäten und Orte der kritischen
Masse, die (hybride) Programm- und Nutzungsbausteine
symbiotisch verknüpfen.
Und es braucht neue Koalitionen und
eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
der drei Sektoren öffentlich, privat und zivilgesellschaftlich
auf Augenhöhe.
Nicht verwunderlich, dass gerade in den
letzten Jahren das Thema einer sozialen
und verantwortungsvollen Boden- und
Liegenschaftspolitik in der Stadt- und Regionalentwicklung
wieder verstärkt in den
Fokus tritt. „Das öffentliche Eigentum an
Grund und Boden ist ein großer Schatz –
mit diesem muss sorgsam umgegangen
werden. Der Boden ist ein entscheidender
Schlüssel für eine das Gemeinwohl
sichernde Zukunftsgestaltung.“ „Neben
nachhaltiger kommunaler Liegenschaftspolitik
müssen auch die planungsrechtlichen
Steuerungsmöglichkeiten der
Kommune gestärkt werden.“ Und: „Die institutionellen
Rahmenbedingungen prägen
in hohem Maße die Marktergebnisse.
Hierzu zählt in besonderer Weise auch
die Besteuerung von Immobilien. Sie beeinflusst
das wirtschaftliche Handeln der
Akteure nicht unerheblich.“ Diese drei
Aussagen wurden 2017 unter den Kernforderungen
„Verantwortlicher Umgang
mit öffentlichem Boden – aktive Liegenschaftspolitik
ermöglichen“, „Handlungs-
Es braucht neue Raumbilder
und Raumgerüste
Stadt & Land 23
Das Team um yellowz, urbanista, ARGUS,
lad+ mit der BU Wuppertal und der FHNW
Basel hat mit seinem Beitrag zur Zwischenstadt
im Rahmen des vom BBSR
initiierten Zukunftslabors Gartenstadt 21
– ein neues Leitbild für die Stadtentwicklung
in verdichteten Ballungsräumen – Vision
oder Utopie? einige strategische Ansätze
aus planerischer Sicht formuliert. Das
Zukunftslabor mit insgesamt drei Teams
hat den Versuch unternommen, die Gartenstadtidee
des 19. Jahrhunderts ins 21.
Jahrhundert zu übertragen. Entstanden
sind in einem ersten Schritt 10 Thesen
zur Gartenstadt 21, welche unter anderem
Stadtumbau, Stadtergänzung und
Stadterweiterung als sich einander ergänzende
Bausteine verstehen, insbesondere
aber die Anreicherung und Weiterentwicklung
vorhandener Quartiere mit
sozialen, funktionalen, ökologischen oder
ökonomischen Qualitäten einfordern.
Tätigkeitsbereich des Metro-
GartenstadtFonds (MGF)
Quelle : BBSR Bonn 2017, Team Zwischenstadt, Zukunftslabor
fähigkeit der Kommunen stärken – planungsrechtliche
Instrumente schärfen“
und „Steuerung der Bodenentwicklung
zurückgewinnen – Bodenentwicklung
besser (be)steuern“ in der Bodenpolitischen
Agenda 2020-2030 des Deutsches
Institut für Urbanistik und des vhw - Bundesverband
für Wohnen und Stadtentwicklung
e. V. formuliert. Wie aber können
Bestandsentwicklung, zukunftsfähige
Transformation und Bodenpolitik in Einklang
gebracht, wie diese Kernforderungen
realisiert werden? Wer entscheidet,
wer agiert und wer finanziert?
DIE GARTENSTADT 21 – EIN NEUES
LEITBILD FÜR DIE TRANSFORMA-
TION DER ZWISCHENSTADT?
Die bestehende, funktionsgetrennte Gemengelage
der Zwischenstadt wird für
das Team zur Ressource, die es durch
bodenreformerische Ansätze und radikale
Transformationsideen zu einer MetroGartenstadt
zu qualifizieren gilt. Diese
wird zum Katalysator und Ermöglicher für
eine Vielzahl von neuen Arbeits-, Wohnund
Kooperationsformen, die über einen
eigenen Fonds initiiert, begleitet und abgesichert
werden und der zudem eine
aktive Stadtentwicklung ermöglicht.
Merkmale der MetroGartenstadt sind
die Finanzierung und Existenzsicherung
über ein Fonds- und Rentenmodell, die
Integration kooperativer Wohn- und Arbeitsformen
und Sharingkonzepte, die
katalysatorische Wirkung für vielfältige
Angebote, Programme, Initiativen und
Lebensstile, die räumliche Kohäsion und
Vernetzung durch qualitätvolle Freiräume
und das 3-Säulen Modell beruhend auf
Hardware, Software und Orgware.
Die Hardware beinhaltet ausgewählte
Transformationsareale und Objekte in
strategischer Lage oder mit spezifischen
Transformationspotentialen zur Qualifizierung
der Zwischenstadt, welche durch
ein übergeordnetes Freiraumkonzept
und durch den räumlich-strukturellen
Umbau der Teile gemäß ihren spezifischen
Eigenschaften und Potentialen
ebendiese qualifizieren. Als Software
werden lebensweltliche Aspekte wie Sharing
Infrastructure, zentrale Produktion,
Co-Working, Co-Housing, Tauschen und
Teilen sowie Wohnen und Arbeiten an
einem Ort integriert. Und die Orgware
managt und überwacht den MetroGartenstadt
Immobilienfonds und Flächenpool,
koordiniert die Arealentwicklung, kauft
Flächen und Immobilien und reinves-
24 Stadt & Land
tiert Erträge, die als Mehrwert durch die
Planung und Bereitstellung von Erschließungsinfrastrukturen
generiert werden.
Der bundesweit agierende Rentenfonds
ist das zentrale Instrument der MetroGartenstadt.
Sein Aktionsraum sind eigens
hierfür ausgewiesene Sondergebiete, in
denen Grundstücke aufgekauft und für
eine Entwicklung vorbereitet werden. Die
Vergabe erfolgt entweder in Erbpacht
oder über den Verkauf unter bestimmten
Rahmenbedingungen, den Zielen des
Fonds entsprechend. Die Teilnahme am
Fonds ist freiwillig. Besondere Anreize
werden über besonderes Baurecht, die
privilegierte Teilhabe am bspw. Gemeinschaftseinrichtungen
oder durch eine besondere
Form der Mitbestimmung, oder
einen geringeren Grundsteuerhebesatz
geschaffen. (vgl. BBSR Bonn 2017)
Quelle : BBSR Bonn 2017, Team Zwischenstadt, Zukunftslabor
Isabel Maria Finkenberger
Prof. Dipl.-Ing.
FH Aachen
STUDIO if+
Funktionsweisen der
Sonderzonen
Das hier zitierte Konzept der Transformation
von Bestandsstrukturen zeigt eindrücklich,
dass es nicht notwendigerweise neue
Begrifflichkeiten braucht, um lebenswerte
Quartiere an der Schnittstelle zwischen
Siedlungs- und Freiflächen zu entwickeln.
Vielmehr geht es um die Frage, wie wir mit
unserem heutigen Wissen alternative Praxen
und die hierfür notwendigen innovativen
Instrumente effektiv einsetzen und
zukunftsfähig in der gesellschaftlichen Mitte
verankern. Die gute Mär des alles Haben
ohne Abstriche machen sind Fake-News. Je
mehr Boden versiegelt wird, desto weniger
ruhiger und offener Freiraum bleibt übrig.
Je weiter wir expandieren, desto mehr Infrastrukturen
werden gebraucht. Das sind
Tatsachen. Und Lösungen für mögliche
Alternativen liegen bereits auf der Hand.
Planende können dabei als eine Akteursgruppe
einen wichtigen Beitrag leisten.
Gleichwohl heißt es aber auch Handeln
und seine eigenen Ansprüche kritisch hinterfragen:
„Ist es nicht ökonomische Logik
in Reinform, jenen Ballast abzuwerfen, der
Zeit, Geld, Raum und ökologische Ressourcen
beansprucht, aber nur minimalen
Nutzen stiftet?“ (Paech 2018)
Isabel Maria Finkenberger hat Architektur mit dem Schwerpunkt Städtebau und
Stadtplanung in Berlin, London und Stuttgart studiert und in Planungsbüros in
London, Sydney und Stuttgart gearbeitet. Seit 2009 bearbeitet sie als freie Stadtplanerin
mit ihrem Kölner Büro STUDIO if+ Projekte an der Schnittstelle zwischen
Planung und Forschung. Als Vertretungsprofessorin lehrte sie von 2018 bis
2019 am Lehrgebiet Städtebau, Stadt- und Regionalentwicklung der Hochschule
Ostwestfalen-Lippe. Seit 2019 ist sie Professorin für Grundlagen der Stadtplanung,
urbane Transformation und innovative Prozessgestaltung an der FH Aachen.
Literatur & Abbildungen
Agrarheute (2018): Faktencheck. So klimaschädlich ist Fleisch wirklich, https://www.agrarheute.com/tier/
faktencheck-so-klimaschaedlichfleisch-wirklich-542531
(letzter Zugriff: 26.07.2019)
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Stadt & Land 25
Marcel Cardinali
Quartier der kurzen Wege
Die Stadt von vorgestern
als Quartier von übermorgen
Ein Blick auf Deutschland von oben und in unsere Planungswerkzeuge,
wie die BauNVO, zeigt auch Jahrzehnte nach dem Leitbild
der Stadt der kurzen Wege abseits von Innenstädten und so mancher
Großstadt noch das Bild einer sortierten Stadt. Die Gegenbewegung
zur autogerechten Stadt setzte in den 1980er Jahren ein
und verfolgt im Kern ein diametral entgegengesetztes Ziel – die
fußläufige Stadt. Doch auch über 30 Jahre später zeigt sich abseits
der Innenstädte in den umliegenden Stadtteilen und Dörfern
noch ein ernüchterndes monofunktionales Bild. Dabei sind
es genau diese räumlichen Einheiten, die in etwa dem fußläufigen
Bewegungsradius seiner Bewohner entsprechen. Hier – von
der eigenen Wohnung aus erreichbar – braucht es Angebote für
die Ziele des Alltags. Inzwischen belegen zahlreiche Studien die
Möglichkeiten und Vorteile kompakter nutzungsgemischter Quartiere
in ökologischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht. Diese
Größeneinheit hat ein prominentes Vorbild: Die mittelalterliche
europäische Stadt. Mit diesem Perspektivwechsel wird die Stadt
von vorgestern zur Vorlage für das Quartier von übermorgen.
26 Stadt & Land
HINTERGRUND
Die letzten beiden Jahrhunderte haben unsere
Städte – und damit unseren menschlichen
Lebensraum – so sehr verändert, wie
keine Zeit zuvor. Die Industrialisierung des
vorletzten Jahrhunderts und die Leitbilder
der funktionsgetrennten und autogerechten
Stadt, führten zur sortierten Stadt, in
der jede Nutzung den Anspruch auf eine
eigene Fläche geltend machen konnte. In
der Folge ist eine weitläufige Stadtlandschaft
entstanden, in der ein Großteil der
Gesellschaft auf ein Auto angewiesen ist,
um die Ziele im Tagesablauf in angemessener
Zeit zu erreichen.
Das Leitbild der funktionsgetrennten Stadt
hatte allerdings gute Gründe. Die neuen
Errungenschaften der Industrialisierung
kamen zum Preis von zahlreichen Emissionen
der neuen Fabriken, Maschinen und
Motoren, die die Luft- und Wasserqualität
stark beeinträchtigten. Dies bewog
schließlich die Stadtplaner 1933 zu der berühmten
Charta von Athen – zur sortierten
Stadt – zur Trennung von Wohnen und
Arbeiten im Besonderen, auf der auch
heute noch unsere Planungswerkzeuge
beruhen. In der Tat bescheinigen heute
zahlreiche Studien, dass die Verbesserung
der allgemeinen Gesundheit im Wesentlichen
auf die Veränderung der städtischen
Strukturen der letzten 150 Jahre zurückzuführen
ist und nur in geringem Maße
auf den medizinischen Fortschritt (Frumkin
2005; Richter & Hurrelmann 2018).
Beispiele hierfür sind neben emissionsärmeren
Wohnräumen, die ausgebaute
Infrastruktur, Transportsysteme, und -umfelder
sowie saubereres Trinkwasser.
Symbiosis - Henna Finland. (Europan 2010 / microcities)
Die sortierte Stadt war nur deshalb möglich,
weil sich mit der Industrialisierung
auch die Reichweite der Menschen radikal
veränderte. Neue Verkehrsmittel wie Eisenbahn,
Auto und Flugzeug haben in nur
wenigen Jahren den Radius der täglichen
Abläufe der Menschen enorm erweitert
– die Geburtsstunde von Suburbia und
Stadt & Land 27
Schlafdörfern. Die Bedürfnisse nach Einfamilienhäusern
im Grünen, bei gleichzeitiger
guter Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes,
sind bis heute ungebrochen. Diesem
Bedarf wird in vielen Städten und vor allem
in Gemeinden seit Jahrzehnten in bewährter
Art und Weise mit der Ausweisung
ganzer monofunktionaler Einfamilienhausteppiche
gedeckt. Erst vor kurzem warnte
das Institut der deutschen Wirtschaft Köln
davor, dass in vielen ländlichen Regionen
wieder deutlich über dem Bedarf ausgewiesen
wird (Henger & Voigtländer 2019).
Insbesondere die daraus resultierende
fortwährende Trennung zwischen Wohnen
und Arbeiten stärkt so nach wie vor
die auto-abhängigen und anti-urbanen
Bedingungen und verhindert im Umkehrschluss
die Stadt der kurzen Wege.
ÖKOLOGISCHES
Den Preis für diese Art zu leben hat in den
letzten Jahren der Planet Erde bezahlt. Mit
immer größeren Pendlerdistanzen im eigenen
PKW ist die Welt immer größeren
CO2 Belastungen ausgesetzt. Während
die Automobilhersteller an emissionsarmen
Fahrzeugen arbeiten und die öffentliche
Hand versucht den öffentlichen
Nahverkehr zu verbessern, wird deutlich,
dass die beste Strategie zur Vermeidung
von Verkehrsemissionen nach wie vor die
Vermeidung von Verkehr ist. Die Abhängigkeit
vom eigenen PKW zu verringern
kann dann gelingen, wenn die fußläufige
Erreichbarkeit von möglichst vielen Zielen
des alltäglichen Ablaufs gesichert ist. Dieser
Radius wurde 2015 vom BBSR in der
Studie Indikatoren zur Nahversorgung mit
1.000 m angegeben (Burgdorf et al. 2015).
Diese Größeneinheit bezeichnen wir in der
Regel als Quartier und richtet die Perspektive
von der Stadt der kurzen Wege auf das
Quartier der kurzen Wege. Während die
Studie des BBSR schon ein vergleichsweise
ernüchterndes Bild für die Angebote der
Nahversorgung in den Kategorien Kleinstadt
und Landgemeinden zieht, zeigt sich,
dass insbesondere die Entfernung zum Arbeitsplatz
durch die sortierte Stadt enorm
zugenommen hat. Die durchschnittliche
Pendlerdistanz 2017 betrug knapp 17 km
und nimmt seit Jahren stetig zu (Pütz 2015).
Zur Vermeidung von Verkehr müssen die
Arbeitsplätze und andere Ziele des Alltags
zurück ins Quartier.
Bezeichnenderweise wurde im Jahr 2007
– dem Jahr der Leipzig Charta – erstmals
der Punkt überschritten, wo offiziell mehr
Menschen in Städten als auf dem Land
leben. Die Erkenntnis, dass das weltweite,
rasante Wachstum und die Flächeninanspruchnahme
der Städte zu existentiellen
Problemen (Klimaerwärmung, Ressourcenverknappung,
Umweltbelastung)
führt, wurde immer deutlicher. So war es
nur folgerichtig, dass die Vereinten Nationen
2016 die Agenda 2030 auf den Weg
brachten: 17 Sustainable Development Goals
(SDG – Nachhaltigkeitsziele der UN).
Dem Transformationsprozess in Richtung
nachhaltiger Städte und Gemeinden (UN
SDG 11) kommt hier eine besondere Bedeutung
zu und zeigt innere Abhängigkeiten
von und zu anderen Nachhaltigkeitszielen
wie Gesundheit und Wohlergehen
(SDG 3) oder Klimaverträglichkeit und
Klimaresilienz (SDG 13). Aktuell wird naturbasierten
Lösungen und der Renaturierung
von Städten eine Schlüsselrolle bei
der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele
der UN zugeschrieben. Sie gelten als wichtiges
Instrument zur Erreichung der Klimaziele,
des Klimaschutzes, zum Schutz des
Ökosystems sowie der Gesundheit und
dem Wohlbefinden, insbesondere in urbanen
Settings. Allzu lange hatten Grünräume
in der Vergangenheit in den Aushandlungsprozessen
um Stadt das Nachsehen
gegenüber den Flächenansprüchen des
monofunktionalen Wohnungsbaus oder
neuen Gewerbestandorten. Während
die Natur Stück für Stück aus der Stadt
gedrängt wird, zeigen zahlreiche Studien,
dass vielfältige positive Wirkungen auf
Gesundheit und Wohlbefinden auftreten
können, sobald die Bewohner qualitätvolle
und erreichbare Grünräume in ihrer
28 Stadt & Land
Nähe vorfinden. Die in Studien gemessenen
Effekte, reichen von einem besseren
Verlauf von Schwangerschaft und
Geburt (Raymond et al. 2017, Nichani et
al. 2017) über die Gehirnentwicklung von
Kindern (Pretty et al. 2005) bis hin zur Reduktion
von Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
(EU-Kommission 2015,
Richardson et al. 2013). Darüber hinaus
fördern Grünflächen die körperliche Aktivität
(Cohen-Shacham et al. 2016) und
haben zahlreiche positive Auswirkungen
auf die psychische Gesundheit (EU-Kommission
2015, Ulrich 1984, Kaplan 1985).
Es gilt demnach, nicht nur aus ökologischer
Sicht und der Perspektive des Klimaschutzes,
einen Teil der beanspruchten
Fläche der Städte zurückzugeben,
indem Nutzungen geschichtet werden.
Gerade auch für uns selbst ist es wichtig,
das ursprüngliche menschliche Habitat,
die Natur, ernst zu nehmen, es in unseren
neuen anthropogenen Lebensraum
Stadt zu integrieren und fußläufig in den
Quartieren erreichbar zu machen.
SOZIALES
Neuere Forschungen legen zudem nahe,
dass wir mit den großen Pendeldistanzen
nicht nur dem Planeten schaden, sondern
auch uns selbst. Eine Studie der Gallup
Organisation fand 2008 einen direkten
Zusammenhang zwischen Wohlbefinden
und der Menge an verfügbarer Freizeit. Je
mehr Zeit die Studienteilnehmer hatten,
um mit Familien und Freunden Zeit zu
verbringen, umso glücklicher und wohler
fühlten sie sich (Harter & Raksha 2008).
Das ist wenig erstaunlich, führt aber zu
dem Schluss, dass das tägliche Pendeln –
im schlimmsten Fall allein im Auto – unser
Wohlbefinden verringert, weil es die Menge
an Freizeit und die Möglichkeit sozialer
Kontakte verhindert. Genauso verhält es
sich mit anderen Aktivitäten. Je mehr Zeit
wir im Auto verbringen, um unsere notwendigen
alltäglichen Zielpunkte im (sub-)
urbanen Geflecht, wie Kindergarten, Schule,
Supermarkt, Apotheke, Musikunterricht
„Je mehr Zeit wir im Auto verbringen,
um unsere notwendigen
alltäglichen Zielpunkte im (sub-)
urbanen Geflecht, wie Kindergarten,
Schule, Supermarkt, Apotheke,
Musikunterricht und insbesondere den
Arbeitsplatz zu erreichen, desto weniger
wahrscheinlich ist es, dass Zeit bleibt,
sich sozial zu vernetzen, sportlich zu
betätigen, ehrenamtlich zu engagieren
oder eben Zeit mit Familien und Freunden
zu verbringen (Montgomery 2013).
Marcel Cardinali
urbanLab
und insbesondere den Arbeitsplatz zu erreichen,
desto weniger wahrscheinlich ist
es, dass Zeit bleibt sich sozial zu vernetzen,
sportlich zu betätigen, ehrenamtlich zu engagieren
oder eben Zeit mit Familien und
Freunden zu verbringen (Montgomery
2013). In der Folge leidet unser soziales
Wohlbefinden. Der Stresslevel steigt ebenso,
wie das Risiko psychisch zu erkranken
(TK 2018). Die Auswirkungen der Entfernung
zum Arbeitsplatz sind ein oft unterschätztes
Phänomen in der Stadtplanung
bei der Bereitstellung und Ausweisung von
monofunktionalem Wohnraum. Aber auch
bei der privaten Wahl des Wohnstandorts,
bei denen wir nur allzu oft lange Wege im
Alltag in Kauf nehmen, um selbst eine bezahlbare
vermeintliche Oase im Grünen zu
besitzen. Gerade für junge Familien eine
nicht zu unterschätzende Entscheidung,
die bestimmt, in welchem Umfeld die eigenen
Kinder aufwachsen.
Weniger mobil und ohne Führerschein gibt
das Kinder- und Jugendalter einen guten
Einblick über die Effekte fußläufiger Bewegungsradien
und den Zusammenhang
zum Sozialraum. So ist unser Sozialraum
als Kind noch weitgehend deckungsgleich
mit dem Quartier. Je älter wir werden, umso
mehr Kontakte und Räume kommen au-
Stadt & Land 29
ßerhalb der eigenen Nachbarschaft dazu.
Angefangen von der weiterführenden
Schule bis zum Studium, der Ausbildung
und dem Arbeitsplatz. Wir betrachten dies
inzwischen als ganz normalen Vorgang,
der zum Erwachsenwerden dazugehört.
Dabei ist es nicht allein das Erwachsenwerden,
sondern insbesondere der wachsende
Zugang zu Verkehrsmitteln, die uns
erlauben größere Distanzen zu überwinden.
Unser Sozialraum, unser Bewegungsraum,
unser Handlungsraum werden
stetig größer. Entsprechend weniger Zeit
verbringen wir in dem eigentlichen Wohnumfeld.
Eine Studie aus Kopenhagen
wies unlängst nach, dass wir nur rund 25
Orte regelmäßig aufsuchen. Die Wissenschaftler
untersuchten dazu die Mobilitätsdaten
von 40.000 Menschen und zeigten:
Sobald ein neuer Ort hinzukommt,
wird ein anderer nicht mehr berücksichtigt
(Alessandretti et al 2018). Während wir als
Kinder also noch jeden Stein kannten und
wahrscheinlich mit vielen dieser Orte und
Personen ein besonderes Gefühl von Heimat
verbinden, fehlt uns dieser Halt in der
Regel im Erwachsenenalter, insbesondere
nach dem einen oder anderen Umzug. Wir
wissen weniger über die Nachbarschaft,
den öffentlichen Raum und die Menschen
in unserer direkten Umgebung. Wie sollte
dies auch möglich sein, wenn wir nach einem
langen Arbeitstag und einem langen
Rückweg, das Auto in der Garage parken
„Die Quartiersgröße ist die Betrachtungseinheit,
die es uns
erlaubt, kurze Wege zu Einrichtungen
des täglichen Bedarfs,
Mobilitätsknotenpunkten und Bildungseinrichtungen
herzustellen und damit
gleichzeitig einen stark frequentierten
öffentlichen Quartierskern zu erzeugen.
Marcel Cardinali
urbanLab
und direkt ins Haus gehen ohne Kontakt
mit dem nachbarschaftlichen Umfeld oder
eigenem sozialen Netzwerk. Als Folge dieser
Entwicklungen sinkt die Identifikation
mit unserem Wohnumfeld und der soziale
Zusammenhalt (Montgomery 2013). Die
Schlafdörfer von heute sind so oft anonymer
als die anonyme Großstadt. Dichte
urbane Quartiere – mit vielen fußläufig
erreichbaren Zielen des Alltags – fördern
also nicht nur unser Wohlbefinden durch
die gesparte Zeit und körperliche Aktivität,
sondern tragen auch dazu bei, dass wir
den Ort in dem wir leben und seine Menschen
deutlich besser kennen lernen und
uns mit beidem verbunden fühlen.
ÖKONOMISCHES
Lange Zeit haben wir nach dem System der
zentralen Orte – das auf der ökonomischen
Betrachtung von Entfernung, Kosten und
Erlös beruht – Grundzentren ausgewiesen,
die die Daseinsvorsorge im ganzen Land sicherstellen
sollten. Es stellt sich jedoch die
Frage, ob dieses Modell in Zeiten, in denen
die Entfernung der Waren kaum noch eine
Rolle spielt und man immer mehr Waren
von überall auf der Welt direkt nach Hause
bestellen kann, noch aktuell ist. Vielfach
erleben wir, dass durch den Onlinehandel
die wirtschaftliche Tragfähigkeit von Einrichtungen
der Daseinsvorsorge im ländlichen
Raum und teilweise auch in städtischen
Quartieren nicht mehr gegeben ist.
Waren des kurzfristigen Bedarfs, wie z.B.
Lebensmittel, aber auch Medikamente
und Einrichtungen wie Cafés und Restaurants
sind immer seltener in diesen Orten
zu finden, da die Ortszentren kaum noch
frequentiert sind oder innerhalb der Einfamilienhausteppiche
erst gar nicht existieren.
Paradoxerweise können die Digitalisierung
und eine noch engere Auslegung des
Systems der zentralen Orte dabei helfen,
die wirtschaftliche Tragfähigkeit für Waren
des kurzfristigen Bedarfs zu sichern. Das
Clustern verschiedener Einzelhändler ist
ein gängiges Instrument des Einzelhandels
in Innenstädten sowie zunehmend gan-
30 Stadt & Land
zer Wirtschaftszweige (Schuh et al. 2011:
491). In der Dorf-, Stadt- und Quartierentwicklung
wird dieses Clusterprinzip bisher
jedoch selten konsequent angewandt. Es
gilt, möglichst viele der Einrichtungen des
(erweiterten) täglichen Bedarfs am zentralen
Quartiersplatz zu bündeln – hierzu
gehören auch öffentliche Einrichtungen
wie Schulen – und damit nicht zuletzt einen
attraktiven und stark frequentierten öffentlichen
Raum zu schaffen. Zeitgemäße Angebote
wie WLAN, Coworking Spaces und
z.B. Concierge Services für die Annahme
von Paketen z.B. im Café, können diesen
Effekt verstärken und für eine gegenseitige
Unterstützung mit Kundenfrequenzen sorgen.
Ein Platz der kurzen Wege sozusagen.
Darüber hinaus verändert sich die Arbeit
selbst und bietet das Potential aus reinen
Schlaforten wieder lebendige Quartiere zu
generieren. Jüngsten Studien zufolge erlauben
mittlerweile über 40 % der abhängig
beschäftigten Berufsbilder theoretisch
ein Arbeiten von zuhause bzw. von überall.
Tatsächlich arbeiten bisher aber nur rund
11 % von zu Hause. Unter den Selbstständigen
sind es dagegen heute schon 50 %
(DIW Berlin 2018). In naher Zukunft kann
für einen großen Teil der Bevölkerung
die Distanz zur Arbeit digital überwunden
werden und bietet das Potential Stadt und
Land radikal zu verändern. So überrascht
es nicht, dass sich die Anzahl der Coworking
Spaces weltweit in nur drei Jahren
verdoppelt haben – und das nicht nur in
der Stadt, sondern auch auf dem Land.
Dazu planen über 70% der Betreiber ihre
Coworking Spaces aufgrund der hohen
Nachfrage zu erweitern (Deskmag 2018).
Die zunehmende Digitalisierung geht darüber
hinaus einher mit neuen Produktionsformen
und -arten, die weniger Lärm, Gerüche
und Abfall produzieren. Insgesamt
werden immer mehr Betriebe und ganze
Branchen digital, emissionsarm oder sogar
emissionsfrei. Diese Entwicklungen
schreien förmlich danach, die Arbeitsplätze
wieder näher an die Wohnorte und an
all die anderen Stadtbausteine zu rücken.
Nicht zuletzt auch, um wieder mehr Passantenfrequenz
für die oben genannten
Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu
generieren. Im Ergebnis entsteht ein lebendiges,
urbanes, nutzungsgemischtes
Quartier – mit kurzen Wegen und einem
stark frequentierten öffentlichen Raum.
DIE STADT VON VORGESTERN IST
DAS QUARTIER VON ÜBERMORGEN
Das Leitbild der Stadt der kurzen Wege und
die aktuelle Leipzig Charta, fußen bereits
auf dem historischen Bild und dem Erfolg
der europäischen Stadt und richten
damit Blick auf die Zeit vor dem Auto.
Allzu leicht denkt man dabei aber an die
wenigen Großstädte jener Zeit, wie Paris
oder Berlin, die schon vor der Industrialisierung
große Machtzentren waren
und übersieht, dass diese aus einzelnen
Quartieren bestanden, die eine weitgehend
autarke Daseinsvorsorge und vitale
Nutzungsmischung besaßen. Noch klarer
wird das fußläufige Bild mittelalterlicher
Städte, durch Beispiele wie Bielefeld, die
vor der Industrialisierung weniger als
6.000
„
Einwohner besaß. In maximal 10
Minuten Fußweg gelangt man so von einem
Ende der Stadt zum anderen.
Im Ergebnis entstehen lebendige,
urbane und kompakte
Einheiten, die es erlauben
einen Großteil der täglichen
Aktivitäten zu Fuß zu erledigen – und für
alles andere steht ein fußläufig erreichbarer
Mobilitätsknotenpunkt zur Verfügung.
Marcel Cardinali
urbanLab
Jeder wichtige Punkt in der Stadt ließ sich
schnell erreichen. Die Erdgeschosse dienten
zur Produktion und auch zum Warenverkauf.
In den hinteren Bereichen und in
den oberen Geschossen wurde gewohnt.
Stadt & Land 31
Zentrale Plätze und Handelsstraßen führten
dazu, dass sich die Menschen oft zu
Fuß begegneten. Es gab kein Auto – man
brauchte allerdings auch keins. Es war eine
Stadt gebaut für die menschliche Reichweite
– nicht für die von hochtechnisierten
Verkehrsmitteln.
Heute würden wir diese Größeneinheit
in der Regel mit einem Quartier übersetzen
und eben nicht mehr als Stadt
bezeichnen. Dieser Perspektivwechsel
von einer Stadt der kurzen Wege zu einem
Quartier der kurzen Wege erlaubt es vielleicht
die fehlenden Stadtschichten in der
Innenentwicklung unserer Städte – aber
insbesondere auch die notwendige Konversionen
unserer Schlafdörfer auf dem
Land – anders anzugehen. Die Quartiersgröße
ist die Betrachtungseinheit in der
kurze Wege zu Einrichtungen des täglichen
Bedarfs, Mobilitätsknotenpunkten
und Kultur- und Bildungseinrichtungen
hergestellt werden müssen, die damit
gleichzeitig einen stark frequentierten öffentlichen
Quartierskern erzeugen. Von
diesem Quartierskern aus betrachtet, ergeben
sich so auch wie selbstverständlich
neue Grenzen für die Quartiersentwicklung
durch die fußläufige Erreichbarkeit.
Hier entsteht der Raum für dringend benötigte
und wertvolle Freiraumsysteme.
Hier können monofunktionale Flächen
zurückgebaut und in verschiedenste Freiund
Naturräume für Sport, Freizeit und
Erholung transformiert werden. Darüber
hinaus entwickelt sich durch den Verbund
ganz von allein eine grüne Infrastruktur,
die das Rückgrat für eine nachhaltige und
effiziente Mobilität (Fuß, Rad, ÖPNV) sein
kann. Das Freiraumverbundsystem wird
so zum Rahmen für ablesbare Quartiere
und erinnert uns an die Grenzen der
fußläufigen Erreichbarkeit. Im Ergebnis
entstehen lebendige, urbane und kompakte
Einheiten, die es erlauben einen
Großteil der täglichen Aktivitäten zu Fuß
zu erledigen – und für alles andere steht
ein fußläufig erreichbarer Mobilitätsknotenpunkt
zur Verfügung.
PLANERISCHE & GESTALTERISCHE
HERAUSFORDERUNGEN
Das Quartier der kurzen Wege kann dazu
beitragen die Notwendigkeit für den motorisierten
Individualverkehr deutlich zu reduzieren,
steht aber vor der Herausforderung,
dass die europäische Stadt heute als
weitgehend gebaut gilt. Erschwerend hinzu
kommt, dass dies abseits der Innenstädte
nach dem diametral entgegengesetzten
Leitbild geschah und es ungleich schwerer
macht dieses Rad zurückzudrehen. Ein
Hoffnungsschimmer ist, dass die Neubauentwicklung
in den letzten Jahren wieder
stark zugenommen hat und Möglichkeiten
eröffnet, im Bestand gezielt neue Nutzungen
zu ergänzen und so die monofunktionalen
Strukturen Stück für Stück zu reparieren.
Aber wie kann so etwas aussehen?
Wie können aus den sortierten getrennten
Bausteinen der Stadt nutzungsgemischte,
urbane, pulsierende Quartiere werden,
die den Bedürfnissen der Wohnungssuchenden
gerecht werden? Wie können
die Anforderungen an den Bestand, an
gesetzliche Rahmenbedingungen, an laute
und leise Orte, an unterschiedlichsten Freiraumnutzungen
und Freiraumverbünden
sowie an schnelles und langsames Fortbewegen,
an Rückzugsräume und lebendige
öffentliche sowie private Rückzugsräume
in Einklang gebracht werden? Stadtplaner*innen
und Architekt*innen stehen
hier zusammen mit den Bürger*innen vor
32 Stadt & Land
einer gestalterisch hochkomplexen Aufgabe,
die noch weit größere Anstrengungen
in der Umsetzung bedarf. Es gibt jedoch
bereits einige wenige Planungskonzepte,
die versuchen sich dieser Thematik zu
nähern und Anregung sein können für die
weitere Diskussion rund um das Quartier
der kurzen Wege. Der erste Platz im studentischen
Ideenwettbewerb Essen Süd-
West-Stadt zeigt in einer Vision von 2050,
wie monofunktionaler Gewerbebestand
zu Quartieren mit kurzen Wegen transformiert
werden kann. Der zweite Platz
im internationalen Wettbewerb Europan
10 zeigt die Prinzipien in einer resilienten
Neubauentwicklung für 20.000 Menschen
im Umland von Helsinki.
ESSEN SÜD-WEST-STADT:
VISION 2050
Das Entwurfskonzept für Essen zeigt die
Potentiale der Innenentwicklung europäischer
Städte durch die stetig wachsende
Zahl an wohnungsverträglichen Gewerbeeinheiten.
Im Entwicklungskonzept bilden
die eingeschossigen Hallenstrukturen den
Sockel für eine vielschichtige und diverse
vertikale Stadt, sodass das Konzept mit
nur 17% neugebauter Bruttogeschossfläche
eine vollständige Transformation des
ca. 40 ha großen Areals erreicht. Damit
geht das Konzept mutige und nach heutigem
Recht noch recht unsichere Wege,
wie der Bestand neu belebt werden kann.
Das Planungsgebiet nahe der Essener Altstadt
ist dabei eines von vielen, seit der
Charta von Athen entwickelten, reinen Arbeitsstandorten,
aufgrund der für andere
Nutzungen ungeeigneten Emissionen. Die
Folge ist ein mittlerweile umschlossener
Fremdkörper in der Stadt, der neben den
zahlreichen vorhandenen Barrieren als
Zusätzliche fungiert.
Die neue kompakte Quartiersform mit vertikaler
Nutzungsmischung erlaubt es andere
Flächen wieder zu entsiegeln und für
die Freiraumvernetzung zu nutzen. Neue
Stadtlandschaften können entstehen und
liefern für das Plangebiet das Potential
lang benötigter Verbindungen in Essen
zwischen Norden und Süden, aber auch
zwischen Ost und West. Dabei dient die
existierende Stadtschicht als Ressource
für eine Verbindung aus neuen und alten
Formen der Freiraumnutzung. Die dichte
kompakte europäische Stadt findet so
wieder zu ihren Wurzeln zurück, gibt dabei
der Natur nicht mehr benötigte Flächen
zurück und schafft so gleichzeitig ein Netz
aus fußläufig erreichbaren grünen Landschaftsachsen,
die ihrerseits als Mobilitätsinfrastruktur
fungieren. Das entstehende
Freiraumnetz sorgt für eine qualitätvolle
fußläufige Erreichbarkeit aller Zielorte in
der Umgebung und leistet damit auch ein
erhebliches Stück Stadtreparatur für umliegende
Quartiere. Gleichzeitig dient es
als Rahmen für die bauliche Entwicklung.
Einbindung - microCITIES - Die Stadt
von vorgestern ist das Quartier von
übermorgen. (1. Platz studentischer
Ideenwettbewerb Essen-Süd-
West 2016 / Cardinali, Steinmetz,
Langhoff)
Stadt & Land 33
Die polyzentralen kompakten Quartiere
bilden eine jeweils eigenständige Identität
und ergänzen den nötigen fußläufigen
Begegnungs- und Aktionsraum für dieses
Stück Stadt. Es ergeben sich neue funktionierende
Dynamiken, durch die ordnende
Wirkung von schnellen und langsamen
Fortbewegen, von lauten und leisen Orten
sowie öffentlichen und privaten Nutzungen.
Bestehende Gebäudestrukturen
und funktionierende Nutzungen werden
gezielt mit fehlenden Stadtschichten ergänzt,
sodass das Plangebiet eine nie
gekannte Urbanität und Durchmischung
von Arbeiten, Wohnen, Versorgung und
Betreuung erreicht. Der städtebauliche
Typus Halle dient dabei als Basis und wird
durch eine Aufstockung mit unterschiedlichen
Wohn- und Bürotypologien ergänzt.
Nicht zuletzt ergibt die neue Vernetzung
der Freiflächen eine klare Lesbarkeit der
neuen Quartiere. Die mittelalterliche
Stadt von vorgestern wird so zur Vorlage
für das Quartier von übermorgen.
HENNA, FINNLAND: SYMBIOSIS
(EUROPAN 2010)
Das Planungskonzept Symbiosis zeigt exemplarisch
wie das Prinzip des Quartiers
der kurzen Wege als Neubau im Umland
von Wachstumskernen eingesetzt werden
kann. In den Hügeln von Henna, ca. eine
Stunde Autofahrt von Helsinki entfernt,
galt es im Rahmen des europäischen
Wettbewerbs Europan 2010 ein Konzept
für die Neuentwicklung einer ganzen Stadt
Wohnen
Büroflächen
Produzierendes & Verarbeitendes Gewerbe
Infrastruktur täglicher Bedarf
Bildung
Nutzung - microCITIES - Die Stadt von
vorgestern ist das Quartier von übermorgen.
(1. Platz studentischer Ideenwettbewerb
Essen-Süd-West 2016 / Cardinali, Steinmetz,
Langhoff)
34 Stadt & Land
für 20.000 Einwohner*innenen zu konzipieren.
Der hier vorgestellte Entwurf entwickelt
dazu polyzentrale Quartiere, die
als lokale Knotenpunkte mit sozialer und
funktionaler Mischung und räumlicher
Vielfalt fungieren. Die Landschaft fließt dabei
ununterbrochen durch die Stadt. Jeder
Knotenpunkt in dem Konzept kann bis
zu 2.000 Personen aufnehmen, was eine
autarke Quartierseinheit ermöglicht, die
den täglichen Bedarf der Bewohner*innen
weitgehend decken kann. Die Grundform
und die Art eines einzelnen Knotens
wird durch die Berücksichtigung mehrerer
Parameter bestimmt: Der Radius jedes
Knotens beträgt etwa 250 m. Dies führt
zu einer maximalen Entfernung von 5
Gehminuten oder 500 m innerhalb eines
Quartiers. Ein Auto wird dadurch für viele
tägliche Routinen überflüssig (Kindergarten,
Einzelhandel, Kindergärten, Treffpunkte,
kleine Sportanlagen, lokale Banken,
Unterhaltung, ÖPNV Haltestellen).
In dem vorliegenden Konzept sind die
beiden Systeme Stadt und Landschaft in
einer ständigen Wechselbeziehung zueinander
und werden so, wie selbstverständlich,
zu Stadt Land Quartieren. Die
umliegende Landschaft ist dabei eine natürliche
Ressource für Nahrung, Baumaterialen
und Energie und führt zu einer
lokalen Wertschöpfungskette nach dem
Vorbild der mittelalterlichen Stadt. Zusätzlich
dient sie zur Erholung, Sport und
Freizeitaktivitäten und als Infrastruktur für
Fuß-, Rad- und Wanderwege sowie Elektrobusse.
Diese multicodierte Nutzung
ist die Grundlage, die es den Menschen
ermöglicht, gleichzeitig in einem dichten
und intensiven städtischen Kontext zu leben
und in engem Kontakt mit der Natur
zu stehen. Sie zeigt ein vielfältiges städtisches
Gewebe, das im Gegensatz zur
typischen Einfamilienhaussiedlung eine
Vielzahl an Lebensstilen ermöglicht.
Konzept - Symbiosis - Henna Finland.
(Europan 2010 / microcities)
Stadt & Land 35
Verknüpfung von Stadt und Land -
Symbiosis - Henna Finland. (Europan
2010 / microcities)
Die starke Beziehung zwischen gebauten
Einheiten und dem durchgehenden
kollektiven Raum prägt jeden Stadtteil
als Stadteinheit, mit Intensität und urbanem
Leben, garantiert eine städtische
Identität und eine Komplexität der Räume
und bietet gleichzeitig Treffpunkte in
jedem Stadtteil. Dieser kollektive Raum
entwickelt sich zu mehreren Szenarien, in
denen Sequenzen von Wegen und Plätzen
zu unterschiedlichen Nutzungen der
Stadt führen. Die Stadt selbst bietet ständig
wechselnde Abfolgen von Räumen,
die unterschiedliche übergeordnete Nutzungen
wie Kino, Krankenhaus, Theater,
Schule oder Museum auf die einzelnen
Quartiere verteilt. Symbiosis wird damit
insbesondere zur Blaupause für das Potential
zum Zusammenschluss kleinerer
räumlichen Einheiten zu einem polyzentralen
Netzwerk, das gemeinsam die Annehmlichkeiten
einer Großstadt erreicht
bei parallel naturnahem Lebensumfeld.
CONCLUSIO
In der aktuellen Debatte um die Doppelte
Innenentwicklung, die Stadt der kurzen
Wege oder auch das UN Nachhaltigkeitsziel
der nachhaltigen Städte zeigen zahlreiche
Studien, dass die Rückbesinnung auf den
menschlichen Maßstab, seiner Reichweite
und täglichen Abläufe zielführend sein
kann, um unsere Lebensräume weiter zu
verbessern. Der darin enthaltende Perspektivwechsel
von der Stadt der kurzen
Wege zu einem Quartier der kurzen Wege
mit dem Rückbezug zur mittelalterlichen
europäischen Stadt, kann dabei ein Zukunftskonzept
für morgen und übermorgen
sein, das für den Umbau des
monofunktionalen Bestands
der Städte,
der Konversion der Schlafdörfer
oder
dem resilienten Neubau im Umland
von Wachstumskernen
gleichermaßen zielgerichtete Leitlinien bietet.
Der Fokus auf die fußläufige Erreichbarkeit
und das klare Ortszentrum setzt
wichtige Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung
und Umgestaltung von Quartieren
sowie für die Setzung der umliegenden
Freiraumverbünde. Die Besinnung auf die
Quartiersgröße und den menschlichen
Maßstab erlaubt die Betrachtung von dörf-
36 Stadt & Land
lichen Einheiten (ein Quartier) bis zu Großstädten
(zahlreiche Quartiere). Das Bild der
mittelalterlichen Stadt unterstützt bei der
Konzeptionierung und der Analyse des
Bestands nach fehlenden Stadtschichten
und räumlichen Grenzen. Das Quartier der
kurzen Wege kann als eine Synthese der
Bedürfnisse nach Urbanität mit dem Kontakt
zu einer lebendigen, arbeitsnahen Umgebung
und Freizeitmöglichkeiten und einer
entschleunigten und unabhängigeren,
naturverbundenen Lebensweise gesehen
werden – und damit auch als Stadt Land
Quartier. Die Stadt von vorgestern wird so
zum Quartier von übermorgen.
„Mit der Digitalisierung besteht
die Gefahr, dass wir nach der autogerechten
Stadt mit der Smart
City ein weiteres Mal einem
technikgetriebenen Leitbild folgen und
das menschliche Lebensumfeld aus den
Augen verlieren. Es gilt gemeinsam an
einem menschlichen Leitbild festzuhalten,
das die menschlichen Bedürfnisse
und Möglichkeiten in den Fokus rückt.
Marcel Cardinali
urbanLab
Mit der Digitalisierung besteht die Gefahr,
dass wir nach der autogerechten Stadt
mit der Smart City ein weiteres Mal einem
technikgetriebenen Leitbild folgen und das
menschliche Lebensumfeld aus den Augen
verlieren. Es gilt gemeinsam an einem
menschlichen Leitbild festzuhalten, das
die menschlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten
in den Fokus rückt. Jan Gehl hat
es in seinem Buch Städte für Menschen treffend
formuliert: „Wir werden auch morgen
noch gleich groß sein, gleich schnell und
weit laufen können und genauso weit gucken
können“ (2015). Kein Leitbild könnte
nachhaltiger sein.
Marcel Cardinali
M. Sc. Städtebau
urbanLab
koordiniert als Wissenschaftlicher Mitarbeiter die
Forschungs- und Projektarbeit im urbanLab der
Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe.
Er beschäftigt sich mit den Auswirkungen von
gebautem Raum auf die menschliche Umwelt,
untersucht die Wechselwirkungen zwischen den
einzelnen Handlungsfeldern in der Stadtplanung
und plädiert für eine soziale Architektur, die ihre
Verantwortung für den menschlich geformten
Lebensraum ernst nimmt.
Literatur & Abbildungen
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http://doi.org/10.1126/science.6143402
Stadt & Land 37
Dr. Svenja Haferkamp
Regionalen Ausgleich
stärken
Die Wohnungswirtschaft
als Gestalter von Heimat
In den Großstädten Deutschlands ist das Angebot an bezahlbaren
Wohnungen knapp und wird in der öffentlichen Diskussion
intensiv und kontrovers diskutiert. Immer häufiger rücken daher
Instrumente in den politischen Fokus, die in ihrer Wirkung umstritten
sind. Der am 18. Juni 2019 beschlossene Mietendeckel in Berlin
steht beispielhaft dafür. Anstatt mehr bezahlbaren Wohnraum zu
schaffen, engt dieser vor allem die Handlungsfähigkeit jener Akteure
am Markt ein, die schon heute bezahlbare Wohnungen anbieten
und sich gleichzeitig für klima- und demographiegerechte Maßnahmen
bei der Bestandsentwicklung einsetzen. Dringend gesucht
werden daher Lösungen, die wirksam sind und darüber hinaus die
Möglichkeit bieten, auch die Themen einer qualitativen Wohnraumversorgung
mitzudenken. In diesem Kontext fällt der Blick auch
auf jene Regionen, in denen das Wohnen noch immer bezahlbar
ist. Offen ist hier die Frage, wie es gelingen kann, dass das Wohnen
jenseits der Metropolen zu einer tatsächlichen Alternative wird und
die Großstädte dadurch Entlastung erfahren. Die Schaffung gleichwertiger
Lebensverhältnisse wird damit zur zentralen Aufgabe der
Stadt- und Regionalentwicklung und erfordert den Schulterschluss
einer Vielzahl von Akteuren.
38 Stadt & Land
Erste Ergebnisse aus dem Projekt im Überblick
Wer Stadt und Land neu denken will,
muss anfangen neu zu denken
Die Wohnungswirtschaft in Deutschland
ergreift hier die Initiative und widmet
sich mit dem Projekt Regionalen
Ausgleich stärken: Die Wohnungswirtschaft
als Gestalter von Heimat diesem
Thema. Mit ihren Partnern hat sie daher
einen Dialogprozess ins Leben gerufen,
um gemeinsam an umsetzungsorientieren
Lösungen zu arbeiten. Dies
geschieht im engen Austausch mit der
Bundeskommission Gleichwertige Lebensverhältnisse,
die unter Vorsitz des
Bundesministers des Innern, für Bau
und Heimat, Horst Seehofer ins Leben
gerufen wurde und im Juli 2019 erste
Ergebnisse veröffentlichte (BMI 2019).
Im Folgenden werden Zwischenergebnisse
aus dem Projekt, das bis Ende
2019 läuft, vorgestellt.
Das Projekt wurde vom GdW Bundesverband
deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen
e. V. (GdW) gemeinsam
mit den jeweiligen Regionalverbänden,
dem Verband Thüringer Wohnungs- und
Immobilienwirtschaft e.V. (vtw), dem Verband
der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
Rheinland Westfalen e.V. und
dem Verband der Wohnungswirtschaft
Sachsen-Anhalt e.V. gestartet. In insgesamt
sechs verschiedenen Fallstudien
werden in diesem Zusammenhang in
regionalen Dialogprozessen die Fragen
nach den Möglichkeiten des regionalen
Ausgleichs und den Chancen und
Hemmnissen gestellt. In Thüringen
geschieht dies anhand der Fallstudie
Jena/Saale-Holzland-Kreis, wo für den –
auch für Thüringer Verhältnisse – angespannten
Wohnungsmarkt in Jena die
Möglichkeiten des regionalen Wachstums
und der regionalen Kooperation
eruiert werden.
In Nordrhein-Westfalen werden gleich
vier Fallstudien bearbeitet. Während in
Duisburg-Wedau und im Kölner Umland
ebenfalls die Fragen nach den
regionalen Ausgleichspotentialen für
die angespannten Wohnungsmärkte in
Düsseldorf und Köln gestellt werden,
rücken in Südwestfalen und Ostwestfalen-Lippe
andere Facetten des Themas
in den Fokus.
Stadt & Land 39
INTEGRIERTE ANSÄTZE
REGIONALER ENTWICKLUNG
SIND GEFRAGT
Die Möglichkeiten zur Sicherung einer
medizinischen Infrastruktur, die auch
das Leben im hohen Alter in eher peripheren
Räumen gewährleisten soll,
werden im engen Dialog der Wohnungsunternehmen
und der medizinischen
Institutionen in Südwestfalen
diskutiert. Dabei richtet sich der Blick
unweigerlich auch auf das Thema der
Mobilität in der Region Südwestfalen.
Welche Chancen und Handlungsoptionen
Wohnungsunternehmen bei der
Bearbeitung dieser Querschnittsthemen
in einem integrierten Ansatz der
Regionalentwicklung haben, wird hier
diskutiert. In Ostwestfalen-Lippe stehen
mit Lemgo und Espelkamp gleich zwei
Beispiele im Fokus, die sich zum einen
mit den Entlastungsmöglichkeiten für
die Wohnungsmärkte in Bielefeld und
Paderborn, gleichzeitig aber auch mit
den Möglichkeiten zur Fachkräftegewinnung
in der insgesamt ökonomischstrukturstarken
Region beschäftigen.
Die Zwischenergebnisse des Projekts wurden am 08.Mai 2019
mit Abgeordneten des Bundestages in Berlin diskutiert.
Foto: DKB
GDW-BEFRAGUNG GIBT EINBLICK
ÜBER LEBENSQUALITÄT IN REGIO-
NEN JENSEITS DER METROPOLEN
Den Fallstudien wurde durch den GdW
eine quantitative Befragung vorangestellt,
um erste vertiefte Kenntnisse
über den Status Quo des derzeitigen
wohnungswirtschaftlichen Engagements
von Wohnungsunternehmen für
die regionale Entwicklung jenseits der
Metropolen zu gewinnen. Die Befragung
der 1.900 Wohnungsunternehmen außerhalb
der Metropolen hat ergeben,
dass 63 Prozent dieser Unternehmen in
einer Region mit schrumpfender oder
stagnierender Bevölkerungszahl liegen
– Wachstum ist demnach für die Wohnungswirtschaft
außerhalb der Großstädte
nicht das dominierende Thema.
Diese Unternehmen agieren viel mehr
in einem Umfeld mit besonderen Herausforderungen:
während also auf der
einen Seite die Schwarmstädte an Bevölkerung
gewinnen, verlieren auf der
anderen Seite Regionen an Einwohnern
– wenngleich die wohnungspolitische
Diskussion sich nahezu ausschließlich
auf die Wachstumszentren fokussiert.
Die Einschätzung der Unternehmen zur
Lebensqualität jenseits der Metropolen
zeigt, dass künftig mehr Anstrengungen
für die Regionen notwendig sind. Vor allem
die großen Zukunftsthemen der Digitalisierung
sowie das Thema der Mobilität
sind wichtige Querschnittsthemen,
die auch aus wohnungswirtschaftlicher
Perspektive für die regionale Entwicklung
entscheidend sein werden. Ferner
sind 81 Prozent der Unternehmen der
Ansicht, das preisgünstige Mietniveau
in der Region sei ein wichtiger Standortvorteil.
Immerhin 46 Prozent sehen
eine Chance darin, die Ballungszentren
zu entlasten. In Konsequenz ist die Stärkung
des regionalen Ausgleichs, auch
zur Versorgung breiter Schichten der
Bevölkerung mit bezahlbaren Wohnraum
eine wichtige Zukunftsaufgabe.
40 Stadt & Land
WOHNUNGSWIRTSCHAFTLICHE
BELANGE IN REGIONALE ENT-
WICKLUNG EINBEZIEHEN
Erste Ergebnisse aus den Dialogprozessen
in den Fallstudien zeigen aber,
dass Stadt und Land künftig verstärkt
zusammenarbeiten müssen, beispielsweise
in Planungsverbünden oder
regionalen Entwicklungsgesellschaften,
um die Entlastungspotentiale des
Umlandes zu heben. In Jena und dem
Saale-Holzland-Kreis wird daher, ausgehend
von den Impulsen aus dem
Projekt heraus, derzeit geprüft, welche
Organisationsform für eine solche regionale
Kooperation geeignet ist und
welcher Grad der Formalisierung zur
Initiierung eines solchen regionalen
Verbundes sich anbietet.
Foto: DKB
Gleichzeitig zeigt der Diskurs in anderen
Regionen, so in Köln und dem Kölner
Umland, dass es verstärkt darum gehen
wird, wohnungswirtschaftliche Belange
in die Diskussion zur Regionalentwicklung
einzubeziehen und zu berücksichtigen.
Wohnungswirtschaft ist in dem
Zusammenhang ein zentraler Partner in
der Region, auch wenn es darum geht,
Flächennutzungen und -bedarfe auszuweisen
und integrierte Planungsansätze
zu realisieren.
QUARTIERE FÜR DIE ZUKUNFT
BAUEN: NICHT NUR EINE FRAGE
DER QUANTITÄT, SONDERN DER
QUALITÄT
Dies wird auch anhand der Fallstudie
Duisburg-Wedau deutlich. In Duisburg-Wedau
entstehen derzeit 3.000
neue Wohneinheiten in unmittelbarer
Nähe zur Stadt Düsseldorf. Dies ist auch
für die Stadt Duisburg ein erhebliches
Entwicklungspotential, allerdings gilt
es, die verkehrliche Anbindung nach
Düsseldorf zu ermöglichen, um hier als
leistungsfähiger Entlastungsstandort
fungieren zu können. Der anhaltende
Strukturwandel stellt die Stadt Duisburg
noch immer vor Herausforderungen.
Mit der Entwicklung neuer, innovativer
und zukunftsfähiger Stadtquartiere besteht
daher in Duisburg die Möglichkeit,
neue Qualitäten in der Stadtentwicklung
zu schaffen.
SCHRUMPFUNG UND
STRUKTURSCHWÄCHE
SIND WEITERHIN THEMA
Wenngleich der Fokus derzeit auf den
Wachstumsmärkten und Schwarmstädten
liegt, beschäftigt sich das Projekt auch
mit jenen Regionen, die derzeit und perspektivisch
schrumpfen werden und zudem
von Strukturschwäche geprägt sind.
Beispielhaft steht dafür als Bundesland
Sachsen-Anhalt. Mehr als 89.000 Wohnungen
wurden seit 2000 in Sachsen-Anhalt
zurück gebaut, 32.000 Wohnungen
stehen derzeit leer. Es ist daher nötig,
gerade unter diesen strukturellen Vorzeichen
auch über den Wohnungsrückbau
und die Sicherung gleichwertiger
Lebensverhältnisse nachzudenken. Die
Städtebauförderung ist hier ein wichtiges
und unabkömmliches Instrumentarium.
Stadt & Land 41
„Ebenso wichtig ist es, in diesem
Zusammenhang nicht die Dichotomie
zwischen Stadt und Land
herauszustellen, sondern viel
mehr an gemeinsamen Lösungen zu
arbeiten, die Stadt und Land gemeinsam
denken und somit dazu beitragen, für
den regionalen Ausgleich (neue) Lösungswege
zu erarbeiten.
Dr. Svenja Haferkamp
VdW Rheinland Westfalen
Im Projekt werden daher Impulse erarbeitet,
die die bestehenden Instrumente
und Förderprogramme weiterqualifizieren
sollen, die auch für die Wohnungswirtschaft
von zentraler Bedeutung sind.
WIRTSCHAFTLICHE ATTRAKTIVITÄT
UND LEBENSWERTIGKEIT IN
EINKLANG BRINGEN
Wie eingangs angedeutet, stehen im
Projekt der Fallstudie Südwestfalen, an
der die Arbeitsgemeinschaft Die Wohnungswirtschaft
in Südwestfalen im Wesentlichen
beteiligt ist, die Herausforderungen
einer eher ländlich geprägten
Region im Fokus des Erkenntnisinteresses.
Dass in Südwestfalen 153 Weltmarktführer
beheimatet sind, steht
selten im öffentlichen Fokus. Dies wirft
daher die Frage auf, wie es gelingen
kann, die wirtschaftliche Attraktivität der
Region und die Attraktivität als Wohnstandort
künftig stärker in Einklang zu
bringen. Gerade mit Blick auf schrumpfende
Einwohnerzahlen, ist dies eine
wichtige Aufgabe – auch für die Wohnungswirtschaft
– und erfordert die Auseinandersetzung
mit integrierten und
ganzheitlichen Lösungen der regionalen
Entwicklung. Im Projektzusammenhang
wird daher geprüft, welche Möglichkeiten
es gibt, die Themen Wohnen, Gesundheit
und Mobilität künftig intensiver
zusammen zu denken und hierfür die
nötigen Allianzen zu schmieden.
START-UPS FÖRDERN UND RAH-
MENBEDINGUNGEN FÜR JUNGE
GRÜNDERSZENE SCHAFFEN
Auch für die Anwerbung von qualifizierten
Fachkräften ist dies von großer
Bedeutung, wie anhand des Beispiels
der Aufbaugemeinschaft Espelkamp für
die Region Ostwestfalen-Lippe deutlich
wird. Das kirchliche Wohnungsunternehmen
beschäftigt sich aktuell intensiv
mit der Frage, wie es gelingen kann,
junge Fachkräfte sowie Start-Up-Firmen
– insbesondere aus der IT-Branche – für
die Region zu gewinnen. In Espelkamp
sucht man daher den Dialog mit den örtlich
ansässigen Unternehmen, um hier
gemeinsam Lösungen und neue, innovative
Wohn- und Arbeitsformen zu entwickeln.
Ebenso wird in Lemgo mit der
Wohnbau Lemgo eG die Frage nach den
Handlungsfeldern einer möglichen regionalen
Wohnungspolitik gestellt. Damit
sind aus der Arbeitsgemeinschaft Die
Wohnungswirtschaft Ostwestfalen-Lippe
gleich zwei Unternehmen an dem bundesweiten
Kooperationsprojekt beteiligt.
WILLE, KOOPERATION
UND MUT SIND GEFRAGT
Die Zwischenergebnisse aller Teilprojekte
zeigen bislang, dass zur Stärkung
des regionalen Ausgleichs nicht nur der
Schulterschluss einer Vielzahl von Akteuren
gefordert ist. Es wird viel mehr
deutlich, dass dafür auch der politische
Wille und Rückhalt gefragt sind, um –
auch unter Beteiligung der Wohnungswirtschaft
– neue Kooperationen einzugehen
und Allianzen zu schmieden.
Eine besondere Herausforderung stellt
in dem Zusammenhang insbesondere
die Gleichzeitigkeit ungleicher Entwicklungen
in der Bundesrepublik eine große
Herausforderung dar, die ein umfassendes
und flexibles Maßnahmenpaket
erfordert, das diesen unterschiedlichen
Rahmenbedingungen gleichermaßen
Rechnung trägt.
42 Stadt & Land
weitere Themen:
Breitbandausbau, und dann – Digitalisierung im ländlichen Raum
Wiedergutmachungsprojekt für die Global City – Frankfurts Neue Altstadt
Lernen am Denkmal – Orte nachhaltiger kultureller Bildung in Hann. Münden
Paragraf 13b BauGB – Flächenpolitische Ziele und Anwendung am Beispiel
Perspektiven für die Stadterneuerung
Zukunftsaufgabe der SRL – Nachbetrachtungen zur Jahrestagung 2018
weitere Themen:
SRL-Stellungnahme zur Düsseldorfer Erklärung
Smart ist nicht gleich digital – Die digitale Entwicklung geht rasant weiter
Apropos Escher – Wege des technologischen Wandels im Revier
Evaluation zur Anwendung des § 13b BauGB im Freistaat Bayern
Die städtebaurechtlichen Gebote – Hinweise für eine vermehrte Anwendung
Bauleitplanerische Vorsorge vor Starkregenereignissen
GLEICHZEITIGKEIT UNGLEICHER
ENTWICKLUNGEN ERFORDERT
FLEXIBLES MASSNAHMENPAKET
Ebenso wichtig ist es in diesem Zusammenhang
nicht die Dichotomie zwischen
Stadt und Land herauszustellen,
sondern viel mehr an gemeinsamen
Lösungen zu arbeiten, die Stadt und
Land gemeinsam denken und somit
dazu beitragen für den regionalen Ausgleich
(neue) Lösungswege zu erarbeiten.
Die Wohnungswirtschaft hat mit
dem Projekt Regionalen Ausgleich stärken:
Die Wohnungswirtschaft als Gestalter
von Heimat den gemeinsamen Diskurs
eröffnet und will mit dem Kooperationsprojekt
die Chancen, aber auch die
Hemmnisse des regionalen Ausgleichs
näher beleuchten, um konkrete Maßnahmen
zu erarbeiten.
Dr. Svenja
Haferkamp
VdW Rheinland
Westfalen
ist Referentin für Städtebau, Stadt- und Quartiersplanung
und Genossenschaftswesen beim Verband
der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
Rheinland Westfalen e.V. Ferner ist sie im Verein
StadtBauKultur Nordrhein-Westfalen e.V. im
Vorstand ehrenamtlich tätig und Lehrbeauftragte
am Geographischen Institut der Ruhr-Universität
Bochum. Hier promovierte sie zum Thema
„Bündnisse für Wohnen im Quartier“ und war
zwischen 2013 und 2017 als wissenschaftliche
Mitarbeiterin im Fachbereich Urban and Metropolitan
Studies tätig.
informieren
netzwerken
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MITGLIEDERFACHZEITSCHRIFT FÜR STADT-, REGIONAL- UND LANDESPLANUNG
Künstliche Intelligenz
Die Transformation gestalten
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◗ Spektrum erweitern & Neues erfahren
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bei den regionalen Fachtagungen, Planertreffs, Workshops,
Salongesprächen, Exkursionen etc. der SRL-Regionalgruppen
◗ auf dem Laufenden bleiben
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Fachzeitschrift
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über die Mitarbeit in unseren Arbeitskreisen und Fachgruppen
(z.B. Energie und Klima, Ländlicher Raum, Verkehr, Städtebau)
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durch die Mitgliedschaft der SRL in internationalen Netzwerken
wie ISOCARP, ECTP, C.E.U.
◗ Individuelle Anfragen & Hilfestellung
Unterstützung bei fast allen Fragen gibt es in unserer
Geschäftsstelle: bei der Suche nach speziellen Gesprächspartnern
zu Fachthemen, berufsständischen Fragen etc.
◗ Mitgliedsbeitrag
192 € im Jahr; ermäßigt 144 €; Studierende,
Geringverdienende, Erwerbslose 60 €
PLANERIN HEFT 1_19 FEBRUAR 2019
Gestaltung der Stadtregion
Herausforderungen Mobilität, Logistik, Flächenverbrauch
PLANERIN HEFT 3_19 JUNI 2019
Literatur & Abbildungen
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, BMI
(Hg.) (2019): Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige
Lebensverhältnisse überall. Berlin
GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen
e.V. (Hg.) (2018): Wohnen jenseits der
Metropolen. Berlin
Foto: Svenja Grzesiok
Vereinigung für Stadt-, Regionalund
Landesplanung SRL e.V.
Geschäftsstelle
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zu erhalten und
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STRUKTUREN
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AKTEURE
Eva Stelzner
Wege zum bezahlbaren
Bauen und Wohnen
Aktuelle Herausforderungen
und Lösungsansätze
Wohnen ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Vor allem
Städte und Ballungsräume stehen unter hohem Nachfragedruck.
Zwar hat die Bautätigkeit in den letzten Jahren wieder zugenommen,
doch es fehlt vor allem an bezahlbarem Wohnraum.
Deutschlandweit werden in den Jahren 2019 und 2020 schätzungsweise
341.700 neue Wohnungen benötigt, um den hohen
Bedarf zu decken (Henger, Voigtländer 2019). Bei teilweiser Berücksichtigung
des aufgestauten Nachholbedarfs unter Variation
der Zuwanderung liegt die Bedarfsprognose sogar noch höher.
Auf Bundesebene und in Nordrhein-Westfalen
gibt es verschiedene
Instrumente, um die Schaffung der
dringend benötigten Wohnungen voran
zu treiben. Die Zusammenhänge
sind komplex und die Lösungsansätze
vielfältig. Wichtig ist das aufeinander
abgestimmte Handeln von Bundesregierung,
Länder, Kommunen und aller
am Wohnungsbau beteiligten Akteure
in den jeweiligen Handlungsfeldern.
MOBILISIERUNG VON BAULAND
Wohnungsneubau erfordert vor allem
verfügbares Wohnbauland. Damit ist
die Baulandmobilisierung zum prioritären
Thema geworden, um Grundstückspreise
zu dämpfen und damit die
Grundlage für bezahlbaren Wohnungsbau
zu tragbaren Kosten zu schaffen.
Bauland darf nicht ein Engpass für
Wohnen sein. Sämtliche Flächen sind
in Betracht zu ziehen: sowohl Freiflächen
für neue Quartiere und Vorhaben,
aber auch vorhandene Potentiale
zur Nachverdichtung.
Nordrhein-Westfalen macht sich mit
einer Vielzahl von Initiativen, Programmen
und Instrumenten für die Reaktivierung
von Brachflächen und die
Entwicklung neuer Flächen stark. Auf
Bundesebene hat die Expertenkommission
Nachhaltige Baulandmobilisierung
und Bodenpolitik unter Vorsitz von
Marco Wanderwitz, Parlamentarischer
Staatssekretär beim Bundesministerium
des Innern, für Bau und Heimat,
die Arbeit aufgenommen. Aufgabe der
Expertenkommission war es, Vorschlägen
zur Änderung des Bauplanungsrechts
auszuarbeiten und konkrete
Handlungsoptionen für eine bessere
und schnellere Aktivierung von Grundstücken
für den Wohnungsbau zu erarbeiten.
Nun gilt es, die erarbeiteten
Vorschläge zügig umzusetzen.
46 Strukturen & Akteure
BAUGENEHMIGUNGSVERFAHREN
BESCHLEUNIGEN
Auch wenn Bauland vorhanden oder
gefunden ist, dauert die Umsetzung
geplanter Objekte häufig noch sehr lange.
Die Erlaubnis, Grundstücke zu bebauen,
zu verändern oder anderweitig
zu nutzen, dauert viele Monate. Immer
seltener werden Vorhaben nach § 34
BauGB (Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb
der im Zusammenhang bebauten
Ortsteile) genehmigt. Vielfach findet
zunächst ein Bauleitplanverfahren statt,
um die städtebauliche Entwicklung einer
Gemeinde zu lenken. Bauleitplanverfahren
sind umfangreich, komplex
und nehmen viel Zeit in Anspruch. Ist
die bauplanungsrechtliche Voraussetzung
zur Bebaubarkeit geschaffen,
muss noch ein Baugenehmigungsverfahren
durchgeführt werden, das weitere
Monate in Anspruch nimmt.
SENKUNG VON BAUKOSTEN
Die Baukosten sind in den vergangenen
Jahren massiv gestiegen. Das Ministerium
für Heimat, Kommunales,
Bau und Gleichstellung des Landes
Nordrhein-Westfalen gründete unter
Vorsitz von Ministerin Ina Scharrenbach
eine Baukostensenkungskommission,
in der Gesetze und Verordnungen
auf ihre baukostensteigernden
Effekte überprüft und gegebenenfalls
angepasst werden. Der VdW Rheinland
Westfalen ist Mitglied der Kommission.
Die Novellierung der im Wesentlichen
am 1. Januar 2019 in Kraft getretenen
Bauordnung Nordrhein-Westfalen ist
ein erster Schritt, die Baukosten zumindest
nicht weiter ansteigen zu lassen.
Weitere Schritte sollen folgen.
Ziel muss es sein, diese Verfahren soweit
wie möglich zu vereinfachen und
damit auch zu beschleunigen. Jeder der
im Bauleitplanverfahren und Baugenehmigungsverfahren
zu prüfenden Punkte
wie beispielsweise Umweltverträglichkeit,
Sozialverträglichkeit, Verkehr, Lärm
und Nachhaltigkeit hat grundsätzlich
seine Berechtigung. Häufig müssen
hierfür jedoch umfangreiche und kostenintensive
Gutachten in Auftrag gegeben
werden, die die Prozesse zusätzlich
verzögern und die Kosten erhöhen. Daher
ist eine bedarfsgerechtere Festsetzung
der zu prüfenden Punkte sowie
Augenmaß bei der Anforderung von
Gutachten wünschenswert.
„Auch wenn Bauland vorhanden
oder gefunden ist, dauert die Umsetzung
geplanter Objekte häufig
noch sehr lange. Die Erlaubnis,
Grundstücke zu bebauen, zu verändern
oder anderweitig zu nutzen dauert viele
Monate. Immer seltener werden Vorhaben
nach § 34 BauGB (Zulässigkeit von
Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang
bebauten Ortsteile) genehmigt.
Eva Stelzner
VdW Rheinland Westfalen
Strukturen & Akteure 47
Ende ‘18/Anfang ‘19: +4,8 % höchster Anstieg der Baupreise in zwölf Jahren
Rohbauarbeiten an Wohngebäuden + 5,6 %
Maurerarbeiten + 6,0% Betonarbeiten + 5,8 %, Erdarbeiten +7,0 %,
Dachdeckungs- und Dachabdichtungsarbeiten + 4,5 %
Ausbauarbeiten + 4,2 %
Nieder- und Mittelspannungsanlagen 5,6 %
Metallbauarbeiten 4,6 %
Heizanlagen- und zentralen Wassererwärmungsanlagen + 4,0 %
3,2%
2,9%
2,8%
3,6%
4,0% 4,1%
4,8% 4,8%
4,6%
Baupreise
Baukostenentwicklung
Bauen ist so teuer wie lange
nicht mehr: Kapazitätsengpässe
schlagen sich in Baupreisen
nieder.
2,2%
2,3%
2,0%
2,1%
1,7% 1,6% 1,6% 1,5% 1,5% 1,5% 1,5% 1,6%
Februar
Mai
August
November
Februar
Mai
August
November
Baupreise
Februar
Allg. Preisentwicklung
Allg. Preisentwicklung
Mai
August
November
Februar
Mai
August
November
Februar
Mai
August
November
Februar
2014
2015
2016
2017
2018 2019
Quelle : GdW 2019 (angepasst)
VERLÄSSLICHE WOHNUNGS-
BAUFÖRDERPOLITIK
Eine gute und verlässliche Wohnungsbauförderpolitik
bietet Kommunen
und Investoren eine verlässliche Finanzierungsperspektive
und führt
damit zu mehr Wohnungsneubau.
Haushalte, die sich am Markt nicht aus
eigener Kraft angemessen mit Wohnraum
versorgen können, bedürfen
der Unterstützung. Die Landesregierung
Nordrhein-Westfalens verfolgt
mit dem mehrjährigen Wohnraumförderungsprogramm
das Ziel, mehr
geförderten und somit bezahlbaren
Wohnraum in allen Marktsegmenten
zu schaffen. Das Wohnraumförderprogramm
von Nordrhein-Westfalen
ist mit Abstand das größte und erfolgreichste
in der ganzen Bundesrepublik.
In 2019 stellt Nordrhein-Westfalen
rund 1,3 Milliarden Euro für die
kontinuierliche Förderung von öffentlich
gefördertem Wohnen mit klarem
Schwerpunkt auf dem preisgebundenen
Mietwohnungsbau, einer energetischen,
generationengerechten, mietpreisgebundenen
Modernisierung
von Wohnungsbeständen zur Verfügung
(MHKBG 2019). Das fördert die
Schaffung bezahlbaren Wohnraums.
MIETRECHTSREGULARIEN
Immer wieder werden verschiedene
Mietrechtsregularien diskutiert, die
dafür sorgen sollen, dass Wohnen
bezahlbar bleibt. Jedoch eignen sich
diese Einzelmaßnahmen nur teilweise
weitere Mietpreissteigerungen einzudämmen.
Jedenfalls sorgen sie dafür,
dass Investitionen in den Wohnungsbau
von manchen immer kritischer
überdacht werden.
Das Gesetz zur Ergänzung der Regelungen
über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn
und zur Anpassung der Regelegungen
über die Modernisierung der Mietsache
(Mietrechtsanpassungsgesetz – MietAnpG)
ist trotz vielfacher Kritik zum 1. Januar
2019 in Kraft getreten. Unter anderem
können Vermieter weniger Modernisierungskosten
auf Mieter umlegen
und Mieter können Verstöße gegen die
Mietpreisbremse einfacher rügen. Die
neuen Regelungen greifen erheblich in
die Umlagemöglichkeiten der Vermieter
ein und verschlechtern die Rahmenbedingungen
für energetische Modernisierung,
den altersgerechten Umbau
und die Digitalisierung im Wohnbereich.
Weitere Verschärfungen waren im Mai
48 Strukturen & Akteure
Wohnungen
500 000
450 000
400 000
350 000
300 000
250 000
200 000
150 000
100 000
50 000
0
Bautätigkeit
Baugenehmigungen
Baufertigstellungen
Darunter Mietwohnungen
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
Genehmigungen
Fertigstellungen
2011
2012
2013
2014
2015
2016
346.810
285.914
69.435
2017
2018
2019
Bedarfsprognose
Neubaubedarf p.a. (2015-2025)
bei teilw. Berücksichtigung
aufgestauten Nachholbedarfs
und Variation der Zuwanderung
386.000 (2018) - 300.000 - 200.000
Pers. pro Jahr
360.000
326.000
286.000
140.000
Darunter: Bedarf an preisgrünstigen
Mietwohnungen
2020
2021
2022
2023
2024
2025
Quelle : GdW 2019 (angepasst)
Derzeitige Bautätigkeit
und zukünftiger Wohnungsbedarf
2025
Fertigstellungen und Baugenehmigungen
seit 2002
sowie Bedarfsprognose
des Neubaubedarfs p.a.
(2015-2025) bei teilweiser
Berücksichtigung aufgestauten
Nachholbedarfs und Variationen
der Zuwanderung
386.000 (2018) – 300.000 –
200.000 Personen pro Jahr.
2019 angekündigt, konnten jedoch erfolgreich
verhindert werden.
Auch gibt es Reformüberlegungen, die
Umlagefähigkeit der Grundsteuer als
Betriebskosten abzuschaffen. Wer jedoch
die Umlagefähigkeit der Grundsteuer
abschaffen möchte, bremst nicht
die Mieten, sondern die Investitionen in
den Wohnungsbau. Weniger Modernisierungen
und Neubau wären die Folge,
womit die Wohnungsqualität sinkt und
der Mangel an Wohnungen zu weiter
steigenden Mieten führt.
FAZIT
Für mehr bezahlbaren Wohnraum
braucht es wirksame Rahmenbedingungen
und strukturell tragfähige Maßnahmen.
Die vorstehend aufgezeigten
Lösungsansätze können die zügige
Errichtung bezahlbaren Wohnraums
fördern. Diese Lösungsansätze sollten
weiter verfolgt und ausdifferenziert werden.
Statt weitere Debatten um immer
weitläufigere rechtliche Regulierungen
zu führen, müssen proaktiv wirklich wirksame
Maßnahmen für mehr bezahlbaren
Wohnraum praktisch und zeitnah
umgesetzt werden. Dazu gehören insbesondere
Regelungen für schnelleres, ein-
facheres und kostengünstigeres Bauen
und der Erhalt einer starken Wohnraumförderung.
Die Probleme angespannter
Wohnungsmärkte lassen sich nicht über
das Mietrecht lösen.
Literatur & Abbildungen
Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen
(GdW) (2019): Wohnungswirtschaftliche Daten und
Trends 2019/2020. Berlin 2019.
Dr. Henger, Ralph / Prof. Dr. Voigtländer, Michael (2019):
IW-Report 28/2019: Ist der Wohnungsbau auf dem richtigen Weg?
Aktuelle Ergebnisse des IW-Wohnungsbaubedarfsmodells, Köln,
22. Juli 2019, S. 22.
Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung
des Landes Nordrhein-Westfalen - MHKBG (2019): Wohnraumförderung
in Nordrhein-Westfalen - Förderbudgets und Ansätze
im Jahr 2019, https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/mhkbg_28.03.2019_anlage_1.pdf
(letzter Zugriff: 31. 07.2019).
Foto: VdW/Roland Baege
Eva Stelzner
Rechtsanwältin
VdW Rheinland
Westfalen
Eva Stelzner berät als Referentin für Rechtsangelegenheiten
beim Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
Rheinland Westfalen e. V. (VdW Rheinland Westfalen)
Mitgliedsunternehmen und -genossenschaften des
Verbandes in Fragestellungen des allgemeinen Zivilrechts,
Mietrechts, Genossenschaftsrechts und öffentlichen
Rechts, insbesondere im öffentlichen Baurecht.
Strukturen & Akteure 49
Burkhard Schulze Darup
Klimaneutralität im
Gebäudebestand bis 2050
Wie geht das?
Seit mindestens drei Jahrzehnten wissen wir, wie es geht. Hocheffiziente
Gebäudestandards wie das Passivhaus haben seitdem
mannigfach den Praxistest bestanden und wurden zum Exportschlager.
Deutschland war über zwei Jahrzehnte führend in der
Gebäudeeffizienz. Die damit verbundene Bauweise und Technologie
vermögen die Balance zwischen Effizienz und Umstieg auf
erneuerbare Energiequellen zu wahren, um die politisch gewollte
und ökologisch notwendige Klimaneutralität bis 2050 im Gebäudebereich
zu erreichen. Wenn wir das Übereinkommen der Weltklimakonferenz
in Paris ernst nehmen, wird das nearly zero energy
building (nZEB) gemäß EU-Gebäudeeffizienzrichtlinie (EPBD) in
etwa den Passivhaus-Standard aufweisen müssen.
Im Gegensatz zu anderen Sektoren verfügen
wir im Gebäudebereich über ausgereifte
Techniken und Komponenten,
um die definierten Klimaziele zu erreichen
– doch welcher weiterer Entwicklungen
bedarf es, um den nZEB-Standard
im Neubau und in adäquater Form
bei Sanierungsvorhaben in der Breite zu
etablieren? Bei den Effizienzkomponenten
geht es darum, einfacher und nachhaltiger
zu werden. Das entlastet die
Planung und kommt der Wirtschaftlichkeit
spürbar entgegen. Die Gebäudeund
Versorgungstechnik dagegen wird
grundsätzlich neu ausgerichtet werden
müssen, um den Anforderungen der
Energiewende gerecht zu werden.
EFFIZIENZKOMPONENTEN FÜR DIE
GEBÄUDEHÜLLE
Für die Bauteile der Gebäudehülle wurden
in den letzten Jahren viele konstruktiv
und gestalterisch hochwertige Lösungen
mit hoher Energieeffizienz entwickelt, die
zudem das Baubudget längst nicht mehr
über Gebühr zusätzlich belasten. Was
die Dämmung der Außenwände angeht,
liegen die Mehrkosten gegenüber dem
EnEV-Standard bei rund 12 bis 30 € m²/
Wohnfläche (WF), um dem Passivhausniveau
zu entsprechen. Bei der Dachdämmung
hängen die Mehrkosten von
der Geschossigkeit ab, weshalb hier die
Mehrinvestitionen zwischen 5 und 15 €/
50 Strukturen & Akteure
m² Wohnfläche liegen können. Das Gleiche
gilt für die Kellerdecken- oder Bodenplattendämmung
mit 6 bis 18 €/m² WF.
(Ecofys, Schulze Darup 2014)
Passivhaus-Fenster kosteten vor 20
Jahren nahezu das Dreifache von Standardfenstern
– allerdings sind diese
Kosten in den letzten Jahren erheblich
gesunken. Wenn bei der Planung zudem
die Gestaltungsspielräume hinsichtlich
des Fensterflächenanteils und der Wirtschaftlichkeit
der Fensterformate und
Konstruktionen genutzt werden, liegen
die Mehrinvestitionen nur noch bei 5
bis 15 €/m² WF. Die Qualitätssicherung
für Wärmebrücken und Luftdichtheit
erfordert bei erfahrenen Planern kaum
Mehraufwendungen, jedoch können die
Zusatzkosten für unerfahrene Passivhausplaner
am Anfang der Lernkurve durchaus
bei 30 €/m² WF liegen.
Jedes neue und sanierte Bauteil sollte
eine Nutzungsdauer von möglichst 60
Jahren aufweisen. Nur dann lässt sich
behaupten, dass es sich um eine nachhaltige
und zukunftsfähige Konstruktion
handelt. Diese Sichtweise impliziert,
dass die damit verbundenen Effizienzstandards
ebenso zukunftsfähig sind.
Wenn wir also neu bauen oder sanieren,
gilt es, jedes Bauteil energetisch so
gut wie möglich auszuführen. Sonst ist
es eine vertane Chance. Mittelmäßige
Standards bilden ein Dilemma: sie benötigen
vor Ablauf der Nutzungsdauer
eine energetische Ertüchtigung, die auf
keinen Fall unter wirtschaftlich sinnvollen
Rahmenbedingungen möglich ist.
HEIZTECHNIK –
EINFACH & ERNEUERBAR
Die vor uns stehende Energiewende
stellt völlig neue Anforderungen an die
Versorgung von Gebäuden und ganzer
Stadtteile. Der Übergang von fossilen
Energieträgern zu regenerativer, vorrangig
elektrischer Versorgung bedingt die
„Die vor uns stehende Energiewende
stellt völlig neue Anforderungen
an die Versorgung von
Gebäuden und ganzer Stadtteile.
Burkhard Schulze-Darup
Schulze Darup Partner
Zusammenführung erneuerbare Wärme
mit regenerativer Stromgewinnung.
Vereinfacht ausgedrückt: Strombasierte
Techniken in Verbindung mit einer hohen
Arbeitszahl, z. B. durch Wärmepumpen,
reihen sich ganz vorne in der Prioritätenliste
ein. Für den Paradigmenwechsel
bei der Heiztechnik sprechen jedoch noch
ganz andere Gründe: Wenn selbst an kalten
und trüben Wintertagen rechnerisch
15 bis 20 Teelichter ausreichen, um in
einem hocheffizienten Einfamilienhaus
kuschelig warm zu wohnen, steht außer
Zweifel, dass die Heiztechnik verschlankt
werden kann und mit deutlich niedrigerer
Leistung als bisher auskommt.
Außerdem gleicht sich die wohnungsinterne
Energiedichte für Heizen, Warmwasser
und Haushaltsgeräte zunehmend an und
ermöglicht völlig neue synergetische Versorgungssysteme,
die investitions- und
betriebskostenmäßig gegenüber der bisherigen
Gebäudetechnik ein bedeutendes
Einsparpotential bergen. Und so ganz
nebenbei lassen sich auf diese Weise die
bisherigen hohen Verluste bei der Warmwasserbereitung
deutlich senken. Bei der
Heizung sind mit vereinfachten Systemlösungen
15 bis über 40 €/m² WF einzusparen.
Das gilt insbesondere für Wärmepumpenkonzepte,
bei denen neben dem
Aggregat sowohl primärseitig als auch
auf der Heizseite jeweils deutlich kleinere
Lösungen als für den EnEV-Standard
umgesetzt werden können. Es gilt einen
Wettbewerb in der Heizungsbranche zu
initiieren, damit auf diesem wichtigen Feld
zeitnah einfache und innovative Konzepte
auf den Markt kommen.
Strukturen & Akteure 51
1.400 €
1.200 €
Vergleich der monatlichen
Belastung unterschiedlicher
Energiestandards. Der Passivhaus-Standard
und die
Plus-Standards liegen am
günstigsten.
1.000 €
800 €
600 €
400 €
200 €
-0 €
105 €
114 € 114 €
105 €
Hypothek
KfW - Darlehen
Heizung / WW
Strom
Wartungskosten
PV-Anlage
1.028 € 1.048 € 1.040 € 920 €
904 € 942 € 944 €
-200 €
WSVO 90
EnEV 2002 EnEV 2014 KfW EH 40 Passivhaus KfW EH 40 Plus Passiv Plus
Quelle: Ecofys, Schulze Darup 2014 (angepasst)
KOMFORTLÜFTUNG MIT WÄRME-
RÜCKGEWINNUNG – AUF DEM
WEG ZUR WIRTSCHAFTLICHKEIT
Lüftungstechnik reduziert mit optimierter
Wärmerückgewinnung den Heizwärmebedarf
um 20 bis 30 kWh/(m²a). Sie
wird als Komfortlüftung bezeichnet, weil
sie verbesserte Raumlufthygiene in Verbindung
mit hoher Behaglichkeit bringt.
Bisherigen Kosten von 50 bis über 100
€/m²WF stehen heute weitaus günstigere
und damit auch wirtschaftliche Lösungen
ab rund 35 €/m² WF gegenüber.
Das gilt insbesondere, wenn man davon
jene 15 bis 25 €/m² WF abzieht, die es
für eine Abluftanlage zum Erreichen der
DIN 1946-6 ohnehin braucht. Trotzdem
müssen Komfortlüftungssysteme in den
nächsten Jahren noch einfacher und kostengünstiger
werden, um die Akzeptanz
kurzfristig zu fördern. Die Hersteller der
Lüftungssysteme müssen zudem darauf
achten, die Wartungskosten möglichst
niedrig zu halten (Schulze Darup 2018).
KOSTEN & WIRTSCHAFTLICHKEIT
Bauen ist eine gesellschaftliche Aufgabe
mit immer neuen rechtlichen, sozialen
und politischen Rahmenbedingungen.
Zukunftsfähige Gebäude lassen sich nur
dann umsetzen, wenn Funktionalität und
Gestaltung, Nachhaltigkeitsanforderungen
und Baustandards interdisziplinär
und optimal aufeinander abgestimmt
werden. Es gilt diese Anforderungen
regelmäßig zu hinterfragen und einen
offensiven Umgang mit ökonomischen
Anforderungen zu pflegen. Untersuchungen
zeigen die hohe Anzahl von kostentreibenden
Faktoren (BMUB 2015 & Walberg,
Gniechwitz, Halstenberg 2015).
Es ist verwunderlich, dass die geringen
Mehrinvestitionen für energetische Maßnahmen
häufig breit diskutiert werden,
da diese im Vergleich zu beispielhaften
sonstigen Planungsaspekten geringer
ausfallen. Dabei ist dies der einzige Posten,
der zu einer Refinanzierung durch die
Energieeinsparung beiträgt. Das gilt insbesondere
im Zusammenhang mit der Förderung
durch das KfW-Programm Energieeffizient
Bauen, die Effizienzstandards für
Bauherren aus wirtschaftlicher Sicht sehr
attraktiv macht. Zusätzlich können regionale
und kommunale Förderungen ergänzend
das Budget entlasten.
Es lässt sich sehr gut beobachten, wie
seit Jahren eine Parallelverschiebung der
Förderstandards und des EnEV-Anforderungsniveaus
stattgefunden hat: Durch
52 Strukturen & Akteure
die Förderung werden neue Techniken in
den Markt eingeführt und es findet eine
Kostendegression statt, wenn innovative
Komponenten in die Mainstreamfertigung
gehen. Eine Analyse der Kostenentwicklung
für Effizienzkomponenten kommt zu
dem Ergebnis, dass hocheffiziente Bauteile
zunächst deutlich erhöhte Kosten aufweisen.
Sobald sie zum üblichen Standard
werden, passen sich die Preise sehr deutlich
den bisherigen Standardkonstruktionen
an (Ecofys, Schulze Darup 2014).
Insgesamt ist das Bauen preisbereinigt
seit 1990 nicht teurer geworden, obwohl
in dieser Zeit eine deutliche Energieeffizienzsteigerung
der Bauweisen zu verzeichnen
war (Ecofys, Schulze Darup 2014).
Selbstverständlich weisen die Standards
KfW Effizienzhaus 55 / 40 / 40 Plus sowie
Passivhaus Mehrinvestitionen gegenüber
dem EnEV-Standard auf. Bei der Betrachtung
der monatlichen Belastung werden
bei kostenbewusster Planung jedoch ab
dem ersten Monat für die hocheffizienten
Gebäude niedrigere Belastungen erzielt
als für den EnEV-Standard.
Zahlreiche erfahrene Planer weisen
gleichermaßen darauf hin, dass bei einem
Planungsprozess mit dem Ziel hoher
Energieeffizienz oftmals auch ein
kostenoptimiertes Entwurfskonzept
einhergeht. So verringert beispielsweise
ein günstiges A/V-Verhältnis auch
die Baukosten, da so komplexe oder
geometrisch komplizierte Hüllflächen
vermieden werden können. Insofern
verwundert es nicht, dass bei der Analyse
des Einflusses der energetischen Standards
auf die Baukosten im öffentlich geförderten
Wohnungsbau in Hamburg für
KfW EH 40 und Passivhaus-Standard
im Mittel keine Kostenerhöhungen im
Vergleich zu Standardgebäuden nachgewiesen
werden konnten (F+B 2016),
sondern Gebäude im Passivhaus-Standard
im Mittel günstiger lagen als
EnEV-Gebäude. Zum gleichen Ergebnis
kommt eine Studie zum Kostenvergleich
unterschiedlicher Baustandards Wohngebäude
des Amtes für Umweltschutz,
Gewerbeaufsicht und Energie der Stadt
Heidelberg (Bermich 2014), in der 154
Objekte der BKI Datenbank 2009 bis
2013 ausgewertet wurden. Im Ergebnis
liegen die mittleren Baukosten (Kostengruppen
300/400 inkl. MWSt.) bei 2.361
€ pro m² Wohnfläche für Passivhäuser
gegenüber 2.554 €/m² für Gebäude im
EnEV-Standard. In gleicher Quelle wird
nachgewiesen, dass die mittleren Kosten
für die Passivhäuser der Bahnstadt
Heidelberg bei 1.875 €/m² liegen. Die
Spreizung zwischen dem günstigsten
und teuersten Gebäude beträgt allerdings
auch dort 1.096 €/m².
Aus diesen Zahlen lässt sich vor allem
der Schluss ziehen, dass Bauherren
gut beraten sind, wenn sie erfahrene
Passivhaus-Planer beauftragen. Ganz
offensichtlich gibt es einen Zusammenhang
zwischen Effizienzdenken beim
Energiesparen und kosteneffizienter
Gebäudeplanung. Zukunftsfähige Baulösungen
punkten hinsichtlich Komfort
„Bauen ist eine gesellschaftliche
Aufgabe mit immer neuen rechtlichen,
sozialen und politischen
Rahmenbedingungen. Zukunftsfähige
Gebäude lassen sich nur dann
umsetzen, wenn Funktionalität und
Gestaltung, Nachhaltigkeitsanforderungen
und Baustandards interdisziplinär
und optimal aufeinander abgestimmt
werden. Es gilt diese Anforderungen
regelmäßig zu hinterfragen und einen
offensiven Umgang mit ökonomischen
Anforderungen zu pflegen.
Burkhard Schulze-Darup
Schulze Darup Partner
Strukturen & Akteure 53
und Lebenszyklusbetrachtung gleichermaßen,
weshalb sie eine werthaltige
Investition darstellen. Langfristig betrachtet
profitieren Bauherren davon,
da ein übliches, den aktuellen Anforderungen
entsprechendes Gebäude in gut
20 Jahren energetisch zu ertüchtigen
sein wird, während ein hocheffizienter
Energiestandard auch langfristig mit
den Zielen der Energiewende kompatibel
ist. Erschlagend unparteiisch weisen
Kostendaten des Statistischen Bundesamtes
zu den von Bauherren und Architekten
veranschlagten Baukosten nach
DIN 276 zum Zeitpunkt des Bauantrags
nach, dass die Kostenentwicklung nicht
durch die zahlreichen Stufen der Wärmeschutz-
und Energieeinsparverordnung
geprägt wurde, sondern durch andere
Faktoren (DESTATIS 2015).
NATIONALE EFFIZIENZSTAN-
DARDS & ORDNUNGSRECHT
VERSUS FÖRDERUNG?
Es stellt sich daher die Frage: Welche
Rahmenbedingungen braucht es, um
in den nächsten Jahren hocheffiziente
Standards zielgerichtet im Markt zu etablieren?
Erzielen wir die erforderlichen
Klimaschutzstandards durch verschärftes
Ordnungsrecht, durch deutlich erhöhte
Förderung oder den Mix von beidem?
Oder provokativ ausgedrückt: Wie
lange müssen für sukzessive wirtschaftlich
erreichbare Effizienzstandards Steuergelder
oder Klimaschutzfonds bemüht
werden? Brauchen wir Dauerförderung
oder werden die notwendigen Effizienzstandards
schnell erwachsen?
Wir können optimistisch sein: vor der
EnEV-Anpassung 2016 galt die Prognose,
dass in der Breite kaum mehr als der KfW
EH 70 Standard erreichbar sei. Der Markt
belehrte uns eines Besseren: Während
im Jahr 2015 nur 26.000 Wohneinheiten
im Standard KfW EH 55 gebaut wurden,
waren es 2016 bereits 93.000 geförderte
Wohnungen. Tendenz stark steigend.
Obendrein erhöhten sich nach Angaben
der KfW die Standards KfW EH 40 und KfW
EH 40 Plus von 8.200 auf 19.200 Einheiten.
Angesichts der sich verbessernden Effizienz-Komponenten
ist absehbar, dass
ein passivhaus-äquivalenter Standard im
Jahr 2021 marktgängig sein wird. Eine
mögliche Option könnte die verbindliche
Festsetzung solch eines Standards
in Verbindung mit einer Förderung sein,
die in den Folgejahren geplant degressiv
verläuft. Ergänzend kann dabei aus der
erfolgreichen KfW Effizienzhaus 55 Förderung
gelernt werden. Vielleicht lautet
die entscheidende Frage, wie das Förderverfahren
und insbesondere die Berechnungsmodalitäten
vereinfacht werden
können. Ein wichtiger Aspekt ist dabei ein
möglichst einfach gefasstes und dadurch
schnell akzeptiertes und etabliertes Gebäudeenergiegesetzes
(GEG), getreu dem
Motto: „GEG auf drei Seiten!“ Vielleicht
bietet sich an dieser Stelle die Chance für
einen ambitionierten Politikansatz, den
Gap zwischen Anspruch und Wirklichkeit
in der Klimapolitik zu schließen.
Angesichts des Auseinanderdriftens
des hochpreisigen Immobiliensektors
und der erforderlichen Wohnungen im
unteren Kostensegment muss zudem
dringend hinterfragt werden, ob der
Wohnungssektor nicht zusätzlich zur
energetischen KfW-Förderung eine komplementäre
Unterstützung sozialer Aspekte
erhalten muss, bei der auch regionale
Marktunterschiede und berechtigte
Anliegen der Wohnungswirtschaft in die
Förderstruktur einbezogen werden.
GRAUE ENERGIE
& NACHHALTIGKEIT
Mit sinkendem Energiebedarf für das
Betreiben von Gebäuden rückt der Energiebedarf
für die Errichtung und den
späteren Abriss sowie die Entsorgung
vermehrt in den Blickwinkel. Es gilt die
gesamte Produktlinie der Materialien
zu betrachten und die daraus resultie-
54 Strukturen & Akteure
1995
WSchVO
2002
EnEV 2002
2009
EnEv 2009 KfW 70 KfW 55 KfW 40
2016
EnEV 2016 KfW 55 KfW 40 KfW 40plus
2018
EnEV 2018 KfW 40plus KfW 30plus KfW 30premium
2021
EnEV 2021 KfW 30plus KfW 30premium
Außenwand U-Wert 0,30 0,28 0,24 0,22 0,20 ≤ 0,16 ≤ 0,15 ≤ 0,15
Dach U-Wert 0,28 0,26 0,24 0,20 0,14 ≤ 0,12 ≤ 0,12 ≤ 0,12
KG-Decke U-Wert 0,40 0,35 0,30 0,28 0,25 ≤ 0,20 ≤ 0,16 ≤ 0,15
Fenster U-Wert 1,80 1,60 1,30 ≤ 0,9-1,1 ≤ 0,9 ≤ 0,8 ≤ 0,75 ≤ 0,7
Wärmebr. DU WB 0,05 0,05 0,05 0,035 0,02 0,02 0,02
Luftdichtheit n 50 ≤ 3,0 h -1 ≤ 1,5 h -1 ≤ 1,5 h -1 ≤ 1,0 h -1 ≤ 0,8 h -1 ≤ 0,6 h -1 ≤ 0,6 h -1
Lüftung k. A. k. A. Abluftanlagen Zu-/Abluftanlagen mit Wärmerückgewinnung
Heizung/WW % ern. k. A. k. A. ca. 20 % ca. 20 % ≥ 30 % ≥ 40 % ≥ 60 % ≥ 90 %
Strom % ern. k. A. k. A. k. A. k. A. ≥ 20 % ≥ 30 % ≥ 60 % ≥ 80 %
Heizwärmeb. kWh/m²a ca. 110 ca. 90 ca. 70 ca. 50 ca. 30 ca. 15 ≤ 15 ≤ 15
Quelle: Schulze Darup 2018 (angepasst)
Energiestandards
und Förderung
Im oberen Teil wird die Parallelverschiebung
dargestellt,
mit der die EnEV- Standards
über die Jahre erfolgreich
durch die KfW- Förderstandards
vorbereitet wurden. Im
unteren hellgrau hinterlegten
Bereich werden beispielhaft
Gebäudekennwerte zum
Erreichen der Standards
aufgelistet. Grau und dunkelgrau
markiert sind jeweils die
Techniken, die für eine kostengünstige
Fortschreibung
entscheidend waren.
renden Belastungen des ökologischen
Rucksacks zu minimieren. Es ist Aufgabe
der Planer, gesamtheitliche Nachhaltigkeitsbetrachtungen
bei der Auswahl der
Konstruktionen und Materialien anzustellen.
Dazu bedarf es praxisgerechter
Werkzeuge. Ein sehr sinnvoller Ansatz
besteht in der Lebenszyklusanalyse nach
eLCA des BBSR (BBSR). Es wird zukünftig
möglich sein, die Lebenszyklusanalyse
im Zuge der energetischen Berechnung
als zusätzlichen Kennwert nahezu ohne
Mehraufwand zu generieren. Während
bei Bestandsgebäuden die Betriebsaufwendungen
die deutlich dominante Größe
darstellen, erreicht bei einem hocheffizienten
Passivhaus der Aufwand für
die Graue Energie einen Anteil von 20 bis
über 30 %, wenn sie auf die Nutzungszeit
der Bauteile abgeschrieben wird.
Wir sollten nicht davon ausgehen, dass
Gebäude „ihre“ eingebaute Energie im
Laufe ihres Bestehens durch erneuerbare
Energien wieder einfahren müssen.
Ebenso wenig kann unser Baugeschehen
künftig allein auf der Basis nachwachsender
Materialien erfolgen. Also ist es Aufgabe
der Bauindustrie, sukzessive Produkte
mit möglichst geringer Belastung der Umwelt
zu entwickeln und für deren Herstellung
bis spätestens 2050 ausschließlich
regenerative Energien zu nutzen.
WÄRMEWENDE & ERNEUERBARE
PRIMÄRENERGIE (PER)
Die bisherige fossile Energieversorgung
basiert auf Brennstoffen. Entsprechend
einfach lässt sich der Weg von der Energiequelle
zum Ort der Nutzung mit einer
Kennzahl darstellen. Für die wesentlichen
Brennstoffe Öl und Gas beträgt
der Primärenergiefaktor 1,1. Dagegen
wird Strom über den Umweg des Kraftwerks
bereitgestellt, was einen erhöhten
Primärenergiekennwert zur Folge hat,
der in den letzten Jahren aufgrund besserer
Kraftwerkseffizienz und der erneuerbaren
Anteile von 3,0 auf 1,8 gesunken
ist. Der Primärenergiekennwert fossiler
Energieträger wird sich dynamisch weiter
verändern und ist nicht besonders
gut geeignet, zukünftige Entwicklungen
zu beschreiben oder gar zu lenken.
Die künftige erneuerbare Versorgung basiert
auf der Primärseite zu überwiegenden
Teilen auf Strom, der als Primärstrom
vor allem aus Windkraftanlagen und Photovoltaik
stammt. Direkt genutzter Windund
Sonnenstrom weist einen erneuerbaren
Primärenergiefaktor (PER-Faktor) von
1,0 auf und ist zunehmend sehr kostengünstig
verfügbar. Gas muss dagegen aufwendig
mittels Elektrolyse erzeugt werden,
was sich in einem erhöhten PER-Wert von
Strukturen & Akteure 55
z. B. 1,75 niederschlägt (Passivhaus Institut
Darmstadt 2017). Bei Rückverstromung
betragen die Gestehungskosten pro kWh
derzeit etwa 0,25 bis 0,30 €/kWh im Vergleich
zu 0,03 bis 0,12 €/kWh für fossile
und andere erneuerbare Energieträger.
Daraus ergeben sich grundlegend neue
Konstellationen für die Gebäude- und
Versorgungstechnik. Es stehen bei der
Infrastruktur grundlegende Entscheidungen
an, die auf Jahrzehnte hinaus Gültigkeit
haben werden. Wir benötigen zeitnah
die Kriterien für die Wärmewende
mit Regularien der 2030/40er Jahre. Es ist
offensichtlich, dass im Wärmebereich die
effizienteste verfügbare Gebäudetechnik
aktuell vor allem mit der Wärmepumpentechnik
gegeben ist. Kann direkt erzeugter
erneuerbarer Strom – im Idealfall als
Eigenstromnutzung aus dem eigenen Gebäude
oder Quartier – mittels Arbeitszahlen
von 3 bis 4 in Wärme umgewandelt
werden, ist eine sehr hohe erneuerbare
Versorgungseffizienz zu sehr günstigen
Kosten gegeben, die pro Kilowattstunde
Wärmeenergie bei 0,03 bis 0,05 Euro liegt.
Spannend ist aber vor allem die Frage,
wie die Versorgung zu Zeiten ohne Sonne
und Wind funktioniert, also zu Zeiten der
Dunkelflaute im Winter. Kann eine Technik
wie Power to Gas (PtG) die hohen Erwartungen
erfüllen? Es ist noch nicht absehbar,
wie sich diese Technik mittelfristig
mikro- und makroökonomisch darstellt
und ob die Gasnutzung dezentral über
die vorhandenen Netze oder vorrangig
zentral durch GuD-Module erfolgt. Sicher
ist jedoch, dass ein hoher PtG-Anteil zu
deutlichen Kostensteigerungen bei der
Energieversorgung führen würde.
Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage,
welcher Gebäudestandard mit den zukünftigen
Systemen am besten kompatibel
ist. Die Antwort ist extrem einfach:
je effizienter die Gebäude, desto kostengünstiger
fallen regionale und nationale
Versorgungsstrukturen aus. Das ist ein
ziemlich gewichtiges Argument für den
3.000.000.000
MWh/a
2.500.000.000
2.000.000.000
1.500.000.000
1.000.000.000
500.000.000
0
2014
2015
2016
2017
2018
2019
2020
2021
2022
2023
2024
2025
2026
2027
2028
Passivhaus-Standard. Ein wesentliches
Qualitätskriterium für Gebäude wird die
minimierte Lastspitze zu Zeiten der Dunkelflaute
sein, eine Art Netzfreundlichkeitsindikator,
um den zweiten redundanten
Kraftwerkspark zu minimieren,
der als teure Reserve für die wenigen
hundert Stunden im Winter bereitstehen
muss, in denen weder Sonne noch Wind
zur Verfügung stehen.
Wenn es also um die Gestaltung von erneuerbaren
Versorgungsstrategien geht,
ist es anachronistisch auf Analysen zur
Entwicklung der fossilen Primärenergie
oder CO2-Reduktion zu setzen. Vielmehr
muss zukünftig vorrangig in der Kategorie
der erneuerbaren Primärenergie gedacht
werden. Nur dann können gestaltende
Aussagen zu den Ressourcen der
Zukunft gemacht und unnötige Verluste
innerhalb des regenerativen Versorgungssystems
minimiert werden.
KLIMANEUTRALITÄT IM GEBÄU-
DEBESTAND – DER WEG UND DIE
VERANTWORTUNG
Wir sind beteiligt, fossile Energieträger
überflüssig zu machen. Wenn wir die Kli-
56 Strukturen & Akteure
Industrie
Verkehr
Strom GHD
WW - Prozessw.GHD
Heizen GHD
Strom Wohngebäude
Warmwasser Wohngebäude
Heizen Wohngebäude
Wertschöpfung
150 - 200 Mrd €/a
Entwicklung in Richtung Klimaneutralität
in Deutschland 2050
Mit Effizienzmaßnahmen müssen 50 bis 60 %
Einsparung erzielt werden. Nur dann kann der
Restbedarf erneuerbar gedeckt werden. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass für Lastmanagement und
Speicherverluste 20 bis 40 % zusätzliche erneuerbare
Energien generiert werden müssen.
2029
2030
2031
2032
2033
2034
2035
2036
2037
2038
2039
2040
2041
2042
2043
2044
2045
2046
2047
2048
2049
2050
Quelle: Schulze Darup 2018 (angepasst)
maschutzziele ernst nehmen, wird ein großer
Teil der bereits explorierten fossilen
Brennstoffe nicht mehr genutzt werden
können. Haben Erdöl-Verteilungskriege
demnächst umgekehrte Vorzeichen? Was
geschieht mit den Regionen, in denen
über Jahrzehnte eine Abhängigkeit von ihren
Ölexporten entstanden ist? Die Niedrigpreisphase
hat in mehreren Ländern
bereits deutliche Spuren hinterlassen.
Wie können diese Länder gegensteuern,
wenn die fossile Energieproduktion noch
weiter gedrosselt wird? Und was sind
die Folgeprodukte, um die demnächst
Verteilungskämpfe stattfinden? Sind es
die Rohstoffe für Produkte wie Batterien
oder PV-Module (O´Sullivan, Overland,
Sandalow 2017)? Wie verhält es sich mit
der Verwundbarkeit von Versorgungssystemen
durch Cyber-Angriffe und wie
kann man sich davor schützen? Kurzum:
es besteht dringender Bedarf, frühzeitig
politische Verantwortung für die geopolitischen
Veränderungen zu übernehmen,
um eine win-win-Situation für alle Länder
zu erzielen und künftigen Konflikten bereits
im Entstehen zu begegnen.
Um den Weg der Decarbonierung zu gehen,
müssen alle Länder die Balance zwischen
Energieeinsparung und Erneuerbaren
ausloten und umsetzen. Deutschland
hat aufgrund seiner Rohstoffsituation
und der hohen Bevölkerungsdichte eine
eher ungünstige Ausgangsposition. Auf
der anderen Seite verfügen wir über ein
hohes Maß an Wissen, das es zu nutzen
gilt, um auch anderen Ländern Lösungswege
aufzuzeigen. Im Gebäudebereich
reichen die dargestellten Komponenten
und Techniken aus, um Klimaneutralität
bis 2050 zu erzielen. Dazu muss ab
2021 ein ambitionierter nZEB-Standard
mit Passivhaus-Qualität in der Breite umgesetzt
werden, und zwar bei weitestgehend
erneuerbarer Versorgung der
Gebäude. Die wesentlichen Einsparpotentiale
verbergen sich indes nach wie vor
im Bestand. Wer saniert, sollte ebenfalls
einen hocheffizienten Standard zwischen
20 und 35 kWh/(m²a) für den Heizwärmebedarf
anstreben, wobei denkmalgeschützte
und baukulturell wichtige Gebäude
selbstverständlich auch nach der
Sanierung mehr verbrauchen dürfen.
Uns steht ein ungeheurer Kraftakt bevor,
die aktuelle Sanierungsquote von 1,0 Prozent
auf 1,6 bis 1,8 Prozent zu erhöhen.
Dieser Wert stellt zugleich aus Nachhal-
Strukturen & Akteure 57
„Wir Bauschaffende können einen
großen Beitrag zum Gelingen der
Energiewende beitragen. Zugleich
stellt dieser herausfordernde
Prozess eine Chance dar, unsere gebaute
Umwelt hochwertig weiterzuentwickeln.
Anmerkung
Dieser Artikel ist zusätzlich in der Fachzeitschrift Gebäudeenergieberater
in der Ausgabe vom 07.08.2018
erschienen.
Burkhard Schulze-Darup
Schulze Darup Partner
tigkeitssicht ein Optimum dar, weil die
daraus resultierende Nutzungszeit der
Baukonstruktionen etwa 60 Jahren entspricht.
Als Ergebnis ist in der BRD-Bilanz
eine Energieeinsparung von 50 bis 55 %
bis 2050 erzielbar. Auf dieser Grundlage
ist es möglich, den Restbedarf kostengünstig
regenerativ zu decken. Die Grenzen
der erneuerbaren Ressourcen liegen
nicht in technischen Hürden, sondern
sind in der begrenzt verfügbaren Fläche
zu suchen. Bereits heute wird um Gebiete
für Solar-, Wind- und Biomasseflächen
gerungen. Einen großen Teil der erneuerbaren
Techniken gilt es in die Gebäudeund
Siedlungsstrukturen zu integrieren
und dabei eine hohe gestalterische Qualität
zu erzielen. Die eigentliche Herausforderung
ist eine kulturverträgliche Lösung,
die Belange von Landschaftsschutz,
Stadtplanung und Baukultur gleichermaßen
berücksichtigt.
Wir Bauschaffende können einen großen
Beitrag zum Gelingen der Energiewende
beitragen. Zugleich stellt dieser herausfordernde
Prozess eine Chance dar, unsere
gebaute Umwelt hochwertig weiterzuentwickeln.
Last but not least noch der
Hinweis, dass die Wertschöpfung durch
Effizienz und Erneuerbare bei konsequenter
Umsetzung der Energiewende in
Deutschland 150 bis 200 Mrd. Euro jährlich
betragen wird. Das entspricht zwei bis
drei Millionen Arbeitsplätzen. Diejenigen
Regionen und Akteure werden Gewinner
der Energiewende sein, die bei diesem
Prozess vorneweg gehen und die Erfahrungen
der Best Practice Techniken in der
Folge zu exportieren wissen.
Burkhard Schulze Darup
Schulze Darup & Partner
führt seit 1987 als freischaffender Architekt zahlreiche
Sanierungs- und Neubauprojekte im Sinne
der Ressourceneffizienz und passiver Solararchitektur
mit Passivhaus- und Plusenergie-Komponenten
durch. Er hält Vorträge, gibt Seminare
und arbeitet in Gremien und an zahlreichen
Forschungsprojekten mit.
Kontakt: www.schulze-darup.de
Literatur & Abbildungen
BBSR: eLCA – Werkzeug zur Ermittlung von Lebenszyklusanalysen
von Bauteilen und Gebäuden. – Bundesinstitut für Bau-,
Stadt- und Raumforschung, https://www.bauteileditor.de/
Bermich, Ralf (2014): Kostenvergleich unterschiedlicher Baustandards
Wohngebäude. – Amt für Umweltschutz, Gewerbeaufsicht
und Energie der Stadt Heidelberg 2014
BMUB, Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen (Hrsg)
(2015): Bericht der Baukostensenkungskommission Berlin 2015
BMVBS (2012): Kosten energierelevanter Bau- und Anlagenteile
bei der energetischen Modernisierung von Wohngebäuden,
Berlin, Juni 2012 (BMVBS-Online-Publikation 07/2012), S. 15
DESTATIS (2015): Vom Bauherren/Architekten veranschlagte
Baukosten nach DIN 276 zum Zeitpunkt des Bauantrags. –
Statistisches Bundesamt 2015 (Daten aufbereitet durch Werner
Eicke-Hennig / Burkhard Schulze Darup)
DGS, Schulze Darup (2015): Klimaschutzszenario – Strategien
zur Klimaneutralität im Gebäudebestand bis 2050. – Im Auftrag
der DGS, gefördert durch das BMUB Berlin 2015
Ecofys, Schulze Darup (2014): Preisentwicklung Gebäudeenergieeffizienz.
– Im Auftrag der DENEFF, Berlin 2014
F+B (2016): Analyse des Einflusses der energetischen Standards
auf die Baukosten im öffentlich geförderten Wohnungsbau. -
Hamburg 2016
O’Sullivan, Overland, Sandalow (2017): The Geopolitics of
Renewable Energy. - Center on Global Energy Policy, Columbia
University, New York 2017
Passivhaus Institut Darmstadt (2017): PER-Faktoren – in: PHPP
(Passivhaus Projektierungs Paket) des Passivhaus Instituts
Darmstadt 2017
Schulze Darup, Burkhard (2018): Wohnungslüftung. – Broschüre
im Auftrag des LfU Bayern, Augsburg 2018
Schulze Darup, Burkhard (2018): Kostengünstiger und zukunftsfähiger
Geschosswohnungsbau im Quartier. – Forschungsvorhaben
in Arbeitsgemeinschaft mit ABG FRANKFURT, BGW
Bielefeld, GEWOBAU Erlangen, GUNDLACH Hannover, HOWOGE
Berlin mit Förderung der DBU (AZ 33119/01-25) Berlin 2018
Walberg, Gniechwitz, Halstenberg (2015): Kostentreiber für
den Wohnungsbau. – ARGE e.V. Bauforschungsbericht Nr. 67
Kiel 2015
58 Strukturen & Akteure
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Die Alte Hansestadt Lemgo sucht
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42.000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Kreis Lippe. Geprägt wird die
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Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!
Laura Bremenkamp
Bürgerbeteiligungsprozesse
und
digitale Medien
Von einer digitalen Bürgerbeteiligung durch
das myField- und das Essigfabrik-Projekt
Lefebvre (2010) beschreibt in seinem Werk Recht auf Stadt drei wesentliche
Komponenten: das Recht auf das städtische Gesamtwerk,
auf Aneignung und auf Beteiligung. Letzteres ist unabdingbar für
das Aufbrechen von festgefahrenen Machtstrukturen in Städten,
wie sie beispielsweise von Foucault (1980) oder Flyvbjerg (1998) beschrieben
werden. Doch wie spiegeln sich diese wichtigen, jedoch
schon lang bekannten Erkenntnisse in der heutigen Zeit wider?
Dieser Artikel setzt sich explorativ mit diesen Fragestellungen einer
gerechten Partizipation innerhalb einer hochdigitalisierten Gesellschaft
auseinander, indem Lösungsansätze in Form von zwei next-
Place-Forschungsprojekten aufgezeigt werden.
Digitale Medien haben in der Vergangenheit
bereits immense Beiträge zur
politischen Teilhabe von Menschen geleistet.
Der arabische Frühling im Jahre
2011 ist wohl eins der prominentesten
Beispiele hierfür (vgl. Gerbaudo 2012).
Auch im Kontext der Stadtplanung ist
„Krumholz (ibid.) konstatiert,
dass Planung durch Beteiligung
dazu befähigt wird, historisch
benachteiligten Menschengruppen,
denen häufig nur wenig oder keine
Teilhabemöglichkeiten zur Verfügung
stehen, ein diverses Setting an Entscheidungsmöglichkeiten
zu bieten.
Laura Bremenkamp M.Phil (Cantab.)
nextPlace
die Eignung der sozialen Medien für
Bürgerengagement weit anerkannt (vgl.
Bendor et al. 2012). So können beispielsweise
öffentliche Meinungen innerhalb
von Städten durch Social Media
Elicitation erfasst werden (vgl. Hosseini
et al. 2018).
Diesen Erfolgserlebnissen, bei welchen
es gelang, Machtstrukturen zu
diffundieren, steht jedoch die häufig
genannte Kritik der fehlenden Repräsentativität
von diversen Gesellschaften
gegenüber: Konkret ist damit die
Exklusion von ethnischen Minderheiten
und jüngeren Menschen gemeint (vgl.
ODPM 2002). Es besteht zudem in der
Planungsliteratur ein allgemeiner Konsens
bezüglich dessen. So wird häufig
beschrieben, dass Informationen zwischen
unterschiedlichen demographi-
60 Strukturen & Akteure
Screenshot des sich in
Entwicklung befindlichen
Prototypen der
myField-Anwendung
Abb.1 Quelle : eigene Darstellung (nextPlace)
schen Gruppen ungleich verteilt sind,
was häufig durch ungleiche Machtstrukturen
erklärt wird (vgl. Barton 2002;
Healey und Hillier 2008; Beard und
Sarmiento, 2014). Dies steht im starken
Kontrast zu den Aspirationen von Krumholz
(1982). Krumholz (ibid.) konstatiert,
dass Planung durch Beteiligung dazu
befähigt wird, historisch benachteiligten
Menschengruppen, denen häufig nur
wenig oder keine Teilhabemöglichkeiten
zur Verfügung stehen, ein diverses
Setting an Entscheidungsmöglichkeiten
zu bieten. Digitale Ansätze weisen eine
reale Chance auf, die zuvor genannten
Probleme effektiv anzugehen. Insbesondere
kann die planerische Teilhabe
junger Bevölkerungsgruppen bzw. von
Digital Natives gefördert werden. Die
große Bandbreite bereits bestehender
digitaler Beteiligungsstrukturen, sowie
die beiden nextPlace-Projekte, werden
nachfolgend erörtert.
BETEILIGUNG UND DIGITALE
MEDIEN: SOTA
Es existieren verschiedene digitale Beteiligungsmöglichkeiten.
Zum einen lassen
sich planungsspezifische Applikationen
bzw. Plattformen nennen, welche
sogenannte Public Participatory GIS (vgl.
Krek 2008), Smartphone Apps zur Bürgerbeteiligung
(vgl. Ivkovic et al. o.D.) und
gesonderte E-Partizipationsplattformen
(vgl. Thiel 2017) umfassen. Diese Beteiligungsmethoden
werden häufig der
sogenannten spielerischen Beteiligung
zugeordnet. Komplementär dazu gibt
es traditionelle Gaming-Anwendungen,
welche bisher eher weniger in Stadtentwicklungsprozessen
eingesetzt wurden,
wie beispielsweise Social Gaming oder
Mobile Gaming (vgl. Keating und Sunakawa
2010). Thiel (2015) beschreibt,
dass Gaming-Anwendungen ein hohes
Potential aufweisen, nicht nur einen Initialimpuls
zu liefern, sondern auch als
Partizipationsinstrument während des
gesamten Planungsprozesses genutzt
werden können. Wichtig ist es auch bei
der Bürgerbeteiligung durch digitale
Medien den Aspekt der urbanen Komplexität
zu berücksichtigen, welcher
traditionell beispielsweise in Film und
Literatur exploriert wird (vgl. Gurr und
Raussert 2011; Keating und Sunakawa
2010).
DIE MYFIELD-ANWENDUNG:
MULTIPLE AKTEURE SCHAFFEN
ÖKOLOGISCH NACHHALTIGE
QUARTIERE
Das Projekt myField verortet sich an
der Schnittstelle zwischen den beiden
Bereichen webbasierte Partizipation in
der Raumplanung und Bürgerbeteiligung
an Energie- und Umweltschutzschutzmaßnahmen.
Als web- und geodatenbasiertes
Partizipations-Tool bietet es
Kommunen oder sonstigen Planungs-
Strukturen & Akteure 61
„Thiel (2015) beschreibt, dass
Gaming-Anwendungen ein hohes
Potential aufweisen, nicht nur
einen Initialimpuls zu liefern,
sondern auch als Partizipationsinstrument
während des gesamten Planungsprozesses
genutzt werden können.
Laura Bremenkamp M.Phil (Cantab.)
Um die Nutzungsintensität zu steigern,
soll myField durch eine Gamification,
also durch die bereits erörterten Charakteristika
spielerischer Beteiligung,
geleitet werden. Bei der EntwicklungsmyField
Laufzeit
01.02.2018 - 31.12.2019
Verbundpartner
nextPlace, Universität Bonn
Fördermittelgeber
Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU)
Beteiligte Wissenschaftler*innen
Dipl.-Ing. Benjamin Dally
M.Sc. Kai-Fabian Henning
Dipl.-Ing. Carsten Oldenburg
B.A. Dorina Kranzmann
B.A. Sebastian Kühle
Prof. Dr. Axel Häusler
Prof. Dr. Klaus Greve
träger*innen ein digitales Werkzeug, um
Bürger*innen zu ermächtigen, nachbarschaftliche
Energie- und Umweltschutzvorhaben
gemeinschaftlich zu kommunizieren,
zu evaluieren und umzusetzen.
Dabei zeichnet sich die Anwendung dadurch
aus, dass Kommunen, Bürger*innen,
Institutionen, Ingenieurbüros und
weitere Planungsakteure allesamt über
eine Anwendung gemeinsam agieren.
myField wurde nämlich als Projekt zur
Ermöglichung einer digitalen Teilhabe
für Kommunalverwaltungen als Top-
Down-Ansatz initiiert und trägt damit
zur Digitalisierung und Vernetzung des
bürgerschaftlichen, kommunalen und
unternehmerischen Engagements in
Stadtentwicklungsprozessen und der
Schließung von Informations- und Kommunikationslücken
bei.
umgebung des entwickelten Prototypen
der Anwendung handelt es sich
um die Spiel-Engine Unity (siehe Abb.
1). Konkret lassen sich in dieser Spiele
bzw. Szenarios definieren, die spezifische
Herausforderungen beinhalten.
Ein solches Szenario könnte zum Beispiel
folgende Aufgabe darstellen: „Machen
Sie die Region Nordlippe bis 2030
energieautark!“. Für jedes Szenario sind
konkrete Anforderungen definiert (z.B.
Erhöhung des Anteils erneuerbarer
Energien von 33% auf 100%) und zur
Erfüllung dieser Anforderungen steht
ein konkretes Set der oben bereits eingeführten
Maßnahmen zur Verfügung
(im Szenario Energieautarkie beispielsweise
Maßnahmen der Gewinnung
Erneuerbarer Energie und zur Energieeinsparung).
Ein erfolgreich absolviertes
Szenario lässt sich ebenfalls in
die Cloud-Lösung hochladen oder an
Systemanbieter, Kommune(n) oder zivilgesellschaftlichen
Akteur*innen weiterleiten,
um Beratung hinsichtlich der
weiteren Umsetzung zu erhalten.
62 Strukturen & Akteure
Das Gelände der Essigfabrik
im Deutzer Hafen, Köln
Abb. 2 Quelle : nextPlace
DAS ESSIGFABRIK-PROJEKT:
TRANSFORMATION UND BETEILI-
GUNG IM SPANNUNGSFELD DER
KREATIVWIRTSCHAFT UND DER
DIGITALISIERUNG
Am Forschungsschwerpunkt nextPlace
ist mit dem Essigfabrik-Projekt ab sofort
ein neues, 3-jähriges Forschungsprojekt
verortet, welches sich im Rahmen der
digitalen Bürgerbeteiligung bewegt. In
mehreren Design-Thinking-Zyklen gilt es
hierbei, bis zum Jahr 2022 digitale, kollaborative
Technologien zu entwickeln und
deren Potentiale für eine neue Form der
digitalen, kreativen Kulturwirtschaft zu
erproben. Die Essigfabrik (siehe Abb.
2) ist seit fast 20 Jahren eine Kulturstätte
für Konzerte und Events im Deutzer
Hafen auf der rechtsrheinischen Seite
Kölns. Das gesamte Hafengebiet befindet
sich aktuell in einem städtebaulichen
Entwicklungsprozess vom ehemaligen
Industriehafen zu einem Wohn- und Arbeitsquartier
mit zukünftig etwa 6.900
Einwohner*innen und ca. 6.000 neuen
Arbeitsplätzen. Damit gehört der Deutzer
Hafen zu einem der aktuell größten,
innerstädtischen Stadtentwicklungsprojekte
in Deutschland. Dieser städtebauliche
Transformationsprozess wird zum
Anlass genommen, neue, innovative
Schnittstellen zwischen urbanen Digitalisierungsstrategien,
Stadtentwicklungsprozessen
und einer kommunikativen
Kreativwirtschaft zu erforschen.
Konkret wird beispielsweise der Forschungsfrage
nachgegangen, wie mittels
digitaler Technologien kulturelles Leben
und soziale Interaktion im öffentlichen
Raum gefördert werden kann. Damit einher
geht die Frage des nachhaltigen Nutzens
für Stakeholder eines Stadtentwicklungsprozesses
durch den Einsatz digitaler
Technologien während der verschiedenen
städtebaulichen Prozessphasen der Planung,
Vermarktung und Umsetzung. Es
muss jedoch auch beachtet bzw. erforscht
werden, welche technischen und sozialen
Restriktionen in der Entwicklung geeigneter
Lösungen existieren. Auch ökonomi-
Essigfabrik
Laufzeit
01.03.2019 - 28.02.2022
Verbundpartner
nextPlace, moStar Promotion GmbH
Fördermittelgeber
MWIDE NRW, EFRE.NRW
Beteiligte Wissenschaftler*innen
M.A. Ricarda Jacobi
M.Sc. Christopher Kintrup
Dipl.-Ing. Carsten Oldenburg
Prof. Dr. Axel Häusler
Strukturen & Akteure 63
sche Verwertungsmodelle müssen exploriert
werden. Im Zentrum steht zuletzt
auch die Frage des Programms und der
Aufgaben eines Quartierszentrums der
Zukunft, welches die Herausforderungen
der Digitalisierung für eine smarte, nachhaltige
Stadt mit den für eine gesunde
Nachbarschaft notwendigen Sozial-, Kultur-
und Kreativstrukturen verknüpft.
Anmerkung
Einige Textbausteine für die Abschnitte zum my-
Field- bzw. zum Essigfabrik-Projekt wurden jeweils
aus dem myField-Zwischenbericht von Januar
2019, dem Projektantrag LivingLab Essigfabrik
(Häusler et al. 2019) und dem Essigfabrik-Blogpost
auf der nextPlace-Seite (Bremenkamp 2019)
übernommen.
FAZIT
Laura Bremenkamp
M. Phil. (Cantab.)
nextPlace
Die Auseinandersetzung mit dem Thema
der digitalen Medien im Kontext der
Bürgerbeteiligung im konkreten Zusammenhang
mit den beiden Forschungsprojekten
zeigt, dass Partizipation über
verschiedene digitale Kanäle und methodische
Ansätze passieren kann und
muss. Nur so lassen sich die zu Anfang
erörterten Missstände, allen voran das
Exkludieren bestimmter demographischer
Gruppen, verhindern. Mit myField
und der Essigfabrik wurden im Rahmen
dieser ursprünglichen Problemstellung
zwei unterschiedliche Ansätze aufgezeigt,
Bürgerbeteiligung durch digitale Ansätze
fairer und greifbarer zu machen. Letztlich
lässt sich dazu ergänzen, dass myField
vor allem auf spielerische Komponenten
setzt, während die Essigfabrik Sozialkapital
und Kreativwirtschaft mit dem genannten
Themenkomplex verbindet.
ist die Koordinatorin des Forschungsschwerpunktes next-
Place an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe
(seit 2019). Ihren Bachelor hat sie im Fach Stadtplanung,
ebenfalls an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe,
absolviert. Dabei hat sie auch ein Auslandssemester
an der University of Florida (USA), Partnerhochschule
der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe,
verbracht (2015). Ihren Master im Fach „Planning, Growth
and Regeneration“ hat sie an der University of Cambridge
(UK) abgeschlossen (2018).
Literatur & Abbildungen
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Public Participation in Resources Development’, in: D.N. Zillman,
A.R. Lucas and G. Pring (2002) (Hrsg.). ‘Human Rights in Natural
Resource Development: Public Participation in the Sustainable
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Press, S. 77-120.
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There Not to ‘Like’? The Technical Affordances of Sustainability
Deliberations on Facebook’, eJournal of eDemocracy and Open
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nextplacelab.de/de/neues-projekt-essigfabrik/ (letzter Zugriff:
07.07.2019).
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Practice’ (S. Sampson, Übers.), Morality and Society Series, University
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Contemporary Activism’, Pluto Press.
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Americas and Beyond: Representations of Urban Complexity in
Literature and Film’, WVT.
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Partizipations-Tool zur Simulation und Eigenabschätzung nachbarschaftlicher
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Planning Theory: Critical Essays in Planning Theory: Volume 3’,
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Sustainable System Adoption: Socio-Semantic Analysis of Transit
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and collaborative plans: Benefits and shortcomings of including
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of 13th International Conference on Urban Planning, Regional
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government - a survey of local authorities’.
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in Civic Engagement’, Präsentiert auf dem “Annual Symposium
2015”, DOI: 10.1145/2793107.2810282.
Thiel, S.-K. (2017): ‘Let’s play Urban Planner: The use of Game Elements
in Public Participation Platforms’, plaNext - next generation
planning, Vol. 4, S. 58-75.
64 Strukturen & Akteure
Erforschung und
Entwicklung eines
digitalen Quartiersund
Kulturzentrums
im Deutzer Hafen
Siegburger Str. 110, 50679 Köln
livinglab-essigfabrik.eu
gefördert
durch:
Strukturen & Akteure 65
Benjamin Dally
Zivilgesellschaftliches
Engagement für die
Verkehrswende
Bürger entwickeln gemeinschaftlich neue
Lösungen für die Mobilität in Stadt und Land
Der Mobilitätssektor ist in Bewegung: Kommunen und Verkehrsbetriebe,
aber auch private Anbieter, erproben neue Verkehrskonzepte
und Geschäftsmodelle. Aber auch aus der Zivilgesellschaft
heraus entstehen neue Ideen zur Weiterentwicklung des Verkehrssystems:
Bürgerinitiativen entwickeln und erproben neue
Verkehrskonzepte, tragen detaillierte Konzepte zur Stärkung des
Fahrradverkehrs in die politische Arena und tragen auf vielen
weiteren Wegen zu einer nachhaltigen Gestaltung des Verkehrs
bei. Eine Konferenz in Detmold gab die Möglichkeit lokale Projekte
kennenzulernen und stellte die Zusammenarbeit von Kommunen
und Zivilgesellschaft zur Diskussion.
*
natürlich mit unseren Lastenrädern!
Ein Projekt der Peter
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66 Strukturen & Akteure
Unsere Stationen:
Gläsel Stiftung - in
Kooperation mit Lippe
im Wandel, dem ADFC
Der Mobilitätssektor stellt Stadt- und
Regionalentwicklung vor gewaltige Herausforderungen:
anders als in anderen
Sektoren sinkt der CO2-Ausstoß nicht
(Umweltbundesamt 2019). Strategien im
Umgang mit Emissionen des Verkehrs,
seien es Lärm-, Feinstaub- oder Stickstoffoxide,
sind umstritten und nicht immer
wirksam. Insbesondere in Großstädten
wird die Frage aufgeworfen, wie viel Verkehr
Städte überhaupt vertragen und ob
das Auto im Konflikt um knappen Stadtraum
nicht zu viel Raum einnimmt. Und
nicht zuletzt ist der Verkehrssektor eine
große Kostenbelastung für die öffentlichen
Haushalte, sowohl was den Erhalt
der Verkehrs-Infrastruktur, ihren klimagerechten
Umbau, aber auch den Betrieb
z.B. des Öffentlichen Verkehrs angeht.
Während der Mobilitätssektor im Wesentlichen
linear seine Trends fortschreibt,
wird der Bedarf nach einem
Trendbruch, einer Verkehrswende, also
immer offensichtlicher. Erfreulicherweise
werden neue Mobilitätkonzepte, die
mittel- oder langfristig das Potential für
eine solche Verkehrswende haben, an
vielen Stellen erprobt, sei es in Pilotprojekte
von Ländern, Kommunen und Verkehrsbetrieben
oder auch als neue digitale
Geschäftsmodelle privater Anbieter.
ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
INITIATIVEN FÜR DIE MOBILITÄT
Bürger waren häufig auch über ihre
Rolle als bloße Nachfrager von Verkehrsangeboten
hinaus an der Gestaltung
des Verkehrssystems beteiligt, so prägt
zivilgesellschaftliches Engagement für
oder gegen bestimmte Großprojekte
die öffentliche Debatte dieser Projekte.
Es zeichnet sich jedoch in den letzten
Jahren der Durchbruch für eine neue
Art von Engagement ab, das nicht einfach
nur ein konkretes, klar umrissenes,
professionell geplantes Projekt oder
Angebot verneint (oder bejaht) oder
die Erreichung eines abstrakten, politischen
Ziels wie der Verringerung der
CO2-Emissionen fordert, sondern auf
deutlich konkretere Art und Weise einen
Beitrag zum Mobilitätssystem leistet.
Dies sind zum einen Mobilitätsangebote,
die durch Bürger geschaffen werden:
Während klassische Bürgerbusse oft
durch das ehrenamtliche (Fahr-)Engagement
der Bürger Lücken füllen können,
bauen sie noch stark auf die Infrastruktur
der professionellen Mobilitätsanbieter
auf. Mit dem Aufkommen von
Carsharing-Angeboten seit den frühen
1990er-Jahren (Petersen 1995: 11-15)
und geradezu explosionsartig mit der
Verbreitung digitaler Tools und Geräte
verbreiten sich Sharing-Angebote von
Nutzern für Nutzer. Eine wichtige Rolle
spielen dabei Verleihsysteme von Lastenfahrrädern:
Ausgehend vom Nachbarschaftsprojekt
Kasimir verleiht die
lose organisierte Szene der Freien Lastenräder
inzwischen über 230 Lastenräder
in 87 Städten (Forum freier Lastenräder
2019a), in OWL gibt es Projekte
in Bielefeld (Website Bisela) und – unter
Beteiligung des urbanLab – in Detmold
(Website Dela). Die mit dem Deutschen
Mobilitätspreis ausgezeichnete Bewegung
strebt danach, das Lastenrad als
Autoalternative im städtischen Kontext
„Während der Mobilitätssektor im
Wesentlichen linear seine Trends
fortschreibt, wird der Bedarf nach
einem Trendbruch, einer Verkehrswende,
also immer offensichtlicher. Erfreulicherweise
werden neue Mobilitätkonzepte,
die mittel- oder langfristig das Potential
für eine solche Verkehrswende haben, an
vielen Stellen erprobt, sei es in Pilotprojekte
von Ländern, Kommunen und Verkehrsbetrieben
oder auch als neue digitale
Geschäftsmodelle privater Anbieter.
Benjamin Dally Dipl.-Ing.
nextPlace
Strukturen & Akteure 67
populär zu machen. Aufgrund der Größe
der Angebote, zum Beispiel mit einer
mittleren zweistelligen Anzahl an Rädern
in Hannover oder Berlin, werden sie in
einigen Städten inzwischen als Mobilitätsanbieter
verstanden, wiewohl sie
weiterhin schwerpunktmäßig auf eine
ehrenamtliche Trägerstruktur vertrauen.
An anderer Stelle stoßen die Initiativen
auf Desinteresse (Forum Freier Lastenräder
2019b). Im ländlichen Raum entstehen
mit den sogenannten Dorfautos
– Carsharingangeboten in dörflichen
Strukturen – ähnliche Konzepte und
Trägerstrukturen. Das ostwestfälische
Beispiel des Dorfautos in St.Vit/Kreis Gütersloh
(Website Dorfverein St. Vit) zeigt
eine aktive Kooperation zwischen Kommune/Kreis
und Bürgern/Dorfverein.
Mit ihrem ehrenamtlichen Engagement
springen die zivilgesellschaftlichen Akteure
in eine Lücke, die die klassischen
Mobilitätsakteure auf Grund des hohen
personellen Aufwandes der Angebote,
ihres fehlenden Auftrags oder ihres (wirtschaftlichen)
Desinteresses an neuartigen,
experimentellen Angeboten – möglicherweise
noch ohne Aussicht auf ein
klassisches Geschäftsmodell oder einen
Subventionstopf – entstehen lassen. Die
Bürger jedoch ermöglichen im Kleinen
Experimente für Mobilitätskonzepte und
schaffen Visionen, wie die Mobilitätswende
konkret aussehen könnte.
„Mit ihrem ehrenamtlichen Engagement
springen die zivilgesellschaftlichen
Akteure in
eine Lücke, die die klassischen
Mobilitätsakteure auf Grund des hohen
personellen Aufwandes der Angebote,
ihres fehlenden Auftrags oder ihres
(wirtschaftlichen) Desinteresses an neuartigen,
experimentellen Angeboten [...]
entstehen lassen.
Benjamin Dally Dipl.-Ing.
nextPlace
Den Anspruch, das Mobilitätssystem
sehr konkret mitzugestalten, haben
auch sogenannte Radentscheide, Initiativen
zur Stärkung des Radverkehrs
durch Bürgerentscheide oder Volksbegehren.
Populär geworden durch
den das als erfolgreich eingeschätzten
Volksentscheid Radverkehr in Berlin verbreitet
sich die Idee auch nach Nordrhein-Westfalen
(Website Aufbruch
Fahrrad) und Bielefeld. Gemein ist diesen
Initiativen, dass sie sehr konkrete
Vorgaben machen, so zum Beispiel Ziel
2 (von 11) des Radentscheids Bielefeld:
„(Die Stadt Bielefeld errichtet) pro Jahr
an Hauptstraßen mindestens 5 Kilometer
geschützte Radwege (…), die gleichzeitig
die folgenden Kriterien erfüllen: a)
mindestens 2,3 Meter breit je Richtung,
b) farbig asphaltiert und ohne Absenkungen
an Nebenstraßen und Einfahrten
(…), f) mit Fahrradstraßen und anderen
Radverkehrsanlagen vernetzt“
(Radentscheid Bielefeld 2019).
Auch außerhalb dieser zwei wichtigsten
Kategorien gibt es vielfältige, spannende
Projekte – auch in der Region OWL.
Im Rahmen des Projektes Mobilagenten
beraten Ehrenamtliche Interessierte
zum Öffentlichen Nahverkehr im ländlichen
Raum in den Kreisen Herford und
Minden-Lübbecke; darüber hinaus informieren
sie persönlich in Schulen und
Betrieben und mit Informationsmaterial.
Sie senken damit emotionale und
informationsseitige Einstiegshürden zu
den Autoalternativen (Website Mobilagenten).
Bürgerradwege sind Projekte,
bei denen Bürgerinitiativen mit Spenden
oder Eigenleistungen den Ausbau
des Radwegenetzes vorantreiben, zum
Beispiel bei einem Projekt in Horn-Bad
Meinberg (Kreis Lippe) und Steinheim
(Höxter); Straßen.NRW berichtet von 50
Kommunen, in denen 55 Bürgerradwege
unterstützt wurden (Westfalenblatt
vom 27.06.2018).
68 Strukturen & Akteure
„WIR MÖCHTEN ETWAS BEWEGEN“
– KONFERENZ IN DETMOLD
Als Reaktion auf diese Entwicklung und
zum Abschluss seiner zweijährigen Förderphase
hat die Initiative dela – Detmolder
Lastenrad (vgl. urbanLab Magazin
Nummer #02), ein ehrenamtliches Lastenrad-Sharingangebot
in Trägerschaft
der Peter Gläsel Stiftung/Detmold und
mit dem urbanLab als kooperierendem
Forschungspartner, im Mai 2019 eine
Konferenz organisiert. Unter dem Motto
„Wir möchten etwas bewegen – Mobilität
für die Region von Morgen“ und
unter Beteiligung von vielen der an den
unterschiedlichen Projekten in der Region
Beteiligten diskutierten knapp 50
Teilnehmer aus Zivilgesellschaft, Initiativen,
Kommunen, Forschung und dem
Mobilitätssektor über die zukünftige Bedeutung
zivilgesellschaftlicher Initiativen
für die Mobilität. Keynote-Speakerin Lea
Heinrich von der Zeppelin Universität
wies auf die große Bedeutung von Experimenten
im Mobilitätssektor hin – und
auf die wichtige Rolle, die flexible und
wendige zivilgesellschaftliche Initiativen
damit haben, um neue Angebotsformen
und Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Michael Schem vom Radentscheid in
Bielefeld ging auf die 11 konkret formulierten
Ziele des Radentscheids Bielefeld
ein, auf die kreative Öffentlichkeitsarbeit
der Initiative und das Spannungsfeld
zwischen Konfrontation und Zusammenarbeit
mit der kommunalen Verkehrsplanung.
Christopher Schmiegel vom Kreis
Gütersloh und die Aktiven des Vereins
Dorfaktiv St. Vit hingegen schilderten die
vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der
Entwicklung des Projektes DorfAuto St. Vit.
Die anschließende Workshop-Phase
zeigte die Herausforderungen im Umgang
mit diesen neuen Mobilitätsinitiativen
auf. Die Fortführung des Förderprojektes
dela Lastenrad in Detmold
außerhalb des Förderzeitraums bedarf
einer soliden Finanzierung des laufenden
Betriebs: Während die tägliche Arbeit
des Projektes im Ehrenamt geleistet
wird und sich strukturell auf die am
Förderprojekt beteiligten Institutionen
stützen kann, so müssen Wartungen,
Reparaturen oder gar die Anschaffung
neuer Räder zukünftig im Betrieb „erwirtschaftet“
werden. Eine Erhebung
von Gebühren wird dabei vorerst verworfen,
da der Aufbau einer entsprechenden
Infrastruktur aufgrund der
IT-seitigen, rechtlichen und zahlungsseitigen
Herausforderungen als zu groß erachtet
wird. Alternativ setzt die Initiative
zukünftig auf Spenden und Sponsoring,
und ist optimistisch, dass es auf diese
Weise gelingt, das Projekt zu sichern;
schließlich ist auch das lokale Pendant
BISELA spendenfinanziert. Jedoch zeigt
sich an diesem Beispiel erneut die He-
Strukturen & Akteure 69
rausforderung, die die Überführung
eines Förderprojektes in den Alltag darstellt.
Angesichts der großen Erfolge
des Angebotes, der sich in der hohen
Anzahl an Nutzungen ebenso zeigt wie
an dem Beitrag, den das Projekt zur
Verbreitung in Privatbesitz befindlicher
Lastenräder geleistet hat, ist jedoch
auch die Frage zu stellen, ob es nicht
auch die Aufgabe klassischer kommunaler
Mobilitätsanbieter sein sollte, solche
nicht-klassischen Mobilitätsangebote in
ihr Leistungsspektrum aufzunehmen.
Jeder möchte
etwas bewegen!*
In einem weiteren Workshop zeigte sich
auf, dass es in OWL viele weitere Initiativen,
Einzelpersonen und Institutionen
(z.B. Studierendenvertreter) gibt,
die Interesse am Aufbau eines lokalen
Lastenrad-Sharing-Angebotes haben.
Wesentliche Herausforderungen dabei
sind die Finanzierung, der Betrieb, das
Akquirieren von Verleihstationen und
das Betreiben einer Buchungsplattform.
Unterschiedliche Akteure stehen
dabei vor unterschiedlichen Herausforderungen:
Beispielsweise mangelt es in
einer ostwestfälischen Stadt an einer
interessierten Ausleihstation. Für andere
Akteure ist insbesondere der Betrieb
einer Online-Buchungsplattform
ein Problem: Zwar stellt die bundesweite
Szene der Lastenrad-Sharing-Anbieter
nicht nur eine große Menge an
Informationsmaterial zum Betrieb ei-
nes Sharing-Angebotes bereit, sondern
auch das Web-Buchungstool Commons
Booking (Forum Freier Lastenräder
2019c). Trotzdem stellt der Betrieb
einer solchen Plattform ehrenamtliche
Initiativen ohne versierte IT-Kenntnis
vor Herausforderungen. Eine Lösung
sehen die Beteiligten darin, Ressourcen
in OWL zu bündeln und beispielsweise
in Hinblick auf die Web-Plattformen
zusammenzuarbeiten.
Der Workshop zur Zusammenarbeit
von Kommunen und Mobilitätsinitiativen
mit einer Vielzahl von Akteuren
sehr unterschiedlicher Herkunft zeigt
auf, dass die Zusammenarbeit auch
zukünftig nicht immer reibungslos sein
muss. Zwar bescheinigen kommunale
Vertreter, dass in den zivilgesellschaftlichen
Initiativen oft gute Arbeit geleistet
wird, das insbesondere in den ländlichen
Räumen bestimmte Projekte auch
gar nicht ohne das Ehrenamt leistbar
wären. Jedoch zeigt sich auch, dass
Kommunen insbesondere personell
nicht auf den Dialog mit den Initiativen
oder gar der Umsetzung ambitionierter
Transformationsprojekte der städtischen
Infrastruktur vorbereitet sind.
Zugleich entsteht die Frage nach der
Legitimation zivilgesellschaftlicher Initiativen
oder der tatsächlichen Relevanz
experimenteller Mobilitätsangebote,
die nur einige hundert oder gar nur
einige Dutzend Teilnehmer erreichen.
Kommunen stehen oft haftungsrechtlich,
finanziell und personell vor anderen
Herausforderungen als Vereine
und Initiativen, insbesondere was Experimente
und Modellversuche angeht.
Die Ausgangsvoraussetzungen werden
sich jedoch zum Teil ändern bzw. ändern
müssen, wenn Radentscheide
durch die Bürger positiv beschieden
werden. Es wird spannend sein zu beobachten,
wie kommunale Politik und
kommunale Planung mit den sehr detaillierten
und dann politisch legitimierten
Zielsetzungen umgeht.
70 Strukturen & Akteure
Jeder möchte
etwas bewegen*
dela - Lastenrad für Detmold
dela 1
Station 1
Petersilchen
Wiesenstraße 2
32756 Detmold
dela 2
Station 2
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Van-Melle-Straße 1
32760 Detmold
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Stand: November
dela - Lastenrad für Detmold. Ein Projekt von:
Gefördert durch:
„Angesichts von Klimawandel und
den vielen weiteren Herausforderungen
insbesondere der städtischen
Mobilität hat sich die
Zivilgesellschaft aufgemacht, um eine
Wende im Verkehr zu erreichen.
Benjamin Dally Dipl.-Ing.
nextPlace
FAZIT: ARBEITET ZUSAMMEN!
Angesichts von Klimawandel und den
vielen weiteren Herausforderungen insbesondere
der städtischen Mobilität hat
sich die Zivilgesellschaft aufgemacht, um
eine Wende im Verkehr zu erreichen.
Radentscheide und vergleichbare Initiativen
werden intensiv in der politischen
Arena ausgetragen. Auf der anderen
Seite schaffen Initiativen mit ihren Projekten
neue vorbildliche Angebote oder
zumindest Experimentierräume. Kommunen
sollten in den Dialog mit diesen
zivilgesellschaftlichen Initiativen gehen
um in einen Erfahrungsaustausch einzutreten.
Solche Initiativen können oft
neue Wege beschreiten, die den klassischen
Akteuren versperrt sind; die
Kommunen erwartet daher ein großer
Benefit, wenn sie die Initiativen in beschränktem
Maße finanziell ausstatten
und sie zugleich in die eigenen Aktivitäten
einbinden. Auf Bundes- oder Landesebene
sollte das Augenmerk darauf
liegen, die Entwicklung von Software
oder Plattformen zu unterstützen, die
es lokalen Initiativen erheblich erleichtert,
Sharingangebote oder andere digital
unterstützte Services anzubieten.
Aufgabenträger, Verkehrsbetriebe und
vergleichbare Akteure sollten erwägen,
solche nicht-konventionellen Akteure
miteinzubeziehen. Gemeinsames Interesse
aller Akteure sollte es dabei bleiben,
angebots- und infrastrukturseitige
Alternativen zur Mobilität mit dem privaten
PKW zu konzeptionieren, erproben
und dauerhaft zu betreiben.
Literatur, Abbildungen & Webseiten
Benjamin Dally
Dipl.-Ing.
nextPlace
hat Raumplanung an der TU Dortmund und der Königlich-Technischen
Hochschule, Stockholm, studiert und sich
in seiner Abschlussarbeit mit der Integration von flexiblen
Carsharing-Angeboten in kommunale Verkehrskonzepte
beschäftigt. Seit 2013 arbeitet er an der Hochschule
Ostwestfalen-Lippe, unter anderem für den Forschungsschwerpunkt
urbanLab. Seit 2016 ist er Wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt nextPlace, der sich
mit „Raum-Zeit-Mustern intelligenter Mobilität“ beschäftigt.
Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind Regionalentwicklung
und Mobilität in den ländlichen Räumen.
Aufbruch Fahrrad: (https://www.aufbruch-fahrrad.de/) (letzter
Zugriff: 16.8.2019)
BISELA: (https://bisela.de/) (letzter Zugriff: 16.8.2019)
Brakemeier, Ralf (2018): Erster Spatenstich für neuen Bürgerradweg
zwischen Steinheim und Billerbeck - »Mutmacher, keine
Bedenkenträger«. In: Westfalen-Blatt vom 27.6.2018. Bielefeld
und Onlineressource, https://www.westfalen-blatt.de/OWL/
Kreis-Hoexter/Steinheim/3364404-Erster-Spatenstich-fuer-neuen-Buergerradweg-zwischen-Steinheim-und-Billerbeck-Mutmacher-keine-Bedenkentraeger
(letzter Zugriff: 18.6.2019)
Dorfverein St. Vit: (http://dorfaktiv.de/dorfauto/) (letzter Zugriff:
16.8.2019)
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aller Initiativen. Onlineressource: http://dein-lastenrad.de/index.
php?title=Tabellarische_%C3%9Cbersicht_aller_Initiativen (letzter
Zugriff: 16.8.2019)
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Onlineressource: (http://dein-lastenrad.de/index.php?title=Commons_Booking)
(letzter Zugriff: 16.8.2019)
Mobilagenten: (https://www.mobilagenten.de/) (letzter Zugriff:
16.8.2019)
Petersen, Markus (1995): Ökonomische Analyse des Carsharings.
Wiesbaden: Deutscher Universitäts-verlag: 11-15
Radentscheid Bielefeld (2019): Die 11 Ziele. Onlineressource:
https://radentscheid-bielefeld.de/ziele (letzter Zugriff: 16.8.2019)
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https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/
emissionen-des-verkehrs#textpart-1 (letzter Zugriff: 16.8.2019)
Mündliche Quellen
Forum Freier Lastenräder (2019b): Protokoll/Dokumentation
der Jahrestagung 2019 in Augsburg. Onlineressource: https://
etherpad.net/p/FFL2019 (letzter Zugriff: 16.8.2019)
72 Strukturen & Akteure
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andelsstandort KREATIVE ROHPERLE Kreativquartier Grasweg 8
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redaktion@polis-magazin.com
Quelle : Cykling Uden Alder (2015)
Janine Tüchsen
Radfahrend durch
die Nachbarschaft
Die Initiative Radeln ohne Alter –
Ein Plädoyer für die Einbeziehung
aller im Stadtraum
Mit steigendem Alter und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ist es
nicht selbstverständlich, am Stadtleben teilzunehmen. Selbst die
nahe Umgebung scheint mitunter schwer erreichbar. Wenn durch
Immobilität und Langsamkeit ältere Menschen nicht mehr Teil der
Stadtgesellschaft bleiben, wirkt sich das auch auf ihr urbanes Umfeld
aus. Einerseits ziehen sie sich zurück und erleben dadurch eine
Einschränkung in ihrer Lebensgestaltung. Andererseits verliert der
städtische Kontext an Diversität. Denn einer immer größer werdenden
Bevölkerungsgruppe ist es nur bedingt möglich, das Stadtgeschehen
mitzugestalten. Damit schwinden wertvolle Erinnerungen,
die die Stadt erst zu dem gemacht haben, was sie heute ist.
74 Strukturen & Akteure
DER TREND STADT
Städte scheinen der erwünschte Lebensraum
der Zukunft zu sein. Entsprechend
ist ein stetiges, weltweites Bevölkerungswachstum
in urbanisierten Siedlungsgebieten
zu beobachten. Heutzutage leben
schon 50 Prozent der Weltbevölkerung in
Städten, die Vereinten Nationen kündigen
für 2050 fast 70 Prozent der Gesellschaft
im städtischen Lebensraum an (vgl. Revision
of World Urbanization Prospects,
2018). Für Stadtbewohner bietet dieser
verdichtete Rahmen oftmals eine Vielzahl
an Potentialen. Zum einen ist der Wunsch
nach erleichtertem Zugang zu Wohnraum
(bezahlbar ist eine andere Frage)
und Bildung realistisch, zum anderen sind
aber auch gesundheitliche Einrichtungen
in direkter Nähe und ein gut ausgebautes
Mobilitätssystem in städtischer Umgebung
eher gegeben als auf dem Land.
Dennoch sind die Chancen in einem
konzentrierten und vermeintlich gut ausgebauten
urbanen Kontext nicht für alle
Bevölkerungsgruppen gleich. Doch eine
„sozialverträgliche nachhaltige Stadtentwicklung“
(Breckner, 2018) sollte die Lebensbedingungen
aller Menschen, die
Stadt nutzen und gestalten, berücksichtigen.
Der demografische Wandel und
die variierenden Lebensstile sind gesellschaftliche
Veränderungen, die sich im
Stadtbild widerspiegeln und auch deren
Entwicklung beeinflussen. Umso wichtiger
ist die Entstehung von generationsübergreifenden
Nachbarschaften, in
denen die Bewohner im gegenseitigen
Austausch miteinander stehen. Dieser
Lebensraum bekommt eine besondere
Bedeutung für sozialen Zusammenhalt,
aber auch für die Kultur und die Identität
eines Quartiers. Nur wenn ein Einbeziehen
aller und eine aktive Beteiligung
jeder Bevölkerungsschicht zur Prägung
und Gestaltung des Umfeldes beiträgt,
kann ein lebenswertes und rücksichtnehmendes
Miteinander entstehen. Diese
Einbindung aller Alterssparten und
„Neben dem persönlichen Verlust
der Teilhabe hat auch der städtische
Kontext mit der Abwesenheit
einer ganzen Generation zu kämpfen.
Denn es fehlen nicht nur die älteren
Menschen im Stadtbild, sondern mit ihnen
gehen Erfahrungen verloren – genauso
wie Erinnerungen an vergangene Entwicklungsprozesse
oder bedeutende Ereignisse
sowie eine generelle Kenntnis der Umgebung
und ihrer Geschichten.
Janine Tüchsen Dipl.-Ing. Architektur
Wissenschaftliche Mitarbeiterin TH OWL
die Möglichkeit zur Teilhabe sind Grundvoraussetzungen
für den Erhalt von Besonderheit
und Diversität einer Stadt.
Schon Jane Jacobs schrieb Anfang der
1960er Jahre: „Cities have the capability
of providing something for everybody,
only because, and only when, they are
created by everybody.“ (Jacobs, 1961).
Die vitale Sozialstruktur, auf die sich Jacobs
bezieht, ist die Grundlage für eine
funktionierende Stadtgesellschaft. Doch
gibt es mehrere Gruppen, die Schwierigkeiten
haben ein aktiver Teil ihres Umfeldes
zu bleiben. Oftmals ist es gerade
für die ältere Generation kompliziert, an
dem sie umgebenden Stadtgeschehen
langfristig teilzunehmen. Meist sind es
Einschränkungen in der Bewegung, die
zu einer Inaktivität und einen Rückzug
aus dem Nachbarschaftsgeschehen führen.
Mit dieser Mobilitätsverminderung
geht eine Verringerung der Lebensqualität
einher, die nicht aus eigener Kraft
rückgängig zu machen ist.
Neben dem persönlichen Verlust der
Teilhabe hat auch der städtische Kontext
mit der Abwesenheit einer ganzen
Generation zu kämpfen. Denn es fehlen
nicht nur die älteren Menschen im
Stadtbild, sondern mit ihnen gehen Erfahrungen
verloren – genauso wie Erinnerungen
an vergangene Entwicklungs-
Strukturen & Akteure 75
Aktiv in der
Stadtgesellschaft
Quelle : Cycling Without Age (2018)
prozesse oder bedeutende Ereignisse
sowie eine generelle Kenntnis der Umgebung
und ihrer Geschichten. Um dem
Vorzubeugen hat sich ein Projekt gebildet,
das durch gemeinsames Radfahren
den Stadtraum für alle zugänglich machen
möchte.
RADFAHREN FÜR EIN MITEINANDER
Durch die Initiative Radeln ohne Alter wird
das lokale Umfeld wieder erreichbar. Ehrenamtliche
Ausfahrten mit der Rikscha
machen es den Passagieren, meist Bewohnern
aus Alters- und Pflegeeinrichtungen,
möglich, im Stadtbild wahrgenommen
zu werden und sich gleichzeitig
einzubringen. Sie sind oftmals körperlich
nicht in der Lage, selber aktiv zu werden,
erleben aber bei der Mitfahrt in einer
Rikscha die altbekannte Umgebung von
neuem. Diese Ausfahrten und auch der
dadurch entstehende Dialog sind eine
Bereicherung für die städtische Gemeinschaft.
Denn für Passanten, die Piloten
der Rikscha als auch die Passagiere entstehen
positive Momente des Miteinanders
und des Austausches. So werden
Eindrücke der Fahrt sowie Geschichten,
die Leben und Stadt geprägt haben und
überdies weiterhin beeinflussen, geteilt.
Hierbei nimmt das Ehrenamt eine tragende
Rolle ein: Als Antreiber für eine
gemeinsame, selbst organisierte Ausfahrt
macht das freiwillige Engagement aus Unbekannten
Nachbarn – manchmal entstehen
sogar Freundschaften (vgl. Radeln
ohne Alter, 2018). Die Kommunikation im
Stadtraum wird gestärkt, denn die Aufgabe
der Rikscha-Fahrten besteht darin,
Teil des Stadtraumes zu sein und dort zu
verweilen, nicht aber ihn als Durchgangszone
und reine Bewegungsfläche zu
nutzen. Aufenthaltsbereiche werden so
stärker frequentiert, die gleichzeitig zu einer
intensiven Belebung des öffentlichen
Raumes führen und generationsübergreifende
Formen von Gemeinschaft bilden.
Eine funktionierende Partizipationskultur,
die darauf aufbaut, dass Quartiere von
innen, also von ihren Bewohnern aus, vitalisiert,
geprägt und mitgestaltet werden,
führt zu einer nachhaltigen und lebenswerten
Perspektive für unsere Städte.
Radeln ohne Alter, in Kopenhagen von
Ole Kassow gegründet, ist mittlerweile
eine weltweit agierende Initiative, die
mit Erfolg dazu beiträgt, dass städtische
Nachbarschaften diverser und zugänglich
für alle Generationen werden. Die
Anzahl der Standorte steigt kontinuierlich
– so wird ab September 2019 auch
in Detmold in Zusammenarbeit mit der
St. Elisabeth Stiftung eine Rikscha ältere
Menschen zurück in den öffentlichen
Raum bringen.
Die Vorteile der Integration aller Bevölkerungsgruppen
und Altersstufen sowie
die Wichtigkeit Menschen und ihre Geschichten
im Stadtleben zu verankern,
liegen auf der Hand: Neben der Verbesserung
der persönlichen Lebenssituation
entsteht auch eine lebendige und
einbeziehende Gemeinschaft, die die
Lebensqualität in einer Stadtlandschaft
stärken kann. Städte sind komplexe Konstruktionen,
die unterschiedliche Strukturen,
Ebenen sowie Berührungspunkte
aufweisen. Diese beeinflussen die Umgebung
und das Miteinander, gleichzeitig
können sie auch dadurch jede Nachbarschaft
zu etwas Besonderem machen.
Die gegenwärtige Wandlungsfähigkeit
von Quartieren und ihre Schnelllebigkeit
76 Strukturen & Akteure
bringt viele Vorteile mit sich, überfordert
aber an anderer Stelle zugleich. Entsprechend
ist der Dynamik einer Stadt – gerade
für den Teil der Bevölkerung, der vermeintlich
nicht mehr Schritt halten kann
– eine funktionierende Gemeinschaft
entgegenzusetzen, in der alle ein Recht
auf Stadt (vgl. Lefebvre, 2009) haben
und eine aktive Teilhabe gesichert ist.
Durch scheinbar kleine Gesten wie ein
gemeinsamer Ausflug mit einer Rikscha
können Grundlagen für wertvolle Nachbarschaften
und lebenswerte Quartiere
geschaffen werden. Die Anerkennung
für ehrenamtliche Tätigkeiten sowie
ein kontinuierlicher Austausch und die
Beteiligung aller Bewohnergruppe bei
quartiersbezogenen Entscheidungen
begünstigt eine nachhaltige und ganzheitliche
Stadtentwicklung. Ein Mehrwert
für alle wird geschaffen, der Städte lebendig
hält und die Besonderheiten der
Umgebung unterstreicht.
Janine Tüchsen
Dipl.-Ing. Architektur
TH OWL
Nach Arbeitserfahrungen in verschiedenen Büros (unter anderem RCR Arquitectes
in Olot, Spanien und COBE Architects in Kopenhagen, Dänemark) arbeitet sie als
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet Kontextuelles Entwerfen der Detmolder
Schule für Architektur, Innenarchitektur und Stadtplanung. Sie hat weitere
Lehrerfahrungen im Bereich von Workshops und Sommerschulen, aber auch einen
langejährigen Lehrauftrag an der TH Lübeck. Ihre Interessen in der Architektur
gelten vor allem dem Umgang mit der Umgebung und der Erinnerung von Orten.
Literatur & Abbildungen
Breckner, Ingrid (2018): Nachhaltige Stadtentwicklung - Sozialverträglichkeit und Umweltorientierung in
der Stadtentwicklung
Cykling Uden Alder (2015): www.cyklingudenalder.dk/ (letzter Zugriff: 03.07.2017)
Cycling Without Age (2018): www.flickr.com/photos/cyklingudenalder/ (letzter Zugriff: 09.08.2019)
Jacobs, Jane (1961): The Death and Life of Great American Cities (New York, Random House)
Gehl, Jan (2010): Cities for People (Washington DC, Island Press)
Lefebvre, Henri (2009): Le droit à la ville. Anthropos (Paris), S. 108
Radeln ohne Alter: www.radelnohnealter.de/ (letzter Zugriff: 05.08.2019)
St. Elisabeth Stiftung: www.stiftung-sankt-elisabeth.de/seniorenhilfe/ (letzter Zugriff: 26.07.2019)
United Nations - World Urbanization Prospects: The 2018 Revision: www.population.un.org/wup/Publications/Files/WUP2018-KeyFacts.pdf
(letzter Zugriff: 08.08.2019)
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Strukturen & Akteure 77
Catterick Barracks
BIELEFELD
Habsburger Ring
MINDEN
Ilsetal
LEMGO
ZUKUNFTS-
VISION
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
Stadt Land Quartier
Erkenntnisse aus dem Studierendenwettbewerb
in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft
der Wohnungswirtschaft OWL
Zum dritten Mal hat das urbanLab einen Studierendenwettbewerb
zu einem relevanten städtebaulichen Thema vorbereitet und
durchgeführt. Der Forschungsschwerpunkt bietet damit regelmäßig
die Möglichkeit an der Schnittstelle zwischen Praxis, Forschung und
Lehre, über studentische Wettbewerbe fundierte Impulse und Bilder
in den öffentlichen Diskurs zu tragen, die durch den Vergleich
von alternativen Planungsszenarien eine ergebnisoffene Debatte
stimulieren. Der Wettbewerb wurde gemeinschaftlich von der
Arbeitsgemeinschaft der Wohnungswirtschaft Ostwestfalen-Lippe
und dem urbanLab, als Forschungsschwerpunkt der Stadt- und Regionalforschung
an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe
in Kooperation mit den Städten Bielefeld, Lemgo und Minden
sowie der OstWestfalenLippe GmbH ausgelobt.
80 Zukunftsvision
ANLASS
Seit einigen Monaten bereitet sich die
Region Ostwestfalen-Lippe (OWL) auf
ihre zweite Regionale vor, die im Jahr
2022 ihre ersten Ergebnisse präsentieren
wird. Die Region möchte mit dem
Strukturförderprogramm unter dem Titel
Das neue UrbanLand gezielt Impulse
für eine lebenswerte räumliche Struktur
im nächsten Jahrzehnt setzen. Mit
dem UrbanLand hat sich OWL vorgenommen,
Wechselwirkungen zwischen
Zentren, Umland und Peripherien zu
nutzen, „um den Menschen aller Altersklassen
eine optimale Verbindung
von Wohnen, Arbeiten und Leben nach
ihren individuellen Wünschen zu bieten:
in großstädtischen Ballungsräumen,
lebenswerten Mittelzentren und landschaftlicher
Idylle mit kleinen Dörfern.“
Die Bewerbungsbroschüre der Regionale
benennt in der Aktionsebene 4
– Das neue Stadt Land Quartier – eine
Vielzahl von Projektansätzen, die sich
mit der Zukunft des Wohnens und Arbeitens
in den Teilräumen Ostwestfalens
beschäftigen werden. „Das neue
Stadt Land Quartier trägt dazu bei, vergleichbare
Lebensverhältnisse in der
ganzen Region zu schaffen, unabhängig
vom Wohnort. Stadt und Land werden
nicht als Gegensätze verstanden, sondern
gehen einen maßstabsübergreifenden,
symbiotischen Dialog ein. Im
neuen Stadt Land Quartier kommen
Menschen zusammen, hier findet Alltag
statt, hier wird eingekauft, hier geht
man in die Kneipe, hier trifft man sich.“
Derzeit werden innovative Projektvorschläge
aus den Kommunen und der
Wohnungswirtschaft gesammelt und
konkretisiert. Für die Aktionsebene
Stadt Land Quartier bedeutet das, sich
sowohl mit den Lebensbedingungen in
den städtischen Quartieren wie auch in
kleinen Dörfern zu beschäftigen, ihren
jeweiligen Qualitäten und Möglichkeiten
vor Ort auf die Spur zu kommen,
landschaftsräumliche Bezüge herauszuarbeiten
und charakteristische Lösungen
für das Wohnen und Arbeiten
zu entwickeln.
Eine Umfrage der Bundesstiftung Baukultur
zeigt deutlich, dass sich knapp
80% der befragten Menschen kleinere
räumliche Einheiten als Wohnort und
Lebensmittelpunkt wünschen, insgesamt
bevorzugen sogar 45% das Leben
in einer ländlichen Gemeinde. Nur etwa
ein Fünftel sucht das Leben in der Großstadt
– und das sind in der Mehrzahl
junge Leute zwischen 18-29 Jahren. Bei
der genannten Umfrage waren finanzielle
und sonstige Rahmenbedingungen
bewusst ausgeklammert. Die Gründe,
warum es trotzdem immer mehr Menschen
in die Städte treibt, liegen also
nicht an den eigenen Wohnwünschen,
sondern gehen vielmehr mit dem Studien-
und Arbeitsplatz sowie mit der
urbanen Infrastruktur und ihren vielfältigen
Nutzungsangeboten einher.
Gleichzeitig verändern sich unsere Arbeitsweisen
sowie unser Konsum- und
Sozialverhalten rasant und damit auch
die Art und Weise, wie wir Stadt nutzen.
Immer mehr Berufsbilder sind nicht
mehr ortsgebunden und können durch
die Digitalisierung jederzeit und überall
arbeiten. Die Anzahl der Wirtschaftszweige
die (wieder) stadtverträglich sind und
mit wenig oder gar ganz ohne Emissionen
auskommen steigt stetig. Die Urbane Produktion
kann somit zum selbstverständlichen
Bestandteil von funktionsgemischten
Quartiersentwicklungen werden.
Der öffentliche Raum, als zwangsläufiger
Treffpunkt bei dem Bedürfnis nach sozialer
Interaktion, Kultur und Freizeitangeboten
sowie den Gütern des täglichen
Bedarfs, wird zunehmend durch Onlineund
On-Demand-Angebote verdrängt.
Hieraus zeichnen sich einige Herausforderungen
für die zukünftige Gestaltung
Zukunftsvision 81
„Es galt zukunftsfähige Quartierskonzepte
zu entwickeln, die den
Wunsch nach einer überschaubaren
Nachbarschaft mit einer urbanen
Infrastruktur und einer entsprechenden
Nutzungsvielfalt in einem stimmigen
Gesamtkonzept verbinden.
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
urbanLab
von Quartieren ab, aber auch einige
Potentiale, deutlich kleinere räumliche
Einheiten zu ermöglichen, die gleichzeitig
eine urbane Nutzungsdichte und
einen lebendigen öffentlichen Raum mit
sich bringen.
Nicht zuletzt ist die europäische Stadt
von morgen bereits heute weitgehend
gebaut und erfordert in der Regel innovative
und individuelle Lösungen für
die genannten Herausforderungen im
Bestand. Insbesondere der monotone
Wohnungsbestand der Wiederaufbauzeit
nach dem zweiten Weltkrieg
sowie die freiwerdenden Kasernen in
Ostwestfalen-Lippe sind prominente
Beispiele für die aktuellen Herausforderungen,
denen sich die Akteure auf dem
hiesigen Wohnungsmarkt stellen müssen
und daher in dem studentischen
Wettbewerb, den das urbanLab ausgelobt
hat aufgegriffen werden.
WETTBEWERB
An die Herausforderung des studentischen
Ideenwettbewerbs Stadt Land
Quartier haben sich über 100 Studierende
der Fachrichtungen Stadtplanung,
Architektur und Landschaftsarchitektur
gewagt und ihre Version des Stadt Land
Quartiers ausgearbeitet. In jeder Arbeit
sollte neben dem Gesamtkonzept des
Stadt Land Quartiers jeweils im Vertiefungsbereich
spezifische Themen aus
der Architektur, Stadtplanung oder Landschaftsarchitektur
behandelt werden. Es
galt zukunftsfähige Quartierskonzepte zu
entwickeln, die den Wunsch nach einer
überschaubaren Nachbarschaft mit einer
urbanen Infrastruktur und einer entsprechenden
Nutzungsvielfalt in einem
stimmigen Gesamtkonzept verbinden.
Erwartet wurde ein sensibler Umgang
mit den städtebaulichen Anforderungen
aus der Umgebung, dem vorgefundenen
Gebäudebestand im Plangebiet und einer
möglichen höheren Verdichtung, sowie
die Auseinandersetzung mit den im
Anlass skizzierten Herausforderungen
und Potentialen der aktuellen gesamtgesellschaftlichen
Entwicklungen.
Gefordert war demnach ein Quartiersentwurf
an der Schnittstelle von Stadt
und Landschaft, der die aktuellen Entwicklungen
nutzt, um zukunftsfähige
Lebens- und Arbeitsräume zu schaffen
und dabei gleichzeitig den Wunsch nach
idyllischen ländlichen Räumen aufgreift.
Die Wettbewerbsaufgabe war an drei
unterschiedlichen städtebaulichen Situationen
verortet: Einer Stadtrandlage in
Lemgo mit sanierungsbedürftigem Bestand
aus den 60er Jahren in Form von
Wohnriegeln und einer leerstehenden
Schule; einer innerstädtischen Lage in
Minden mit innenliegender Landschaftsachse;
einer Konversionsfläche in Stadtrandlage
von Bielefeld unweit des Teutoburger
Walds.
Die vorgeschlagenen Standorte zeigen
einerseits exemplarisch den Handlungsdruck
der Wohnungswirtschaft
bezüglich ihres Wohnungsbestands aus
der Nachkriegszeit und andererseits
den Entwicklungsdruck auf Seiten der
Kommunen durch die freiwerdenden
Kasernenstandorte. Für die Studierenden
ergab sich mit den drei Plangebieten
die Chance, zukunftsgerichtete Konzepte
praxisorientiert auszuloten und
einen fachlichen Diskurs mit konkreten
Plänen und Bildern zu unterstützen.
82 Zukunftsvision
Die Wettbewerbsstandorte
Das Plangebiet liegt nordwestlich der
Kernstadt und ist etwa 46 ha groß. Das
Areal weist mit einem typischen Wohnungsmix
aus Einfamilienhäusern und ca.
20 Mehrfamilienhäusern der Wohnbau
Lemgo aus den 60er Jahren sowie einer
aus der Nutzung gefallenen Schule, die typischen
Merkmale einer Siedlungserweiterung
der Nachkriegszeit auf. Neben der
notwendigen Beseitigung der typischen
Mängel dieser Baualtersklasse, drängt
sich die Frage nach einer Aufwertung der
öffentlichen Freiräume sowie die Suche
nach einem Quartiersmittelpunkt auf.
Ilsetal
Lemgo
Das ca. 40 ha große Planungsgebiet liegt
nordwestlich der Kernstadt Mindens
und ist wenige Gehminuten vom Botanischen
Garten entfernt. Das prägende
Element des Plangebiets ist die in Richtung
Nord-Westen verlaufende Landschaftsachse,
die nicht gänzlich überplant,
aber als durchgängige Verbindung
der Parklandschaft bis zur Kernstadt
qualifiziert werden soll. Im südlichen
Bereich der Landschaftsachse befindet
sich Geschosswohnungsbau der GSW
Minden und der Wohnhaus Minden, der
einer Weiterentwicklung bedarf.
Habsburger Ring
Minden
Der Kasernenstandort Catterick Barracks
ist seit 2013 das Hauptquartier der britischen
Streitkräfte. Er befindet sich im
Stadtbezirk Stieghorst und ist nur wenige
Gehminuten vom Stadtteilzentrum
mit einer Bahnhaltestelle entfertn. Die
Fläche des Planungsraums beträgt rund
34 ha. Die Gebäude sind 1934 bis 1935
erbaut worden und größtenteils erhalten
und setzen sich im Wesentlichen
aus Verwaltungs-, Unterkunfts- und Hallengebäuden,
versiegelte Stellflächen
für Fahrzeuge sowie Schule, Kita und
Sportplätze zusammen.
Catterick Barracks
Bielefeld
Vertiefungsbereich Stadtplanung
Vertiefungsbereich Architektur
Vertiefungsbereich Landschaftsarchitektur
Zukunftsvision 83
Foto: urbanLab
Folgende Fragen waren im Rahmen der Wettbewerbsaufgabe
zu beantworten:
Wie sieht ein zukunftsfähiges Stadt Land Quartier am jeweiligen
Standort aus, wenn es durch die Wohnungswirtschaft
getragen als Leuchtturmprojekt für die Regionale 2022
entwickelt wird?
Wie soll dabei mit dem alternden Gebäudebestand der Wohnungswirtschaft
und den Kasernengebäuden umgegangen
werden?
Wie ist der öffentliche Raum zu organisieren, damit dieser
als lebendiger Kristallisationspunkt des Quartiers und
selbstverständlicher Treffpunkt wahrgenommen wird?
Welche Nutzungen muss ein Stadt Land Quartier neben dem
Wohnen bereitstellen?
Wie kann eine angemessene, harmonische Urbanität, eine
Durchmischung von Nutzungen, Lebensstilen und Wohnsituationen
erreicht werden, die gleichzeitig hochqualitative
private Räume und Erholungsangebote bereithält?
Im Ergebnis sind wertvolle Ideenpläne
von jungen angehenden Architekt*innen
und Planer*innen entstanden, die
neue Impulse geben für die Diskussion
um zukünftige Quartiersentwicklungen.
Die Konzepte und inspirierenden
Bilder junger Menschen, die mit ihren
Wertvorstellungen bezüglich Lebensstil,
Fortbewegung und Kommunikation
neue Wege gehen, können den Diskurs
um das drängende Problem der
Wohnraumversorgung, der Transformation
des Bestands bei gleichzeitiger
Sicherung von Natur und Landschaft
unterstützen und bereichern. Aus den
studentischen Arbeiten lassen sich
wichtige Erkenntnisse ableiten, die im
Folgenden dargestellt werden.
Welche städtebauliche Anordnung gilt dabei als vorteilhaft?
Welche Aspekte kann die umliegende Landschaft zu den
einzelnen Anforderungen an das Wohnumfeld beitragen,
sodass ein wahrnehmbares Stadt Land Quartier entsteht?
84 Zukunftsvision
1. NUTZUNGSDICHTE IST DIE
NEUE FORM DER DICHTE
Der Vortrag Edgar Salins mit dem Thema
Urbanität und das aufkommende
Problembewusstsein der neuen Großwohnsiedlungen
führte in den 1960er
und 1970er Jahren zu dem Leitbild Urbanität
durch Dichte und verengte damit
den weitaus umfassenderen Urbanitätsbegriff
Edgar Salins auf das rein
Technische. Bis heute assoziieren nicht
wenige eine städtebauliche Dichte mit
Urbanität, auch wenn das ohne Zweifel
nicht gleichzusetzen ist. Das Thema Urbanität
und Dichte beschäftigt deswegen
auch im Studierendenwettbewerb
viele Verfasser*innen und wird eher
als Atmosphäre verstanden, die durch
Nutzungsangebote und Begegnungsmöglichkeiten
entsteht.
So werden Quartiersentwicklungen
gezeigt, die lebendige und pulsierende
Quartiersplätze zeigen und für die
fußläufige Erreichbarkeit der Angebote
des täglichen Bedarfs sorgen. Mit Hilfe
dichter Innenentwicklung und vertikaler
Nutzungsmischung können so
die umliegenden Landschaftsräume
als wichtiger Bestandteil des menschlichen
Habitats erhalten und qualifiziert
werden. Im Gegensatz zur klassischen
Einfamilienhaussiedlung oder monofunktionalem
Geschosswohnungsbau
können die bestehenden und zukünftigen
Bewohner*innen auf ein attraktives
Wohnumfeld mit diversen Angeboten in
fußläufiger Erreichbarkeit hoffen.
2. DICHTE UND KONZENTRATION
WECHSELN SICH AB MIT FREI-
RAUM UND WEITE
Es zeigt sich, dass der Wunsch urban zu
wohnen nicht gleichzusetzen ist mit dem
Wunsch (groß-) städtisch zu wohnen. Die
studentischen Entwürfe zeigen, dass es
notwendig ist zwischen Dichte und Nutzungsdichte
zu unterscheiden, dass auch
„Es zeigt sich, dass der Wunsch
urban zu wohnen nicht gleichzusetzen
ist mit dem Wunsch (groß-)
städtisch zu wohnen. Die studentischen
Entwürfe zeigen, dass es notwendig
ist zwischen Dichte und Nutzungsdichte
zu unterscheiden, dass auch Angebote des
öffentlichen Raums eine Nutzungsdichte
aufweisen können und dass es bei einer
angemessenen Urbanität um Nutzungen
und Begegnungsmöglichkeiten geht, nicht
so sehr um bauliche Dichte.
Oliver Hall, Marcel Cardinali
urbanLab
Angebote des öffentlichen Raums eine
Nutzungsdichte aufweisen können und
dass es bei einer angemessenen Urbanität
um Nutzungen und Begegnungsmöglichkeiten
geht, nicht so sehr um bauliche
Dichte. Gleichwohl bedingt eine Dichte an
Nutzungen eine gewisse bauliche Dichte,
um genug Nachfrage zu erzeugen, die die
Rentabilität solcher Angebote sicherstellt.
Hier gilt es die richtige Balance zu finden,
die in der Regel dazu führt, dass sich eine
höhere bauliche Dichte mit einer räumlichen
Weite stetig abwechselt.
Eine kleinteilige Verzweigung und eine
stetige Abwechslung zwischen Konzentration
und Weite erzeugt kurze Wege
und einen breiten Zugang zur Landschaft.
Nicht zuletzt ergibt die neue
Vernetzung der Freiflächen eine klare
Ablesbarkeit der neuen Quartiere. Die
mittelalterliche Stadt von vorgestern
wird so zur Blaupause für das Quartier
von übermorgen. Mit der Entwicklung
des Freiraums als ersten Schritt, ist der
Rahmen für die weitere Entwicklung gesetzt.
Umliegende Flächen werden so
wieder in Wert gesetzt und wirken als
Impuls für nachfolgende Maßnahmen.
(siehe Stadt Land Quartier, S. 104, Adrian
Buck, Denice Müller, Bachelor Städtebau,
HTWG Konstanz)
Zukunftsvision 85
„Die dichte kompakte europäische
Stadt findet wieder zu ihren Wurzeln
zurück, gibt dabei der Natur
nicht mehr benötigte Flächen zurück
und schafft so gleichzeitig ein Netz aus
grünen Landschaften, das einen direkten
Zugang in gesundheitsfördernde Naturräume
für das Quartier ermöglicht.
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
3. DIE STADT VON VORGESTERN
IST DAS QUARTIER VON ÜBER-
MORGEN
Ehemals weitgehend monofunktionale
Standorte werden zu einem vielschichtigen
und gemischten Stadtquartier, die
auch wieder Raum für immer mehr gewerbliche
Ansiedlungen bieten. Immer
mehr Arbeitsformen stoßen keine Emissionen
mehr aus und ermöglichen die
Renaissance der funktionsgemischten
europäischen Stadt auf Quartiersebene –
ohne Emissionen und mit WLAN Zugang.
Die sortierte funktionsgetrennte Stadt
gehört so zur Vergangenheit. Die Arbeit
kehrt zurück ins Quartier. Die zukünftig
benötigte Fläche für Stadtentwicklung
wird dadurch kleiner. Die dichte kompakte
europäische Stadt findet so wieder
zu ihren Wurzeln zurück, gibt dabei der
Natur nicht mehr benötigte Flächen zurück
und schafft so gleichzeitig ein Netz
aus grünen Landschaften, das einen direkten
Zugang in gesundheitsfördernde
Naturräume für das Quartier ermöglicht.
(siehe Catterick Barracks. Bestand neu interpretiert,
S. 96, Tristan Jack Rath, Vanessa
Nicole Luz, Johannes Nils, Patrick Deneser,
Master Städtebau NRW)
4. SHARING IST EIN WESENT-
LICHER ASPEKT ZUKÜNFTIGER
NACHBARSCHAFTEN
Der Trend Produkte, Verkehrsmittel und
Räume zu teilen, bietet darüber hinaus
zusätzliche Möglichkeiten den Flächenund
Ressourcenanspruch neuer städtebaulicher
Entwicklungen zu minimieren.
Viele Arbeiten demonstrieren mit ihren
Sharingmodellen, wie durch Car-Sharing
beispielsweise Parkplätze eingespart werden,
die mehr Grünanlagen ermöglichen.
Einige der Arbeiten nutzen die städtebauliche
Anordnung um Erschließungsflächen
als Mischflächen zu teilen oder
um Gemeinschaftsgärten im Inneren zu
integrieren. Das Prinzip des Teilens in
Zeiten des kollaborativen Individualismus
und der kreativen Wissensgesellschaft ist
nicht nur zeitgemäß und greift zukünftige
Wohnformen auf, es spart Ressourcen
und erzeugt mehr ökologischen und sozialen
Reichtum. In der Folge kann zudem
ein Wohnumfeld entstehen, welches auf
dem Markt bisher kaum angeboten wird
und auch von ganz anderen Milieus als
den klassischen Häuslebauern nachgefragt
wird. (siehe NetzWERKeln. helfen,austauschen,verbinden,
S.92 Anna Noldus,
Denise Krins, Master Städtebau NRW)
5. DIE HETEROGENISIERUNG DES
WOHNANGEBOTS IN DEN QUAR-
TIEREN STÄRKT DIE GEMEIN-
SCHAFTSBILDUNG
Die Heterogenisierung der Wohnraumangebote
in den studentischen Entwürfen
schafft dabei nicht nur ein neues Wohnangebot
für Wohnraumsuchende, sondern
bietet ebenso die Chance den Wohnungsmarkt
der Kommune zu diversifizieren und
86 Zukunftsvision
Foto: urbanLab
für verschiedene Lebensentwürfe und
Einkommenssituationen zu öffnen. In der
Folge wird das oft beschriebene Problem
der zu großen Eigenheime im Alter und
zu kleinen Geschosswohnungen in Zeiten
der Familiengründung durch neue Angebote
zu einer lokalen Rochade der Wohnungssuchenden.
Die neuen Wohnungsangebote
für ältere Menschen erlauben
es den ansässigen Bewohner*innen, in
angemessenen Wohnraum umzuziehen
und trotzdem in ihrer Heimat zu bleiben.
Damit wiederum stehen jungen Familien
Einfamilienhäuser zur Verfügung, ohne
dass neue Baugebiete für Einfamilienhäuser
ausgewiesen werden müssen. Die
Heterogenisierung der Wohnangebote in
neuen Quartiersentwicklungen ist demnach
in der Lage, dem gesamten lokalen
Wohnungsmarkt eine Dynamik zu geben,
die für eine angemessene Auslastung des
Bestandes und damit schließlich auch
eine gesteigerte Modernisierungsrate
sorgen kann. Nicht zuletzt können damit
Wohnkarrieren im lokalen Markt erfolgen,
die schließlich dafür sorgen, dass
die Fluktuation der Bewohner*innen insgesamt
reduziert wird und damit das Potential
der Gemeinschaftsbildung und der
Identität mit Stadt und Stadtteil erhöht.
Dazu fördern die zufälligen unverfänglichen
Begegnungen mit anderen sozialen
Gruppen den sozialen Zusammenhalt
und dienen dem Abbau von Ängsten und
Vorurteilen. (siehe Stadt Land Quartier, S.
104, Adrian Buck, Denice Müller, Bachelor
Städtebau, HTWG Konstanz)
Das Preisgericht
Rainer Bohne
Geschäftsführer SRL
Ulrich Burmeister
Cordula Fay
Referatsleiterin Stadtentwicklung, Wohnungsbau und Raumordnung, GdW
Dr. Uwe Günther
ehem. Gruppenleitung Nachhaltige, klimagerechte Stadt, Flächen- und Regiona-
lentwicklung und Denkmalpflege im Ministerium für Heimat, Kommunales,
Bau und Gleichstellung des Landes NRW
ehem. Abteilungsleiter Bauministerium NRW (stellv. Juryvorsitz)
Dr. Svenja Haferkamp
VdW-Rheinland Westfalen
Catrin Hedwig
Amtsleiterin Bauamt der Stadt Bielefeld
Prof. Bettina Mons
Professorin für Architektur, Planungstheorie und Projektsteuerung an der
FH Bielefeld
Annette Nothnagel
Regionale Managerin OstWestfalenLippe GmbH und Landschaftarchitektin
Prof. Johannes Ringel (Juryvorsitz)
Direktor des Instituts für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft an der Wirtschaftswissenschaftlichen
Fakultär der Universität Leipzig | Gesellschafter RKW Architektur
Kai Schwartz
Vorsitzender AdW Ostwestfalen-Lippe
Tilmann Teske
Urban Catalyst
Berit Weber
Abteilungsleitung Stadtplanung der Stadt Lemgo
Malte Wittbecker
Bereichsleiter Stadtplanung und Umwelt der Stadt Minden
Hans-Otto Kraus
Förderverein der Bundesstiftung Baukultur
Zukunftsvision 87
Foto: urbanLab
6. ERFOLGREICHE QUARTIERS-
PLANUNG ORIENTIERT SICH AN
DENEN, DIE DA SIND UND AN
DENEN, DIE KOMMEN SOLLEN
Stadtentwicklung ist immer eine Weiterentwicklung
bestehender Strukturen.
Es geht um die Verbesserung
der Stadtstrukturen und damit auch
um eine Verbesserung der Lebensund
Arbeitsqualität der bestehenden
Bewohnerschaft, nicht nur um ein
Auffüllen mit mehr Wohnraum. Stadtreparatur
bedeutet das Schließen
von Angebotslücken, die Verbindung
von Freiraum- und Wegestrukturen.
Gleichzeitig werden so auch attraktive
Standortfaktoren für avisierte Neubürger
und Unternehmen geschaffen.
Für all diese Gruppen und ihre Bedürfnisse
bedarf es einer Wertschätzung.
Auf dieser Grundlage kann im
Anschluss gemeinsam die notwendige
Stadtreparatur und zukunftsfähige
Quartiersgestaltung ausgehandelt und
austariert werden. Es gilt, die Expertise
der bestehenden Akteur*innen über
notwendige Veränderungen mit den
Standortanforderungen derjenigen zu
vereinbaren, die kommen sollen – ob
Einzelhandel, Gewerbetreibende oder
Wohnungssuchende. Es gilt, Stadt und
Quartier gemeinsam zu gestalten. (siehe
Catterick Barracks. Bestand neu interpretiert,
S. 96, Tristan Jack Rath, Vanessa
Nicole Luz, Johannes Nils, Patrick
Deneser, Master Städtebau NRW)
7. DIE MOBILITÄTSKETTE REICHT
VOM ERSTEN BIS ZUM LETZTEN
KILOMETER
Dennoch können nicht alle Zielorte des
Alltags innerhalb des Quartiers verortet
sein. Um die Abhängigkeit vom PKW zu
verringern gilt es, einen möglichst leistungsfähigen
Mobilitätsknoten im Quartier
bereitzuhalten, der in der Lage ist,
die letzten Meter bis zur Wohnung zu
überbrücken. Denn die Einheit für die
Distanz zwischen Zielort A und B wird
in Zeit und nicht in Kilometern angegeben.
In der Folge ist es zur Optimierung
notwendig, die Mobilitätskette vom ersten
bis zum letzten Kilometer zu denken.
Hier helfen die Sharing-Prinzipien
aus den entwickelten Gemeinschaften
ebenso wie moderne Mobilitäts-Hubs,
88 Zukunftsvision
die es erlauben, die gefühlte Entfernung
zur Kernstadt oder dem Arbeitsplatz
auf ein Minimum zu reduzieren. Mit ihren
Arbeiten geben die Studierenden
Hinweise, wie eine effiziente, störungsresistente
Mobilitätskette für derartige
Quartiere aussehen kann, die dem
Komfort des eigenen PKW in Kosten,
Zeit und Störanfälligkeit überlegen sein
kann. (siehe Catterick City, S. 106, Ecem
Besdüz, Laura Kreische, Arthur Spruck,
Bachelor Stadtplanung, TH-OWL)
8. BEWOHNER UND GEBÄUDE
WERDEN VOM KONSUMENTEN
ZUM PRODUZENTEN
Lebensmittel und Energieproduktion in
der Landwirtschaft außerhalb der Stadt
erhalten durch aktive Bewohner und innovative
Gebäudelösungen in der Stadt
eine sinnvolle Ergänzung. Neue technische
Lösungen erlauben einen geringen
Energiebedarf und gleichzeitig die Produktion
von Energie durch beispielsweise
Solaranlagen, Mini-Windkraftanlagen
oder einen klugen Umgang mit Niederschlagswasser.
Die aufgeschlossene klimasensible
Stadtgesellschaft engagiert
„Es gilt, die Expertise der bestehenden
Akteur*innen über notwendige
Veränderungen mit den Standortanforderungen
derjenigen
zu vereinbaren, die kommen sollen – ob
Einzelhandel, Gewerbetreibende oder Wohnungssuchende.
Es gilt, Stadt und Quartier
gemeinsam zu gestalten.
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
urbanLab
sich darüber hinaus in Themen wie urban
farming und urban gardening und
nimmt entsprechende Angebote als attraktiven
Standort war. (siehe Greenspired
Dencity, S. 110, Sandra Marin, Master
Architektur, TH-OWL)
RESÜMEE
Die Übersicht aller Arbeiten zeigt, dass
die vorgenannten Erkenntnisse nicht
unabhängig voneinander zu betrachten
sind, sondern sich gegenseitig bedingen.
So bedürfen unter anderem die entwickelten
Sharingkonzepte in den Ent-
Preisverleihung des Studierendenwettbewerbs auf dem 14. Bielefelder Kongress für Stadtentwicklung
Foto: BGW
Zukunftsvision 89
würfen einer gewissen Dichte und für
alternative Mobilitätsangebote bedarf es
konkreter Mobilitäts-Hubs. Die Entwürfe
zeigen außerdem, dass zukünftige Quartiersentwicklungen
eine hohe Nutzungsdichte
aufweisen, die bedingt durch
verschiedene Trends wie Digitalisierung,
Zero Emission und Sharing Economy in
dieser Intensität erst möglich werden.
Ergänzt mit heterogenen Wohnraumangeboten
und einer klaren Vernetzung
mit Kommune und Region bieten diese
Art von Quartieren das Potential wieder
stark frequentierte und lebendige öffentliche
Räume hervorzubringen. Die
Vorzüge der Natur und Landschaftsräume,
die alle Entwicklungsflächen unmittelbar
tangieren, bleiben dabei nur
erhalten, wenn ressourcenschonend mit
Grund und Boden umgegangen wird.
Hierfür sollten zukünftige Quartiersentwicklungen
auf Sharingprinzipien zurückgreifen,
die wiederum nur gelingen
können, wenn sich eine Gemeinschaft
innerhalb der Quartiere entwickelt. Die
Qualität und Notwendigkeit der Naturräume
bleibt dann gesichert, wenn klare
Grenzen für die Quartiersentwicklung
gezogen werden und die Übergänge
zwischen Quartier und Landschaftsraum
qualitätsvoll gestaltet sind.
Um die Chance für neue Quartiere mit
kurzen Wegen und zeitgenössischen Angeboten
zur Infrastruktur und Produktion
zu nutzen, müssen zukünftig stärker
noch die fehlenden Angebote und Bedarfe
des Umfeldes mit bestehenden
Akteuren identifiziert werden. Insbesondere
die Angebote hinsichtlich Mobilität,
Freiraumversorgung, Schule, Arbeit und
die Heterogenität der Wohnangebote
gilt es zu überprüfen und gegeben falls
in Abstimmung mit der lokalen Bevölkerung
zu ergänzen. Im Ergebnis bietet das
Stadt Land Quartier so das Potential Leitlinien
für eine Quartiersentwicklung unabhängig
vom Standort bereitzustellen,
die ein nachhaltiges, resilientes Wachstum
in der Region fördern kann.
Auslober
in Kooperation mit
Stadt Bielefeld Stadt Lemgo Stadt Minden OstWestfalenLippe
GmbH
Oliver Hall
Prof. Dipl.-Ing.
TH OWL, Sprecher urbanLab
Gesellschafter ASTOC Architects and
Planners, Köln
Mit der Gründung von ASTOC 1990 und der Professur
für „Stadtplanung und Städtebauliches Entwerfen“ an der
Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe seit 2003,
ist die Arbeitsweise von Oliver Hall geprägt durch das
Zusammenwirken von Berufspraxis, Forschung und Lehre.
Er ist zudem Sprecher des Forschungsschwerpunktes
„urbanLab“ und beschäftigt sich dort insbesondere mit der
Klein- und Mittelstadtforschung im ländlichen Raum.
Marcel Cardinali
M. Sc. Städtebau
urbanLab
koordiniert als Wissenschaftlicher Mitarbeiter die Forschungs-
und Projektarbeit im urbanLab der Technischen
Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Er beschäftigt sich mit den
Auswirkungen von gebautem Raum auf die menschliche
Umwelt, untersucht die Wechselwirkungen zwischen den
einzelnen Handlungsfeldern in der Stadtplanung und plädiert
für eine soziale Architektur, die ihre Verantwortung für
den menschlich geformten Lebensraum ernst nimmt.
90 Zukunftsvision
Architektur von morgen schon heute entdecken.
Warenkorb Abonnement Mein Konto
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PALIMPSEST
Zukunftsvision 91
Anna Noldus, Denise Krins
TH Köln - Master Städtebau NRW, Prof. Dipl.-Ing. Christian Moczala, Dipl.-Ing. Dana Kurz M.Sc.
1. Platz 2.000 € Preisgeld
NetzWERKeln
helfen, austauschen, verbinden
Minden
1
Landwirtschaft
Der Landwirtschaftscontainer klärt die Bewohner
des Quartiers über die Möglichkeiten einer
Selbstversorgung auf und ermöglicht, sich mit
Landwirtschaft und deren Produkten auseinanderzusetzen.
Schlussendlich sollen sich die Bewohner
einbringen und sich mit den „eigenen“
Produkten identifizieren.
Anmeldung für die
Feldparzellen
2
Spiel & Sport
Mit generationsübergreifenden Spielgeräten
wird nicht nur körperliche Fitness gefördert. Auch
die soziale, altersunabhängige Durchmischung
innerhalb eines Spielplatzes oder der Sporthalle,
wird vorangetrieben.
Der Container bildet die ideale Plattform zur
Förderung und Entwicklung dieses Gedankenansatzes.
Ideen für den Spie
Sportbereich
werden konkretisiert
3
Neubau
Der Infocontainer für die neue Babauung
vermittelt den Bürgern und Besuchern des
Quartiers das Konzept ``Wohnen für Hilfe``.
(Näheres unter Entwurf)
Ide
Wo
gen
Wo
Stud
Containerstandorte
Aufstellung der Container
und Bürgerfest
Bürgerhaus/
Quartierszentrum
Frühling 2019 Sommer 2019
4
Der Bürgercontainer befindet sich in der
vorhandenen Bebauung. Er zeigt den späteren
Standort des Bürgerhauses und ist
zugleich Informationsstandort.
Bürgerbeteiligung
mit
Workshops
Herbst 2019 Winter 2
Bottom Up Container als Initialzündung der räumlich und sozia
92 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
BEURTEILUNG
Das Projekt überzeugt insbesondere
mit seinem partizipativen Ansatz zur
Integration aktueller und zukünftiger
Bewohner und seiner konsequenten
Umsetzung eines der demografischen
Situation angepassten zukunftsfähigen
Zielgruppenkonzeptes. Von der Analyse
bis zur Umsetzung beschäftigt sich
der Vorschlag mit der älter werdenden
Gesellschaft und der Organisation des
Zusammenlebens verschiedener Generationen
im Quartier. Der Entwurf erfüllt
damit in anschaulicher Weise, wie
lebenswerte Stadtteile mit und für die
Bewohner entwickelt werden können.
Die behutsam geplante Weiterentwicklung
des Wohnungsbestandes passt
sich der stadträumlichen Situation an
und schafft einen schlüssigen Übergang
zwischen der bestehenden Wohnbebauung
und dem Grünflächenzug.
Sie schafft damit eine Ergänzung zum
Bestand, ohne diesen städtebaulich zu
dominieren. Die Qualitäten der Freiflächen
bleiben den jetzigen Bewohnern
zugänglich und werden durch die Neuqualifizierung
darüber hinaus attraktiver.
Insgesamt ist der Wettbewerbsbeitrag
ein schlüssiges, realisierbares
Projekt, in dem sich Antworten auf die
Anforderungen zukünftiger Quartiersentwicklung
finden.
Städtebauliche Einbindung M 1:2000
die Felder werden
bestellt
SoLawi
„jeder packt
mit an“
Erntedankfest
Jetzt ist der Zeitpunkt
Mitglied zu werden in
der SoLawi
Aktionen ganzjährig:
Jahreszeitenfeste/ Hoffeste
SoLawi-Picknick
Baumpflanzaktionen
Erntedank-Fest
Wildkräuterwanderungen
Gemüsekiste
l- und
Aktionen ganzjährig:
Spiel ohne Ranzen,
Inlinerkurs,
Fahrrad-Führerschein,
Naturlehrpfad
Fitness-Kurse
Baubeginn
Spielplatz
Baubeginn Sportbereich
Fertigstellung
Parkanlage
enfindung:
hnung für Hilfe, Mehrerationen-Wohnen;
hnungsbau mit
enten;
Aktionen ganzjährig:
Repair-Cafe,
Hausaufgabenhilfe,
Fahrrad reparieren,
Bingoabend,
Schachtunier
Baubeginn
Wohnungsbau
Bürgerbeteiligung
Baubeginn
Bürgerhaus
Aktionen ganzjährig:
Spielenachmittag,
Treffen,
Bürgerinitiative
Fertigstellung
Bürgerhaus
019 Frühling 2020 Sommer 2020 Herbst 2020 Sommer 2021
len Entwicklung
Konzept
Konzeptgrafik
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 93
und südlich aus drei bis viergeschossiger Zeilenbebauung besteht.
Innerhalb des Quartiers selbst existieren keine Einrichtungen zur
Nahversorgung, direkt angrenzend ist ausreichend Angebot von
Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs vorhanden.
1 Geschossig
2 Geschossig
3-4 Geschossig
6-8 Geschossig
SP 181269
Hochschule mit
Wohnungsbedarf
Analyse der Baustruktur M 1:5000
Aktivitäszentrum
Altenheime
Berufsschulen
+ beruf. Weiterbildung
Fachhochschule
soziale und bildende
Einrichtungen M 1:5000
Innerhalb des Neubau-Komplexes entstehen unterschiedliche
Bereiche. Beispielsweise Wohnfläche für
Studenten/ Auszubildende und Senioren, die innerhalb
eines Gebäudes liegen und gegenseitige Förderung
anregt. Auch Mehrgenerationenhäuser und
eine quartierseigene Werkstatt tragen zum Gemeinschaftsgedanken
bei.
Altersgruppen
2012 2030
65 +
20 - 65
0 - 20
Bevölkerungsprognose Kreis Minden-Lübbecke bis 2030
Parkfläche wird teilweise in Tiefgaragen untergebracht.
Gewonnene, unversiegelte Flächen dienen
als Spielplatz, Erholungs- und Gartenfläche. Mit Coworking
werden temporär notwendige Arbeitsplätze
geschaffen und den Quartiersbewohnern zur Verfügung
gestellt.
1 Erkennen und sichern bestehender
nutzbarer Grünräume
Nutzungsverteilung
Analyse Grünstruktur
2 Verbindung und Erweiterung der Grünräume
durch Entwicklung von Potenzialflächen
3 Ergänzung städtebauliches Gewebe 4 Grünstruktur Verbinden
Freiraumverteilung
Analysen
Analyse
Spielplatz
Rasenhügel
U3-Bereich
Goethe Park
Rasenhügel
Blumenwiese
Baumgruppe
Radweg
Rasenhügel
Container
Spiel und Sport
2
Sanierung der
vorhandenen Spielfläche
Obstbaumwiese
Park Erweiterung
Spielplatz
Feldparzellen
Kletterfelsen
Solidarische Landwirtschaft
1
Multifunktionssportfläche
Rasenhügel
Container
Landwirtschaft
Bienenweide
Gemeinschaftshof
Kita
Hoflanden
mit Erntelager
3
Einfahrt Tiefgarage
Rasenhügel
Einfahrt Tiefgarage
Gemeinschaftshof
Mennoniten Kirche
Neues Zentrum
Container
Quartier/ Bürgerhaus
Bürgerhaus
4
Lageplan M 1:1000
Kletterfelsen
Balancierbalken
Wildblumenwiese
Parkanlage
1
Landwirtschaft/ Parkerweiterung
Um eine bessere Identifikation mit Grünflächen, der Landwirtschaft und deren
Produkten zu erreichen, entsteht eine entsprechende Fläche innerhalb des
Quartiers. Hier entstehen Möglichkeiten, sich mit der Landwirtschaft auseinanderzusetzen.
Diverse Aktionen, wie der Bau von Insektenhotels, die Übernahme
von Baumpatenschaften oder der kleinteiliger Anbau von Obst und Gemüse
stärken das ökologische Verständnis. Ökologische Fragestellungen können
„hautnah“ erlebt und sogar gelebt werden. Ähnlich des Siedlungsgedankens
aus den 1950er Jahren ensteht durch die Selbstversorgung ein starker Zusammenhalt
der Bewohner untereinander.
Die Parkfläche wird behutsam mit heimischen Gehölzen, Wildblumenwiesen als
Lebensraum für Bienen und mit einer durchgängigen Fahrradtrasse so erweitert,
dass nicht nur eine Vernetzung innerhalb des Quartiers stattfinden kann,
sondern auch eine bestehende Fahrradtrasse im Osten des Plangebiets angeschlossen
wird.
Solidarische Landwirtschaft
Streuobstwiese
2
Spiel und Sport
Körperliche Gesundheit und Fitness sind entscheidende Faktoren für das
Wohlbefinden vieler Menschen. Daher sollen die Bewohner des Quartiers bei
einer großen Auswahl an Spiel- und Sportgeräten mitentscheiden dürfen,
wie ihr zukünftiges Erholungsgebiet gestaltet wird.
3
Neubau
Durch Gemeinschaftsprojekte und Bürgerbeteiligungen sollen Ideen herausgearbeitet
und zukünftige Nutzungen der Flächen neu definiert werden.
Durch den stetigen Wegzug von jüngeren Menschen aus den ländlichen
Regionen lösen sich meist alte Familienstrukturen auf. Wo früher noch ältere
Mitmenschen durch Verwandte gepflegt wurden, ist heute das Leben in
Einfamilienhäusern mit maximal zwei Generationen vorzufinden. Andererseits
können Auszubildende und Studierende sich kaum noch bezahlbaren
Wohnraum leisten.
Abhilfe schaffen neue Wohnkonzepte, bei denen junge Erwachsene zu Personen
ziehen, die mit einem „leeren Nest“ ungenutzen Wohnraum vorhalten.
Mit dem Konzept „Wohnen für Hilfe“, das bereits in einigen deutschen
Städten Anklang fand, profitieren beide Seiten und kann auch in Minden
die Wohnraumsituation verbessern.
Dabei begenen sich junge und hilfebedürftige Menschen, bilden ein soziales
Gefüge und stärken somit auch die Quartiersgemeinschaft.
4
Quartieszentrum/ Bürgerhaus
Dieser Container findet später im Quartier sein steinernes Äquivalent. An zentraler
Stelle wird ein multifunktionaler Gemeinschaftsraum errichtet. Bis der Begegnungsort
erstellt wird, übernimmt der Container diese zentrale Funktionen in dem
sich entwickelnden Quartier.
Entwurf
94 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Entwurf M 1:1000 (i.O.)
Parkperspektive
Parkerweiterung
Spielplatz
Container
Spiel und Sport
Multifunktionssportfläche
darische Landwirtschaft
extensive
Dachbegrünung
Gemeinschaftshof
Radweg
Hoflanden
mit Erntelager
Werkstatt
extensive
Dachbegrünung
Gemeinschaftshof
Rasen
Tiefgaragen-
Einfahrt
Wasserbecken
Spielfläche
Eingang
mit Fahrradständer
Tiefgaragen-
Einfahrt
Südterrassen
Wettbewerbsergebnisse
Vertiefungsbereich
- Zukunftsvision
M 1:500 (i.O.)
95
Tristan Jack Rath, Vanessa Nicola Luz, Johannes Nils Patrick Deneser
TH Köln - Master Städtebau NRW, Prof. Dipl.-Ing. Christian Moczala, Dipl.-Ing. Dana Kurz M.Sc.
2. Platz 1.400 € Preisgeld
Catterick Barracks.
Bestand neu interpretiert
Bielefeld
Sitzinsel
Bühne
In
Grundriss Musterwohnung
Perspektive
BEURTEILUNG
Die Verfasser formulieren eine sensible
Strategie, die den Besonderheiten eines
jahrzehntelang abgeschlossenen Kasernenareals
Rechnung trägt und mit der
glaubhaft, schrittweise ein städtebaulich
gemischtes und lebendiges Quartier
entstehen kann. Das Preisgericht begrüßt
den Umgang mit den Bestandsgebäuden
und den naturräumlichen
Rahmenbedingungen. Darüber hinaus
überzeugt die konzeptionelle Einbindung
und das vielfältige Raumangebot
für die künftigen Bewohner – ob Studierende,
Familien, Kreative oder Unternehmer.
Der städtebauliche Entwurf
der Verfasser wird vom Preisgericht
zwar als ausbaufähig bewertet, insgesamt
wertet das Preisgericht die Arbeit
aber weniger als Endergebnis, sondern
vielmehr als einen Standpunkt für einen
Prozess der Aneignung eines städtischen
Potentialraumes. Der Wettbewerbsbeitrag
zeigt anschaulich, welches
Potential in dem Areal steckt, insbesondere
für die junge und agile Szene der
Wissenschaftsstadt Bielefeld.
Basketball
96 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
fo Point
Café
Saal
Ausstellung
Maker Space
Fahrrad
Werkstatt
Mobile Küche
Trödelmarkt
Garten Container
Urban Gardening
Tischtennis
Skaten
Fussball
Vertiefungsbereich M 1:500 (i.O.)
ZIELE:
RÜCKGEWINNUNG DES RAUMES
CHARAKTER ERHALTEN UND STÄRKEN
GRÜNRAUM VERNETZEN
WEITERE VERSIEGELUNG VERHINDERN
PHASE 1:
AKZEPTANZ SCHAFFEN
PROZESSHAFTE INTERVENTIONEN
IM ÖFFENTLICHEN RAUM UM INTERESSE
AUF- UND HEMMUNGEN ABZUBAUEN
PHASE 2:
BAULICHE AUFWERTUNG
ABGÄNIGE GEBÄUDE ZURÜCKBAUEN
ERHALTENSWERTEN BESTAND UMNUTZEN UND
SENSIBEL ERGÄNZEN
a. ZÄUNE AUFBRECHEN
GEBIET FÜR DIE ALLGEMEINHEIT ÖFFENEN
a. BESTAND (UM-)NUTZEN
WEGESTRUKTUR, BAUFELDER UND BAUMBESTAND
ERHALTEN UND SENSIBEL ERGÄNZEN
b. PIONIERQUARTIER
AUFTAKTRAUM IM BESTAND BESTIMMEN
b. STADT- UND FREIRÄUME BILDEN
NUR BEREITS VERSIEGELTE FLÄCHEN BEBAUUEN
UND GRÜNBAND VERNETZEN
c. RÄUME BELEBEN!
INTERVENTIONEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM
c. RÄUME SCHAFFEN
BESTAND KLASSIFIZIEREN UND DIFFERENZIERT
SOZIALVERTRÄGLICH ERGÄNZEN
Konzeptgrafik
Mitmachhof
Genossenschaft
Villa-Urbaine
Baugruppen
Veranstaltungshallen
Handwerkshöfe
Genossenschaft
Stadthäuser
gef. Wohnungsbau
Historienhaus
Sportcampus
Bildungsband
Hofhäuser
Genossenschaft
KiTa
Q1
MIXED-USE
Vertikaler Kiez
freifinanziert
Wohnen am Park
Baugruppe
Mobility HUB
Ideenräume
Pionierquartier
"Hofladen"
Markthalle
Mehrgenerationen
Wohnen
Stadtlabor
Ideenschmiede
Coworking Space
WORK&LIFE
Genossenschaft
Kulturzentrum
Nutzungskonzept
98 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
19 13 20
Entwurf M 1:1000 (i.O.)
1 GESCHOSSIG
2 GESCHOSSIG
3 GESCHOSSIG
4 GESCHOSSIG
5 GESCHOSSIG
>5 GESCHOSSIG
60 %
WOHNEN
30 %
10 %
KULTUR
ARBEITEN SPORT
FREIZEIT BILDUNG
SOZIALES
VERSORGUNG
Kenndaten
K
FREI UND GRÜNFLÄCHEN
93.000 qm
ÜBERBAUTE FLÄCHE
63.000 qm
BGF GESAMT
230.000 qm
NUTZUNGSMISCHUNG
WOHNEN 138.000 qm
ARBEITEN... 69.000qm
KULTUR... 23.000 qm
Info Point
rtiefungsbereich
ischenstand
Dekompositionen
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 99
Emine Baykus, Alexandra Garbar, Annalena Grobbel
TH Köln - Master Städtebau NRW, Prof. Dipl.-Ing. Christian Moczala, Dipl.-Ing. Dana Kurz M.Sc.
3. Platz 800 € Preisgeld
Genossenschaft 2.0
participation, connectivity & mixture
Minden
BEURTEILUNG
Die Arbeit Genossenschaft 2.0 überzeugt
insbesondere durch ihre behutsame
Berücksichtigung und Analyse
der Ausgangssituation. Der Fokus des
Konzeptes richtet sich auf die Entwicklung
des Wohnungsbestandes und dem
Wohnungsneubau an einigen wenigen
Stellen des Quartiers. Diese umfassende
Bestands- und Bedarfsanalyse
ist die Grundlage für ein Konzept, das
aus Sicht der Jury für den Standort besonders
tragfähig und zukunftsweisend
ist. Das Konzept greift die bestehenden
Strukturen und Akteursnetzwerke auf,
entwickelt diese fort und begreift das
genossenschaftliche Modell als einen
nachhaltigen Ansatz in der Quartiersentwicklung.
Das gelungene mehrstufige
Entwicklungskonzept sieht zunächst
informelle Beteiligungsverfahren und
einen im Prozess fortschreitenden
Grad der Formalisierung vor. Dabei
bleiben sowohl Konzept als auch bauliche
Module so flexibel, dass auf veränderte
Rahmenbedingungen jederzeit
Rücksicht genommen werden kann.
Insgesamt wird die Arbeit als beispielhaftes
Konzept zur Weiterentwicklung
des genossenschaftlichen Gedankens
gewürdigt. Allerdings werden sowohl
städtebauliche als auch freiraumplanerische
Entwicklungsmöglichkeiten im
restlichen Plangebiet nicht genutzt.
100 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Analysen
Perspektive
Entwurf M 1:1000 (i.O.)
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 101
Entwicklungsstufen
Städtebauliche Einbindung
102 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Umsetzungsstrategie
Perspektive
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 103
GSEducationalVersion
GSEducationalVersion
Mittellandkanal
Grünverbindung
Goethepark
Adrian Buck, Denice Müller
HTWG Konstanz, Bachelor Städtebau, Prof. Leonhard Schenk
Ankauf 300 € Preisgeld
Spiel- und Sportpark
Angrenzender Sportplatz
Auftaktpark mit Spielplatz
privates Grün
Stadt Land Quartier
Minden
Grünbezüge
Freiflächen
Städtebauliche Einbindung
BEURTEILUNG
Baugemeinschaft
Baugemeinschaft
Baugemeinschaft
Mischung: freifinanzierter, Mischung: freifinanzierter,
Das stabile städtebauliche Gerüst der
sozialer Wohnungsbau,
Frühzeitige Mischung: freifinanzierter,
Anregung von
sozialer Wohnungsbau,
Baugemeinschaften
Information sozialer Wohnungsbau, Frühzeitige Frühzeitige
Bürgerbeteiligung
Information
konzept
über Vorhaben
Baugemeinschaften
Information
Baugemeinschaften
Arbeit Baugenossenschaft überzeugt durch
Baugenossenschaft
die gelungene
über Vorhaben
Baugenossenschaft
freifinanzierter Wohnungsbau
freifinanzierter Wohnungsbau
Verbindung des Grünzuges vom Mittellandkanal
zum Botanischen Garten, die
Vorhabenseite
im Internet,
allen Seiten
Initiierung von
Vorhaben-
freifinanzierter Wohnungsbau
Stadtblatt, Presse
möglich
Beschluss zur
Vorhabenseite
im Internet,
Durchführung:
Gemeinderat
durch ihren modular ausgearbeiteten
Stadtblatt, Presse
Funktionsmix hohes Aneignungspotential
durch die anliegende Bewohnerschaft
ggf. Koordinations-
Beiräte,
Verwaltung
Bürgerschaft,
Gemeinderat
beirat
Baugemeinschaften
generiert. Die Freihaltung von motorisiertem
Verkehr in Nord-Süd-Richtung
Verwaltung
Gemeinderat
wird ausdrücklich begrüßt. Die durchaus
Beteiligungs-
über Vorhaben
Kooperative
seite im Internet,
Planung Parkgestaltung,
Stadtblatt, Presse
Wohnformen
Beschluss:
Gemeinderat
Verwaltung
Gemeinderat Beiräte,
Bürgerschaft,
ggf. Koordinationsbeirat
Ergebnisübermittlung
Bestandserweiterung Ergebnis-
Ergebnisübermittlung
Anregung von
Beteiligungs-
Erarbeitung einer übermittlung Entscheidung
offensive
Erarbeitung einer
Entscheidung
erzielt
von
Beteiligungskonzept
Empfehlung
Erarbeitung einer
Empfehlung
in der Sache
Bürgerbeteiligunkonzept
Empfehlung
in der Sache
beteiligung qualitative Aufwertung des eine Gesamt-
beirat
Beiräte,
Bürgerschaft,
ggf. Koordinationsbeirat
Beiräte,
Bürgerschaft,
ggf. Koordinationsbeirat
Strukturkonzept 1:2000
areals, ohne sich gegenüber der bereits
Initiierung Umsetzung von durch Kooperative
Beteiligungsergebnis
fließt
Umsetzung durch
Beteiligungsergebnis
fließt
allen Seiten
Planung Parkgestaltung,
ggf. Steuerung
verlässlich den
Verwaltung
Verwaltung
möglich
ggf. Steuerung
verlässlich in den
bestehenden Beschluss zur
Wohnformen Bebauung durch als zu Abwägungs- dominant
und
durch
Abwägungs- und
Initiierung Durchführung: von Beschluss: Kooperative Koordinationsbeiraprozess
ein,
Umsetzung Entscheidungs-
durch
Gemeinderat Koordinationsbeirat
Seiten
Planung prozess Park-
ein,
Verwaltung
bindet den
Gemeinderat Entscheidungs-
allen
oder
möglich
gar separierend
gestaltung, bindet den zu präsentieren.
Gemeinderat
ggf. Steuerung
Gemeinderat
aber nicht
Beschluss zur
Wohnformen
aber nicht
durch
Insgesamt Durchführung:
Beiräte,
Beiräte, zeigt Beschluss: der Beiräte, Entwurf Koordinationsbeirat
eine Gemeinderat solide
Bürgerschaft,
Bürgerschaft,
Bürgerschaft,
Gemeinderat
ggf. Koordinationsbeirat
Bürgerschaft, beirat
beirat
Beiräte, ggf. Koordinations-
Gemeinderat ggf. Gemeinderat Koordinations-
städtebauliche ggf. Koordinations-
Antwort für den Stand-
Bürgerbeiteiligung
ort, die aber mehr konzeptionelle Tiefe
in Bezug auf die speziellen Fragen der
Auslobung liefern könnte.
Beiräte,
Bürgerschaft,
ggf. Koordinationsbeirat
Entscheidung
in der Sache
Beteiligungsergebnis
fließt
verlässlich in de
Abwägungs- un
Entscheidungs
prozess ein,
bindet den
Gemeinderat
aber nicht
Gemeindera
104 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Perspektive
Pespektivische Ans
Birkenweg
Goethepark
Baugemeinschaft
TG TG
Café
III
IV IV
III
freifinanzierter
Wohnungsbau
freifinanzierter
Wohnungsbau
freifinanzierter
Wohnungsbau
IV
Tischtennis
Freifläche
II
Volleyball
IV
IV
Badminton
Bouldern
Boule
TG
freifinanzierter
& sozialer
Wohnungsbau
II
III
IV
II
Ausschnitt Lageplan 1:
Lageplan 1:1000
III
IV
freifinanzierter
& sozialer
Wohnungsbau
freifinanzierter
& sozialer
Wohnungsbau
Schnitt 1:
nitt 1 Bauabschnitt 2 Bauabschnitt 3
IV
freifinanzierter
& sozialer
Wohnungsbau
II
IV
TG
IV
TG
Brottobauland
Nettobauland Wohnungsbau
Brottobauland
Nettobauland Gemischte Bauflächen
Nettobauland Wohnungsbau
Nettobauland Reines Gewerbe
Nettobauland Gemischte Bauflächen
Vertiefungsbereich Nettobauland M für 1:500 Gemeinbedarf (i.O.)
Wettbewerbsergebnisse Nettobauland Reines - Zukunftsvision Gewerbe 105
Verkehrsflächen
Nettobauland für Gemeinbedarf
Öffentliche Freiflächen
Verkehrsflächen
Gesamt BGF
Öffentliche Freiflächen
BGF Wohnen
IV
1
5
136.872 m
3
58.095 m
0
3.631 m²
0
0 m²
4
0 m²
7
4.390 m²
7
70.756 m7
Waldgebiet
Park
Hauptstraße
Hauptstraße
Nebenstraße
Nebenstraße
Hauptstraße Hauptstraße Hauptstraße
Nebenstraße Nebenstraße Nebenstraße
Anliegerstraße
Anliegerstraße
Spielstraße
Spielstraße
Anliegerstraße Anliegerstraße Anliegerstraße
Stadtbahn Stadtbahn Stadtbahn
Linie Linie Linie
3 Richtung 3 Richtung 3 Richtung
Innenstadt Innenstadt Innenstadt
H H
H
Bushaltestelle
Bushaltestelle Bushaltestelle
Rad- Rad- Radund
und und
Fußweg Fußweg Fußweg
Zug Zug Zug
H
H H
Stadtbahn Stadtbahn Stadtbahn
Haltestelle Haltestelle Haltestelle
Friedhof
Sportplatz
Stadtbahn Linie 3 Richtung Innenstadt
Stadtbahn Linie Linie 3 3 Richtung Innenstadt
Landwirtschaft
Wiese
H H
H H
H H
H H
H H
H H
H Bushaltestelle
Bushaltestelle
H Stadtbahn Haltestelle
Stadtbahn Haltestelle
H
H
H
H
Gewässer
Zug
Zug
Parkhaus
Wohnbebauung
Wohnbebauung
Gastronomie
Gastronomie
Mischnutzung
Mischnutzung
Soziale Einrichtungen
Soziale Einrichtungen
Dienstleistung
Dienstleistung
Gewerbe
Gewerbe
Nahversorger
Nahversorger
C A T T E R I C K C I T Y
E N T S T E H U N G Ecem E Bezdüz, I N E S Laura Z Kreische, U K U Arthur N F T Spruck S W E I S E N D E N Q U A R T I E R S
TH Ostwestfalen-Lippe, Bachelor Stadtplanung, Prof.'in-Vertr. Dipl.-Ing. Isabel Finkenberger,
D U R C H T E I L H A B E U N D M O D E R N E T E C H N O L O G I E N
Bernd Zimmermann
Innenstadt
Innenstadt
Herford
Bielefeld
Ankauf 300 € Preisgeld
Lemgo
Catterick City
Bielefeld
A2
Hannover
BEURTEILUNG
Erschließungstruktur M 1:10.000
Hauptstraße Anliegerstraße Fußwege Bushaltestelle Zug
Nebenstraße Spielstraße Stadtbahn 3 StadtB. Halt.
Die Verfasser schlagen ein sozial heterogenes
und energieautarkes Quartier vor,
dass die Dachlandschaft als Verfügungsmasse
miteinbezieht. Das Preisgericht
würdigt diesen konzeptionellen Ansatz
und die gekonnte Einbeziehung des Bestands.
In der Durcharbeitung werden jedoch
städtebauliche Mängel deutlich, die
eine mögliche Klimaneutralität zugunsten
von einer erwartbar hohen Zahl an
motorisiertem Verkehr aufgibt. So geht
die städtebauliche Qualität durch einen
Parkplatz direkt auf dem Kreativcampus
Schwarz- und Parzellenplan M 1:10.000
verloren. Das südliche Quartier mit den
Punkthäusern am Fuß des Teutoburger
Wald erscheint gewagt, ist aber als solitäre
Bebauung direkt am Park gelegen
nachvollziehbar. Die den Punkthäusern
gegenüberliegende Riegelbebauung
wird kritisch bewertet, da diese dem
Solitärgedanken städtebaulich zuwider
läuft. Insgesamt betrachtet, bewertet
das Preisgericht die Arbeit als interessantes
Zukunftskonzept, das an einigen
Stellen noch städtebauliche Potentiale
außer Acht lässt.
Grünraumstruktur M 1:10.000
Wald Friedhof
Landwirtschaft Gewässer Wohnen
Mischnutzung Dienstleistung Nahversorger
Park Sportplatz
Wiese Nutzungsstruktur M 1:10.000
Gastronomie
Soz. Einrichtung Gewerbe
106 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Perspektive
Umsetzungsstrategie
KONZEPT
Kaltluftschneise
Anbau von Windkrafträdern
Nordsüd- &Ostwestverbindung
Kulturelle Atmosphäre durch erhaltene
Kasernengebäude
Raum & Unterkunft
für Studenten
Erhalt der Bestandsbäume &Parkverortung
durch den Bestand
Verdichtung von bestehenden
Höfen zu geschlossenen Blöcken
Teutoburger Wald
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 107
Konzept & Städtebauliche Einbindung
HISTORISCHE ENTWICKLUNG EINBEZIEHUNG
Marvin Düsterhus
TH Ostwestfalen-Lippe, Master of Integrated Architectural Design, Prof. Oliver Hall, Prof. Dipl.-Ing. Tillmann Wagner
Ankauf 300 € Preisgeld
Höhen und Geraden
Bielefeld
Entwurf M 1:1000 (i.O.)
Dekomposition & Blockentwicklung
108 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
BEURTEILUNG
Mit einer grafisch konzeptionellen Auseinandersetzung
entwerfen die Verfasser
eine städtebauliche Struktur, die sich an
den Höhenlinien des nahen Teutoburger
Wald-Höhenzugs anlehnt. Der Topografie
folgend werden die Gebäude in einer
aufgelockerten Blockstruktur parallel
zur Detmolder Straße angeordnet. Eine
städtische Blockstruktur wird mit Freiraumachsen
überlagert, sodass eine
hybridartige Fingerstruktur aus diesen
beiden Komponenten entsteht, die auch
zwischen den Blöcken Aufweitungen zulassen
und die im zentralen Bereich des
gesamten Areals zum Quartiersanger
ausformuliert wird. Insgesamt wird durch
den Entwurf eine Symbiose von Stadt und
Land erzeugt, die in der flexiblen Gebäudestruktur
eine Koexistenz von Wohnen,
Arbeiten und Freizeit ebenso ermöglichen
kann, wie die Umsetzung unterschiedlicher
Wohnformen. In der Durcharbeitung
offenbaren sich allerdings einige
städtebaulich-architektonische Mängel
durch die fehlende Differenzierung der
baulichen Strukturen und der gewählten
engen Blockstruktur. Eine differenzierte
Nutzungsverteilung zwischen Wohnen,
Gewerbe und Sondernutzungen ist in der
Gebäudestruktur kaum erkennbar. Das
Preisgericht bemängelt teilweise schwierige
Lichtverhältnisse in den Höfen, wenig
Privatheit und problematische, nicht
mehr zeitgemäße Grundrisse in den Blöcken.
Eine differenzierte Gestaltung von
Grün- und Freiflächen wird ebenfalls vermisst.
Insgesamt würdigt das Preisgericht
die gekonnte Verschränkung zwischen
Stadt und Land sowie die Transformation
der Bestandsbauten als innovativen Ansatz,
weist jedoch auf die Schwächen in
der Durcharbeitung hin.
Herleitung
Perspektive
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 109
Sandra Marin
TH Ostwestfalen-Lippe, Master of Integrated Architectural Design, Prof. Oliver Hall
Sonderpreis 250 € Preisgeld
Greenspired Dencity
Bielefeld
Perspektive
BEURTEILUNG
Der Entwurf setzt sich insbesondere mit
der nachhaltigen Quartiersentwicklung
auseinander und zeigt, wie sich innovative
Ansätze wie selbstversorgende
Technologien und lokale Produktionstechnologien
in die Stadtplanung integrieren
lassen. Die Verfasser nutzen
dabei gängige Konzepte wie Urban Gardening,
Hydro- und Aquaponik sowie
Energiegewinnung durch Solarkraft. Mit
dem Sonderpreis würdigt das Preisgericht
die Auseinandersetzung mit nachhaltiger
Quartiersentwicklung und den
Umgang mit alternativen Energien. Die
Thematik wurde zwar informativ und
prozessual im Entwurf dargestellt, aber
nur ansatzweise in die städtebauliche
Struktur überführt. Dementsprechend
würdigt das Preisgericht insbesondere
den konzeptionellen Ansatz.
110 Zukunftsvision - Wettbewerbsergebnisse
Mathias Karuzys
TH Ostwestfalen-Lippe, Master of Integrated Architectural Design, Prof. ir. Michel Melenhorst
Sonderpreis 250 € Preisgeld
Stadt Land Quartier
Bielefeld
Perspektive
BEURTEILUNG
Der Verfasser überrascht mit einem
visionären Entwurf, der einer philosophischen
Betrachtung entspringt. Die
Herleitung der gedachten Lösung ist interessant
und schlüssig. Leider führt das
gewählte Konzept nicht zu einer realistischen
Gebäude- und Lebensform, die
das Stadt-Wohnen mit dem Naturerlebnis
verbindet. Leben unter der Erde, um
dem Stadtlärm zu entfliehen, entspricht
nicht den natürlichen Lebensbedürfnissen
in unseren Breitengraden. Außerdem
würde die notwendige künstliche
Beleuchtung und Belüftung erhebliche
ökologische Nachteile bedeuten. Insgesamt
würdigt das Preisgericht aber den
mutigen und innovativen Ansatz und
vergibt einen Sonderpreis.
Wettbewerbsergebnisse - Zukunftsvision 111
IN EIGENER
SACHE
Bericht über Forschungs-
aktivitäten des urbanLabs
Prof. Oliver Hall, Marcel Cardinali
Kreativ Quartier Detmold
Potentialstudie
Die Region Ostwestfalen-Lippe hat großes Potential, die Profilierung
im Bereich der Kreativwirtschaft nachhaltig auszubauen, zu festigen
und dies durch Kreativquartiere sichtbar zu gestalten. Insbesondere
Detmold bietet mit seinen Einrichtungen, wie z.B. der Hochschule für
Musik Detmold, den gestaltenden Fachbereichen der TH OWL und
überdurchschnittlich vielen Unternehmen aus der Kultur- und Kreativwirtschaft,
sowie bereits bestehenden Kooperationen in der Region
sehr gute Vorrausetzungen perspektivisch ein zentraler Knoten
im kreativwirtschaftlichen Netzwerk Ostwestfalen-Lippes zu sein. Die
beauftragte Studie hatte zur Aufgabe die Erfolgschancen, Potentiale,
Herausforderungen und Anforderungen an eine solche Entwicklung an
verschiedenen Standorten in Detmold zu untersuchen.
114 In eigener Sache
STAKEHOLDERANALYSE
Die Studie untersuchte diese (Weiter-)
Entwicklungspotentiale der Kultur-
und Kreativwirtschaft in Detmold
und ihrer Vernetzung in Ostwestfalen-Lippe
(nachfolgend OWL) insbesondere
in städtebaulicher, aber auch in gesamtstrategischer
Hinsicht. Sie geht der
Frage nach, wie durch bereits beschlossene
oder noch zu planende öffentlich
geförderte städtebauliche Impulse ein
sichtbares kreatives Netzwerk entstehen
kann, das die Wertschöpfungsketten
zwischen Bildung, Forschung, Wirtschaft
und Gesellschaft stimuliert und
festigt. Um sich diesem hochkomplexen
Thema systematisch zu nähern, kamen
verschiedene Methoden zum Einsatz.
Die Stakeholderanalyse hatte zum
Ziel Informationen zu Bedürfnissen,
Anforderungen und Herausforderungen
der Kreativwirtschaft in Ostwestfalen-Lippe
zu generieren. Sie wertete
vorhandene statistische Erhebungen
auf Bundes-, Landes- und Regionaler
Ebene aus und ergänzte sie durch eine
eigene Umfrage, die gezielt Fragen zu
Raum- und Standortanforderungen
sowie zur Vernetzung zwischen Hochschulen,
Berufsschulen und Wirtschaft
stellte. Adressaten der Umfrage waren
neben der Kreativwirtschaft Ostwestfalen-Lippes,
auch Vereine und
Netzwerke sowie Studierende, Alumni
und Berufsschüler der kreativen Bildungsbereiche
in Detmold. Diese Ergebnisse
wurden im Anschluss durch
ausgewählte Kurzinterviews qualitativ
ergänzt und validiert. Im Ergebnis sind
so Entwicklungsanforderungen der
kreativen Milieus an ein Kreativquartier
erkennbar.
Absolvent*innen Student*innen Berufsschüler*innen
Gründungs-
potential
Ja
Ja, ...
Nein
Ja, ich würde gerne mein Fachwissen
am Markt anbieten.
Ja, ich würde gerne ein innovatives Produkt
entwickeln und am Markt anbieten.
Ja, ich habe keine Stelle gefunden und
brauchte eine Alternative.
Haben Sie schon mal daran gedacht sich
selbstständig zu machen? (Absolventin*innen)
n=60
Ja
Ja, ...
Nein
Ja, ich würde gerne mein Fachwissen
am Markt anbieten.
Ja, ich würde gerne ein innovatives Produkt
entwickeln und am Markt anbieten.
Ja, ich habe keine Stelle gefunden und
brauchte eine Alternative.
Haben Sie schon mal daran gedacht sich
selbstständig zu machen? (Student*innen)
n=97
Ja
Ja, ...
Nein
Ja, ich würde gerne mein Fachwissen
am Markt anbieten.
Ja, ich würde gerne ein innovatives Produkt
entwickeln und am Markt anbieten.
Ja, ich habe keine Stelle gefunden und
brauchte eine Alternative.
Haben Sie schon mal daran gedacht sich
selbstständig zu machen? (Berufsschüler*innen)
n=31
Unter anderem wurden
in der Studie
die Absolvent*innen,
Studierenden und
Berufsschüler*innen
gefragt, ob sie schon
mal daran gedacht
haben, sich selbständig
zu machen.
In eigener Sache 115
Stadtjubiläum
AKTEURE
Zukunftswerkstatt
Jungbusch
Künstlernetzwerk
Laboratorio17
2007
Modernisierungsberatung
1996 2003
Stabilisierung des Quartiers
Ausstellungen, ...
Aufwertung des Quartiers
FALLSTUDIEN
STEUERUNG
FÖRDERUNG
INVESTITIONEN
PROJEKT-
ENTWICKLUNG
ZEIT
Beschluss zur
Entwicklung
des Kanals
1998
Popakademie
Musikpark
Beteiligungsprozess
Rahmenplan
VK
Quartiersmanagement
Jungbusch
2000 2001 2002-2007
Gig7
URBAN II
2000-2006
Ziel 2-Förderung
EFRE 2002-2006
Städtebauförderung
Soziale Stadt 2002-2007
Erste Prozessphase
Impulswirkung
RWB EFRE
2007-2013
C-Hub
2002 2003 2004 2010 2011 2015
1996 2000 2010 2016
Das Instrument der Fallstudien gab Einblicke
in bestehende Kreativquartiere
in Deutschland und ihre Umsetzungsstrategien
sowie die Konzeption des
Betriebsablaufs. Für die Untersuchung
wurden Kreativquartiere ausgewählt,
die einerseits die Bandbreite möglicher
Entwicklungsstrategien und Dimensionen
zeigen und andererseits in möglichst
vielen Indikatoren vergleichbar
mit den aktuellen Bedingungen in der
Mittelstadt Detmold sind. Zusammengefasst
entsteht so ein Bild eines möglichen
Entwicklungsrahmens sowie der
Ablauf einzelner Schritte im Prozess
zum Kreativquartier.
Entwicklungsprozess
Clustermanagement
Popakademie
Aufstockung
Musikwirts.
In der Studie wurden die
Entwicklungsprozesse vergleichbarer
Kreativquartiere
skizziert. Am Beispiel des
Prozesses in Mannheim -
Jungbusch ist zu erkennen,
dass Rahmenplanungen
und Stadtentwicklungskonzepte
die Grundlage für
Förderanträge mit hochbaulichen
und städtebaulichen
Entwicklungsimpulsen
bilden.
Entwicklungsräume
Durch die Überlagerung der
einzelnen Analyseschritte
wird ein Teil der komplexen
Stadtstruktur sichtbar.
Dadurch konnten vier
Raumkategorien identifiziert
werden, die jeweils eigene
Herausforderungen und Potentiale
mit sich bringen.
STÄDTEBAULICH RÄUMLICHE
ANALYSE
Eine städtebaulich räumliche Analyse
des Untersuchungsraums identifizierte
schließlich Neubau-, Umbau-, Umnutzungs-
und Aneignungspotentiale zur
Etablierung eines Kreativquartiers in der
bestehenden Stadtstruktur Detmolds.
Hierfür wurden nach einschlägiger Literatur
verschiedene Raumkategorien
untersucht und insbesondere die Frequentierung
und Lebendigkeit des öffentlichen
Raums betrachtet. In der
Folge wurden Räume mit besonders vielversprechenden
Entwicklungsmöglichkeiten
und Impulswirkungen erkennbar.
Um abschließend zu validen Entwicklungsschritten
zu gelangen, die eine
größtmögliche nachhaltige Impulswirkung
auf dem Weg zum Kreativ Quartier
Detmold ermöglichen, wurden drei
städtebauliche Szenarien entwickelt
und anhand der vorher identifizierten
Bedürfnisse und Anforderungen sowie
den räumlichen Potentialen und den
vorliegenden Entwicklungsmöglichkeiten
bewertet.
116 In eigener Sache
EINBETTUNG IN DIE REGION
Zusätzlich wurde die Einbettung des
potentiellen Kreativquartiers in die
Region untersucht, der aufgrund der
besonderen polyzentrischen Struktur
der Region und der gedeckelten Leistbarkeit
von Mittelstädten wie Detmold
eine besondere Bedeutung zukommt.
Die Einordnung der verschiedenen Aktivitäten
in OWL erfolgt einerseits durch
eine geodatenbasierte Auswertung der
Adressdaten sowie einer vertiefenden
Untersuchung bestehender Netzwerke.
Am Ende werden so Anknüpfungspunkte,
Unterstützungsmöglichkeiten für die
Region, aber auch Alleinstellungsmerkmale
für Detmold sichtbar.
Potentialstudie
Kreativ Quartier
Detmold
Laufzeit
01.07.2018 - 28.02.2019
im Auftrag von
Regionale Einbindung
Die Region Ostwestfalen-
Lippe ist gut aufgestellt im
Bereich der KUK und hat das
Potential die polyzentrische
Struktur der Region zu nutzen,
um bestehende Netzwerke
und Institutionen zu
bündeln und auszubauen.
118 In eigener Sache
ERGEBNISSE DER POTENTIAL-
STUDIE
Im Ergebnis entstanden wissensbasierte
Handlungsempfehlungen für wichtige
Meilensteile und die nächsten Schritte im
Prozess zum Kreativ Quartier Detmold
sowie dessen Einbindung in die Kreativ
Region OWL. Die im April 2019 veröffentlichte
Studie konnte einen hohen Bedarf
für ein Kreativ Quartier Detmold an zahlreichen
Indikatoren belegen. Insbesondere
die Stakeholderanalyse weist auf
zahlreiche Standortfaktoren der Kulturund
Kreativwirtschaft (KuK) hin, die durch
den Standort an der Bielefelder Straße in
der Nähe der Hochschule erfüllt werden
können. Dabei zeigt sich, dass die städtebauliche
Entwicklung hier nicht nur ein
hochattraktiver Standort für die Kreativwirtschaft
sein kann, sondern dabei auch
wichtige strategische Zielsetzungen erfüllen
kann, wie die Vernetzung von Bildung,
Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft
in der Branche. Dazu birgt der Standort
das Potential die Strahlkraft von Detmold
und der Region im Bereich der KuK zu erhöhen
und somit dem Fachkräftemangel
entgegenzuwirken.
Zusammenfassend betrachtet erweist
sich Detmold nicht nur als hervorragender
Standort für die Entwicklung eines
Kreativquartiers, die Stadt kann durch
Bündelung der bereits vorhandenen
technischen Infrastruktur (Fab-Lab,
Lichtlabor, Baustofflabor, Schreinerei,
Medienlabore, Tonstudios, uvm.) und
dem Wissen an den Hochschulen als
Schwerpunkt in der Kreativlandschaft
Ostwestfalen-Lippes gesehen werden.
Damit hat das Kreativ Quartier Detmold
das Potential zu einem wichtigen
Schlüsselprojekt zur Stärkung der Kultur-
und Kreativwirtschaft in Detmold,
Lippe und der Region zu werden.
Kreativ Quartier
Detmold
Wiss. Leitung
Prof. Dipl.-Ing. Oliver Hall
Marcel Cardinali, MSc.
Bearbeitung
Julia Krick, MSc.
Norman Kalesse, BA.
Oliver Großpietsch, BA.
Nele Rodenberg
Manuela Kasper
Isabell Santüns
Sandra Vanessa Marin, BA.
Laura Marie Sportelli
Kontakt
Marcel Cardinali
05231 769-6329
marcel.cardinali@th-owl.de
Link zur Studie
www.th-owl.de/fb1/forschung/urbanlab/projekte/kreativ-quartier-detmold
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In eigener Sache 119
Julia Krick, Prof. Oliver Hall
Gedenkstätte
STALAG 326 (VI K)
Schloß Holte-Stukenbrock
Variantenuntersuchung
Im Auftrag der Stadt Schloß
Holte-Stukenbrock und des
Kreises Gütersloh untersuchte
das urbanLab im Zeitraum
von Februar bis April 2019
räumliche Potentiale einer
Gedenkstättenentwicklung von
nationaler und internationaler
Bedeutung auf dem Gelände
des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers
STALAG 326
(VI K) im Ortsteil Senne in
Schloß Holte-Stukenbrock.
Die Variantenuntersuchung
bildet eine fundierte Grundlage
für eine Machbarkeitsstudie zur
Entwicklung der Gedenkstätte
STALAG 326 im Ortsteil Senne in
Schloß Holte-Stukenbrock
Verfasser: Lucas Tiemann, Marvin Düsterhus,
Mario Bergen - MIAD S1, WiSe 2018/19, TH OWL.
120 In eigener Sache
Potentiale einer
Gedenklandschaft
in Schloß Holte-
Stukenbrock
und Hövelhof
Quelle: urbanLab
Bisher erinnert auf dem Gelände eine
Ausstellung auf 16 qm in der ehemaligen
Arrestbaracke an die damaligen
Leiden sowjetischer Kriegsgefangener,
die bislang in der deutschen Erinnerungskultur
eine eher untergeordnete
Rolle spielen. Seit Kriegsende wurde
das Gelände durch verschiedene Folgenutzungen
überformt und nur noch
einzelne Bauwerke und Elemente weisen
auf die Vergangenheit dieses historischen
Ortes hin. Heute wird das
gesamte Gelände vom Ausbildungszentrum
des Landes NRW (Landesamt für
Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten
der Polizei NRW Erich
Klausener, kurz LAFP) genutzt, wodurch
abermals die Strukturen der Liegenschaft
überformt wurden.
In der Studie des urbanLab wurden zunächst
die Rahmenbedingungen analysiert,
v.a. hinsichtlich Erschließung,
Umweltbelange, Ausgleichs- und Potentialflächen
sowie im Vergleich mit anderen
Fallbeispielen in Deutschland die
Alleinstellungsmerkmale der potentiellen
Gedenkstätte in Schloß Holte-Stukenbrock
herausgearbeitet. Mit der
Studie wurden Varianten untersucht,
die aufzeigen, wie eine räumlich-funktionale
Trennung der 56,2 ha großen Fläche
bei gleichzeitigem Flächenanspruch
der beiden Hauptakteure, Gedenkstätte
STALAG 326 und LAFP, entstehen kann.
Um diesem Anspruch nachhaltig gerecht
zu werden, stehen die Interessen
und Belange der Entwicklung einer
Gedenkstätte, die über den bisherigen
Ausstellungsbestand hinausgeht, einerseits
und die Weiterentwicklung der Polizeischule
mit neuen Nutzungen andererseits
im Fokus und sind maßgebend
für die Untersuchung der Varianten.
Nach intensivem Dialog und Austausch,
in dem vom Landtagspräsidenten André
Kuper initiierten Lenkungskreis, wurden
9,3 ha der Liegenschaft als Mögliche
Entwicklungsfläche identifiziert und entsprechende
Handlungsempfehlungen
und Lösungsvorschläge für Teilbereiche
dokumentiert.
Im Umkreis des ehemaligen STALAG 326
befinden sich darüber hinaus sichtbare
und unsichtbare Spuren der Lagergeschichte.
Es besteht ein großes Potential
im Zuge der Gedenkstättenentwicklung,
die historischen Relikte in Schloß
Holte-Stukenbrock, Hövelhof und Hövelhof-Staumühle
innerhalb einer regionalen
Kultur- und Gedenklandschaft
konzeptionell und gestalterisch miteinander
zu verbinden.
Ausgangspunkt ist die Gedenkstätte des
ehemaligen STALAG 326 in Schloß Holte-
Stukenbrock, die mit historischen Erinnerungsorten
in Nachbarkommunen
In eigener Sache 121
vernetzt werden soll, insbesondere mit
dem sowjetischen Ehrenfriedhof, dem
Bahnhof Hövelhof und dem ehemaligen
Lazarett in Staumühle. Die dazu anzulegenden
oder auszubauenden Wege
nutzen soweit möglich vorhandene touristische
Wanderrouten und geben diesen
damit eine neue Bedeutung als Teil
der Gedenklandschaft.
Es werden Ansätze verfolgt, diese Idee
als ein Projekt im Rahmen der Regionale
2022 weiter zu verfolgen. Die
gesamträumlichen Analysen haben
gezeigt, dass das naturräumliche und
touristische Potential aufgrund der
Nähe zu Naherholungsgebieten, wie
den Emsquellen, aber auch durch die
zahlreichen Rad- und Wanderwege
gegeben ist. Besonders zu erwähnen
ist in diesem Zusammenhang der Europa-Radweg
1, der von Calais durch
Ostwestfalen-Lippe unmittelbar am
Standort des STALAG 326 vorbeiführt
und sich nach Osten sogar bis nach
Russland, dem Herkunftsland vieler
damaliger Kriegsgefangener und auch
heutiger Besuchergruppen, erstreckt.
Darüber hinaus sollen neue Wege nach
historischem Vorbild angelegt werden,
wie der Russenpatt, der den Bahnhof
Hövelhof mit dem STALAG 326 verband
und heute nur in Teilen wahrnehmbar
ist. Der Wegaus- bzw. -neubau soll mit
einer konsequenten Bepflanzung durch
Hecken und Obstbäume einhergehen
und damit einen Beitrag zum Biotopverbund
leisten.
Mit der Variantenuntersuchung des
urbanLab liegt eine fundierte Grundlage
für eine Machbarkeitsstudie zur
Entwicklung der Gedenkstätte vor, die
in der Regie des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe demnächst ausgeschrieben
wird.
th-owl.de/fb1/forschung/urbanlab/
projekte/gedenkstaette-stalag-326-vi-k
veröffentlicht.
An den Handlungsempfehlungen der
Studie orientierte sich ein weiteres Entwurfsprojekt
im vergangenen Sommersemester,
das von Prof. Jasper Jochimsen
und Prof. Tillman Wagner betreut
wurde. Die Studierenden im Master Architektur
entwickelten auf der Grundlage
der Studie konkrete architektonische
und landschaftsarchitektonische Lösungsvorschläge
für eine Gedenkstätte.
Im Vordergrund stand dabei einen zeitgemäßen
Ort der Erinnerung zu entwerfen,
der die Geschichte des ehemaligen
Kriegsgefangenenlagers STALAG 326 (VI
K) Senne und seiner Nachfolgenutzungen
(Internierungslager und Sozialwerk)
für künftige Generationen erfahrbar
macht. Die Entwürfe der Studierenden
stellen eine große Bandbreite auf, wie
eine angemessene architektonische Intervention
aussehen kann. Unter den
Entwürfen finden sich dezentrale Konzepte
mit über die Ausstellungsfläche
verteilten folieartigen Pavillons, aufgeständerten
Stegen über lineare Räume
oder akzentuierende Gebäudekörper
als Eingangstor oder Aussichtsturm.
Alle Arbeiten vereinen die Haltung die
historischen Ereignisse räumlich zu interpretieren,
anstatt sie authentisch
wiederherzustellen.
Die viel beachteten Entwurfsergebnisse
wurden in einer Ausstellung im ehemaligen
Entlausungsgebäude auf dem Gelände
präsentiert. Die Ausstellung läuft
noch bis zum 15. September 2019. Zum
Besuch der Ausstellung ist eine Anmeldung
per Mail unter m.wibe@stalag326.
de erforderlich.
Die gesamte Variantenuntersuchung
ist auf unserer Webseite unter www.
122 In eigener Sache
Verfasser: Maren Bunte, Bachelor Thesis SoSe 2019
Betreuer : Prof. Tillmann Wagner, TH OWL
Verfasser: Sandra Marin, MIAD P2, SoSe 2019
Betreuer : Prof. Jasper Jochimsen, TH OWL
Funktionale und räumliche Trennung der Liegenschaft
Akzentuierende Baukörper als Besucherzentrum
Verfasser: Laura Stephan, Bachelor Thesis SoSe 2019
Betreuer : Prof. Tillmann Wagner, TH OWL
weitere Studierendenarbeiten auf der
Grundlage der Variantenuntersuchung
Gedenkstätte STALAG 326
Laufzeit
01.02.2019 - 31.03.2019
im Auftrag von
Wiss. Leitung
Prof. Dipl.-Ing. Oliver Hall
Prof. Dipl.-Ing. Kathrin Volk
Julia Krick, MSc.
Bearbeitung
Carsten Schade, Dipl.-Ing. Architekt
Eva Düll, BA.
Jonas Krikor, BA.
Kontakt
Prof. Dipl.-Ing.
Oliver Hall
05231 769-6401
oliver.hall@th-owl.de
Link zur Studie
Orte des Gedenkens
http://www.th-owl.de/fb1/
forschung/urbanlab/projekte/
gedenkstaette-stalag-326-vi-k
In eigener Sache 123
Carsten Schade
HUeBro
Haushebung in Ueberschwemmungsgebieten
am Beispiel des
Elbe-Dorfes Brockwitz
Foto: Prof. Dipl.-Ing. Kathrin Volk
Extreme Hochwasser treten infolge des Klimawandels
vermehrt auf (vgl. Jongman 2014). Dies
geschieht oft als Folge langer relativ niederschlagsarmer
Perioden mit darauffolgendem Unwetter und
starken beziehungsweise langandauernden Niederschlägen.
Hiervon ist auch das mehr als tausend
Jahre alte Angerdorf Brockwitz an der Elbe zwischen
Dresden und Meißen betroffen, wo über die letzten
Jahre drei Extremhochwasser zu verzeichnen waren.
In dem Forschungsprojekt Haushebung in Ueberschwemmungsgebieten
am Beispiel des Elbe-Dorfes
Brockwitz (HUeBro) wurde erforscht, inwiefern die Anhebung
von Häusern in Flutgebieten eine innovative
Alternative für klassische Hochwasserschutzmaßnahmen
(Deiche etc.) sein kann.
Ausgelöst durch den Impuls der Stadt
Coswig haben sich Projektpartner*innen
aus verschiedenen wissenschaftlichen
Fachrichtungen und Einrichtungen
gefunden, um das angedachte
Verfahren der Haushebung interdisziplinär
und exemplarisch für den Standort
Brockwitz zu untersuchen und mittels
multikriterieller Bewertungsverfahren
zu beurteilen (vgl. Schinke et al. 2019,
Carstensen et al. 2018). Dabei entwickelte
die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe
einen Gesamtkatalog
mit Leitfäden für die baukonstruktive
Durchführung (ConstructionLab) sowie
übertragbare Lösungen für die ortsund
freiraumplanerischen Herausforderungen
unter Beteiligung der Bewohner*innen
(urbanLab, nextPlace).
ORTS-UND FREIRAUMPLANUNG
Innerhalb des Forschungsprojekts verfolgte
das Arbeitspaket Orts- und Freiraumplanung
die Frage, welche Auswirkungen
das Anheben von Gebäuden und
Teilen eines Ortes auf die Gestaltung des
gebäudenahen und landschaftlichen Freiraums
in einem dörflichen Siedlungsraum
hat. Es wurde untersucht, wie das Gefüge
Straße-Haus-Garten-Landschaftsraum als
erlebbarer Wohn- und Lebensraum mit
seinen Raum- und Aufenthaltsqualitäten
bewahrt beziehungsweise erweitert werden
kann. Anhand einer eingehenden Betrachtung
des gebäudenahen Freiraums
124 In eigener Sache
Die Entwurfsvarianten griffen
Anregungen aus dem Partizipationsprozess
auf. Sie machten räumliche
Veränderungen begreifbar und
dienten als Anregung für Diskussionen.
Darstellung: Carsten Schade, urbanLab
und dessen räumlichen Verbindungen
zu benachbarten Grundstücken sowie
zu Landschaft und öffentlichem Straßenraum
wurden gestaltende Parameter im
Zuge der Haushebung erforscht.
In einem Partizipationsprozess wurden
Beteiligungsformate und -methoden auf
ihre Anwendbarkeit für Haushebung untersucht
und erforscht wie die Bürger*innen
in den Entwurfsprozess einbezogen
werden können. Aus der Projektbearbeitung
heraus entwickelten sich weitergehende
Fragen, unter anderem nach räumlichen
Bereichen, die in der Gestaltung
sensibel zu bearbeiten waren. Weiterhin
wurde betrachtet, welche Potentiale der
Ortsentwicklung beispielsweise durch
städtebauliche Verdichtung oder neuartige
Orts- und Landschaftsbilder entstehen
können und welche Potentiale Haushebung
für einen innovativen Umgang mit
vorhandener Bausubstanz bietet.
METHODIK
Die Forschungsfragen wurden mit einem
entwurfsbasierten Forschungsansatz untersucht
(vgl. Weidinger 2014, De Jong
2002). Der Arbeitsprozess gliederte sich
in fünf Phasen: Auf Grundlage einer ausführlichen
Projektvorbereitung (A) wurde
das Untersuchungsgebiet multimodal
analysiert (B). Die Erkenntnisse wurden in
Entwurfsvarianten überführt (C) und anschließend
vergleichend evaluiert, um sie
in einem Handbuch zusammenzufassen
und Empfehlungen für eine Übertragbarkeit
der Methodik auf andere räumliche
Situationen auszusprechen (D). Diese dienen
als Vorbereitung für eine später beabsichtigte
Umsetzung der Haushebung (E).
Es wurden unterschiedliche Analyse- und
Entwurfsmethoden angewandt, die sich
als Methodenmix gegenseitig ergänzten.
Die Daten und Erkenntnisse der Projektpartner*innen
wurden durch eigene Literatur-
und Planrecherchen erweitert.
Beobachtungen während der Ortsbegehungen
sowie qualitative Interviews
wurden anhand von Foto-, Video-, Audioaufnahmen
und durch Notizen, Skizzen,
Gedächtnisprotokolle dokumentiert.
Ergänzend zur Analysephase untersuchten
Studierende in einem studentischen
Entwurfsprojekt den Betrachtungsraum
in Brockwitz. Die Studierendenentwürfe
bildeten zusammen mit Referenzbeispielen
aus einem eigens erstellten
Inspirationsbuch einen Ideenpool, der
einerseits mit den Projektpartner*innen
diskutiert wurde und andererseits
in einen Partizipationsprozess mit den
Bürger*innen vor Ort eingebracht wurde.
Die Bürger*innen wurden über eine
kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit sowie
in einer Informationsveranstaltung
über das Projekt informiert. In einem
partizipativen Workshop und in einer
Feedbackveranstaltung konnten sie am
Entwurfsprozess mitwirken. Die
In eigener Sache 125
ERKENNTNISSE
Ergebnis der Orts- und Freiraumplanung
ist eine Strategie für die Planung von Haushebung
auf Ortsebene, die als Methodik in
einem Handbuch beschrieben wird. Die
Methodik ist übertragbar auf ähnliche Situationen.
Das Handbuch richtet sich an Planende,
Kommunen und projektbeteiligte
Bürger*innen in vergleichbaren Projekten.
Graphic Recording als
Teil des Moderationsdie
Bürger*innen
teams STADTGEeigene
SCHICHTEN aus Berlin.
In einem partizipativen
Workshop entwickelten
Entwurfsansätze.
Foto: Carsten Schade
gewonnenen Erkenntnisse und Daten
aus der Analysephase wurden schließlich
hinsichtlich ihrer räumlichen Qualitäten,
Schwierigkeiten und Potentiale
für die verschiedenen Maßstabsebenen
ausgewertet. Zeitlich überschnitt sich
die Analysephase mit der Entwurfsphase,
da Erkenntnisse aus der einen Phase
die Anpassung und Erarbeitung von Methoden
aus der anderen Phase bedingten
und umgekehrt. Zur Beantwortung
der Forschungsfragen mussten unterschiedliche
Maßstabsebenen und deren
Schnittstellen betrachtet werden. Infolgedessen
zeichnete sich die Methodik
durch ein häufiges Wechseln der Maßstabsebenen
aus, wodurch das Ineinandergreifen
der Maßstabsebenen und
deren Charakteristika in die Entwurfsvarianten
integriert wurde.
Es lässt sich festhalten, dass ein Partizipationsprozess
für eine Haushebung auf
Ortsebene sinnvoll und notwendig ist.
Die Unterteilung in einzelne Privatgrundstücke,
unterschiedliche Hebehöhen der
Gebäude, der Geländeversprung zum
Nachbargrundstück oder der Anschluss
an den öffentlichen Raum sind nur einige
der Aspekte, die eine Beteiligung aller
Betroffenen einschließlich der Kommune
und Fachplaner*innen erfordern. Die
partizipativen Workshops haben gezeigt,
dass die Eigentümer*innen ihre Partikularinteressen
zurückstellen würden, um
eine gemeinsame Lösung zu finden. Dies
ist hauptsächlich motiviert durch die
hohe Betroffenheit der Eigentümer*innen
von Extremhochwasser und dem
damit verbundenen Wunsch nach einer
schnellen Lösung, um unter anderem
den starken psychischen Belastungen eines
potentiellen nächsten Hochwassers
und dessen Folgeschäden nicht länger
ausgesetzt zu sein. Jedoch spielen auch
Aspekte wie der Erhalt des Ortsbilds und
des nachbarschaftlichen Miteinanders im
Dorf eine Rolle. Sie zeugen von einer hohen
Identifikation der Bewohner*innen
mit ihrem Lebensumfeld. Der Prozess
hat gezeigt, dass Hochwasserschutz nur
als Gemeinschaftsaufgabe zu bewältigen
ist. Eingeordnet in das Stufenmodell der
Partizipationsleiter nach Lüttringhausen
(2000) ist das Mitentscheiden der Betroffenen
in dem Planungsprozess essentiell
für eine spätere Umsetzung der Haushebung.
Dieser Prozess ist jedoch für viele
ungewohnt und erfordert eine subtile
Moderation mit klar formulierten Zie-
126 In eigener Sache
Foto: Carsten Schade
len und Handlungsspielräumen sowie
Transparenz, um keine falschen Erwartungen
und Hoffnungen zu wecken (vgl.
SenStadtUm 2012, MagWien 2012).
Bezüglich der eingesetzten Methoden
und Instrumente übernahm eine zweitägige
Veranstaltung zur Information und
aktiven Beteiligung der Bürger*innen
eine Schlüsselfunktion. Das Moderationsteam
von STADTGESCHICHTEN aus
Berlin bewirkte durch sensibel eingesetzte
Methoden sowie durch die aktive
Einbindung der Projektpartner*innen
aller Fachdisziplinen, dass das emotionale
Thema der Transformation des
privaten Grundstücks sachlich und konstruktiv
diskutiert wurde. Dabei konnte
auf eine intensive Beschäftigung der Betroffenen
mit der Hochwasserthematik
und deren individuellen Strategien und
Wissen zurückgegriffen werden. Zentral
war der Einsatz von Kommunikationsinstrumenten
wie einem abstrahierten
Partizipationsmodell des Ortes, in dem
die Teilnehmenden ihr Eigenheim markierten
und von ihren Hochwassererfahrungen
berichteten. Auch das Bauen
schematischer Modelle zur Visualisierung
eigener Vorstellungen wurde von
den Betroffenen sehr gut angenommen.
Eine begleitende Live-Dokumentation
(Graphic Recording) half bei der späteren
Entwicklung von Entwurfsvarianten.
Die Entwürfe dienten unter anderem
zur Anregung von Diskussionen und
schafften Bewusstsein für Potentiale,
Schwierigkeiten und Abstimmungsbedarfe
für eine beabsichtigte Realisierung
der Haushebung. Eine enge Abstimmung
mit den Projektpartner*innen sicherte
die Qualität der Arbeiten und gab
Einschätzungen zur Realisierbarkeit von
Entwurfsvarianten.
DOKUMENTATION UND AUSBLICK
Die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen
der Orts- und Freiraumplanung
werden in dem Handbuch Haus-
hebung Brockwitz der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht (Webseite urban-
Lab), ebenso wie die Ergebnisse zu Architektur
und Technologie als HUeBro
Gesamtkatalog veröffentlicht werden
inkl. eines Bauteilkatalogs, Checklisten
und Handlungsempfehlungen zu unterschiedlichen
Hebevarianten (Webseite
ConstructionLab).
Gesamtergebnis des Forschungsprojekts
ist, dass Haushebung eine theoretische
Alternative zu klassischen Hochwasservorsorgemaßnahmen
darstellt, deren
Umsetzung in Brockwitz als Pilotprojekt
in den kommenden Jahren beabsichtigt
ist. Um die betroffenen Bürger*innen
dabei finanziell so wenig wie möglich zu
belasten, wird derzeit nach geeigneten
Förderprogrammen gesucht.
Literatur & Abbildungen
Carstensen, D.; Schwarze, R.; Ahlers, C. & Koszinski, C. (2018):
Hochwasservorsorge für das Elbedorf Brockwitz - ein unkonventioneller
Ansatz. In: Schütze, N.; Müller, U.; Schwarze, R.; Wöhling,
T. & Grundmann, J. (Hrsg.): Forum für Hydrologie und Wasserbewirtschaftung;
Heft 39.18 ; M3 - Messen, Modellieren, Managen in
Hydrologie und Wasserressourcenbewirtschaf tung; Beiträge zum
Tag der Hydrologie am 22./23. März 2018 an der Technischen Universität
Dresden.
De Jong, T. M. & Van der Voordt, D. J. M. (Hrsg.) (2002): Ways
to Study and Research Urban, Architectural and Technical Design.
Delft: Delft University Press (DUP Science).
Jongman, B.; Hochrainer-Stigler, S.; Feyen, L.; Aerts, J. C. J. H.;
Mechler, R.; Botzen, W. W. J.; Bouwer, L. M.; Pflug, G.; Rodrigo,
R. & Ward, P. J. (2014): Increasing stress on disaster-risk finance
due to large floods. In: Nature Climate Change 4, 2014, 264–268,
https://www.nature.com/articles/nclimate2124, abgerufen am
18.07.2019.
Lüttringhausen, M. (2000): Stadtentwicklung und Partizipation.
Fallstudien aus Essen Katernberg und der Dresdner Äußeren Neustadt.
Bonn: Stiftung Mitarbeit. S. 66ff.
Magistrat der Stadt Wien Magistratsabteilung 18 - Stadtentwicklung
und Stadtplanung (Hrsg.) (2012): Praxishandbuch. Partizipation.
Gemeinsam die Stadt entwickeln, Wien: Ma-gistratsabteilung
18 - Stadtentwicklung und Stadtplanung Wien. URL: https://www.
wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008273.pdf abgerufen
am 18.07.2019.
Schinke, R.; Schwarze, R.; Carstensen, D.; Neubert, M.; Schinker,
N.; Melenhorst, M.; Schade, C. & Lier, O. (2019): Haushebung,
eine geeignete Maßnahme zur Hochwasservorsorge? Das Fallbeispiel
Brockwitz. In: Technische Universität Dresden, Institut
für Wasserbau und technische Hydromechanik (Hrsg.): Komplexe
Planungsaufgaben im Wasserbau und ihre Lösungen. Dresdner
Wasserbauliche Mitteilungen 62. Dresden: Technische Universität
Dresden, Institut für Wasserbau und technische Hydromechanik.
S. 373-382.
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin
(SenStadtUm) (Hrsg.) (2012): Handbuch zur Partizipation. 2. Aufl.,
Kulturbuch-Verlag. URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/
soziale_stadt/partizipation/download/Handbuch_Partizipation.pdf
abgerufen am 18.07.2019.
Weidinger, J. (Hrsg.) (2014): Entwurfsbasiert Forschen. Berlin: Universitätsverlag
der TU Berlin.
HUeBro
Laufzeit
01.04.2017 - 31.05.2019
Gefördert durch
Förderkennzeichen
03DAS104ABCDE
Förderprogramm
Anpassung an den
Klimawandel
Verbundpartner
TH Nürnberg -
Institut für Wasserbau und
Wasserwirtschaft
TU Dresden -
Institut für Hydrologie und
Meteorologie
TU Dresden -
Institut für Baugeschichte,
Architekturtheorie und
Denkmalpflege
TH Ostwestfalen-Lippe
urbanLab, nextPlace,
ConstructionLab
Leibniz Institut für ökolog.
Raumentwicklung e.V.,
Dresden
Kooperationspartner
Stadt Coswig
und weitere Kooperations-
partner
Kontakt
Prof. ir.
Michel Melenhorst
05231 769-6691
michel.melenhorst@th-owl.de
weitere Informationen
www.th-owl.de/fb1/forschung/
urbanlab/projekte/huebro-haushebung-ueberschwemmungsgebiete
In eigener Sache 127
Prof. Oliver Hall
Heimatwerker.NRW
Quelle: StadtBauKultur NRW. Fotograf: Sebastian Becker
Das im September 2016 gestartete
Modellprojekt Heimatwerker.NRW
in der Stadt Nieheim
(Landkreis Höxter) geht auf seine
Vollendung zu. Ein altes, von
Leerstand bedrohtes Ackerbürgerhaus
im historischen
Stadtkern wurde mit vereinten
Kräften von Geflüchteten,
Studierenden der Technischen
Hochschule OWL und Anwohner*innen
saniert. Während
des Umbaus erwarben die Projektteilnehmer*innen
auf der
Baustelle und in begleitenden
Kursen handwerkliche Kenntnissen,
die z.B. für die Qualifizierung
im Baugewerbe nützlich
sind. Bei der Umsetzung
wurden die Projektbeteiligten
fachkundig durch Architekt*innen
und Bauleiter*innen mit
sozialer Kompetenz angeleitet.
Nach Fertigstellung des Umbaus in
2019 kann das Haus in der Lüttgestraße
inklusive der eingerichteten Küche und
Werkstatt von allen Bewohner*innen
der Stadt Nieheim weiterhin für handwerkliche
und kreative Tätigkeiten sowie
für andere gemeinschaftliche Zwecke
genutzt werden.
Die Sanierung des Hauses wurde finanziert
durch das Städtebau-Sonderförderprogramm
des Ministeriums für
Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und
Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen
und einem Eigenanteil der Stadt Nieheim.
Weitere Kosten für Organisation,
Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen
und Dokumentation hat die Landesinitiative
StadtBauKultur NRW beigetragen.
Darüber hinaus wurden für den Umbau
und die langfristige Nutzung des
Gebäudes weitere Fördergeber, Sponsoren
und Spenden gewonnen, hierfür
wurde eigens der Förderverein Heimatwerker
e.V. gegründet.
128 In eigener Sache
Heimatwerker.NRW wurde als Pilotprojekt
zur Integration von Geflüchteten
auf dem Land gestartet, darüberhinaus
aber auch zur Bekämpfung des häufig
stadtbildprägenden Leerstands in historischen
Ortskernen. Das betrifft v.a.
die Ackerbürgerhäuser, die ehemals
multifunktional genutzt wurden zum
Wohnen, zur Unterbringung von Vieh
und Lagern von Heu. Dieser Archetyp
findet sich tausendfach in deutschen
Kleinstädten, meist aber als Leerstand
da viel zu groß dimensioniert für heutige
Wohnerfordernisse. Das Pilotprojekt
sollte belegen, dass mit einer Gemeinbedarfsnutzung
wie die Heimatwerker
nicht nur das Gebäude sinnvoll revitalisiert
wird, sondern als Treffpunkt
auch eine Vitalisierung des historischen
Stadtkerns einhergeht.
Die Strategie zur Schaffung von Bleibeperspektiven
für die Geflüchteten in
dem Projekt Heimatwerker beinhaltete
praktische Qualifizierungsmaßnahmen
vor Ort und das Selber machen lassen
durch Geflüchtete, Studierende und
Nachbar*innen. Das Angebot zur Beteiligung
und Aneignung der Räume wurde
über den Projektzeitraum in unterschiedlicher
Intensität wahrgenommen.
Als nachhaltig erfolgreich erwies sich
schließlich der Workshop Heimatwerker.TEXTIL
in dem Studierende geflüchtete
Frauen zur Teilnahme motivierten,
die anfangs, wohl auch aus kulturellen/
traditionellen Gründen der Baustelle
fernblieben. Aus dem Workshop heraus
ist die Zusammenarbeit mit der Caritas
Kleiderkammer gewachsen, mit der eine
Textilwerkstatt eingerichtet werden soll,
so dass nach Baufertigstellung die Gemeinbedarfsnutzung
sichergestellt ist.
Von dem Modellprojekt Heimatwerker.
NRW konnten somit alle Beteiligten profitieren:
Die Asylsuchenden konnten
sich beruflich qualifizieren, ihre Sprachkenntnisse
verbessern und sich aktiv
in die Stadtgesellschaft integrieren; die
„Von dem Modellprojekt Heimatwerker.NRW
konnten somit alle Beteiligten
profitieren: Die Asylsuchenden
konnten sich beruflich qualifizieren,
ihre Sprachkenntnisse verbessern und sich
aktiv in die Stadtgesellschaft integrieren; die
Gewerbetreibenden aus der lokalen Baubranche
konnten interessierten beruflichen
Nachwuchs gewinnen, der auf der Baustelle
vorgebildet wurde; die Studierenden sammelten
fachliche und soziale Erfahrungen;
die Stadt Nieheim erhält langfristig historische
Bausubstanz durch die neue Gemeinbedarfsnutzung;
den Bewohnerinnen und
Bewohnern von Nieheim werden Räume für
handwerkliche und kreative Tätigkeiten vor
allem im Textilgewerbe zur Verfügung gestellt
und mit der Gemeinschaftsküche und
Veranstaltungssaal entsteht langfristig ein
Begegnungsort der Kulturen.
Prof. Oliver Hall
urbanLab
Gewerbetreibenden aus der lokalen
Baubranche konnten interessierten beruflichen
Nachwuchs gewinnen, der auf
der Baustelle vorgebildet wurde; die
Studierenden sammelten fachliche und
soziale Erfahrungen; die Stadt Nieheim
erhält langfristig historische Bausubstanz
durch die neue Gemeinbedarfsnutzung;
den Bürger*innen Nieheims
werden Räume für handwerkliche und
kreative Tätigkeiten vor allem im Textilgewerbe
zur Verfügung gestellt und mit
der Gemeinschaftsküche und dem Veranstaltungssaal
entsteht langfristig ein
Begegnungsort der Kulturen.
Resümierend kann gesagt werden, dass
jeder Ort, und sei er noch so fremd für
Neubewohner*innen, Zugezogene und
Geflüchtete zu einer Heimat bzw. home
away from home werden kann, wenn
u.a. folgende Bedingungen / Kriterien
gegeben sind:
In eigener Sache 129
1. ANEIGUNGSFÄHIGKEIT
Durch selber machen, selber bauen
wird die Identifikation der Neu-Bewohner*innen
mit dem Ort stimuliert.
Die eingebrachte Muskelhypothek der
Projektbeteiligten reduziert die Kosten
und stärkt das Wir-Gefühl. Das Motto
der Heimatwerker „Wer einen Ort selber
baut, der bleibt“ trifft vor allem auf
Menschen zu, die ihre Heimat auf der
Flucht verlassen haben.
2. INFRASTRUKTUR
Schuster*in, Schneider*in, der kleine
Laden an der Ecke oder Angebote für
gemeinschaftliche Aktivitäten stärken
die Identifikation mit einem Ort. Der Begriff
Heimat hat also sehr viel mit lebenswertem
Umfeld und Wohnzufriedenheit
zu tun, dabei geht es um mehr als die
reine Wohnfunktion. Gemeinbedarfsangebote,
Infrastruktur und allgemeine
Nutzungsmischung bieten daher gute
Gründe sich heimisch zu fühlen.
Die Bedeutung von Heimat wird vermutlich
noch klarer, wenn es um den
Verlust von Heimat geht, und zwar den
erzwungenen Verlust durch Flucht und
Vertreibung, wie bei den über 1 Millionen
Geflüchteten, die v.a. 2015 aber
auch danach zu uns kamen.
Das, was alteingesessene Menschen
als Heimat empfinden, ist für die zugezogenen
Menschen ein ungewöhnlicher
und fremder Ort, vor allem wenn
diesen Menschen auf der Flucht nach
dem Königssteiner Schlüssel ein Bleibeort
in Deutschland zugewiesen wurde,
den sie sich nicht selber ausgesucht
haben, also ein home away from home.
Heimat wird subjektiv empfunden und
kann als solche nicht hergestellt werden,
allenfalls können Rahmenbedingungen
geschaffen bzw. gebaut werden, die
bei den zugezogenen Bewohner*innen
Heimatgefühle wecken. Das sind Erkenntnisse
aus dem beispielhaften Projekt
Heimatwerker in Nieheim.
3. GEMEINSCHAFT
Die kollektive Erfahrung eines gemeinsamen
Raums begünstigt das Gefühl
sich „heimisch“ zu fühlen. Die Dimension
des gebauten Bezugsraums reicht
dabei von einem Festsaal oder Gemeinschaftshaus,
wie das in Nieheim, bis zu
einem ganzen Quartier, das kollektiv als
Veedel oder Kiez erlebt wird.
Kontakt
Prof. Dipl.-Ing.
Oliver Hall
05231 769-6401
oliver.hall@th-owl.de
Ein gemeinsames Projekt von
StadtBauKultur NRW und das
Projekt werden gefördert durch
weitere Informationen
www.heimatwerker.nrw
www.th-owl.de/fb1/forschung/
urbanlab/projekte/heimatwerker
130 In eigener Sache
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Herausgeber
Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe
Forschungsschwerpunkt urbanLab
Emilienstraße 45
32756 Detmold
Verantwortlich (Magazin)
Prof. Dipl.-Ing. Oliver Hall
Redaktion, Layout & Grafik
Marcel Cardinali
Oliver Großpietsch
Julia Krick
Nele Rodenberg
Abbildungen
Cover, S.6: Fabrizi M.; Lucarelli, F. (2010): symbiosis.
microcities, Architects, Paris.
Die Abbildungen sind, soweit nicht anders gekennzeichnet,
Eigentum der jeweiligen Verfasser.
Hinweis
Einige Artikel in diesem Magazin verwenden das
generische Maskulin und verzichten auf eine gendergerechte
Schreibweise. Wir möchten betonen,
dass mit Begriffen im generischen Maskulin
gleichermaßen männliche, weibliche und diverse
Personen gemeint sind.
Druck
Bösmann Medien und Druck GmbH & Co. KG,
Detmold
Auflage
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Weiterführende
Informationen:
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ist ein Zusammenschluss von Wohnungsbaugenossenschaften,
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Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur,
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Landschafsarchitektur und Umweltplanung an der Technischen
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