Jusepe de Ribera: Apoll und Marsyas, 1637, Öl auf Leinwand, Brüssel, Musées Royaux des Beaux Arts 6 – POOL seinem harmonisch proportionierten Körper im klassischen Kontrapost stehend, vertritt <strong>der</strong> écorché das apollinische Schönheitsideal und macht den Schrecken <strong>der</strong> Situation schnell vergessen. III. Eine vergleichbar beruhigende Wirkung wie die kokette Selbstenthäutung o<strong>der</strong> das fröhliche Ausfalten des eigenen Leibs durch Menschen in den Anatomiebüchern, rufen heutzutage die Bil<strong>der</strong> lachen<strong>der</strong> Ferkel auf Tiertransportern und Metzgereirekl<strong>am</strong>en hervor, wie auch die glücklichen Hähne, die stets in lässiger Pose und mit einem Augenzwinkern auf den Angebotstafeln <strong>der</strong> „Hendl“buden zum Kauf ihrer knusprig gebratenen Brü<strong>der</strong> animieren. Mit dem Schein <strong>der</strong> freiwilligen und freudvollen Selbstaufopferung <strong>der</strong> Tiere – wozu sonst sind sie denn auch da? – schalten Marketingstrategen das schlechte Gewissen <strong>der</strong> Konsumenten und ihre Reflexionsgabe vorübergehend aus. O<strong>der</strong> aber sie eliminieren den kreatürlichen Bezug, indem sie Haut als „Le<strong>der</strong>“ bezeichnen und – im Unterschied zur abschreckenden Titelhaut <strong>der</strong> Anatomia reformata – Kopf und Extremitäten <strong>der</strong> Gehäuteten entfernen. Im Handumdrehen entsteht daraus ein abstraktes Logo, das im Verbund mit dem Adjektiv „echt“ zum Gütesiegel geadelt wird. Authentisch und hehr soll es sein, das „echte Le<strong>der</strong>“. Ungleich realistischer behandelt die Tierrechtsorganisation PETA dieses Zeichen und versieht es in ihrer Anti-Le<strong>der</strong>-K<strong>am</strong>pagne mit blutroten Farbspritzern und <strong>der</strong> Inschrift „Echtes Leiden“. Die Marsyasse unserer Zeit sind die Rin<strong>der</strong>, Schweine, Ziegen, Schafe und ihre Leidensgenossen, denen die Haut für Autositze, Portemonnaies, High Heels und „coole“ Jacken abgezogen wird. (Nein, Le<strong>der</strong> ist kein Abfallprodukt <strong>der</strong> Fleischwirtschaft, son<strong>der</strong>n es bestimmt den „Wert“ eines Tieres ganz wesentlich mit.) Die Hybris scheint sich indes verkehrt zu haben: Es ist <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> sich in die Rolle des göttlichen Apolls begibt und im N<strong>am</strong>en <strong>der</strong> Vernunft seine Mitkreaturen <strong>der</strong> eigenen Willkür unterwirft: indem er sie nicht auch als einen Zweck an sich betrachtet, son<strong>der</strong>n als bloßes Mittel, als eine Sache. Mit dem Einsatz neuer biotechnologischer Verfahren hinterfragen Künstlerinnen und Künstler zunehmend die rigide Grenzziehung zwischen Menschen einerseits und allen an<strong>der</strong>en Tieren (vom Affen bis zur Zikade) an<strong>der</strong>erseits. Vertreter <strong>der</strong> Biotech-Art, wie die australische Gruppe Tissue Culture & Art, haben sich in den vergangenen Jahren auf das Herstellen von „victimless leather“ im Labor konzentriert: Dabei wird menschliches Hautgewebe gezüchtet und – teilweise im Verbund mit den Hautzellen an<strong>der</strong>er Arten, wie etwa Schwein und Maus – zu einem „echten“ Kunst-Le<strong>der</strong>-Werk verarbeitet. IV. Die Tatsache, dass Marsyas als Satyr ein Hybride zwischen Menschen und an<strong>der</strong>en Tieren darstellt, macht ihn für die Frage nach <strong>der</strong> Mensch-Tier-Relation so aktuell. Bei seiner Tötung, dem Abziehen des zottigen, „tierischen“ Fells, handelt es sich um die Demonstration einer Ordnung, und zwar nicht nur einer rechtlichen, son<strong>der</strong>n auch einer kreatürlichen: Der menschengestaltige Apoll steht im Kontrast zu dem bacchanalischen Mischwesen, das als Grenzgänger aus dem kulturellen Diskurs entfernt werden muss. Das Schinden von Menschen erscheint nicht allein deswegen so skandalös und befremdlich, weil es (bei lebendigem Leibe vollzogen) enorme Qualen und die Auslöschung des Individuums bedeutet. Das Ungeheuerliche besteht auch darin, dass auf den Menschen eine Praxis angewandt wird, die „eigentlich“ nichtmenschlichen Tieren vorbehalten ist. Nur demjenigen, <strong>der</strong> in das jeweilige Idealbild vom Menschen nicht passte, dem das Mensch-Sein abgesprochen wurde, durfte die Behandlung von Tieren zuteil werden. Auf dem Schindanger wurden entsprechend nicht nur Pferde und Rin<strong>der</strong> gehäutet und vergraben, son<strong>der</strong>n auch Menschen, die man hingerichtet hatte o<strong>der</strong> die ihr Leben auf inopportune Weise führten o<strong>der</strong> beendeten. Der Ausschluss aus <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Menschen wurde nicht zuletzt dazu benutzt, um Gewalt zu legitimieren. Verhängnisvoll, wie uns die Geschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts in ihrer ganzen Brutalität vorführte. Und aufschlussreich im Hinblick auf diejenigen Menschen, die solche Ausschlüsse formulieren und d<strong>am</strong>it ihre eigene Graus<strong>am</strong>keit zu rechtfertigen suchen. Man sollte besser noch einmal nachdenken, bevor man jemanden als „Schindmähre“ bezeichnet o<strong>der</strong> mit jemandem „Schindlu<strong>der</strong> treibt“. Man sollte kritisch aufhorchen, wenn über menschliche Verbrecher die Meinung geäußert wird: „Das ist doch kein Mensch – das ist ein Tier!“ Und man sollte dankbar dafür sein, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und sie unter allen Umständen verteidigen. Die ideologische Vertierlichung von Menschen wird erst dann keine fatalen Folgen mehr haben, wenn man die Würde des Tieres entdeckt haben wird. V. Was faszinierte Künstler wie Tizian (1488/90 – 1576) und Alfred Hrdlicka (1928 – 2009) <strong>am</strong> Mythos von Marsyas und Apoll, den sie ästhetisch sublimierten? Die beispiellose Gewalt, die den Betrachter emotional affiziert? Der K<strong>am</strong>pf um die rechte Ordnung? – O<strong>der</strong> ist es <strong>der</strong> Opfergedanke, <strong>der</strong> im Christentum eine so zentrale Rolle einnimmt und <strong>der</strong> sich im Mit-Leid („Sym-Pathie“) mit <strong>der</strong> geschundenen, gemarterten, erniedrigten Kreatur äußert? Es wird hier nicht zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass <strong>der</strong> an seinen Handgelenken aufgehängte Marsyas, <strong>der</strong> „nichts war, als Wunde“, eine schon rein formale Parallele zu dem ans Kreuz genagelten Christus aufweist. Und zeigt nicht auch Rembrandt seinen Geschlachteten Ochsen (1655) aus dem Pariser POOL – 7