2021/03 - FRIZZ Magazin
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
STADT<br />
GESCHICHTEN<br />
Frau ringt nach Luft, erzählt dann ihre<br />
Geschichte. „Wir waren beide in einer<br />
Therapiegruppe gewesen.“ Vor Beginn<br />
der Pandemie reiste sie schließlich nach<br />
Indien, um ihre guten Vorsätze zu bestärken.<br />
Und um ihre eigene Mitte wiederzufinden.<br />
Dann der erste Lockdown.<br />
„Ich konnte wegen der Pandemie nicht<br />
nach Hause zurückkehren ...“<br />
Die Psychologie dahinter<br />
Was ist es, das uns antreibt? Warum ist<br />
manchen Menschen ein besseres Leben<br />
beschieden als anderen, bei ähnlicher Motivation<br />
und Bemühung?<br />
<strong>FRIZZ</strong> fragt bei der Ulmer Gesprächstherapeutin<br />
Baha Meier-Arian von „mental<br />
health management“ nach. „Das äußere<br />
Chaos ist oft ein Spiegel der inneren<br />
Gefühlswelt. Das Anhäufen von Gegenständen<br />
und Lebensmitteln und die mangelnde<br />
Fähigkeit, deren Wert und Nutzen<br />
zu beurteilen, führen oftmals dazu, dass<br />
Betroffene kaum mehr Platz in der eigenen<br />
Wohnung finden. Das Chaos steht<br />
dabei als charakteristisches Merkmal<br />
der eigenen Hilflosigkeit. Frühkindliche,<br />
traumatische Verlusterlebnisse, Bindungsstörungen<br />
und lebensbedrohliche<br />
Ereignisse können das emotionale Erleben<br />
einschränken. Wenn also jemand<br />
im Chaos versinkt gibt es dafür einen<br />
tieferen Sinn, nachdem es sich zu suchen<br />
lohnt. Außenstehende interpretieren die<br />
„Das Ansammeln von<br />
Gegenständen und<br />
Lebensmitteln ist letztendlich<br />
der Versuch,<br />
eine Sicherheit im Leben<br />
zu haben …“<br />
Baha Meier-Arian<br />
dungsverhalten, bei dem aus Angst,<br />
etwas falsch zu machen, lieber keine<br />
Entscheidung getroffen wird.“ Meistens<br />
sind starke emotionale Faktoren wie Einsamkeit<br />
und Depressionen im Spiel. „Das<br />
Ansammeln von Gegenständen und Lebensmitteln<br />
ist letztendlich der Versuch,<br />
eine Sicherheit im Leben zu haben, empfundenen<br />
Stress zu kompensieren oder<br />
mangelnde Liebe zu ersetzen,“ verdeutlicht<br />
Meier-Arian. „Das Streben nach<br />
innerer Balance ist ein Bedürfnis aller<br />
Menschen. Manches Mal mündet dieser<br />
innere Drang in einem Zwang. Das Anhäufen<br />
von unnützen Gegenständen ruft<br />
Situation oftmals falsch, erkennen darin<br />
eine mangelnde Aufräumstrategie oder<br />
Faulheit. Die Trennung von Objekten<br />
wird von Betroffenen jedoch als Verlust<br />
der eigenen Identität erlebt!“<br />
Einen weiteren Grund erkennt die Therapeutin<br />
in einem „extremen Vermeidann<br />
positive Emotionen hervor.<br />
Wenn eine Gesellschaft strukturell und<br />
emotional gut funktioniert, gebe es keine<br />
„Messies“, sagt Meier-Arian. Einigen<br />
Völkern der Welt sei dieses Phänomen<br />
gar vollkommen fremd. „In der modernen<br />
Welt werden soziale Verhaltensregeln<br />
und Empathie zwar umfänglich diskutiert<br />
und das Verständnis für andere<br />
wird eingefordert. Viele Menschen erleben<br />
im Alltag jedoch keine Nächstenliebe<br />
und treffen auf wenig Verständnis. Die<br />
Fürsorge fehlt.“ Empathie sieht die Gesprächstherapeutin<br />
darin, Betroffenen<br />
zuzuhören: „Das bedarf manchmal einer<br />
gewissen Anstrengung“, die Expertin<br />
sieht darin allerdings ein „Muss“. „Ansonsten<br />
laufen wir innerhalb unserer<br />
Gesellschaft Gefahr, immer mehr Individualität<br />
zu fördern, dabei allerdings das<br />
Wesentliche im Leben zu verlernen: Was<br />
es bedeutet, zu lieben.“<br />
200 Kubikmeter und ein Rätsel<br />
Marcell Engel und seine Tatortreiniger<br />
haben in zwei Tagen insgesamt 200 Kubikmeter<br />
Müll aus dem Einfamilienhaus<br />
entfernt. Engel hat der Hinterbliebenen<br />
die persönlichen Gegenstände an eine<br />
Adresse in Deutschland geschickt. Wer<br />
das Schlafzimmer vor den Tatortreinigern<br />
verschlossen halten wollte? „Das<br />
bleibt wohl für immer ein Rätsel.“<br />
Text: Julia Haaga<br />
4 FRAGEN AN DEN TATORTREINIGER<br />
<strong>FRIZZ</strong>: Wie kannst du nach einem<br />
Großeinsatz abschalten?<br />
Marcell Engel: Für alles gibt es einen<br />
Ausgleich. Wenn dich etwas so richtig<br />
überfordert, dann gibt es verschiedene<br />
Bausteine, die du in die Waagschale<br />
wirfst, um wieder Herr über die Lage<br />
zu werden. Ich mache zum Beispiel<br />
viel Sport. Ich rate meinen Angestellten<br />
außerdem, über das Erlebte zu sprechen.<br />
Wir haben einen Psychologen, der Tag und<br />
Nacht erreichbar ist.<br />
Was muss ein Tatortreiniger an Eigenschaften<br />
mitbringen?<br />
Empathie ist unerlässlich, um nicht abzustumpfen.<br />
Ausdauer, aber auch eine starke<br />
Psyche zeichnen einen Tatortreiniger aus.<br />
Fünf Prozent der Mitarbeiter sind für die<br />
Tatortreinigung nach einem Kriminalfall<br />
speziell weitergebildet worden.<br />
Was war das Schlimmste, das du je wegräumen<br />
musstest?<br />
Es ist immer schlimm, wenn es schwache,<br />
unschuldige Menschen trifft. Das geht mir<br />
dann sehr nahe. Wenn du einmal ein Spurenleser<br />
geworden bist, dann springt am<br />
Tatort sofort das Kopfkino an. Man emp-<br />
findet mit allen Sinnen, sieht manchmal<br />
noch die Biomasse oder Schädelknochen.<br />
Wenn man davor noch die<br />
Leiche gesehen hat, kann das zu einem<br />
Problem werden. Wir teilen uns daher<br />
immer in zwei Gruppen ein. Team eins<br />
übernimmt die Säuberung des Tatorts,<br />
Team zwei die Räumung.<br />
Du sagst, das Leben ist ein Tatort.<br />
Wie ist das gemeint?<br />
Ständig denken wir, jeder Tag sei<br />
selbstverständlich. Ich sage: Jeder Tag<br />
ist ein Geschenk. Darüber sollte man<br />
sich klarwerden, um im Leben selbst<br />
zur Tat zu schreiten. Sei es, um anderen<br />
Menschen zu helfen oder sich<br />
selbst mit seinen Zielen und Träumen<br />
zu verwirklichen. Wir sind und werden,<br />
was wir denken!<br />
16