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das argument 175 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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174 Helga Königsdorf<br />

allmählich, und ich merkte, daß ich mir einen ungünstigen Platz ausgesucht hatte.<br />

Es würde nicht möglich sein, die Veranstaltung vorzeitig zu verlassen. Die ersten<br />

standen schon in den Gängen. Der Langhaarige, der eine weiße Bluse über<br />

<strong>das</strong> karierte Hemd gezogen hatte, hantierte jetzt am Altar. Von meinem Platz aus<br />

konnte ich nicht erkennen, was er dort trieb. Schließlich probierte er <strong>das</strong> Mikrophon<br />

aus. Dann verschwand er rechts in einer Tür, um kurze Zeit darauf wieder<br />

aufzutauchen. Jetzt in der Soutane. Es war der Pfarrer.<br />

Er hielt <strong>das</strong> Mikrophon in der Hand, und ich erwartete ein salbungsvolles<br />

»Meine Brüder und Schwestern im Herrn«. Aber er begann locker zu plaudern,<br />

und als hätte er meine Gedanken erraten, entschuldigte er sich <strong>für</strong> die Enge. Man<br />

müßte es nun wohl oder übel anderthalb Stunden miteinander aushalten, denn es<br />

könne nicht extra <strong>für</strong> Weihnachten eine größere Kirche gebaut werden. Als Auftakt<br />

verlangte er von seinen Zuhörern, sie sollten ihren Platznachbarn und auch<br />

nach vorne und hinten ein fröhliches Weihnachtsfest wünschen. Alle waren ein<br />

bißchen betreten. Meine Überwindungskraft reichte gerade <strong>für</strong> meinen linken<br />

Nebenmann aus. Und ich war froh, daß die übrigen nicht auf der Sache bestanden.<br />

Die altvertrauten Worte der Weihnachtsgeschichte. Daß sie sich schätzen ließen.<br />

Herodes und die Mächtigen der Welt. Poetische Bilder. Er hatte es gut, er<br />

konnte im Gleichnis bleiben.<br />

Meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an meinen Betrieb. Daran, daß die<br />

Ausschußquote an der importierten Anlage viel zu hoch lag, seitdem wir unsere<br />

eigenen Materialien eingaben. Daran, daß die Jahresendprämie gefährdet war<br />

und daß es ziemlich viel Ärger geben würde. Gerade als mir mein ganzer Kummer<br />

wieder bewußt wurde, sagte der Pfarrer: »Fürchtet euch nicht, denn ihr werdet<br />

geliebt. Gott hat euch so gewollt, wie ihr seid, und nicht anders. Gehet nur<br />

hin und seid gut zueinander, und die Welt wird nicht verloren sein.« Die Musik<br />

tat <strong>das</strong> ihre. Ich hatte meine Brille vergessen und konnte die Texte auf den Handzetteln<br />

nicht erkennen. Doch zu meiner Überraschung waren die Lieder alle aus<br />

meinem Gedächtnis abrufbar. Ich sang kräftig und schön. Zwar konnte ich im<br />

Gedröhn der Orgel meine Stimme nicht hören, aber es war ein gutes Gefühl.<br />

An der Tür gab der Pfarrer jedem zum Abschied die Hand. Mich sah er dabei<br />

streng und abweisend an. Ich blickte genauso zurück.<br />

Als ich im Regen auf den Bus wartete, glaubte ich wirklich, es sei ganz einfach,<br />

nach Hause zu gehen und meine Familie zu lieben.<br />

DAS ARGUMENT 17411989 ©

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