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Marbacher Magazin 160: Im Schattenreich der wilden Zwanziger (Leseprobe)

Das 2017 erschienene Marbacher Magazin mit Fotos aus dem Nachlass von Ruth Landshoff und Texten von Jan Bürger, Chris Korner und Thomas Blubacher ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf

Das 2017 erschienene Marbacher Magazin mit Fotos aus dem Nachlass von Ruth Landshoff und Texten von Jan Bürger, Chris Korner und Thomas Blubacher ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf

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zuletzt, weil er die erotische Ausstrahlung, die er Josephine Baker<br />

abspricht, bei Vollmoellers junger Geliebten umso stärker empfindet.<br />

Am 24. Februar sieht er die beiden Protagonistinnen seiner<br />

erträumten Pantomime in großer Runde bei sich zu Hause wie<strong>der</strong>.<br />

Ruth Landshoff wirkt auf ihn diesmal noch männlicher und noch<br />

verführerischer: »im Smoking sehr hübsch, wie ein Junge aussehend,<br />

was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte<br />

Andeutung schwarzen Bartflaums«.5 Josephine Baker hingegen, die<br />

gegen Mitternacht hinzustößt, enttäuscht ihn zunächst, denn sie<br />

benimmt sich nur allzumenschlich: Die »kleine Negertänzerin«, für<br />

die Kessler eigens »sein Bibliothekszimmer ausgeräumt« hat, wirkt<br />

erschöpft und mag sich verständlicherweise nicht vorführen lassen<br />

wie ein Automat. Kessler meint, sie sei »offenbar verschüchtert in<br />

ihrer Nacktheit vor den ›Damen‹«, also den an<strong>der</strong>en anwesenden<br />

Frauen.<br />

Den Abend rettete, wenn wir Kessler glauben dürfen, <strong>der</strong> von<br />

sich selbst ebenso hingerissen war wie von Josephine Baker, erst <strong>der</strong><br />

Entwurf für seine Pantomime. Flugs sei die Tänzerin von seinem<br />

Szenario begeistert gewesen, ganz so, als hätte sie nur auf einen<br />

Mann wie ihn gewartet, auf seinen erlösenden <strong>Im</strong>puls, mit dem er<br />

sie zurück in ihr ureigenes Element stieß: »Die Baker war wie verwandelt;<br />

drängte, wann sie das tanzen könne? Dann machte sie einige<br />

Bewegungen, stark u. ausdrucksvoll grotesk, vor <strong>der</strong> grossen Maillol<br />

Figur. Offenbar setzte sie sich mit dieser auseinan<strong>der</strong>; sah sie lange<br />

an; machte ihre Stellung nach, lehnte sich in grotesken Stellungen<br />

an sie an, sprach mit ihr, sichtbar beunruhigt von <strong>der</strong> ungeheuren<br />

Starre und Wucht des Ausdrucks, tanzte um sie in grotesk grandiosen<br />

Bewegungen herum wie eine kindlich spielende, über sich selbst und<br />

ihre Göttin sich lustig machende Priesterin. Man sah: <strong>der</strong> Maillol war<br />

für sie viel interessanter und lebendiger als die Menschen, als Max<br />

Reinhardt, Vollmoeller, Harden, ich. Genie (denn sie ist ein Genie<br />

<strong>der</strong> Grotesk-Bewegung) sprach zu Genie. Dann brach sie plötzlich<br />

ab und tanzte ihre Negertänze u. Karikaturen von allerlei Bewegungen.«6<br />

– Gewissermaßen das gesamte kollektive Bildgedächtnis<br />

amalgamierend, erinnerte ihn Baker in ihrer leidenschaftlichen<br />

<strong>Im</strong>provisation zugleich an ägyptische Reliefs und an mechanische<br />

Puppen von George Grosz.<br />

An<strong>der</strong>ntags, am 28. Februar 1926, wirkt Kessler ernüchtert. Er<br />

hatte ebenfalls mit ansehen müssen, wie Baker bei Vollmoeller ihrer<br />

Leidenschaft für Bockwürste frönte, sie liebevoll »hot dogs« nannte<br />

und das auch noch in einer Gesellschaft, »wo Niemand wusste, wer<br />

<strong>der</strong> Andre war, und aus <strong>der</strong> nur seine sehr reizende Geliebte, Fräulein<br />

Lanshoff (wie<strong>der</strong> in Männerklei<strong>der</strong>n) hervorragte«. Kessler schreckten<br />

am Pariser Platz die »Frauen in allen Stadien <strong>der</strong> Nacktheit«<br />

ab, von denen er nicht wusste, »ob es ›Freundinnen‹, Nutten o<strong>der</strong><br />

Damen«7 waren.<br />

An diesem Tag erschien ihm die »Atmosphäre« um den Hausherrn<br />

fast tragisch, zumal Vollmoeller seit Jahren sein großes dichterisches<br />

Talent verspielt hätte. Dass Frauen wie Josephine Baker<br />

und Ruth Landshoff eine neue Epoche <strong>der</strong> wirklichen Emanzipation<br />

vorbereiteten, konnte Kessler nicht sehen. Es wäre ihm wohl auch<br />

nicht in den Sinn gekommen. Doch immerhin hatte er ein Gespür<br />

für die Kehrseite des Glitzerlebens, das Vollmoeller Ruth Landshoff<br />

ermöglichte, immerhin ahnte er den Preis ihres Ruhms.<br />

Das Ungeheuer Zärtlichkeit nannte sie ihr erstes Buch, das nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland verlegt werden konnte.<br />

Der schmale Band mit Erzählungen eröffnete 1952 die von Alfred<br />

An<strong>der</strong>sch herausgegebene Reihe ›studio frankfurt‹, in <strong>der</strong> er 1953<br />

auch Die gestundete Zeit veröffentlichte, das Debüt von Ingeborg<br />

Bachmann. Landshoffs Titelerzählung handelt – durchaus kafkaesk<br />

und zugleich wie ein menschenfreundliches Vorspiel zu Ira Levins<br />

Bestseller Rosemary’s Baby von 1967 – von einer »wun<strong>der</strong>schönen«<br />

Frau, die eines Tages ein »Tier« zur Welt bringt und dieses beglückt<br />

als ihr Baby annimmt, mitsamt seinen »langfingrigen« Greiffüßen.8<br />

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