Titelblatt, Kupferstich aus: Thomas Bartholin: Anatomia reformata …, Leiden 1651 S<strong>am</strong>antha Bohatsch: Viginia (2010) Installation, 1. Platz 4 – POOL Unter die Haut Von <strong>der</strong> Schindung des Marsyas und an<strong>der</strong>en Grenzverletzungen Wer mit heiler Haut davon- I. kommen will, sollte es sich mit den Göttern besser nicht verscherzen. Denn Götter sind bisweilen auch nur Menschen und reagieren entsprechend brüskiert, wenn man ihre Autorität in Frage stellt. Ovid (43 v. – 17 n. Chr.) erzählt in seinen Met<strong>am</strong>orphosen vom „kläglichen Schicksal“ des Satyrn Marsyas, <strong>der</strong> mit seiner Rohrflöte keinen Geringeren als Apoll zum musikalischen Duell herausfor<strong>der</strong>t. Ein verhängnisvoller Fehler, wie Marsyas selbst einsehen muss. Doch zu spät. Schon zieht ihm <strong>der</strong> siegreiche Gott zur Strafe das Fell über die Ohren. In <strong>der</strong> Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1798) liest sich die grausige Szene wie folgt: „Was entziehst du mir selber mich? rief er./ Ah, mich gereut's! ah! schrie er, soviel nicht gilt mir das Schallrohr!/ Doch wie er schrie, zog jener die Haut ihm über die Glie<strong>der</strong>;/ Und nichts war, als Wunde, zu schaun. Blut rieselte ringsum;/ Aufgedeckt lag Muskel und Sehn'; auch die zitternden A<strong>der</strong>n/ Schlugen, <strong>der</strong> Hülle beraubt, aufzuckende Eingeweide/ Konnte man zählen sogar, und <strong>der</strong> Brust durchscheinende Fibern.“ Marsyas bezahlt die Selbstgewissheit, den Gott <strong>der</strong> Musik in seinem Metier übertreffen zu können, mit dem Leben. Hybris kann teuer werden. Die Haut ist die Form, die Grenze, die das Ich definiert. Als Antwort auf die Grenzüberschreitung des Marsyas entreißt Apoll seinem Unterlegenen die Leibeshülle – und mit ihr dessen Identität: „Was entziehst du mir selber mich?“ („Quid me mihi detrahis?“) Kaum ein Satz könnte eindringlicher die Verzweiflung des Subjekts über das bewusste Miterleben seiner Entsubjektivierung beschreiben. Indem Apoll das Unteilbare (individuum) teilt, zerstört er die leibliche Einheit, die Marsyas heißt. Das Schinden erscheint dabei weniger als ein Bloßlegen, denn vielmehr als ein „Blanklegen“ (Stéphane Dumas). II. Die frühesten Nachweise für die Todesstrafe durch Hautabziehen fand man in Mesopot<strong>am</strong>ien und in Persien. Mit dieser beson<strong>der</strong>s brutalen, in je<strong>der</strong> Hinsicht grenzwertigen Form <strong>der</strong> Bestrafung wurden Exempel statuiert und Macht demonstriert. So auch <strong>am</strong> Apostel Bartholomäus, <strong>der</strong> das Christentum in den Orient brachte und d<strong>am</strong>it eine Konkurrenz zu den religiösen Lokaltraditionen schuf. Er ist <strong>der</strong> christliche Marsyas, wenn man so will, wobei hier <strong>am</strong> Ende freilich <strong>der</strong> Geschundene Recht behält, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Gunst des Einen Gottes steht. Die abgezogene Haut wurde zu Bartholomäus’ Attribut und findet sich als solches auch auf dem berühmtesten Bildnis des Heiligen in Michelangelos Jüngstem Gericht (1534 – 41) an <strong>der</strong> Stirnwand <strong>der</strong> Six- tinischen Kapelle. Die Vermutung, es handle sich bei dem Kopfstück des Körperschlauchs um ein Selbstbildnis Michelangelos gibt Anlass zum Nachdenken. Ebenso <strong>der</strong> pikante Umstand, dass Buchbin<strong>der</strong>, Gerber, Metzger, Sattler, Schnei<strong>der</strong> und Schuhmacher den heiligen Bartholomäus zu ihrem Schutzpatron erkoren haben. Der neben Marsyas und Bartholomäus dritte Geschundene, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Kunst zu einiger Prominenz gelangte, ist <strong>der</strong> Richter Sis<strong>am</strong>nes, von dem Herodot (ca. 485 – 424 v. Chr.) in seinen Historien berichtet. Wegen seiner Bestechlichkeit verurteilte ihn <strong>der</strong> Perserkönig K<strong>am</strong>byses II. (558 – 522 v. Chr.) zum langs<strong>am</strong>en und qualvollen Tod. Eine Mahnung an Sis<strong>am</strong>nes’ Nachfolger, für Geld kein ungerechtes Urteil erkaufen zu lassen. Denn die Richter hatten fortan auf einem Stuhl Platz zu nehmen, <strong>der</strong> mit seiner Haut bezogen war. Ein Diptychon mit dem Urteil des K<strong>am</strong>byses und <strong>der</strong> Schindung des Sis<strong>am</strong>nes (1498) aus <strong>der</strong> Hand Gerard Davids hing mit entsprechen<strong>der</strong> Intention auch im Schöffensaal des Brügger Rathauses. Beim Eindringen in die Haut handelt es sich um eine Grenzüberschreitung, man könnte sagen: um eine Grenzdurchschneidung, die auch dann als solche wahrgenommen wurde, wenn sie im Rahmen <strong>der</strong> Heilkunst stattfand. Noch zu Zeiten Gerard Davids war das Sezieren von Menschen keineswegs ein Bestandteil <strong>der</strong> medizinischen Ausbildung. Dies än<strong>der</strong>te sich mit dem Fl<strong>am</strong>en Andreas Vesalius (1514 – 1564), <strong>der</strong> die Lektüre von Fachbüchern durch die Erkenntnis <strong>am</strong> geöffneten Leichn<strong>am</strong> erweiterte und d<strong>am</strong>it die neuzeitliche Anatomie begründete. Seitdem begegnet man <strong>der</strong> bildlichen Darstellung <strong>der</strong> Marsyas-Schindung wie<strong>der</strong> häufiger. Apoll, <strong>der</strong> konzentriert und mit geradezu wissenschaftlicher Präzision das Innere seines Kontrahenten freilegt, wird zum Vorbild des Anatomen. Demgegenüber repräsentiert Marsyas den Frevler, <strong>der</strong> zumindest im Tod noch einen Nutzen hat: Die bei den Sektionen verwendeten Leichn<strong>am</strong>e st<strong>am</strong>mten häufig von hingerichteten Straftätern, also solchen Leuten, <strong>der</strong>en Körper vermutlich ohnehin auf dem Schindanger gelandet wären. Im Gefolge dessen konnte sich die unter Zeitgenossen durchaus anrüchige Humananatomie ein Selbstverständnis als moralische Instanz verleihen. Aus dem theatralisch inszenierten Vorhang, <strong>der</strong> das Titelblatt so mancher barocker Schriften ziert, wird in Thomas Bartholins Anatomia reformata (Leiden 1651) die „Titelhaut“ (Daniela Bohde): Die über eine Nische gespannte und zur Schau gestellte Menschenhülle erfüllt eine ähnliche Funktion wie diejenige des Sis<strong>am</strong>nes’, indem sie dem Leser das Schicksal dessen vor Augen führt, <strong>der</strong> sich dem geltenden Recht wi<strong>der</strong>setzt. Das Umblättern <strong>der</strong> Titelhaut und die fortschreitende Lektüre des Buchkörpers <strong>der</strong> Anatomia reformata kommt dem Vordringen des Anatomen beim Sezieren gleich. Eine weitere Möglichkeit für die Anatomie, Ansehen zu gewinnen und ihren üblen Beigeschmack zu verlieren, bestand in <strong>der</strong> Liaison mit den schönen Künsten. Dabei lässt sich eine Ästhetisierung des versehrten Körpers erkennen. Die enge Beziehung von Kunst und Wissenschaft, von Myologie (Muskellehre) und Mythologie manifestiert sich nicht nur im Wirken von Künstler-Anatomen wie Leonardo (1452 – 1519) und Michelangelo (1475 – 1564), son<strong>der</strong>n auch in den Anatomiebüchern selbst. Dort bekommt man sezierte Menschenfiguren zu Gesicht, die – noch lebend! – dem Betrachter mit beinahe exhibitionistischer Freude Einblick in ihr Innerstes gewähren. Mit dem Stolz eines Herkules präsentiert <strong>der</strong> Muskelmann (écorché) in Juan Valverde de H<strong>am</strong>uscos Anatomia del corpo humano composta (Rom 1559) seine Trophäe: Doch handelt es sich hier nicht um die Haut des Nemëischen Löwen, son<strong>der</strong>n um seine eigene. Mit dem Dolch in <strong>der</strong> Linken, so scheint es, hat er sie sich soeben vom Leib geschnitten. Mit POOL – 5