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Leo März / April 2021

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6 MÜNCHEN<br />

CORONA<br />

UND SENIOREN<br />

FOTO: PETRA BORAK / PIXELIO.DE / CC0<br />

„So langsam fühle ich<br />

mich schon verloren“<br />

Neuperlach, Samstagnachmittag,<br />

15 Uhr. Ich bin im vierten<br />

Stock einer kleinen Wohnung<br />

in einem dieser typischen,<br />

monströsen Wohnblöcke aus den 1970er-<br />

Jahren. Die Einrichtung schlicht, die Wände<br />

grau, helles Holz, schwere Vorhänge,<br />

eine ballonförmige Deckenleuchte aus<br />

Papier, an der Wand gerahmte Poster impressionistischer<br />

Kunst. Fast schon wieder<br />

modern, wäre da nicht die Sammlung von<br />

Porzellanpapageien im Wandschrank und<br />

das Meer alter Kissen auf dem Sofa. Auf<br />

dem Glastisch eine French Press, gefüllt<br />

mit Kaffee, und Schokokrapfen, verziert<br />

mit lachenden Pappfiguren – es ist<br />

schließlich Faschingszeit. „Hier habe ich<br />

alle vier Wochen meinen schwulen Kaffeeklatsch<br />

veranstaltet, aber seit fast einem<br />

Jahr ist keiner mehr vorbeigekommen.“<br />

Der das erzählt ist Karl, 71, ein freundlicher<br />

älterer Herr und „guat beianand“,<br />

wie der Bayer sagt. „Ich will gar nicht das<br />

klassische Bild des einsamen Rentners<br />

mit Häkeldeckchen und Kanarienvogel<br />

bedienen, aber so langsam fühle ich mich<br />

schon verloren.“<br />

Ich bin sein erster Gast seit Langem.<br />

Der Freundeskreis, alles schwule<br />

Männer jenseits der 65, hat sich in<br />

Zeiten von Corona zurückgezogen. „Eine<br />

immobile Risikogruppe“, scherzt Karl.<br />

Nach Neuperlach seien sie ohnehin<br />

nie gern gekommen, man habe sich<br />

meist in der Stadt getroffen. Dort, wo<br />

die Wege kürzer, die Umgebung bunter,<br />

die Männer interessanter waren. Seine<br />

Verbindungsader in dieses Leben war<br />

die U-Bahn-Linie 5. „Ich bin meist bis<br />

zum Stachus gefahren und hab dann<br />

einen Spaziergang Richtung Glockenbachviertel<br />

gemacht.“ Doch seitdem die<br />

Kaufhäuser am Stachus keine Kunden<br />

mehr einlassen und die Cafés im Glockenbachviertel<br />

geschlossen sind, fährt<br />

er nur noch selten in die Stadt. „Vielleicht<br />

ganz gut so, U-Bahn-Fahren soll ja<br />

riskant sein zurzeit.“ In seinem Mietshaus<br />

kennt er kaum einen Nachbarn, „meist<br />

junge Familien aus anderen Ländern, die<br />

mit einem schwulen, alten Mann nicht<br />

viel anfangen können.“ Karl wohnte nur<br />

hier, sein Leben jedoch spielte sich hier<br />

nie ab – bis das Virus kam. Natürlich hat<br />

er ein Telefon und das klingelt auch ab<br />

und zu. Und natürlich hat er Internet, das<br />

ihn informiert und unterhält, aber soziale<br />

Kontakte macht er lieber persönlich.<br />

Außerdem: „Online-Dating mit 71? Das ist<br />

doch Quatsch!“ Karl macht die Pandemie<br />

nicht depressiv, er ist nicht niedergeschlagen<br />

und kann sich durchaus mit sich<br />

selbst beschäftigen. Aber diese Zeit nagt<br />

an ihm, das spürt man deutlich.<br />

„Lesben können<br />

besser mit der<br />

Krise umgehen“<br />

„Wir haben schon den Eindruck, dass<br />

gerade die Älteren aus der Community<br />

besonders unter der Corona-Situation<br />

leiden“, berichtet Anna Geiger. Sie<br />

ist Mitarbeiterin bei rosaAlter, der<br />

Beratungsstelle für LGBTIQ*-Senioren,<br />

die unter dem Dach der Münchner<br />

Aids-Hilfe angesiedelt ist. Menschen wie

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