Flip-Uni2020-W
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8 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
Utagawa-Schule: Liebespaar mit Koto
Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München
Liebespaar und Fächer
Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München
Es geht also um Geld, um viel Geld.
Nach Angaben der Match Group,
zu der unter anderem die populäre
Dating-App Tinder gehört, schrieb
das Unternehmen im Jahr 2019 einen
Umsatz von 1,2 Milliarden US-
Dollar. Ein Anstieg von rund 347
Millionen US-Dollar im Vergleich
zu 2018. Auch in diesem Jahr wird
das weltweit agierende Unternehmen
weitere Gewinne verzeichnen,
denn Dating-Apps und soziale Medien
sind populärer denn je.
In Zeiten von Corona, in denen
Lockdowns, Kontaktbeschränkungen,
geschlossene Bars und
Diskotheken das Knüpfen sozialer
Kontakte noch einmal mehr erschwert
haben, meldet Tinder am
29. März 2020 einen neuen Rekord:
Die Plattform registrierte drei Milliarden
Swipes an einem einzigen
Tag. Ein Swipe ist eine Entscheidung,
bei der es um alles geht. Daumen
hoch oder Daumen runter, gefällt
er/sie/* mir oder nicht. Binnen
Sekunden entscheiden wir anhand
von Bildern und einer lächerlichen
Anzahl an Worten in der Profilbeschreibung,
ob wir eine Person kennenlernen
möchten oder eben nicht.
Ein Swipe = Ja oder Nein.
An einem Tag werden mehr als
drei Milliarden Jas oder Neins verteilt.
Eine unendliche Auswahl an
Profilen, bei denen wir nicht erst
langen Smalltalk halten und erste
Schüchternheit überwinden müssen.
Die Person bekommt unsere
Zurückweisung in der Regel nicht
einmal mit. Unangenehmen Gesprächssituationen
wird aus dem
Weg gegangen, soziale Konflikte
werden gemieden. Diese neue
„wechselseitige Durchdringung
von Kapitalismus, Sexualität, Geschlechterverhältnissen
und Technologie“
(Illouz, 2020, S. 13) eröffnet
ein Universum an sozialen und
globalen Möglichkeiten, in erster
Linie produziert sie aber „eine neue
Form von (Nicht)-Sozialität“ (Illouz,
2020, S. 13), die eine gesamte
Generation prägt und unsere Kommunikation
erheblich beeinflusst.
„Die Wahl, nicht zu wählen“ (Illouz,
2020, S. 44) steht im Zentrum
des Subjekts einer digitalen Moderne,
in der Freund- und Liebschaften
durch das Entliken und Entfolgen
auf Social-Media-Plattformen beeinflusst
und sogar beendet werden.
Damit sind das Knüpfen und Lösen
von sozialen Kontakten und Liebesbeziehungen
nur noch einen Klick
weit entfernt.
Emotionale und sexuelle
Verträge
Der Soziologe Anthony Giddens
befasst sich in seiner Arbeit mit den
Wesenszügen unserer emotionalen
Moderne. Im Mittelpunkt der emotionalen
Moderne steht die körperliche
Intimität zweier oder mehrerer
Menschen, die als Ausdruck einer
ultimativen Freiheit in Sachen Liebe
gesehen wird. Denn das Recht
auf freien Zugang zu körperlicher
Intimität ist zeitgleich die Loslösung
alter Zwänge, beginnend bei
religiösen Bezugssystemen (Sexualität
gleich Sünde), kulturellen Traditionen
(welche standesgemäßen
Grundvoraussetzungen muss die
Beziehung zweier Menschen erfüllen,
damit körperliche Intimität
nicht mehr sündhaft sondern akzeptiert
ist) und die Loslösung der
Ehe als eine gesellschaftliche Institution,
die auch wirtschaftliches
Überleben bedeutet (bis heute haben
Eheleute steuerliche Vorteile;
Partner*innen die ebenso lange
Beziehungen führen aber nicht
verheiratet sind, genießen diese
wirtschaftlichen Vorzüge nur dann,
wenn die Partnerschaft offiziell eingetragen
ist).
Während Intimität noch bis in
die 1960er Jahre hinein das Eingehen
eines bindenden Vertrages bedeutete,
ist das Subjekt heute vollkommen
losgelöst von kulturellen
Verpflichtungen, an die sexuelle Begegnungen
früher geknüpft waren.
Keine Beziehung, keine Verlobung
– wenn Zeitdruck herrscht, wird
sogar das obligatorische Kennlern-
Date übersprungen. Keine Mühen,
keine Kosten, keine Verpflichtungen.
Schnell, effizient und vor
allem eins: nicht bindend. Wie ein
Handyvertrag, der monatlich kündbar
ist, suchen wir heute die Liebe
ohne Verpflichtung und emotionale
Bindung. Eva Illouz beschreibt diesen
Zustand als „bedrückend ungreifbar“
(Illouz, 2020, S. 21).
Sexuelle Freiheit sei institutionalisiert
worden. Nicht zuletzt durch
eine stetig wachsende Konsumkultur
und das Eingreifen von Technologien
in unseren Alltag wurde
„jegliche Gewissheit über die Substanz,
den Rahmen und das Ziel
sexueller und emotionaler Verträge
grundlegend erschüttert“ (Illouz,
2020, S. 21).
Die emotionale Moderne definiert
bislang keine genaue Form
einer Beziehung und setzt keine
Rahmenbedingungen voraus, in
denen Intimität und emotionale
Bindung eine gemeinsame Rolle
spielen müssen. Diese fehlenden
sozialen Drehbücher führen in Sachen
Liebe zu einem gefährlichen
Ergebnis: Des orientierung. Die
vorherrschende strukturelle Ungewissheit
macht es den Akteur*innen
Amors ungemein schwer, zwischen
sexueller und emotionaler Freiheit
zu unterscheiden und eine gemeinsame
Quintessenz zu finden, in der
weder das Individuum seine Freiheit
aufgeben noch auf Liebe selbst
verzichten muss.
Im Kontext dessen sind es vor
allem Frauen, die Orientierungslosigkeit
beschreiben, wenn es darum
geht, berufliche und emotionale
Zukunftsperspektiven zu vereinen.
Darf ich mir als Feministin
eine traditionelle Ehe überhaupt
wünschen? Muss ich zwangsläufig
Karriere über private Sesshaftigkeit
stellen, um dem Bild einer
modernen Frau gerecht zu werden?
Und wie soll ich Kindern, Karriere,
Partner*in und mir selbst genügen?
Seit Jahrzehnten kämpfen unsere
Großmütter und Mütter für die Befreiung
der weiblichen Sexualität
und die Überwindung des Patriarchats,
das übrigens nicht nur Frauen
gefährliche Grenzen aufzwingt.
Doch die Befreiung der weiblichen
Sexualität hat Frauen unserer Gegenwart
„in eine zwiespältige Situation
[gebracht], in der sie durch
ihre Sexualität zugleich ermächtigt
und herabgesetzt werden“ (Illouz,
2020, S. 34). Eva Illouz benennt
die Digitalisierung und Konsumkultur
des 21. Jahrhunderts als zentrale
Machtfelder, die die sexuelle
Befreiung der Frau auf der einen
Seite begünstigt haben, auf der anderen
Seite würden Wirtschaft und
Technologie noch immer einem
patriarchalen System unterstehen,
das klischeehafte Rollenbilder begünstigt
und es Akteur*innen erschwert
einen emotionalen Vertrag
aufzusetzen.
Japan – zwischen Sehnsucht
und Distanz
Die Dokumentarreihe „Sex und
Liebe in aller Welt“, zu sehen auf
Netflix und moderiert von der britisch-iranischen
Journalistin Christiane
Amanpour, gibt Einblick in
den Kosmos Liebe. Von Indien bis
China, dem Libanon und Ghana
bis nach Deutschland entdecken
Zuschauer*innen gemeinsam mit
der etablierten CNN-Journalistin
den Einfluss von Kultur auf Liebe,
Sexualität und Partnerschaft.
In Folge 1 reist die Reporterin in
die drittgrößte Volkswirtschaft der
Welt: Japan. Doch zwischen all
dem technischen und wirtschaftlichen
Fortschritt entscheiden sich
heute immer mehr Japaner*innen
bewusst dazu, Single zu bleiben.
Das Ergebnis: die Geburtenrate
sinkt seit Jahren dramatisch. Mehr
als 20 Prozent der japanischen Bevölkerung
sind über 65 Jahre alt,
nach Prognosen soll bis 2030 jeder
Dritte über 65 und jeder Fünfte
über 75 Jahre alt sein. Bereits heute
lassen sich die Konsequenzen einer
über-technologisierten Moderne auf
die Emotionalität des Menschen im
Beispiel Japans beobachten.
„In der Öffentlichkeit küssen
mein Mann und ich uns kaum. Wir
halten uns nicht an der Hand oder
legen den Arm um. Das passiert fast
nie. In äußerst seltenen Fällen halten
wir uns an der Hand. Doch das
mag ich nicht besonders“, erzählt
eine verheiratete Japanerin, Anfang
30, im Interview mit Amanpour.
„Ich küsse meinen Mann nur, wenn
wir Sex haben. Ob es mir gefällt?
Nicht sehr.“ Durch den alltäglichen
Mangel an Zärtlichkeit ist Intimität
in Japan zu einem Geschäft geworden.
Zahlreiche Stundenhotels in
Tokio bieten einen Ort für gemeinsame
Stunden. Zimmer und sogenannte
„Gesundheitshelfer*innen“
können gebucht werden. Nicht
selten sind es verheiratete Frauen,
die diesen Beruf im geheimen ausführen,
um, nach eigenen Aussagen,
fehlende Intimität und Bestätigung
zu finden.
Für die moderne Geschäftsfrau
bieten Host-Clubs das beliebte
„Boyfriend-Erlebnis“ an. Dabei
geht es weniger um sexuelle
Dienstleistungen. Viel mehr werden
Zuneigung, Aufmerksamkeit,
Interesse und emotionale Zuwendung
angeboten. Diese Dienstleistung
ermöglicht es Frauen in Japan
eine Seite von sich selbst zu
offenbaren, die sonst durch gesellschaftliche
Ablehnung verborgen
bleibt: Emotionalität. Gespräche,
Händchen halten, Umarmungen
und die 100-prozentige Aufmerksamkeit
des Gegenübers sind Teil
des „Boyfriend-Erlebnis“. Einer
der „Boyfriends“ berichtet im Interview,
dass Kund*innen im Monat
bis zu zehn Millionen Yen, ungefähr
81.000 Euro, für diese Art der emotionalen
Dienstleistung ausgeben.
Er selbst würde auch emotional von
der Dienstleistung profitieren, da er
diese Form der intimen Nähe, durch
zarte Berührung und intensive Gespräche,
erst durch diesen Beruf erfahren
habe.
Wissenschaftler*innen sehen die
Anfänge mangelnder Intimität in
der japanischen Erziehung. Durch
das Nicht-erlernen körperlicher Intimität
durch die Eltern empfinden
Japaner*innen die Nähe eines anderen
Menschen oft als unangenehm.
„Ich liebe dich“ oder auf japanisch
„Aishiteru“ ist kein Satz, der allzu
oft fällt. Selbstverständliche Gesten
der romantischen Berührung, wie
die Hand des Partners zu halten,
sind selten. Die Erziehung in Japan
ist also deutlich an distanzierte Regeln
geknüpft. Umarmungen, Küsse
oder andere Gesten der emotionalen
Zuneigung werden unter Eltern und
Kind selten ausgetauscht.
Diese Entwicklung wirkt umso
erstaunlicher, wirft man einen
Blick auf die Kunstform Shunga.
Bei Shunga handelt es sich um japanische
Erotikkunst aus dem 17.
Jahrhundert. Historiker*innen nach
war die Edo-Zeit in Japan vom 17.
bis 19. Jahrhundert für ihre sexuelle
Befreiung bekannt. Sexualität
galt in Japan also für lange Zeit
als ein natürlicher Bestandteil des
gesellschaftlichen Miteinanders.
Es war nicht unüblich, dass Polyamorie
einer monogamen Beziehung
vorgezogen wurde. Sexuelle Befriedigung
und emotionale Intimität
waren, im Gegensatz zu heute,
kein Tabuthema. Kunstwerke aus
dem Genre Shunga wurden z.B.
Töchter vor der Hochzeitsnacht geschenkt
und stellten eine Art Sexualanleitung
dar; gleichzeitig diente
Shunga auch zur Unterhaltung und
das durch alle gesellschaftlichen
Schichten hindurch.
Erst als Japan seine Märkte Mitte
des 19. Jahrhunderts öffnete,
änderte sich das gesellschaftliche
Verhältnis zu Sexualität und Intimität.
Im Hinblick auf das damals
vorherrschende Viktorianische Zeitalter,
galt Shunga nach westlichen
Standards als unangemessen. Mit
Anbeginn der Meiji-Periode wurde
die Kunstform Shunga verboten
und sogar in privaten Haushalten
konfisziert. Eine verlorene Kunstform,
die bei einem Blick auf Studienergebnisse
der Universität zu
Tokio unvorstellbar wirkt: Mehr als
40 Prozent der Japaner zwischen 18
und 34 Jahren sind noch „Jungfrau“
und jeder zehnte Mann über 35 hat
noch keine sexuellen Erfahrungen
gesammelt.
Liebeslosigkeit für die Freiheit
Zwar ist das Sexualverhalten in
Deutschland weitaus regsamer als
in Japan, doch wenn es um Bindungen
geht, entscheiden sich auch
hier zu Lande immer mehr Personen
für ein Singledasein. Die Frage
nach dem „Warum“ versucht Eva
Illouz zu beantworten: „Weil man
zu verwirrt oder zwiespältig ist, um
zu begehren; weil man so viele Erfahrungen
sammeln möchte, dass
die Wahl ihre emotionale und kognitive
Bedeutung verliert; weil
man reihenweise Beziehungen beendet
und zerstört, um so das Selbst
und seine Autonomie zu behaupten.
(...) Liebeslosigkeit ist also gleichzeitig
eine Form von Subjektivität“
(Illouz, 2020, S. 35).
Elisabeth Jockers
Eva Illouz, „Warum Liebe endet /
Eine Soziologie negativer Beziehungen“,
Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft 2020