18.12.2020 Aufrufe

Marbacher Magazin 160: Im Schattenreich der wilden Zwanziger (Leseprobe)

Das 2017 erschienene Marbacher Magazin mit Fotos aus dem Nachlass von Ruth Landshoff und Texten von Jan Bürger, Chris Korner und Thomas Blubacher ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf

Das 2017 erschienene Marbacher Magazin mit Fotos aus dem Nachlass von Ruth Landshoff und Texten von Jan Bürger, Chris Korner und Thomas Blubacher ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

62<br />

könnte. Aber es blieb eine ganz enge Bindung, eine Freundschaft, die<br />

mehr als ein Vierteljahrhun<strong>der</strong>t Bestand hatte, bis zu Vollmoellers<br />

Tod. Doch die sexuelle Beziehung muss sich auf die erste Zeit, als<br />

sie noch sehr jung war, beschränkt haben.<br />

Welche Rolle spielte Harry Graf Kessler für das Leben in<br />

Vollmoellers Wohnung am Pariser Platz, in dieser Mischung aus<br />

erotischen Beziehungen, Film- und Theaterbesetzungen und<br />

diversen künstlerischen Projekten?<br />

Hinreichend bekannt ist ja seine oft zitierte Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Treffen mit Josephine Baker. Mich hat an seinen Aufzeichnungen<br />

aber weniger die Beschreibung <strong>der</strong> Baker interessiert als die <strong>der</strong><br />

»kleinen Landshoff« im Smoking, die »wirklich wie ein bildschöner<br />

Junge aussieht«. Mir ging es dabei nicht um Kesslers erotische<br />

Neigungen, son<strong>der</strong>n darum, dass er ganz klar etwas Spezifisches<br />

für Ruth Landshoff benennt: eben diese Überschreitung <strong>der</strong> Geschlechtergrenzen.<br />

Verkleidet als Junge, flirtete »René«, wie sie<br />

sich nannte, mit Mädchen. Sie zog im Smoking mit Francesco, <strong>der</strong><br />

ein Abendkleid trug, herum. Und manchmal wechselten beide tatsächlich<br />

ihre Identitäten. Es gab einige Berühmtheiten, die Ruth<br />

Landshoff vernaschen wollten. <strong>Im</strong> letzten Moment hat sie dann, im<br />

Halbdunkeln, sozusagen mit Francesco getauscht, und beide haben<br />

sich schrecklich amüsiert, wenn dann irgendwann <strong>der</strong> Moment kam,<br />

an dem <strong>der</strong> Partner entdeckte, dass er mit Francesco im Bett lag und<br />

nicht mit Ruth …<br />

Wie haben Sie so etwas recherchiert? Stochert man als Biograf<br />

da nicht im Nebel des Unzuververlässigen? Dieser Rollentausch<br />

mit Francesco – gibt es dafür überprüfbare Quellen o<strong>der</strong> nur<br />

die Aufzeichnungen <strong>der</strong> beiden?<br />

Das Crossdressing ist nicht nur durch Briefe, son<strong>der</strong>n auch durch<br />

zeitgenössische Veröffentlichungen belegt. <strong>Im</strong> Anekdotischen musste<br />

ich mich aber letztlich auf das verlassen, was die beiden über solche<br />

intimen Dinge zu Papier brachten.<br />

Und erstaunlicherweise blieb Ruth Landshoff ja meist bei <strong>der</strong><br />

Wahrheit.<br />

Sie hat meines Erachtens nichts erfunden. Es gibt nur ganz<br />

wenige Punkte, bei denen sie schummelte. Nachdem sie sich für die<br />

Öffentlichkeit um ein paar Jahre jünger gemacht hatte, wurde ihr<br />

klar, dass das Konsequenzen hatte. Also musste sie z. B. erzählen,<br />

sie wäre auf dem Schulweg von Murnau für den Film Nosferatu entdeckt<br />

worden, was nicht einmal ganz gelogen war, weil es auf dem<br />

Weg zur Schauspiel-Schule war. Aber sie erzählte die Geschichte<br />

natürlich so, dass sich je<strong>der</strong> Leser ein Kind auf dem Weg zur Schule<br />

vorstellt. Sonst aber flunkerte sie nur wenig und verfälschte nichts<br />

grundlegend.<br />

Wie kam Ruth Landshoff zum Schreiben?<br />

Durch Vollmoellers und Mendelssohns Kontakte erlangte sie<br />

früh eine gewisse Popularität. Zugespitzt könnte man sagen, sie<br />

war eines <strong>der</strong> ersten It-Girls <strong>der</strong> Geschichte. Berühmt, ohne dass<br />

man wusste, wofür. O<strong>der</strong> vielmehr einfach dafür, dass sie ist, wie<br />

sie ist: wie sie sich kleidet, wie sie sich gibt, wie sie aussieht; diese<br />

androgyne Erscheinung, dieses freie Leben. Sie war sehr fotogen,<br />

und für ihre Zeit als junge Frau avantgardistisch. Man sprach sogar<br />

von einer Ruth-Landshoff-Mode. Junge Mädchen haben sie kopiert,<br />

sie fanden diesen Typ Frau toll und wollten auch so sein. Das hat<br />

dazu geführt, dass sie für die Unterhaltungspresse immer interessanter<br />

wurde und nach eigenen Beiträgen gefragt wurde. Sie kam<br />

also durch ihre Prominenz als Society-Girl zum Schreiben. Und<br />

natürlich wurden die Feuilletons meist zusammen mit einem Foto<br />

<strong>der</strong> hübschen Autorin abgedruckt, mal neben dem eigenen Auto, mal<br />

mit ihrem Hund. Sie verfasste amüsante Plau<strong>der</strong>eien über Themen<br />

63

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!