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Klangbrücken - SIFAT Heft 1/2021 - Leseprobe

Dieses Heft ist dem Klang gewidmet: wehend und vergänglich, durchdringend und zeitlos. Er stellt eine Verbindung her, zum anderen, zum eigenen Inneren, in die Transzendenz. Der Klang der Stimme, eines Instruments, in den Ritualen der Religionen ist letztlich nicht in seiner Wirkung berechenbar, seine Quellen nicht zu erfassen. Er verbindet mit etwas Unvorhersehbarem, ein Geschenk aus einer anderen Welt und doch ein Kind des Augenblicks, manchmal eine Sprache des Unsagbaren. In der Musik werden diese Energien der Klänge kultiviert und kommen doch unwiederholbar zum Ausdruck.

Dieses Heft ist dem Klang gewidmet: wehend und vergänglich, durchdringend und zeitlos. Er stellt eine Verbindung her, zum anderen, zum eigenen Inneren, in die Transzendenz. Der Klang der Stimme, eines Instruments, in den Ritualen der Religionen ist letztlich nicht in seiner Wirkung berechenbar, seine Quellen nicht zu erfassen. Er verbindet mit etwas Unvorhersehbarem, ein Geschenk aus einer anderen Welt und doch ein Kind des Augenblicks, manchmal eine Sprache des Unsagbaren. In der Musik werden diese Energien der Klänge kultiviert und kommen doch unwiederholbar zum Ausdruck.

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Zeitschrift für Universalen Sufismus<br />

49. Jg.<br />

<strong>Heft</strong> 1<br />

April <strong>2021</strong><br />

<strong>Klangbrücken</strong>


Sufismus<br />

ist eine uralte Weisheit und zugleich eine Methode der geistigen Schulung, die<br />

Menschen befähigt, diese Weisheit in ihrem täglichen Leben zu verwirklichen.<br />

Wer dem Universalen Sufismus<br />

folgen will, wie ihn Hazrat Inayat Khan und seine Nachfolger gelehrt haben<br />

und lehren, ist nicht auf bestimmte Dogmen, Rituale oder spirituelle Techniken<br />

festgelegt.<br />

Der Universale Sufismus baut eine Brücke über die Unterschiede und Grenzen,<br />

die Menschen und Religionen voneinander trennen. Er ermöglicht auch, die<br />

eigene Religion besser zu verstehen und zu leben, weshalb jeder diesen Weg<br />

gehen kann, unabhängig von der Religionszugehörigkeit.<br />

Hazrat Inayat Khan<br />

wurde am 5. Juli 1882 in der indischen Stadt<br />

Baroda geboren. Seine hoch angesehene Familie<br />

war durchdrungen vom Geist mystischer Religiosität<br />

und von der Liebe zur klassischen indischen<br />

Musik. Inayat Khan war von Kind auf in Kontakt<br />

mit den geistigen Traditionen des Islam wie des<br />

Hinduismus, in einer Atmosphäre freundlicher<br />

Toleranz über alle konfessionellen Grenzen hinweg.<br />

Im Jahre 1910 bekam er von seinem spirituellen<br />

Lehrer, Abu Hashim Madani, der der Sufi-<br />

Tradition der Chishtis angehörte, den Auftrag,<br />

den Sufismus in den Westen zu bringen. Hier<br />

wurde er der Begründer und das geistige Oberhaupt (Pir-o-Murshid) der Sufi-<br />

Bewegung und ihrer esoterischen Schule, des Inayati-Ordens, und er schuf den<br />

Universellen Gottesdienst. Längere Zeit lebte er in Suresnes bei Paris, von wo er<br />

oft zu Reisen in die ganze westliche Welt aufbrach. Seine Vorträge füllen die 13<br />

Bände seiner „Sufi Message“. Er starb am 5. Februar 1927 in New Delhi.<br />

Hazrat Inayat Khans Lehre und die seiner Nachfolger ist geprägt von einer<br />

umfassenden Toleranz, einer Verehrung und Liebe zu allen Prophetinnen und<br />

Propheten und Heiligen der Menschheit und einem Verständnis gegenüber der<br />

Vielfalt der religiösen Traditionen und Lebenserscheinungen.


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Klangbrücken</strong><br />

Vorwort der Redaktion 4<br />

Hazrat Inayat Khan und Samuel L. Lewis: Musik als himmlische Kunst 5<br />

Hazrat Inayat Khan: Musik 8<br />

Pir Vilayat Inayat Khan: Perspektiven für eine Spiritualität der Zukunft 9<br />

Noor Inayat Khan: Echo oder was man manchmal im Wald hört 12<br />

Musharaff Moulamia Khan: Meine musikalische Ausbildung in Indien 14<br />

Jaan Karl Klasmann: Der Klang-Code der Gottesnamen –<br />

essenzielle Bedeutungsschicht im Herzen der Wasaif 16<br />

William Allaudin Mathieu: Die Musik der frühen Tänze und Lieder 20<br />

Ophiel Maarten van Leer: Die neue Musikaktivität<br />

innerhalb der Inayatiyya 22<br />

Eine jüdische Legende: Die Flöte 25<br />

Rabbiner Elischa Portnoy: Geschichte und Bedeutung des<br />

heiligen Klangs am Neujahrsfest 27<br />

Hildegard von Bingen: Lobt ihn mit Trompetenschall 29<br />

Karl Michael Ranftl: Das Wessobrunner Gebet –<br />

ein klingender Brückenschlag ins frühe Mittelalter 31<br />

Jehudi Menuhin: Über die Stille 34<br />

Felix Idris Baritsch: Ode an den Klang der Leere 35<br />

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi: Der Harfenspieler 40<br />

Christel Ludewig: Wenn jemand spricht, wird es hell 41<br />

Erika Imhoff: Unser Sorgenkind 43<br />

Michael Nüssen: Orient und Okzident: vom Lernen fremder Klänge 46<br />

Mehmet Ergin: Inspiration und Kreativität 49<br />

Texte aus den Heiligen Schriften der Weltreligionen 51<br />

Blick aus dem Fenster: Friedensglocken e. V. – Jaget dem Frieden nach! 55<br />

Buchbesprechungen:<br />

Medizin des Herzens – 99 Heilungswege der Sufis 56<br />

Hazrat Inayat Khan: Die Mystik des Klangs 58<br />

Wir gedenken Ameen Wite Louis Carp 61<br />

Impressum 62<br />

Neuerscheinung: Ritterschaft des Herzens 63<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 3


Vorwort der Redaktion<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

dieses <strong>Heft</strong> ist dem Klang gewidmet: wehend und vergänglich, durchdringend<br />

und zeitlos. Er stellt eine Verbindung her, zum anderen, zum eigenen Inneren,<br />

in die Transzendenz. Der Klang der Stimme, eines Instruments, in den Ritualen<br />

der Religionen ist letztlich nicht in seiner Wirkung berechenbar, seine Quellen<br />

nicht zu erfassen. Er verbindet mit etwas Unvorhersehbarem, ein Geschenk aus<br />

einer anderen Welt und doch ein Kind des Augenblicks, manchmal eine Sprache<br />

des Unsagbaren. In der Musik werden diese Energien der Klänge kultiviert<br />

und kommen doch unwiederholbar zum Ausdruck.<br />

„Vom metaphysischen Standpunkt aus kann nichts das Formlose berühren<br />

außer der Kunst der Musik, die in sich selbst formlos ist.“ […] „durch das Praktizieren<br />

dieser Musik erreichte ich eine Ebene, auf der ich die Musik der Sphären<br />

berührte, jede Seele für mich zu einem Ton und das ganze Leben zu Musik<br />

wurde“ schreibt Hazrat Inayat Khan. Ebenfalls für Pir Vilayat Inayat Khan<br />

war Musik ein wesentliches Thema, das er in seinen Seminaren und in musikalischen<br />

Aufführungen erlebbar machte. Samuel Lewis hat durch die „Tänze<br />

des universellen Friedens“ und damit der Umwandlung der Musik in bewegte<br />

gemeinsame Erfahrung einen bedeutsamen Beitrag geleistet. Einen kleinen Eindruck<br />

von den Gedanken der Genannten können Sie auf den folgenden Seiten<br />

bekommen.<br />

Wir freuen uns, dass sich an diesem <strong>Heft</strong> viele Musiker aus unserer Gemeinschaft<br />

beteiligt haben: Der Klang der Gottesnamen im Islam wird in seiner Bedeutung<br />

dargestellt, das Wechselspiel von Klang und Leere aus buddhistischer Sicht, die<br />

Bedeutung der Inspiration beim Komponieren, das Wessobrunner Gebet als<br />

Brücke zwischen den Religionen im frühen Mittelalter und die dort erhaltene<br />

älteste noch klingende Glocke auf dem europäischen Kontinent. Weiterhin das<br />

Leben mit Veränderungen der Klänge in der Umgebung und die Bedeutung<br />

von Klängen bei der Erweiterung von Kommunikationsmöglichkeiten.<br />

Wir möchten hier nicht alle weiteren Artikel aufzählen. Wenn sie Anklang<br />

finden, freuen wir uns, besonders in dieser Zeit, wo Klänge durch Masken<br />

gedämpft und manchmal nur einsam zu erleben sind.<br />

An dieser Stelle möchten wir die Gelegenheit nutzen, dem Verlag Heilbronn<br />

zu seinem 40jährigen Bestehen zu gratulieren und uns bei Uta Maria Baur und<br />

4 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Hazrat Inayat Khan und Samuel L. Lewis: Musik als die himmlische Kunst<br />

Josef Ries für die bisherige erfreuliche Zusammenarbeit recht herzlich bedanken.<br />

Die Redaktion:<br />

Claudia Nüssen, Regina Armaiti Winkler Reber, Hans-Peter Baum, Michael<br />

Nüssen, Detlef Qalbi Marzke<br />

Hazrat Inayat Khan und Samuel L. Lewis<br />

Musik als die himmlische Kunst<br />

Hazrat Inayat Khan: Zu allen Zeiten haben nachdenkliche Menschen<br />

Musik als die himmlische Kunst bezeichnet. Künstler haben Engel Harfe<br />

spielend dargestellt, und das lehrt uns, dass die Seele mit der Liebe zur Musik<br />

auf die Erde kommt.<br />

KOMMENTAR SAMUEL LEWIS: Die Vorstellung, dass es Engelwesen gibt,<br />

ist nicht auf eine Kultur oder Religion beschränkt. Es stimmt wohl, dass Menschen,<br />

die weniger entwickelt sind, nur mit Geistern und Feen und nicht mit<br />

Engeln vertraut sind. Das mag daran liegen, dass Geister und Feen mit psychischen<br />

und mentalen Prozessen verbunden sind, während der Bereich der<br />

Engelwesen der des Herzens ist. Dies wird von Sufis Djabrut genannt und von<br />

Hindus Devachan oder Brahma-loka.<br />

Musik mag in zweierlei Hinsicht als himmlisch betrachtet werden. Einerseits<br />

können wir sehen, wie alle Musikschaffenden solche Tonqualitäten und vor<br />

allem jene Art von Musik zum Ausdruck bringen, die im Einklang mit ihrer<br />

Entwicklung ist. Andererseits entdecken oder idealisieren wir die Engel als die<br />

eigentlichen Wesen der Musik, deren beste Nachbildung auf Erden wir in den<br />

Gurrlauten der Tauben und der kleinen Kinder finden. Dieser besondere Klang<br />

oder diese Tonqualität gehört zum Heiligen Geist, von dem es heißt, er sei in<br />

Form einer Taube auf Jesus Christus herabgekommen. Der Heilige Geist ist der<br />

göttliche Atem und das Wort; sowohl Atem als auch Wort sind Klang.<br />

Obwohl die Kulturen der Chinesen, Hindus und Hebräer sich scheinbar<br />

getrennt voneinander entwickelten und obwohl ihre religiösen Traditionen<br />

jeweils einzig in ihrer Art zu sein scheinen, stimmten sie alle der Idee von göttlichen<br />

Wesen oder Bewohnern des Himmels als Geschöpfen der Musik zu. Diese<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 5


Hazrat Inayat Khan und Samuel L. Lewis: Musik als die himmlische Kunst<br />

übernahmen die Lenkung der Schwingungen des Universums und drückten sie<br />

durch Klang aus. Auch wenn die stimmliche Form dieser Musik unterschiedlichen<br />

Ausdruck fand, war die Grundlage überall dieselbe.<br />

Den Esoterikern zufolge wohnte die von Gott geschaffene Seele in den Sphären<br />

der Engel, bevor sie in den Zyklus der Manifestation eintrat, und sie bringt<br />

die Eigenschaften aller Sphären und Ebenen mit sich. Daher geht das Menschsein<br />

in gewissem Sinn über die Engel hinaus, da die Menschen nach göttlichem<br />

Ebenbild geschaffen wurden und ihre Möglichkeiten unendlich viel größer sind<br />

als ihre Auffassungen.<br />

HAZRAT INAYAT KHAN: In Arabien wird die folgende Geschichte erzählt:<br />

Als Gott den Körper des ersten Menschen schuf, forderte Er die Seele auf, in<br />

den Körper einzutreten. Doch die Seele weigerte sich und sagte, dass er ihr wie<br />

ein Gefängnis vorkomme und sie dieses Gefängnis nicht betreten wolle. Dann<br />

bat Gott die Engel zu singen und zu tanzen. Als die Seele Musik hörte, wurde sie<br />

von Ekstase ergriffen und in dieser Ekstase trat sie in den physischen Körper ein.<br />

Es ist eine seltsame Geschichte, doch sie gibt uns den Schlüssel zum Geheimnis<br />

der Musik. Sie zeigt, dass der Mensch nicht erst nach seiner Geburt auf der Erde<br />

die Musik liebte, sondern dass die Seele schon mit der Liebe zur Musik auf die<br />

Erde kam.<br />

KOMMENTAR SAMUEL LEWIS: Die Seele, die nach dem göttlichen Ebenbild<br />

geschaffen wurde, hat die Substanzen aller Ebenen in sich, und auch ihre<br />

wesentlichen Teile, sowohl ihr Wesen (Zat in Sufi-Sprache) als auch ihre Eigenschaften<br />

(Sifat in Sufi-Sprache). Die Seele ist aus feinsten Schwingungen zusammengesetzt<br />

und aus diesen feinen Schwingungen gehen gröbere Schwingungen<br />

und Atome hervor, deren Spiel und Zusammenspiel die verschiedenen Ebenen<br />

der Existenz bilden. Es gibt mehrere Ebenen, wobei die Erd-Ebene die dichteste<br />

und am weitesten von der Quelle entfernte ist, entsprechend der Natur ihrer<br />

Atome und Schwingungen.<br />

Betrachtet man das Universum von dort aus, so ist das Wort Gottes selbst<br />

aus all diesen Atomen und Schwingungen zusammengesetzt, die zusammen die<br />

Musik des Kosmos bilden. Denn wenn der Klang auf bestimmte Wellenlängen<br />

und Takte abgestimmt ist, wird er zu Musik, während er sonst nur Lärm wäre.<br />

Das Wort Gottes ist daher die Essenz aller Musik, und da dieses Wort sozusagen<br />

zur Seele des Menschen wird, ist die Seele der Angelpunkt der Musik.<br />

Und was ist Ekstase? Ekstase ist ein Zustand, in dem alle Bestandteile eines<br />

Wesens in rhythmische Bewegung versetzt werden. Die emotionalen Auswirkungen<br />

davon bringen das Bewusstsein in einen Zustand großer Freude und<br />

6 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Hazrat Inayat Khan und Samuel L. Lewis: Musik als die himmlische Kunst<br />

Freiheit. Man ist sich dann des Selbst nicht bewusst, zumindest nicht eines<br />

getrennten Selbst, und alles, was es fühlt, sind diese Schwingungen der Freude<br />

und des Entzückens. Dadurch verliert man das Bewusstsein für Äußerlichkeiten.<br />

Nichts erzeugt Ekstase so gut wie Musik, die selbst ein Produkt der Schwingung<br />

ist und die teilnehmenden Schwingungen auf allen Ebenen in Bewegung<br />

setzt: physisch, emotional, mental und spirituell, je nach ihrer anfänglichen Art<br />

und ihrem Antrieb.<br />

Die Hindus haben eine Wissenschaft, die „Mantra Yoga“ genannt wird, was<br />

Verbindung mit dem Kosmos durch Klang bedeutet. Die Wiederholung des<br />

göttlichen Wortes erzeugt die Vereinigung in einem nüchternen Zustand, doch<br />

wenn die Worte gesungen werden, bringen sie Ekstase und Rausch hervor. Die<br />

Sufis, vor allem die der Mevlevi- und Chishti-Schulen, haben geeignete Musik<br />

benutzt, um den Zustand der Ekstase zu erzeugen und so der Seele zu helfen,<br />

sich über die Begrenzungen des Materialismus und der Endlichkeit zu erheben.<br />

Worte von Hazrat Inayat Khan aus: “Art – Yesterday, Today and Tomorrow”.<br />

Vol. X, S. 221.<br />

Kommentar: https://www.ruhaniat.org/index.php/major-papers/music-and-<br />

sound/2193-spiritual-music-of-pir-o-murshid-hazrat-inayat-khan-with-commentary--<br />

Übersetzung: H.-P. Baum<br />

Hazrat Inayat Khan (1882-1927) hielt sich bei seinem<br />

letzten Amerikabesuch 1926 für einige Wochen in San<br />

Francisco auf, wo seine erste westliche Schülerin und<br />

Murshida Rabia Martin lebte.<br />

Während dieser Zeit lud<br />

er seinen Schüler<br />

Samuel L. Lewis (1896-<br />

1971) zu mehreren<br />

ausführlichen Gesprächen<br />

ein und forderte<br />

ihn insbesondere auf,<br />

Kommentare zu seinen<br />

Schriften zu verfassen (s. „A Pearl in Wine“, hrsg. von<br />

Pir Zia Inayat-Khan, Omega Publications 2001, S. 410).<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 7


Hazrat Inayat Khan: Musik<br />

Hazrat Inayat Khan<br />

Musik<br />

Musik, in dem Sinn, wie wir das Wort in unserer Sprache verwenden, ist<br />

nicht weniger, als das Abbild des Geliebten. Damit stellt sich die Frage:<br />

Was ist unser Geliebter? Und, wo ist unsere Geliebte? Wir lieben Musik, weil<br />

sie ein Bild unseres Geliebten ist. Unsere Geliebte ist unser Ursprung und unser<br />

Ziel. Die Schönheit, die sich uns offenbart, ist der Teil des Geliebten, der sich<br />

unseren irdischen Augen zeigt. Und der Teil unserer Geliebten, der sich nicht<br />

unseren Augen offenbart, ist jene innere Form der Schönheit, von der uns<br />

unsere Geliebte erzählt. Wenn wir nur der Stimme in all der Schönheit, die uns<br />

in jeglicher Form anzieht, lauschten, so würden wir erkennen, dass sie uns in<br />

all den Formen erzählt, dass hinter jeder Erscheinungsform der vollkommene<br />

Geist, der Geist der Weisheit steht.<br />

Was erkennen wir als den wichtigsten Ausdruck des Lebens in der sichtbaren<br />

Schönheit? Sie bewegt sich – in den Umrissen, in der Farbe, im Wechsel<br />

der Jahreszeiten, im Auf und Ab der Wellen, im Wind und im Sturm. In all<br />

der Schönheit der Natur ist ständig Bewegung. Diese Bewegung ruft Tag und<br />

Nacht hervor sowie die Wechsel der Jahreszeiten; es ist diese Bewegung, die uns<br />

das erkennen lässt, was wir Zeit nennen, ohne sie gäbe es kein Zeitempfinden,<br />

denn Zeit ist Ewigkeit. Dies zeigt uns, dass alles, was wir lieben und verehren,<br />

beobachten und verstehen, eigentlich das dahinter verborgene Leben ist; und<br />

dieses Leben ist unser eigentliches Sein.<br />

In unserer Begrenztheit können wir nicht das ganze Sein Gottes erkennen;<br />

doch alles, was wir in Farbe, Linie, Form oder Persönlichkeit lieben, ist Teil der<br />

wahren Schönheit, die die Geliebte von allen ist.<br />

Wenn wir nun in dieser Schönheit dem nachgehen, was uns in all den wahrgenommenen<br />

Formen anzieht, werden wir herausfinden, dass es die Bewegung der<br />

Schönheit ist, die Musik. Alle Formen der Natur – die Blumen in ihrer vollendeten<br />

Form und Farbe, die Planeten und Sterne, die Erde – alle vermitteln uns<br />

Harmonie, Musik. Die ganze Natur atmet, nicht nur die Lebewesen, sondern<br />

die ganze Natur. Wir neigen nur dazu, das, was uns lebendiger erscheint, mit<br />

dem zu vergleichen, was uns weniger lebendig erscheint. Dies lässt uns dann<br />

vergessen, dass alle Dinge und Wesen ein vollkommenes Leben leben. Das<br />

Lebenszeichen in dieser lebendigen Schönheit ist die Musik.<br />

Was lässt die Seele der Dichter tanzen? Musik. Was lässt Maler schöne Bilder<br />

malen und Musiker schöne Lieder singen? Die Inspiration durch die Schönheit.<br />

8 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Pir Vilayat Inayat Khan: Perspektiven für eine Spiritualität der Zukunft<br />

Sufis nennen die Schönheit saqi, den göttlichen Mundschenk, der uns allen den<br />

Wein des Lebens schenkt. Was ist dieser Wein der Sufis? All die Schönheit in<br />

Form, Umriss, Farbe, Vorstellungskraft, Gefühl und Verhalten – in allem sehen<br />

sie die eine Schönheit. All diese verschiedenen Formen sind Teil des Geistes der<br />

Schönheit, der das Leben in ihnen ist, ein immerwährender Segen.<br />

Nun kommen wir zu dem, was wir in der Alltagssprache Musik nennen. Für<br />

mich ist Architektur Musik, Gärtnern ist Musik, Feldarbeit ist Musik, Malen<br />

ist Musik, Dichtung ist Musik. In allen Beschäftigungen des Lebens, die von<br />

Schönheit inspiriert sind, in die der göttliche Wein gegossen wird, erklingt<br />

Musik. Unter all den verschiedenen Künsten wird jedoch besonders die Musik<br />

als göttlich angesehen, da sie ein exaktes Abbild des Gesetzes ist, das im ganzen<br />

Universum wirkt. Wenn wir uns zum Beispiel selbst erforschen, sehen wir, dass<br />

die Puls- und Herzschläge und der Ein- und Ausatem auf Rhythmus beruhen.<br />

Unser Leben hängt vom rhythmischen Arbeiten des ganzen Körpermechanismus’<br />

ab. Atem drückt sich als Stimme aus, als Wort, als Klang; sein Klang ist<br />

immer hörbar – der Klang um uns und in uns, – das ist Musik. Es beweist, dass<br />

Musik außerhalb von uns ist und Musik ist in uns.<br />

Musik inspiriert nicht nur die Seele großer Musiker, sondern auch die jeden<br />

Säuglings. Sobald ein Säugling auf die Welt kommt, beginnt er seine kleinen<br />

Arme und Beine im Rhythmus der Musik zu bewegen. Deshalb ist es keine<br />

Übertreibung zu sagen, dass Musik die Sprache der Schönheit ist, die Sprache<br />

der Einen, die jede lebendige Seele liebt. Nun können wir verstehen, dass es nur<br />

natürlich ist, diese Musik, die wir in der Kunst und im ganzen Universum wahrnehmen,<br />

als die göttliche Kunst zu bezeichnen, sobald wir die Vollkommenheit<br />

all dieser Schönheit als Gott, als unser Geliebtes Wesen erkennen und achten.<br />

aus: Hazrat Inayat Khan, Jubiläumsausgabe Band 2, „Die Mystik des Klangs“,<br />

Auszug aus „Musik 1“, Verlag Heilbronn, 2018;<br />

Pir Vilayat Inayat Khan<br />

Perspektiven für eine Spiritualität der Zukunft<br />

Man braucht sich nicht mit mittelmäßigen Emotionen zu begnügen. Das<br />

tun all die großen Musiker, sie lassen sich emporheben durch den Zauber<br />

der Ekstase. Es ist nicht günstig, einfach in einer schön geheizten Wohnung in<br />

einer Stadt zu sitzen und zu versuchen, etwas Interessantes zu komponieren.<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 9


Pir Vilayat Inayat Khan: Perspektiven für eine Spiritualität der Zukunft<br />

Das geht nicht. Aber Beethoven, er ging bei Sturm immer hinaus, und dann fiel<br />

er in den Schlamm und machte sich schmutzig. Und als er zurückkam, gab ihm<br />

seine Freundin eine Ohrfeige und aus diesem Schlag entstand eine Sinfonie.<br />

Ich glaube, das Leben gibt Ihnen genug Schläge, so dass Sie genug Gründe<br />

haben, schöpferisch zu sein. Aber was macht man mit dem Schlag, das ist die<br />

Frage? Mozart hat in seinem Requiem schon irgendeine Vision vom Todesengel<br />

gehabt, der ihn eingeladen hat und Beethoven hat schon, wenn er schlief, ein<br />

Klopfen an der Tür gehört – tata- tatamm! Ich weiß nicht, ob Ihnen das passiert<br />

ist, dass Sie ein Klopfen in Ihrem Schlaf gehört haben, aber dass Sie eine Sinfonie<br />

daraus gemacht haben, bezweifle ich. Das ist der Anlass, eine starke Emotion.<br />

Eine Emotion setzt dann die Imagination in Gang. Man weiß nicht, wie<br />

das geschieht, aber es ist in uns eingeboren, wir haben irgendwie die Fähigkeit,<br />

eine Emotion in eine Gestalt zu übertragen. Kinder tun das. Es ist interessant.<br />

Psychotherapeuten, die mit Kindern arbeiten, geben den Kindern Ton und sie<br />

machen daraus Formen. Die Psychologin sieht, dass das Kind Probleme hat<br />

und es gibt diese Probleme in diese Formen. Auf einmal hat das Kind irgendwie,<br />

vielleicht unbewusst, eine Lösung gefunden und sagt: „Ich brauche nicht<br />

mehr zu kommen.“ Die Psychologin weiß, dass das Kind in der Gestaltung<br />

der Formen irgendeine Lösung gefunden hat. Ohne diese konkrete Darstellung<br />

der Probleme im Ton, hätte das Kind die Lösung nicht gefunden. Und so finden<br />

Komponisten in ihrer Musik manchmal eine Lösung für ihre Probleme.<br />

Das heißt, durch die Art und Weise, wie wir schöpferisch sind, finden wir eine<br />

Lösung für unsere Probleme.<br />

Wir könnten einige ziemlich dramatische Fälle zitieren, zum Beispiel Brahms.<br />

Brahms war ein junger Komponist, zu der Zeit als Schumann sehr berühmt war.<br />

Schumann hat ihn eingeladen, um bei ihm vorzuspielen. Sobald Brahms angefangen<br />

hat, seine Komposition zu spielen, hat Robert Schumann zu seiner Frau<br />

Klara Schumann gesagt: „Komm herunter, hast du je eine solche Musik gehört!“<br />

Und als die zwei sich trafen, erkannten sie, dass sie Zwillingsseelen sind. Damals<br />

war es zu spät. Es war zu spät. Was tun die meisten Menschen normalerweise,<br />

wenn sie einen Schlag bekommen? Sie reagieren, mit einem Schlag. Und dann<br />

geht es so weiter. Sie sehen, genau das geschieht in der Politik. Beethoven ist viel<br />

weiser. Es trifft ihn ein Schlag, daraus entsteht das 4. Piano Concerto. Die Welt<br />

stellt eine Herausforderung dar und, anstatt zu reagieren, sagt Beethoven: „Du,<br />

ich habe dich gehört, aber ich bin nicht imstande, mit deiner Herausforderung<br />

fertig zu werden. Ich kann nicht Ball mit dir spielen, denn ich möchte mich<br />

besinnen.“<br />

Genau das machen wir in der Meditation. Wir sagen, also, da ist das Problem,<br />

10 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Pir Vilayat Inayat Khan: Perspektiven für eine Spiritualität der Zukunft<br />

ich mache Samadhi, denn ich schaffe es nicht! Das tun Einsiedler. Man schafft<br />

es nicht, also geht man in eine Grotte. Beethoven tut das auch. Er meint, wenn<br />

man reagiert, dann verwendet man nicht alle Kapazitäten, nicht alle Potenzialitäten<br />

seines Wesens. Das wäre eine Kurzschlusshandlung. Er stellt also einen<br />

Puffer zwischen die Herausforderung und sich selbst, damit er all die Fähigkeiten<br />

in seinem Wesen finden kann. Vielleicht ist das der Schlüssel, um schöpferisch<br />

zu sein; die Umstände dienen als Katalysator, anstatt als Ursache, d. h. sie fördern<br />

unsere Potenzialitäten. Wir werden die beiden jetzt hören. Beethovens 4.<br />

Piano Concerto ist der ultime Zustand seiner Weisheit. Beethoven kam zu großer<br />

Weisheit. Er beginnt mit Brutalität und am Ende dieser wunderbare Gesang<br />

der Freude, er macht die ganze Reise vom Ärger bis zur Verherrlichung. Wenn<br />

man reagiert, fördert man sein persönliches Ego und das führt zu Krieg und<br />

Konflikt. Bach mit seiner großen Weisheit, gibt uns einen Schlüssel. Ich glaube,<br />

das ist ein großer Schlüssel für unser ganzes Leben. In der Theorie spricht man<br />

von der göttlichen Macht, aber wie erfährt man die göttliche Macht? Was heißt<br />

das? Man denkt, die göttliche Macht ist dort oben und ich bin hier, ich habe<br />

meinen eigenen Willen. Bach findet die göttliche Macht innerhalb seiner eigenen<br />

Macht. Das ist wie Erweckung ins Leben, das ist die Antwort. Ich habe das<br />

alles als Vorbereitung für das gesagt, was wir jetzt mit Musik illustrieren werden.<br />

Zuerst Brahms (Piano Concerto, Barenboim) und Sie werden sehen, zuerst ist<br />

er ärgerlich und dann hat er Selbstbedauern. Nun Beethoven, wie reagiert er?<br />

(4. Piano Concerto, 2. Teil, Barenboim). Grimaud, eine Französin, spielt Beethoven<br />

sehr feinfühlig. Sie hört gerne den Gesang der Wölfe. Hätte Beethoven<br />

auf den Schlag der Herausforderung durch die Außenwelt reagiert, wäre diese<br />

Melodie nicht herausgekommen, es wäre eine brutale Reaktion gewesen. Und<br />

wäre diese Herausforderung nicht gewesen, wäre diese fantastische Melodie<br />

nicht entstanden. Dies ist die Essenz des Schöpferischen: Die Umstände dienen<br />

als Katalysator, um Ihre Kapazitäten, Ihre Potenziale aufzurufen, anstatt dass sie<br />

die Ursache Ihres Wesens sind. Das ist der Schlüssel.<br />

aus: „Mitschrift des Weihnachtsseminars 2002“, S. 57ff.<br />

Pir Vilayat Inayat Khan (1916-2004) war bis zu seinem<br />

Lebensende das geistige Oberhaupt des von ihm gegründeten<br />

Internationalen Sufiordens (Inayatiyya-Orden).<br />

Er lehrte in vielen Teilen der Welt und pflegte den Kontakt<br />

mit Wissenschaftlern und geistigen Lehrern aus allen<br />

religiösen Traditionen.<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 11


Noor-un-Nisa Inayat Khan: Echo oder was man manchmal im Wald hört<br />

Noor-un-Nisa Inayat Khan<br />

Echo oder was man manchmal im Wald hört<br />

Vor vielen, vielen Jahrhunderten lebten einst Nymphen auf dem Gipfel eines<br />

hohen Berges. Es gab auch Nymphen in den Ebenen, doch die Bergnymphen<br />

waren die schönsten von allen, denn sie tranken den Nektar der Narzissen, welche<br />

die Felshänge bedeckten, und sie lebten inmitten der Gipfelfelsen ganz nah am<br />

Himmel, wo sie mit jedem Atemzug die herrlichsten Düfte in sich aufnahmen.<br />

Die Nymphen sammelten die Düfte, mischten sie mit jenen der Kiefer und<br />

der Lorbeerblätter, und wenn Mistral, der König der Winde, übers Gebirge zog,<br />

übergaben sie ihm die Düfte, auf dass er sie in der Welt verteile.<br />

Unter den Nymphen gab es eine, die jünger war als die anderen. Sie hieß Echo.<br />

Sie war die allerkleinste und besaß die allersanfteste Stimme, zärtlicher als alle<br />

anderen, doch hatte sie zwei Schwächen.<br />

Zunächst einmal hatte sie die Angewohnheit, nie als Erste zu sprechen. Stets musste<br />

ihr erst eine andere Nymphe Guten Tag sagen. Doch hatte die Unterhaltung erst<br />

einmal begonnen, so konnte Echo nicht mehr aufhören zu reden, sie war die reinste<br />

Quasselstrippe und schwatzte sogar mehr als Elstern und Grillen zusammen.<br />

Eines Tages war eine der Nymphen gerade dabei, Mistral die gesammelten<br />

Düfte zu bringen, als sie auf dem Weg Echo traf. „Guten Abend, Schwesterchen<br />

Echo“, sagte sie zu ihr.<br />

„Guten Abend“, gab Echo zurück. Und sogleich begann das Geplapper. Es dauerte<br />

ewig und so lang, dass Mistral den Gipfel passierte, bevor die Nymphe ihn<br />

erreicht hatte.<br />

So groß war der Zorn Mistrals an jenem Abend, dass er stark wie vier Winde<br />

blies, auf dass die Bäume sich bogen und der Sand aufflog, und man auf der ganzen<br />

Welt nur noch Seufzen und Wehklagen vernahm. Alle Bergnymphen hatten<br />

bereits wieder in den Felshöhlen Unterschlupf gefunden, nur die arme Nymphe,<br />

die sich wegen Echo verspätet hatte, eilte verzweifelt weiter, um den Balsam der<br />

Düfte zum Gipfel zu tragen.<br />

Und als er sie in der Ferne erblickte, blies Mistral ihr zur Strafe Sand in die Augen.<br />

Arme kleine Nymphe! Sie sank nieder und weinte, solange, bis die große Sonne<br />

aufging und sie unter den Tannen einschlief.<br />

Doch am nächsten Morgen, als sie auf ihrem Weg wieder Echo begegnete,<br />

stieg ihr der Zorn bis in die Kehle. „Echo, gemeine Echo!“, schrie sie die andere<br />

an, „wegen dir und deinem endlosen Geplapper habe ich mich verspätet. Die<br />

Welt hat gestern Abend keine Düfte bekommen, und Mistral hat mich schlimm<br />

12 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Noor-un-Nisa Inayat Khan: Echo oder was man manchmal im Wald hört<br />

bestraft! Glaubst du etwa, ich werde jemals vergessen, dass du an all diesem Unheil<br />

schuld bist? Nein, von nun an sollst du von dem, was zu dir gesagt wird, nur noch<br />

die letzten Worte wiederholen können, auf diese Weise wirst du niemanden mehr<br />

auf seinem Weg aufhalten können.“<br />

Im Nu war die unglückliche Echo ihrer Sprache beraubt. Sie verkroch sich am<br />

äußersten Rand eines Pfades unter den Tannen und begann bitterlich zu weinen.<br />

„Alles spricht ja“, dachte sie, „die Quelle, die dort unten aus dem Felsen springt,<br />

die Tanne, die unaufhörlich ihre Äste bewegt … Wovon berichten sie? Sie erzählen<br />

die unendlichen Geschichten der Nymphen, des Mistrals, der großen Sonne …“<br />

Und während sie noch über all das Glück nachgrübelte, das ihr nun verwehrt<br />

war, drang der sanfte Klang sich nähernder Schritte an ihr Ohr. Es war Narziss,<br />

der junge Schäfer …<br />

„Ein Mann der Ebene, und doch so hübsch!“ dachte Echo, „sicher ist er der<br />

Sohn einer Nymphe, denn er ist schön wie die aufgehende Sonne.“ Kaum war er<br />

an den Tannen vorübergegangen, als Echo ihm leisen Schrittes folgte.<br />

„Wer versteckt sich?“ rief Narziss.<br />

„… Ich!“, antwortete Echo, unter den Tannenzweigen verborgen. „Warum entziehst<br />

du dich?“ rief Narziss. „… Entziehst du dich?“, wiederholte Echo<br />

„Warte, ich finde dich … ich komme“, rief Narziss.<br />

„… Komme!“ wiederholte Echo. Mit diesen Worten teilte sie die dichten<br />

Zweige und erschien vor Narziss. Ihre Tränen waren getrocknet und ihre großen<br />

Augen strahlten wie Immergrün.<br />

Doch sobald Narziss sie erblickte, drehte er auf der Stelle um und rannte davon.<br />

Echo blieb allein unter den Tannen zurück und weinte so lange, bis sie sich in<br />

einen Felsen verwandelt hatte. So blieb von Echo nichts mehr übrig als ihre<br />

Stimme. Und diese Stimme ist immer noch in den Bergen und Wäldern zu hören.<br />

Wenn man laut ruft, antwortet Echo und ihre Stimme klingt noch immer traurig,<br />

denn sie denkt an Narziss und wie er sie an jenem<br />

Tag unter den Tannen allein ließ.<br />

aus: Noor Inayat Khan,, „König Akbar und seine<br />

Tochter. Geschichten aus einer Welt erzählt von<br />

Noor Inayat Khan“, Verlag Heilbronn, 2016<br />

Noor-un-Nisa Inayat Khan, (1914-1943) Schriftstellerin,<br />

Musikerin und Widerstandskämpferin, Tochter des indischen<br />

Sufimeisters Hazrat Inayat Khan (mehr von und<br />

über Noor-un-Nisa in der <strong>SIFAT</strong> Sonderausgabe 09/2018)<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 13


Musharaff Moulamia Khan: Meine musikalische Ausbildung in Indien<br />

Musharaff Moulamia Khan<br />

Meine musikalische Ausbildung in Indien<br />

Das Studium der Musik ist im Osten von ganz anderem Charakter, die Bindung<br />

zwischen Lehrer und Schüler ist viel intimer als im Westen, und dies<br />

beruht hauptsächlich darauf, dass die alte Musik Indiens nie aufgeschrieben<br />

wurde. Bevor er angenommen wird, bringt der Schüler seinem Meister eine<br />

Gabe von Früchten und Blumen. Der Meister seinerseits schenkt dem Schüler<br />

einige Süßigkeiten zu essen. Der Schüler bringt auch eine Schnur mit, die locker<br />

um sein Handgelenk gewickelt ist, und der Meister bindet sie fest. Weihrauch<br />

wird angezündet, und sein Duft, der das Gebet symbolisiert, gibt der kleinen<br />

Zeremonie einen mystischen Ton. Das Schenken von Früchten, Blumen und<br />

Süßigkeiten und das Binden der Schnur um das Handgelenk sind die äußeren<br />

Zeichen der Dankbarkeit des Schülers und dem Band der Vertrautheit, das nun<br />

zwischen Schüler und Lehrer von Anfang an besteht.<br />

Da die Musik nicht aufgeschrieben wurde, lernt sie der Schüler Note für Note<br />

in der Gegenwart des Lehrers. So bleibt ein Schüler beim gleichen Lehrer, bis<br />

er alles gelernt hat, was er von ihm lernen kann. Der Lehrer lehrt ihn auch<br />

seine eigenen Kompositionen, d.h. seine eigenen individuellen Vorstellungen<br />

und Interpretationen der alten Ragas und Themen. So wird das ganze Studium<br />

etwas Intimes, eine Beziehung der Freundschaft, des mitfühlenden Verständnisses<br />

und der Bindung. Es ist daher verständlich, dass ein Musiklehrer leicht auch<br />

zum Guru wird, zum Lehrer und Führer im Leben.<br />

Mein erster Musiklehrer, mein erster Guru, war mein älterer Onkel, der älteste<br />

Sohn von Moula Bakhsh, Murtuza Khan. Er war seinerseits der Schüler meines<br />

Vaters, als er noch ein Knabe war, und ich kann mich immer noch an den Tag<br />

erinnern, an dem mein Vater mich als Schüler bei ihm vorstellte. Ich war elf<br />

Jahre alt, und ich erinnere mich, dass es an einem Donnerstag war. Mein Vater<br />

wartete vor der Tür und horchte, bis er meinen Onkel üben hörte, dann gingen<br />

wir zusammen in sein Zimmer. Mein Vater hatte Blumen, Süßigkeiten und<br />

Weihrauch mitgebracht, und mit einer tiefen Verneigung vor meinem Onkel<br />

bot er sie ihm an, legte sie nahe zu seinen Füssen und stellte mich vor.<br />

„Meister, hier ist ein Schüler, wenn Du möchtest, nimm ihn bitte an“, sagte<br />

er und verneigte sich tief. Dies war eine Einweihung in den heiligen Bereich<br />

der Musik. Mein Onkel gab keine Antwort, und mein Vater zog sich zurück.<br />

Mein Onkel, völlig überrascht, war von dieser Handlung, den Worten und der<br />

respektvollen Haltung seines alten Meisters bis ins Tiefste berührt. Ihr müsst<br />

14 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Musharaff Moulamia Khan: Meine musikalische Ausbildung in Indien<br />

wissen, dass wir ein sehr empfindungsreiches Volk sind, dass wir unser Leben<br />

nahe bei der Natur leben, und auch, dass wir in einem intensiven, doch glücklichen<br />

Klima leben.<br />

Ich stand da voller Verwunderung und Erwartung. In Verwunderung sah ich,<br />

wie die Hand meines Onkels zitterte, als er eine Süßigkeit zwischen seine Finger<br />

nahm und sie zu meinem Mund führte. Ich sah die Tränen in seinen Augen,<br />

und ich fühlte seine Bewegung und Zuneigung.<br />

Zuerst sang er eine Tonleiter, und ich sang ihm jede Note nach. Ich kann ihn<br />

noch vor mir sehen, wenn ich an ihn denke, mit breiten Schultern und kraftvoll,<br />

mit einer wohlklingenden Stimme, eine Art König für mich, der Sohn von<br />

Moula Bakhsh und der Bruder meiner Mutter.<br />

Nach der Tonleiter sang er ein Lied an Sharada 1 , der Göttin der Musik. Dann<br />

sang er eine Hymne an den Propheten Mohammed. Der Raum wurde heilig für<br />

mich. Bei anderen Lehrern, die ich vorher hatte, fühlte ich mich immer scheu<br />

und befangen. Sogar vor meinem eigenen Vater zu singen war meistens eine<br />

Tortur. Doch diese Lektionen bei meinem Onkel blieben immer die glücklichsten<br />

und schönsten Augenblicke in meinem Leben. Bei ihm fühlte ich mich nie<br />

ängstlich, sondern war interessiert, freudig mit der Wärme des Wohlbefindens.<br />

Er lehrte mich die traditionellen Lieder unserer Familie. „Ich vertraue sie dir<br />

an. Du musst achtsam umgehen mit ihnen, wissen, zu welchen Gelegenheiten<br />

es dir erlaubt ist, sie zu singen“, sagte er. „Diese Lieder dürfen nur vor anderen<br />

Sängern gesungen werden und zu Musikern in ihren Versammlungen. Es sind<br />

Lieder, die vor Künstlern gesungen werden sollen“.<br />

aus: Musharaff Moulamia Kkan: „Der Zauber Indiens – Aus demLeben eines Sufi"<br />

Verlag Heilbronn 2014, S. 41 f.<br />

Musharaff Moulamia Kkan, geboren 1895 in Baroda<br />

(Indien), gestorben 1967 in Den Haag. Jüngster Bruder<br />

von Hazrat Inayat Khan, Musiker und Sufi. Er bleibt<br />

in Erinnerung als einfacher, anspruchsloser Mensch,<br />

mitfühlend mit allen und eine Quelle von Trost und<br />

Hoffnung. Im zarten Alter von fünfzehn Jahren folgte<br />

er seinem Bruder Inayat auf dessen Pionierwerk in den<br />

Westen.<br />

1 ist ein Beiname der Göttin Saraswati<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 15


Impressum | Mitteilungen vom Verlag Heilbronn<br />

Impressum<br />

<strong>SIFAT</strong> – Zeitschrift für Universalen Sufismus<br />

ISSN 1420-1712<br />

Gegründet 1972 von Karima Sen Gupta, von 1997 - 2016 von Marita Ischtar Dvořák und<br />

Wolfgang Huraksh Meuthen herausgegeben<br />

Herausgeber und Redaktion:<br />

Hans-Peter Baum hpbaum@nord-com.net 0049-(0)421 353528<br />

Michael Nüssen michaelnuessen@t-online.de 0049-(0)40 357 33 006 (V. i. S. d. P.)<br />

Claudia Nüssen claudianuessen@t-online.de 0049-(0)40 215439<br />

Regina Armaiti Winkler-Reber rwinklerreber@posteo.de 0049(0)731-7187642<br />

Detlef Qalbi Marzke dmarzke@gmx.de 0049-(0)4105 154416<br />

<strong>SIFAT</strong><br />

Preise ab 2020:<br />

erscheint in der Regel dreimal jährlich zum Selbstkostenpreis<br />

€ 18,00 pro Jahr für 3 <strong>Heft</strong>e inkl. Versand – Abonnement<br />

Geschenk-Abonnement – € 18,00 für 3 <strong>Heft</strong>e (1 Jahr)<br />

€ 23,70 pro Jahr für 3 <strong>Heft</strong>e als Printausgabe und als eBook<br />

€ 3,80 als PDF-Book Einzelkauf über unseren Shop | ABO € 11,00<br />

€ 6,00 zzgl. Versandkosten für Einzelhefte, soweit lieferbar<br />

Zahlbar in Euro: Konto Verlag Heilbronn, Josef Ries, Postbank<br />

IBAN: DE54 7001 0080 0714 0168 02 BIC: PBNKDEFF<br />

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Bestellungen über unsere Homepage: www.verlag-heilbronn.de<br />

Email oder per Brief – bitte vollständige und deutliche Absenderangaben<br />

Abbestellungen zum Ende des bezahlten ABOs sind jederzeit möglich<br />

Folgende <strong>SIFAT</strong>-<strong>Heft</strong>e sind noch lieferbar:<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2020 – Kraftquellen<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2020 – AUFeinander achten<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2020 – Die Erde lieben<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2019 – Religion und Wissenschaft II<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2019 – Religion und Wissenschaft<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2019 – Glaube und Zweifel<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2018 – Mutige Frauen – Gelebte Spiritualität<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2018 – Sonderheft: Noor-un-Nisa Inayat Khan<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2018 – Sehnsucht der Seele<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2017 – Geschwisterlichkeit<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2017 – Gerechtigkeit<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2017 – Opfer und Opfern<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2016 – Religion und Liebe<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2016 – Ein menschenfreundlicher Islam<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2015 – Grenzen überwinden<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2014 – Neuer Mensch – Neue Erde<br />

62 <strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong>


Neu: Ritterschaft des Herzens<br />

Kompass für eine ritterliche Ethik der Achtsamkeit<br />

Die 40 Regeln der Ritterlichkeit sind wie ein Blick in den Spiegel, der hilft, ethisches<br />

Verhalten zu üben und in unsere Beziehungen zu allen Wesen und sich<br />

selbst Achtsamkeit zu bringen.<br />

Moderne Ritterinnen und Ritter befolgen nicht nur Werte wie Gerechtigkeit, Fairness,<br />

Ausgewogenheit, Maßhalten, Mut, Weisheit und Großzügigkeit. Sie entwickeln<br />

auch Achtung gegenüber allem Leben sowie ein planetares Bewusstsein.<br />

Wer mit Sorgfalt und wacher Aufmerksamkeit mit den 40 Regeln arbeitet, kultiviert<br />

diese scheinbar selbstverständlichen ethischen Prinzipien und findet dabei<br />

noch ein weites Feld für Selbsterforschung und persönliche Entwicklung.<br />

Dieses Set mit 40 Karten und Buch ist Noor Inayat Khan gewidmet.<br />

Hazrat Inayat Khan | Pir Zia Inayat-Khan<br />

Ritterschaft des Herzens | SET<br />

40 Regeln für ein aufrechtes Leben<br />

Vorschau<br />

Mai <strong>2021</strong><br />

Hrsg. Inayatiyya Deutschland e. V.<br />

gebundenes 185-seitiges Begleitbuch | 40 Karten mit Anleitung und Stülpschachtel<br />

Verlag Heilbronn April/Mai <strong>2021</strong> | ISBN 978-3-936246-40-7 | € 29,80<br />

Hazrat Inayat Khan | Pir Zia Inayat-Khan<br />

Ritterschaft des Herzens | Buch<br />

40 Regeln für ein aufrechtes Leben<br />

Anstatt des Karten-/Buchsets sind die 40 Regeln von Hazrat<br />

Inayat Khan mit Kommentaren von Pir Zia Inayat-Khan auch<br />

eigenständig nur als schön gestaltetes und gebundenes Buch<br />

erhältlich. Der Inhalt ist identisch mit dem Begleitbuch des<br />

Sets.<br />

Hrsg. Inayatiyya Deutschland e. V. | Verlag Heilbronn April/Mai <strong>2021</strong> | 16,95<br />

169 Seiten | gebunden mit Lesebändchen | ISBN 978-3-936246-46-9<br />

Dieses Buch ist als PDF-Book über die Verlags-Homepage www.verlagheilbronn.de<br />

erhältlich<br />

<strong>SIFAT</strong> 1 | <strong>2021</strong> – <strong>Klangbrücken</strong> 63


Eine von mehreren Vertonungen des Verfassers mit dem gesamten Text des Wessobrunner<br />

Gebets in heutigem Deutsch, die auch für die Verwendung in Gruppen geeignet ist. Es handelt<br />

sich um eine gut singbare, harmonisch klingende Fassung, die sich in einfacher Weise<br />

instrumental begleiten lässt und auch als Gebärdengebet „getanzt“ werden kann (zur<br />

öffentlichen Verwendung durch die Leser*innen von <strong>SIFAT</strong> vom Verfasser freigegeben).<br />

Karl Michael Ranftl

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