24.11.2020 Aufrufe

Flip-Uni2020-W

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

6 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

Ein Experte für die Zeitenwende

Philipp Blom: „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“

Nicht nur das große Welttheater

der Salzburger Festspiele, weltweit

bedeutendstes Festival für

klassische Musik und darstellende

Kunst, welches diesen Sommer

sein 100-jähriges Jubiläum hatte,

ist hier gemeint. Aus diesem Anlass

war der Historiker und Philosoph

Philipp Blom beauftragt worden,

etwas beizutragen. Er hatte seitens

der Veranstalter freie Hand und hat

alles in die Waagschale geworfen,

was ihm zur Verfügung steht. Seine

Überlegungen und Betrachtungen

gehen weit über die unmittelbaren

Fragen der Bühnenkunst hinaus.

Die Festtagsschrift wurde zu einem

brillanten und äußerst anregenden

Essay.

Bloms Ansatz: „Das große Welttheater

ist ein Ort, an dem die

Welt sich neu erfinden kann“. In

dem schmalen Bändchen öffnen

sich weite Räume für neue Ideen

und gedankliche Experimente. In

einem spannend geführten dramaturgischen

Bogen wird uns

das Schauspiel der 4000-jährigen

Menschheitsgeschichte vorgeführt,

dessen Hintergrund, wie könnte es

anders sein, zwielichtig gestimmt

ist. Denn: „Nach dem klassischen

Verständnis des Dramas ist die

Welt längst in der Krisis angekommen.

Was aber danach kommen

mag, eine Katastrophe oder der

Schimmer einer Katharsis, ist völlig

offen. Das Welttheater wartet

auf Akteure, um eine andere Erzählung

zu beginnen.“ Einen Abstand

zur derzeitigen Lage schafft Philipp

Blom dadurch, dass er drei entscheidenden,

weit zurückliegenden

historischen Menschheitskrisen

mit ihren Zäsuren und Umbrüchen,

den daraus hervorgegangenen Bewusstseinswandlungen

und Entwicklungsschüben

nachgeht. Das

ist die sogenannte Kleine Eiszeit

um die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts,

die Epoche der Aufklärung

und der Erste Weltkrieg. Mit

diesem historischen Abstand wird

der Blick auf unsere Gegenwart

präzisiert und erhellt. Im Vergleich

zur gegenwärtigen Krise eröffnen

sich überraschende Perspektiven.

Wie damals, so müssten auch heute

neue Ansätze des Denkens, Lebens

und Überlebens gefunden werden.

„Das große Welttheater“ beschwört

die Magie der Bühne als

eine Projektionsfläche, einen Ort

der gemeinsamen Imagination,

wo Selbstergründung und Selbstfindung

stattfinden können. Als

Theaterkenner zeigt Philipp Blom

auf, dass William Shakespeare

zwar geahnt habe, dass er in einer

Zeit des Umbruchs lebte, aber seine

Stücke beschrieben eine Weltsicht,

die sich seit der griechischen Tragödie

nicht wesentlich geändert

hatte. Seine Figuren zerbrechen an

unumstößlichen Verhältnissen und

sterben oft am Ende schön, aber sie

sterben eben. Fast zweihundert

Jahre nach Shakespeare würden

die Helden von Friedrich Schiller

zwar auch tragisch scheitern an der

Macht der Verhältnisse, doch mit

einem entscheidenden Unterschied:

„Sie wollen die Welt verändern, sie

rebellieren nicht gegen ihr persönliches

Unglück, sondern gegen die

Ungerechtigkeit der herrschenden

Ordnung, sie fordern Freiheit,

Gleichheit und Brüderlichkeit für

alle.“ Obwohl sie sich selbst dafür

opfern, seien sie doch Vorboten für

eine neue Zeit, da sie einen Anspruch

erheben auf die Veränderung

der Gesellschaft, in der alles

ganz anders zugehen könnte. Mit

Schillers Dramen im Klima der

Aufklärung eröffnen sich völlig

neue Denkräume und Bilder, und

so müssten auch mit der heutigen

Krise wieder neue Geschichten entstehen.

Als mögliche Versionen eines solchen

Erzählens nennt Philipp Blom

zum Beispiel Hygienedemonstrationen

und das Auftreten von

Globalisierungsgegnern. Wo sich

eigentlich nichts mehr bewegt, alles

in einem Status quo stecken zu

bleiben scheint, kann ja jeder kleine

Anstoß schon von Bedeutung

sein. Mit Scharfsinn führt uns

der Historiker vor Augen, dass die

westliche Welt nicht trotz, sondern

gerade wegen ihres Friedens und

Wohlstands - der auf Sklaverei,

Ausbeutung, Unterstützung von

Diktatoren und vor allem auf massiver

Umweltzerstörung basiert -, in

einer Krise steckt. Durch seine Ansichten

wurde Philipp Blom schon

als Untergangsprophet bezeichnet,

obwohl er nur konsequent versucht,

Fakten zu analysieren. In seinem

Essay „Das große Welttheater“

erweist er sich als ein Experte für

die Zeitenwende, der von Klarsicht

und Liebe zur Vernunft geleitet ist,

es auch an Ironie und Wärme nicht

fehlen lässt. Bereits für den Philosophen

Ludwig Wittgenstein war

die Welt vor allem die Summe aller

Tatsachen. Aber Blom bleibt bei

Tatsachen und Fakten nicht stehen,

denkt sie auch weiter auf eine bisher

noch nicht vernommene Weise.

Das Internet und die Sozialen Medien

sieht er als einen bedenklich

faktenfreien Raum, wo jeder Nutzer

sich Fakten zurechtschustern und

Verschwörungstheorien verbreiten

kann. Das unterwandere gefährlich

die eigentlichen, auch wissenschaftlich

belegbaren Tatsachen.

Neben seinen bisweilen meditativen

Betrachtungen, kommen in

Philipp Bloms großartigem Essay

auch die nackten Zahlen nicht zu

Der Autor Philipp Blom

Foto: Bogenberger Autorenfotos

kurz. Zahlen etwa zum angewachsenen

CO2-Ausstoß und zur Plastikvermüllung

des Planeten. Er

rechnet vor, dass 1970, in seinem

Geburtsjahr, weltweit 35 Millionen

Tonnen Plastik produziert wurden.

Schon 2015 sind es 381 Tonnen gewesen,

und 2016 wurden allein 480

Milliarden PET-Flaschen verkauft.

Die Zahlen machen es überdeutlich:

Der Mensch ist weiter denn je

davon entfernt zu begreifen, dass

er ein Teil der Natur ist, die er zerstört.

Die Ordnung, in der wir heute

leben, führt Blom zurück auf das

biblische Gebot: „Mach dir die Erde

untertan.“ Diese Geschichte sei an

ihr Ende gekommen. Denn wie

sollte die Ausbeutung der Erde, ein

unendlich fortschreitendes Wirtschaftswachstum

bei endlichen

Ressourcen, auf Dauer möglich

sein? Es lässt sich nicht mehr leugnen,

dass die Zeichen auf Sturm

stehen, der Kampf um die Zukunft

begonnen hat. Auf die Bühne seines

Welttheaters, ins Spotlight, stellt

Philipp Blom den Homo Sapiens

als ein Zwitterwesen zwischen

Hell und Dunkel, Gut und Böse.

Überdeutlich wird: Die „Krone der

Schöpfung“ (der Mann als Macher)

ist ins Wanken geraten.

Laufend verwandelt sich die Welt

als Bühne, in größerer Geschwindigkeit

denn je. Bei nie dagewesenen,

rasanten Entwicklungen

kommt die Politik mit ihrem Parteiengezänk,

ihren Machtkämpfen

und ausufernden Debatten längst

nicht mehr hinterher. Auf Warnzeichen

wird zwar reagiert, aber

kaum vorausschauend gehandelt,

zaghafte Ansätze versanden schnell

im Tagesgeschäft. Es sind zähe, oft

lähmende Prozesse der Auseinandersetzung,

doch gibt es für unsere

parlamentarische, demokratische

Regierungsform keine Alternative.

Aber auch eine Demokratie müsse

sich wandeln, in ihrem Selbstverständnis

ändern können. In komplizierten

Zeiten gibt es nun einmal

keine einfachen Lösungen, und alle

die das in der Politik versprechen,

möchten zuallererst Wahlen gewinnen.

„Populistische Politiker“,

stellt Blom fest, „haben weltweit

bewiesen, dass große Teile ihrer

Gesellschaft es vorziehen, an alten

Geschichten festzuhalten, anstatt

sich neuen Realitäten zu stellen.“

Gleichzeitig schwinde damit die

Möglichkeit in einer akuten Krise

angemessen zu handeln und zu

tun, was notwendig ist. Im Zweifel

sei ein Rüstungsdeal wichtiger als

eine Uno-Resolution. Die kollektive

Erzählung von Wachstumsökonomie,

industrieller Moderne

und hemmungsloser Ausbeutung

unserer natürlichen Grundlagen

sei vorbei. „Neue Bilder zu finden

für diese Herausforderung ist das

Friedensprojekt der Gegenwart“.

Dass uns die vertraute Welt langsam

abhanden kommt, ist in den

Augen des Historikers nicht erst

seit Corona der Fall. Doch könnte

diese Krise möglicherweise eine

Generalprobe für viel größere, gewaltigere

Umwälzungen sein. An

COVID-19, sagte Blom in einem

Interview nach Veröffentlichung

seines Buches, interessiere ihn, dass

das Virus „kein lösbares Problem“

sei. Ein Weg müsse gefunden werden,

sich mit dem Rest der Natur,

deren Teil wir nun einmal sind,

„intelligent zu arrangieren“. Die

Pandemie sei nur ein Symptom

für viel größere Probleme, eben

auch ein Zeichen dafür, dass es mit

der Herrschaft des Menschen über

die Natur an ein Ende komme. Es

müsse doch zu denken geben, „dass

ein kleiner blöder Virus von einem

Wet market irgendwo in China die

höchst entwickelten Gesellschaften

der Welt innerhalb von wenigen Tagen

völlig lahm legen kann“. Wenn

er, Blom, die klimatischen Auswirkungen

des Raubkapitalismussystems

anspreche, bekomme er zu

hören: „Ja, tut uns schrecklich leid,

ist schon tragisch. Aber man kann

nichts dran machen, die Wirtschaft

muss weitergehen.“ Natürlich, doch

eben ganz anders, mit einem neuen,

besseren Ökonomieverständnis

wie bisher. Jetzt sehe man ja auf

einmal, dass Staaten durchaus die

Notbremse ziehen können.

Doch Philipp Blom ist leidenschaftlicher

Mahner und Mutmacher

zugleich. Sein Essay ist ein

flammendes, mitreißendes Plädoyer

für eine große, weltweite Veränderung,

in dem Politisches und

Privates, Historisches und Visonäres

in einen Denkprozess eingebunden

sind. Nur eine einschneidende

Veränderung könne noch

verhindern, dass, in Bloms Worten,

„unser Planet zur Weltbühne eines

apokalyptischen Schauspiels ohne

Publikum wird“. Die Bühne brauche

ganz andere Figuren und Geschichten,

um eine neue Wirklichkeit

zu beschreiben und Haltungen

zu stärken, die dieser Wirklichkeit

angemessen sind. Noch ließen sich

nicht diejenigen Figuren erkennen,

die einmal eine Schlüsselrolle

spielen könnten, aber gerade in der

jüngsten Vergangenheit rekrutiere

sich ein ganzer Schwung neuer

Akteure auf der Weltbühne. Es hat

sich schon längst gezeigt, dass das

demokratische Projekt der Moderne

zum Gegenstand neuer sozialer

Konflikte werden wird.

Mit Optimismus alleine und

einem „Weiter so!“ kann es keine

Veränderung, kein Weiterkommen

mehr geben. Zumal nicht mit einer

Politik, die in ihrer Verquickung

mit der Wirtschaft immer noch

festhält an der entleerten Formel

vom ewigen Wachstum. Eines Fortschritts,

der vor nichts Halt macht,

der Sicherheit und Wohlstand, vor

allem den Reichtum von nur Wenigen

garantieren soll. „Politische

Clowns und Entertainer in internationalen

Führungspositionen

sind die logische Konsequenz einer

Zivilisation, deren Imagination

längst vermarktet wurde und von

kommerziellen Interessen bewirtschaftet

wird wie ein Acker Kohl,

einer Gesellschaft, in der Celebrities

die Helden der gemeinsamen

Geschichte sind. ... Je stärker die

disruptiven Effekte des Klimanotstands

werden, desto größer wird

das Bedürfnis nach Sicherheit, nach

starken Männern, einfachen Lösungen,

nach Bestätigung und Ausgrenzung.“

Das erleben wir gerade.

„Manchmal kann eine neue Geschichte

sich erst etablieren, wenn

die alte zu einer Ruine zerfallen ist.“

Eine Hoffnung liegt besonders

auf den jungen, sich noch nicht in

festen Bahnen bewegenden Menschen,

die es sich nicht nehmen

lassen und darauf beharren, noch

etwas vor sich zu haben. Könnten

wir nicht mehr vertrauen auf die

Jugend, wäre in der Tat alles zu

spät. In seinem Fazit hebt Philipp

Blom eine Figur hervor: „Ein

schwedisches Mädchen im Teenageralter

mit langen Zöpfen, ein

unfreiwilliges Weltgewissen mit

Asperger-Syndrom, eine moderne

Jeanne d’Arc, die einer korrupten

Gesellschaft den Spiegel vorhält

und deren einsam-trotziger Appell

an die Erwachsenen eine globale

Protestbewegung losgetreten hat.“

So kommt der Historiker am Ende

auf die Bewegung von „Fridays for

Future“ zu sprechen, deren Weckrufe

für ihn ein Hoffnungsschimmer

sind. Und so bleibt auch der

Leser nach der Lektüre bei allen erschütternden

Befunden nicht ganz

hoffnungslos zurück. Denn: „Vielleicht

kann die Energie einer weiter

gedachten Aufklärung tatsächlich

neue Geschichten beflügeln, neue

Figuren auf die Bühne stellen.“

„Das große Welttheater. Von der

Macht der Vorstellungskraft in

Zeiten des Umbruchs“ ist im Paul

Zsolnay Verlag erschienen, hat 126

Seiten und kostet 18 Euro.

Peter Frömmig

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!