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6 MÜNCHEN<br />
CORONA<br />
UND SENIOREN<br />
FOTO: PETRA BORAK / PIXELIO.DE / CC0<br />
„So langsam fühle ich<br />
mich schon verloren“<br />
Neuperlach, Samstagnachmittag,<br />
15 Uhr. Ich bin im vierten<br />
Stock einer kleinen Wohnung<br />
in einem dieser typischen,<br />
monströsen Wohnblöcke aus den 1970er-<br />
Jahren. Die Einrichtung schlicht, die Wände<br />
grau, helles Holz, schwere Vorhänge,<br />
eine ballonförmige Deckenleuchte aus<br />
Papier, an der Wand gerahmte Poster impressionistischer<br />
Kunst. Fast schon wieder<br />
modern, wäre da nicht die Sammlung von<br />
Porzellanpapageien im Wandschrank und<br />
das Meer alter Kissen auf dem Sofa. Auf<br />
dem Glastisch eine French Press, gefüllt<br />
mit Kaffee, und Schokokrapfen, verziert<br />
mit lachenden Pappfiguren – es ist<br />
schließlich Faschingszeit. „Hier habe ich<br />
alle vier Wochen meinen schwulen Kaffeeklatsch<br />
veranstaltet, aber seit fast einem<br />
Jahr ist keiner mehr vorbeigekommen.“<br />
Der das erzählt ist Karl, 71, ein freundlicher<br />
älterer Herr und „guat beianand“,<br />
wie der Bayer sagt. „Ich will gar nicht das<br />
klassische Bild des einsamen Rentners<br />
mit Häkeldeckchen und Kanarienvogel<br />
bedienen, aber so langsam fühle ich mich<br />
schon verloren.“<br />
Ich bin sein erster Gast seit Langem.<br />
Der Freundeskreis, alles schwule<br />
Männer jenseits der 65, hat sich in<br />
Zeiten von Corona zurückgezogen. „Eine<br />
immobile Risikogruppe“, scherzt Karl.<br />
Nach Neuperlach seien sie ohnehin<br />
nie gern gekommen, man habe sich<br />
meist in der Stadt getroffen. Dort, wo<br />
die Wege kürzer, die Umgebung bunter,<br />
die Männer interessanter waren. Seine<br />
Verbindungsader in dieses Leben war<br />
die U-Bahn-Linie 5. „Ich bin meist bis<br />
zum Stachus gefahren und hab dann<br />
einen Spaziergang Richtung Glockenbachviertel<br />
gemacht.“ Doch seitdem die<br />
Kaufhäuser am Stachus keine Kunden<br />
mehr einlassen und die Cafés im Glockenbachviertel<br />
geschlossen sind, fährt<br />
er nur noch selten in die Stadt. „Vielleicht<br />
ganz gut so, U-Bahn-Fahren soll ja<br />
riskant sein zurzeit.“ In seinem Mietshaus<br />
kennt er kaum einen Nachbarn, „meist<br />
junge Familien aus anderen Ländern, die<br />
mit einem schwulen, alten Mann nicht<br />
viel anfangen können.“ Karl wohnte nur<br />
hier, sein Leben jedoch spielte sich hier<br />
nie ab – bis das Virus kam. Natürlich hat<br />
er ein Telefon und das klingelt auch ab<br />
und zu. Und natürlich hat er Internet, das<br />
ihn informiert und unterhält, aber soziale<br />
Kontakte macht er lieber persönlich.<br />
Außerdem: „Online-Dating mit 71? Das ist<br />
doch Quatsch!“ Karl macht die Pandemie<br />
nicht depressiv, er ist nicht niedergeschlagen<br />
und kann sich durchaus mit sich<br />
selbst beschäftigen. Aber diese Zeit nagt<br />
an ihm, das spürt man deutlich.<br />
„Lesben können<br />
besser mit der<br />
Krise umgehen“<br />
„Wir haben schon den Eindruck, dass<br />
gerade die Älteren aus der Community<br />
besonders unter der Corona-Situation<br />
leiden“, berichtet Anna Geiger. Sie<br />
ist Mitarbeiterin bei rosaAlter, der<br />
Beratungsstelle für LGBTIQ*-Senioren,<br />
die unter dem Dach der Münchner<br />
Aids-Hilfe angesiedelt ist. Menschen wie