Julius Grünewald G - Zeit Kunstverlag
Julius Grünewald G - Zeit Kunstverlag
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8 Sessel, 2008<br />
Öl auf Leinwand<br />
160 x 120 cm<br />
Privatsammlung Zürich<br />
Prinzip sein zu müssen. <strong>Grünewald</strong>s Bildern inhärent<br />
ist ein Bekenntnis zur Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit.<br />
Es fehlt ihnen die pathetische Gewissheit,<br />
das systemisch Felsenfeste, Unhintergehbare. Was<br />
sie auszeichnet, ist ihr feines Gespür für die Chancen<br />
des Imperfekten, für die Schönheiten des Risikos, der<br />
uneinlösbaren Ansprüche.<br />
Schmelzhöhe<br />
Der antike Mythos hat dafür eine sehr genau beobachtende<br />
Geschichte. Sie erzählt von zwei gänzlich unterschiedlichen<br />
Arten „modernen“ Kunstverständnisses,<br />
sie erzählt von Vater und Sohn, Dädalus und Ikarus.<br />
Beide stehen vor ihrem ersten Flug mit selbstgebauten<br />
Flügeln, einer Erfindung des ingeniösen Vaters.<br />
Er gibt einsichtigen Flugunterricht, Anleitung von<br />
lebenserhaltender Klugheit: „Halte dich auf mittlerer<br />
Bahn, damit nicht, wenn du zu tief fliegst, die Woge die<br />
Federn schwer mache oder, wenn du zu hoch emporsteigst,<br />
das Feuer sie versenge.“ 12 So hat Dädalus den<br />
günstigsten Luftkorridor vorausberechnet. Ikarus hätte<br />
nur zu folgen brauchen. Aber Ikarus zieht jählings<br />
nach oben. Oder aber, es zieht ihn. Sonnenhoch.<br />
Der Todessturz von der Schmelzhöhe, zu der die kunstfliegerische<br />
Einlage gerät, wäre verkannt, wenn man<br />
ihn moralisch verstünde. Es geht nicht darum, dass<br />
etwas Scheitern muss, weil das Scheitern vorauszusehen<br />
war. Es geht um das Wunder, das einer sucht und<br />
gerade im Scheitern findet. Die ikaräische Erfahrung<br />
ist eine Erfahrung der Selbst- und Weltüberwindung,<br />
eine Erfahrung des Lichts, der kolossalen Sicht. Eine<br />
Erfahrung hochgemuter Weltabständigkeit. Sie zielt<br />
auf einen Punkt unüberbrückbarer Trennung, größtmöglicher<br />
Distanz. Radikaler kann sie nicht sein, die<br />
Abkehr des wagemutigen Hochfliegers von der pfeilgeraden<br />
Fortschrittslinie des verlässlichen Weitfliegers.<br />
Dädalus, der moderne Künstler, hat alle Verstandesleistung<br />
darauf abgestellt, die Physik zu überlisten<br />
<strong>Julius</strong> <strong>Grünewald</strong><br />
und im stolzen Artefakt den Triumph des Geistes über<br />
die Schwerkraft zu demonstrieren. Ikarus, der andere<br />
moderne Künstler, bündelt alle Phantasien auf die<br />
sinnliche Fülle, die im Unvollendeten, Unvollendbaren<br />
versprochen ist. „Freude am Fliegen“, besser kann sich<br />
Ovid, der die Geschichte überliefert, den rätselhaften<br />
Ausbruch aus der Formation nicht erklären. Gereizte<br />
Kühnheit. Eine sonderbare Gestimmtheit eben, eine<br />
euphorische Grund- und Bodenlosigkeit.<br />
Man braucht für die ikaräische Erfahrung weder<br />
Federn am Arm noch einen Gleitschirm im Rucksack<br />
auf dem Rücken. Man kommt genauso in Schmelzhöhe,<br />
wenn man die Tür im Osthofener Atelier schließt<br />
und sich auf dem Rücken mit dem Selbstauslöser fotografiert<br />
und sich nach dem Foto auf dem Rücken liegend<br />
malt, dass es aussieht, als wartete einer auf sein<br />
Hochgehoben- oder sein Fallengelassenwerden oder<br />
auf beides, wer weiß. Es gibt einen Dürer-Holzschnitt,<br />
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