MIGRALTO - Integration
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Berner Fachhochschule<br />
Soziale Arbeit<br />
<strong>MIGRALTO</strong> – Ein partizipatives Modell für<br />
die aktive Bürgerschaft der älteren Migrationsbevölkerung<br />
in Schweizer Gemeinden<br />
Masterarbeit von<br />
Hildegard Hungerbühler und Viviana Abati<br />
Eingereicht im Rahmen des Studienganges<br />
Master of Advanced Studies in Gerontologie: Altern – Lebensgestaltung 50+ am<br />
Kompetenzzentrum Gerontologie der Berner Fachhochschule<br />
Referentin: Prof. Dr. Ruth Meyer Schweizer<br />
Datum des Einreichens 15. Juli 2011
Inhaltsverzeichnis<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
1<br />
Seite<br />
Widmung 4<br />
Dank 5<br />
Abstract (V. Abati) 6<br />
1. Einleitung (H. Hungerbühler & V. Abati) 8<br />
1.1 Anliegen und Ziele der Forschungsarbeit 8<br />
1.2 Persönlicher Bezug zum Thema 9<br />
1.3 Interessierte Organisationen und Netzwerke 10<br />
2. Theoretischer Hintergrund 12<br />
2.1 Lebensraum – Sozialraum (V. Abati) 12<br />
2.2 Sozialisation (V. Abati) 15<br />
2.3 MigrantInnen als Teil der Altersbevölkerung (H. Hungerbühler) 16<br />
2.3.1 Definition ältere MigrantInnen 16<br />
2.3.2 Statistische Angaben und Fakten zur älteren Migrationsbevölkerung in<br />
der Schweiz mit Fokus auf die ItalienerInnen 17<br />
2.3.3 Forschungsstand zu älteren MigrantInnen 21<br />
2.4 Migration / Arbeitsmigration (H. Hungerbühler) 23<br />
2.5 <strong>Integration</strong> (H. Hungerbühler) 25<br />
2.6 Partizipation und Aktive Bürgerschaft (H. Hungerbühler und V. Abati) 29<br />
2.6.1 Partizipation (H. Hungerbühler) 30<br />
2.6.2 Partizipation älterer MigrantInnen (H. Hungerbühler) 32<br />
2.6.3 Aktive Bürgerschaft / Citizenship von älteren MigrantInnen (V. Abati) 40<br />
2.6.4 Das Beispiel der italienischen Selbstorganisation der ersten<br />
Einwanderungsgeneration in der Stadt Bern (H. Hungerbühler) 41<br />
3. Fragestellung 45<br />
3.1 Wahl und Begründung der Fragestellung (H. Hungerbühler) 45<br />
3.2 Abgrenzung der Fragestellung (H. Hungerbühler und V. Abati) 47<br />
4. Methodisches Vorgehen und Durchführung der Untersuchung 48<br />
4.1 Ausgangslage zur Methodenwahl (V. Abati) 48<br />
4.2 Methodenwahl und Instrumente (V. Abati und H. Hungerbühler) 50<br />
4.2.1 Die Instrumente der Datenerhebung (V. Abati) 51<br />
4.3 Untersuchungsplan (V. Abati) 53<br />
4.4 Durchführung der Datenerhebung (V. Abati) 54<br />
4.4.1 Durchführung der schriftlichen Befragung der Altersbeauftragten<br />
und <strong>Integration</strong>sdelegierten (H. Hungerbühler) 55
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
4.4.2 Durchführung der Fokusgruppe mit VertreterInnen von Altersinstitutionen<br />
2<br />
Seite<br />
und –organisationen von Stadt und Kanton Bern (H. Hungerbühler) 58<br />
4.4.3 Durchführung der Einzelinterviews mit italienischen MigrantInnen (V. Abati) 61<br />
4.4.4 Durchführung der Fokusgruppe mit VertreterInnen von<br />
italienischen Migrantenorganisationen (V. Abati) 63<br />
5. Auswertung und Ergebnisse 65<br />
5.1 Einleitung 65<br />
5.2 Ergebnisse aus der Befragung der GemeindevertreterInnen (H. Hungerbühler) 65<br />
5.2.1 Ergebnisse der elektronischen Befragung 65<br />
5.2.2 Ergebnisse der telefonischen Nachbefragung 83<br />
5.2.3 Ergebnisse aus der Fokusgruppe 87<br />
5.3 Auswertung der Daten aus den Interviews mit MigrantInnen und aus der Fokusgruppe<br />
mit VertreterInnen von Migrantenorganisationen und Ergebnisse (V. Abati) 103<br />
5.3.1 Auswertung und Ergebnisse Einzelinterviews mit MigrantInnen 103<br />
5.3.1.1 Auswertung und Ergebnisse der quantitativen Interviewdaten 103<br />
5.3.1.2 Auswertung und Ergebnisse der qualitativen Interviewdaten 111<br />
5.3.1.3 Interpretation und Erkenntnisse aus den Einzelinterviews 118<br />
5.3.2 Ergebnisse aus der Fokusgruppe 121<br />
5.3.2.1 Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen aus dem<br />
transkribierten Protokoll der Fokusgruppe 121<br />
5.3.2.2 Ideensammlung und Massnahmenvorschläge aus der Fokusgruppe 130<br />
5.3.2.3 Interpretation und Erkenntnisse aus der Fokusgruppe 134<br />
5.4 Gegenüberstellung und Vergleich der Ergebnisse der Perspektive<br />
der Gemeindevertreter und der Migrantenperspektive (H. Hungerbühler und V. Abati) 137<br />
6. Diskussion 151<br />
6.1 Einleitung 151<br />
6.2 Schlussfolgerungen (H. Hungerbühler und V. Abati) 151<br />
6.3 Definition von Massnahmen für das Modell <strong>MIGRALTO</strong> – Handlungsanleitung (V. Abati) 164<br />
6.3.1 Grundbedingungen – Handlungsanleitung Teil 1 164<br />
6.3.2 Die Massnahmen innerhalb der Modell-Komponenten –<br />
Handlungsanleitung Teil 2 167<br />
6.4 Das Modell <strong>MIGRALTO</strong> – Einsatz in der Praxis und Weiterentwicklung (V. Abati) 175<br />
6.5 Reflexion zum Arbeitsprozess (Kritik) (H. Hungerbühler und V. Abati) 177<br />
7. Literaturverzeichnis 181<br />
Selbständigkeitserklärung 186<br />
Zeitungsartikel (H. Hungerbühler) 187
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
3<br />
Seite<br />
ANHÄNGE 190<br />
A) Ausschreibungstext EKM: Citoyenneté – aktive Bürgerschaft<br />
B) Einverständniserklärung VertreterInnen Schweizer Institutionen<br />
C) Präsentation Diskussionsvorlage Fokusgruppe Schweizer Institutionen<br />
D) Dichiarazione di approvazione VertreterInnen italienischer Migrationsorganisationen<br />
E) Präsentation Diskussionsvorlage Fokusgruppe italienischer Migrationsorganisationen<br />
F) Fragen und Auswertungstabelle Befragung Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte<br />
G) Interviewleitfaden Einzelinterviews MigrantInnen<br />
H) Rohdaten der quantitativen Resultate aus den Einzelinterviews<br />
I) Schritt 2 – Auswertung der qualitativen Daten der Einzelinterviews (Teil 1)<br />
J) Schritt 3 – Auswertung der qualitativen Daten der Einzelinterviews (Teil 2)<br />
K) Schritt 4 – Kategorisierung der qualitativen Daten<br />
L) Liste der Kategorien und Unterkategorien aus der qualitativen Auswertung
Widmung<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die Autorinnen widmen ihre Arbeit Carlo Alagia und allen italienischen Migrantinnen und Migranten<br />
dieser Einwanderungsgeneration als symbolisches Zeichen der Anerkennung ihrer Leistungen in der<br />
Schweiz und des Respekts vor ihren Kompetenzen, mit denen sie ihr Leben mit all seinen<br />
Herausforderungen im Migrationskontext bis ins Alter aktiv gestalten. Und dies, trotz eines<br />
gesellschaftlichen Umfelds, für das sie während Jahrzehnten nur Arbeitskräfte, nicht jedoch<br />
Mitbürgerinnen und Mitbürger waren.<br />
Sie wünschen sich von der Schweiz, was einer der in dieser Arbeit interviewten Migranten auf den<br />
Punkt gebracht hat:<br />
„Partizipation heisst Partnerschaft“ – „partecipazione significa essere partner“<br />
Das mit der vorliegenden Arbeit entwickelte Modell MIGARLTO will dazu einen kleinen Beitrag leisten.<br />
Dedica<br />
Le autrici dedicano il loro lavoro a Carlo Alagia e a tutti i migranti e le migranti italiani di quella<br />
generazione come segno simbolico di riconoscimento delle loro prestazioni a favore della Svizzera e<br />
del rispetto per le loro competenze, con le quali hanno saputo costruire attivamente la loro vita, nel<br />
contesto dell‟immigrazione, con tutte le relative sfide, fino al raggiungimento della terza età. Tutto<br />
questo nonostante un contesto sociale nel quale sono stati considerati per decenni solo forza lavoro e<br />
non cittadine e cittadini.<br />
Le autrici si augurano inoltre ciò che uno dei migranti intervistati nel quadro di questo lavoro ha<br />
chiaramente puntualizzato:<br />
“Partecipazione significa essere partner” – “Partizipation heisst Partnerschaft”<br />
Il modello “<strong>MIGRALTO</strong>” sviluppato in questo lavoro intende portare un piccolo contributo in questa<br />
direzione.<br />
4
Dank<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
An dieser Stelle danken wir all denjenigen Personen herzlich, die in irgendeiner Form ihren Beitrag zur<br />
Unterstützung unserer Masterarbeit geleistet haben. Es ist dies in erster Linie Frau Prof. Dr. Ruth<br />
Meyer Schweizer, die uns engagiert und kompetent beraten hat. Im Weiteren Lorenzo Calabria,<br />
Sozialarbeiter bei der Fachstelle für Sozialarbeit der römisch-katholischen Kirche Bern FASA, der als<br />
Kontaktvermittler zur italienischen Migrationscommunity gewirkt hat, sowie die 22 italienischen<br />
MigrantInnen, die uns ihr Vertrauen entgegen brachten und bereit waren, aus ihrem Leben zu<br />
erzählen. Im Weiteren Evelyn Hunziker des Alters- und Versicherungsamtes der Stadt Bern und allen<br />
Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten (inkl. Fachstellen <strong>Integration</strong>), die an der schriftlichen<br />
und/oder telefonischen Befragung teilgenommen haben, den Mitgliedern der beiden Fokusgruppen<br />
(VertreterInnen von Institutionen und Organisationen aus dem Altersbereich von Stadt und Kanton<br />
Bern sowie von italienischen MigrantInnenorganisationen: unten namentlich aufgeführt), die engagiert<br />
und intensiv diskutiert und uns ihre Erfahrungen weiter gegeben haben. Den beiden Studentinnen der<br />
Berner Fachhochschule, Bettina Loosli und Linda Altobelli, die uns bei der Durchführung und<br />
Nachbereitung (Transkription) der Fokusgruppen unterstützt haben sowie Noah Savary, der<br />
technischen Support beim SPSS-Statistikprogramm leistete. Ein besonderer Dank gilt zudem<br />
Valentina Piffaretti für die Unterstützung bei der Durchführung sowie Transkription der italienisch<br />
sprachigen Interviews. Und nicht zuletzt danke ich (H. Hungerbühler) meinem Arbeitsteam im SRK<br />
(Corinna Bisegger, Corinne Stammbach, Carole Berthoud und Tanya Kasper) ganz herzlich für das<br />
wertvolle Geburtstagsgeschenk im Zusammenhang mit unserer Masterarbeit.<br />
Teilnehmende der Fokusgruppen:<br />
VertreterInnen Schweizer Institutionen VertreterInnen Migrantenorganisationen<br />
Evelyn Hunziker Leonardo La Nave<br />
Barbara Gurtner Lorenzo Calabria<br />
Helen Lamontagne Mauro Floreani<br />
Gerlind Martin Giuseppe Marchetta<br />
Regula Roth Carlo Alagia<br />
Simone Rijken Mariano Franzin<br />
Sina Florin Diana Tonti<br />
Samuel Mettler Angela Vescio<br />
Mauro Floreani<br />
5
Abstract (V. Abati)<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
<strong>MIGRALTO</strong> – Ein partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren<br />
MigrantInnen in Schweizer Gemeinden<br />
Forschungsidee<br />
Mit dieser Forschungsanalyse sollte in Erfahrung gebracht werden, ob und wie ältere MigrantInnen in ihrem<br />
Lebensraum, d.h. im lokalen Kontext ihrer Wohngemeinde partizipieren und ob ihnen die Gemeinde eine<br />
Partizipation nach dem Prinzip der Territorialbetroffenheit zugesteht.<br />
Ausgangslage war dabei die Definition der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen zur „Aktiven<br />
Bürgerschaft“, die von folgendem Partizipationsverständnis ausgeht: Mitreden – mitentscheiden – mitgestalten im<br />
eigenen Lebensumfeld und aufgrund einer persönlichen Betroffenheit als MitbewohnerInnen einer Gemeinde<br />
oder eines Quartiers.<br />
Die Forschung sollte Antworten liefern auf verschiedene Fragen:<br />
a) Welches Erfahrungswissen zum Thema <strong>Integration</strong>, welche Ressourcen und welches Potenzial zur<br />
Selbstorganisation haben ältere MigrantInnen, die sich für die Altersarbeit und -politik in der Schweiz nutzen<br />
lassen?<br />
b) Wie sehen die Frage- und Problemstellungen aus der Perspektive der Altersarbeit und -politik aus, die den<br />
Auftrag hat, für eine nach Herkunft immer heterogener werdende Altersbevölkerung bedarfsgerechte<br />
Dienstleistungen zu erbringen sowie Vertretungen aller Gruppierungen zu beteiligen?<br />
c) Welche Rahmenbedingungen benötigt es, damit ältere MigrantInnen als AkteurInnen an der Entwicklung und<br />
Umsetzung einer Altersarbeit und -politik im Sinne der politischen Vorgaben partizipieren können und wollen?<br />
Was für ein Modell ermöglicht das Einbringen der Angebote und der Forderungen nach Partizipation auf der<br />
kommunalpolitischen Seite sowie das Einbringen des eigenen Potenzials und der aktiven Beteiligung auf<br />
Seite der MigrantInnen?<br />
Untersuchung<br />
Da Partizipation in dieser Forschung als bidirektionaler und wechselseitiger Aushandlungsprozess definiert ist,<br />
wurde eine mehrteilige und mehrperspektivische Untersuchungsanlage gewählt. So wurden auf der einen Seite<br />
die Altersbeauftragten und die <strong>Integration</strong>sdelegierten von Schweizer Gemeinden schriftlich befragt und es<br />
wurden 22 Einzelinterviews mit italienischen MigrantInnen 65+ in ihrer Muttersprache durchgeführt. Ein weiterer<br />
Schritt in der Untersuchung stellte die Durchführung zweier Fokusgruppen dar. Auch hier wurde einmal eine<br />
Gruppe VertreterInnen von Schweizer Gemeinden oder Institutionen eingeladen, um aufgrund der Resultate aus<br />
den vorherigen Analyseschritten weitere Erkenntnisse zu erhalten und erste Lösungsansätze für das Modell<br />
<strong>MIGRALTO</strong> zu entwickeln. Dasselbe Vorgehen wurde bei der Fokusgruppe mit VertreterInnen von italienischen<br />
Migrantenorganisationen gewählt. Die erhobenen Daten erlaubten auf der einen Seite eine quantitative und auf<br />
der anderen Seite eine qualitative Auswertung.<br />
Ergebnisse<br />
Für und aus beiden in der Erhebung untersuchten Perspektiven konnten zahlreiche Erkenntnisse gewonnen<br />
werden. Die wichtigsten sind:<br />
- Noch sind ältere MigrantInnen nicht als explizite Zielgruppe in der Alters- und <strong>Integration</strong>spolitik im Fokus von<br />
EntscheidungsträgerInnen und Fachpersonen.<br />
- Die demografische Entwicklung und die Tatsache, dass ältere MigrantInnen auch nach der Pensionierung in<br />
der Schweiz verbleiben – anders als ursprünglich von ihnen selbst und auch von der Schweiz angenommen –<br />
6
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
verlangt zukünftig eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Bevölkerungsgruppe als gleichwertiger Teil einer<br />
Zivilgesellschaft.<br />
- Die ausgeprägte Selbstorganisation der italienischen MigrantInnen ist vor allem Resultat der Annahme, dass<br />
sie die Schweiz irgendwann wieder verlassen und gleichzeitig der Haltung der Schweizer Bevölkerung den<br />
MigrantInnen dieser Einwanderungsgeneration gegenüber.<br />
- Die Konsequenz daraus ist, dass die älteren MigrantInnen zu einer marginalisierten und „vergessenen“<br />
Gruppe zu werden drohen mit dem Risiko eines nochmals verstärkten Ausschlusses aus der Gesellschaft.<br />
Dies wiederum kann die Gefahr der Vereinsamung, der sozialen Isolation und einer finanziellen Unterversorgung<br />
steigern.<br />
- Trotz Jahrzehnte langen gesellschaftlichen Ausschlusses sind ältere MigrantInnen bereit, sich in<br />
Partizipationsprozessen im lokalen Kontext einzubringen. Dabei erwarten sie die Initiative der VertreterInnen<br />
von Schweizer Gemeinden und deren Institutionen sowie auch den „Beweis“, dass die „Schweizer“ diese<br />
Einladung zur Partizipation ernst meinen. Ungeachtet der vorhandenen Bereitschaft zur Partizipation ist die<br />
Haltung der älteren italienischen MigrantInnen klar: Würde ihnen das lokale Stimmrecht zugestanden, wären<br />
Bestrebungen wie diejenige für „aktive Bürgerschaft“ obsolet.<br />
- Für Partizipationsprozesse von älteren MigrantInnen müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Auf der<br />
Seite der Schweizer VertreterInnen müssen bspw. auf politischer Ebene Entscheidungen getroffen und<br />
notwendige Strukturen geschaffen werden. Es bedarf eines strukturierten Vorgehens mit Berücksichtigung<br />
wichtiger Aspekte wie sprachlicher Zugang zur Zielgruppe, Beziehungsaufbau über Schlüsselpersonen der<br />
jeweiligen Zielgruppe, Einhalten zentraler Punkte für ein erfolgreiches Gelingen von Partizipationsvorhaben<br />
sowie weitere Prinzipien.<br />
- Ethnizität ist in viel geringerem Masse prägend für Partizipationsprozesse als allgemeinhin vertreten wird.<br />
Partizipation muss vielmehr dem Anspruch einer diversitätsgerechten Alters- und <strong>Integration</strong>spolitik gerecht<br />
werden, welche über den Einbezug der lebensgeschichtlichen Prägung im Sinne einer lebenslangen<br />
Sozialisation realisiert werden muss.<br />
- Partizipationsvorhaben mit älteren MigrantInnen können einem pragmatischen Praxisansatz folgen und<br />
danach umgesetzt werden, wie zum Beispiel das Modell <strong>MIGRALTO</strong> es vorsieht.<br />
Modell – Handlungsanweisungen und Praxis<br />
Das in diesem Forschungsvorhaben entwickelte Modell <strong>MIGRALTO</strong> als partizipatives Modell für die aktive<br />
Bürgerschaft von älteren Migrantinnen und Migranten wird dem Anspruch einer diversitätsgerechten Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>spolitik mit seinem praxisorientierten und multiplizierbaren Charakter gerecht.<br />
Mit seinen konkreten Handlungsanleitungen ermöglicht es GemeindevertreterInnen und deren Institutionen,<br />
Partizipationsvorhaben mit älteren MigrantInnen strukturiert anzugehen und das Prinzip der Partizipation im Sinne<br />
der aktiven Bürgerschaft konsequent umzusetzen.<br />
Ausblick<br />
Die Entwicklung des Modells <strong>MIGRALTO</strong>, das die Erkenntnisse aus dieser Forschungsarbeit berücksichtigt und in<br />
praxisrelevante Handlungsanleitungen übersetzt hat, soll für zukünftige Partizipationsvorhaben von<br />
schweizerischen GemeindevertreterInnen und deren Institutionen eine praktische Hilfe sein und aktive<br />
Bürgerschaft von älteren MigrantInnen soll sukzessive zu einer gleichwertigen Beteiligung dieser<br />
Bevölkerungsgruppe einen Beitrag leisten. Im Weiteren ist die Anwendung und Umsetzung von <strong>MIGRALTO</strong> ein<br />
Beitrag zur Wertschätzung der Menschen, die als ArbeiterInnen in dieses Land gekommen sind, und eine<br />
Anerkennung ihrer Leistungen für diese Gesellschaft.<br />
7
1. Einleitung (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
1.1 Anliegen und Ziele der Masterarbeit<br />
Auf der Suche nach einem interessanten Thema für die vorliegende Masterarbeit haben sich die<br />
Autorinnen für ein Gebiet entschieden, das bisher in der Gerontologie erst marginale Aufmerksamkeit<br />
geniesst: Die älteren MigrantInnen als Teil der Altersbevölkerung in der Schweiz und ihre Teilhabe an<br />
Partizipationsprozessen auf kommunaler Ebene.<br />
Übergeordnete Ziele der Masterarbeit<br />
- Die Ermöglichung von aktiver Bürgerschaft der älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz im<br />
Sinne einer gleichwertigen Partizipation, wie sie der Zielsetzung einer zukunftsweisenden<br />
<strong>Integration</strong>spolitik entsprechen würde.<br />
- Die Schaffung von Grundlagen für die Entwicklung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> für eine Alterspolitik<br />
und -arbeit, die der wachsenden Heterogenität der Altersbevölkerung Rechnung trägt und diese<br />
repräsentiert.<br />
Hauptziel der Masterarbeit<br />
- Erarbeitung eines partizipativen Modells für die aktive Bürgerschaft der älteren Migrations-<br />
bevölkerung am Beispiel der Gruppe italienischer MigrantInnen im kommunalen Kontext der Stadt<br />
Bern, das schweizweit auch auf andere Kontexte sowie andere MigrantInnengruppen übertragbar<br />
sein soll.<br />
Um dieses Ziel zu erreichen, werden eine mehrteilige quantitative und qualitative Bedarfserhebung<br />
und deren Analyse durchgeführt, um daraus Schlussfolgerungen für die Entwicklung eines<br />
partizipativen Modells der aktiven Bürgerschaft älterer MigrantInnen zu ziehen. Zielgruppen sind<br />
sowohl MigrantInnen und ihre Organisationen als auch Institutionen und Fachpersonen im Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>sbereich. Das Modell <strong>MIGRALTO</strong> soll politische und strategische Massnahmenvorschläge<br />
bieten sowie im Sinne eines Umsetzungsinstruments konkrete Handlungsempfehlungen (vgl. Kapitel<br />
6). Die Forschungsidee haben die Autorinnen auf der Grundlage einer Ausschreibung der<br />
Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen EKM für ein Modellvorhaben unter dem Stichwort<br />
„Citoyenneté – aktive Bürgerschaft“ entwickelt (vgl. Anhang A). Die EKM unterstützt im Rahmen der<br />
<strong>Integration</strong>sförderung von MigrantInnen Vorhaben, welche sich die <strong>Integration</strong> dieser Zielgruppe im<br />
Sinne der Förderung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe zum Ziel setzen. Solche Modellvorhaben sollen<br />
zum einen vor Ort direkte Wirkung erzeugen, zum andern aber auch von überregionalem oder<br />
gesamtschweizerischem Interesse sein (vgl. dazu das Schwerpunkteprogramm zur<br />
<strong>Integration</strong>sförderung 2008-2011 des Bundesamts für Migration BFM auf:<br />
http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/themen/integration/integrationsmassnahmen/schwerpunktepro<br />
gramm.html sowie http://www.ekm.admin.ch/de/projekte/modellvorhaben.php).<br />
8
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die Autorinnen interessiert nun, ob und wie das Konzept der „aktiven Bürgerschaft“ geeignet ist, um<br />
die Partizipation älterer MigrantInnen zu fördern.<br />
Aus zwei Gründen sehen sie sich veranlasst, das gemäss ihres Konzepts (Abati & Hungerbühler,<br />
2010, S. 6) geplante Vorhaben für die Masterarbeit einzuschränken. Einerseits legt der vorgegebene<br />
und begrenzte Umfang der Masterarbeit eine deutliche Zielreduktion nahe. Anderseits haben sich die<br />
inhaltlichen Ziele der Masterarbeit auch dadurch verringert, dass die Eidgenössische Kommission für<br />
Migrationsfragen EKM zwar an der Entwicklung des vorgesehenen Modellvorhabens interessiert ist,<br />
die Prüfung ihrer finanziellen Unterstützung jedoch erst auf der Grundlage der fertig erstellten<br />
Masterarbeit, des bereits entwickelten Modells sowie der definitiv zugesagten Umsetzungsbereitschaft<br />
einer Gemeinde vornehmen wird. Somit entschieden sich die Autorinnen, ihr Vorhaben im Sinne eines<br />
Vorprojekts zu konzipieren und folgende Ziele des Projekts <strong>MIGRALTO</strong> nicht bereits im Rahmen<br />
dieser Masterarbeit anzugehen:<br />
- Umsetzung und Einführung des Modells im kommunalen Kontext mit der Stadt Bern als Partnerin<br />
und damit Sicherstellung einer praxiserprobten, wissenschaftlich begleiteten Durchführung.<br />
- Entwicklung und Testen von Wirksamkeits- und Qualitätsindikatoren, die es ermöglichen, die<br />
Nachhaltigkeit des eingeführten Modells und der umgesetzten Massnahmen nach Kriterien des<br />
Qualitätsmanagements zu überprüfen.<br />
Eine Änderung im Vergleich zum Konzept erfuhr folgendes Ziel:<br />
- Nicht wie geplant als praxisorientiertes Handbuch, sondern in einfacherer Form eine in die<br />
Masterarbeit integrierte Handlungsanleitung (vgl. Kapitel 6), welche die Umsetzung des Modells<br />
<strong>MIGRALTO</strong> in weiteren Gemeinden ermöglicht.<br />
Folgende Ziele behalten grundsätzlich ihre Gültigkeit. Geplant wäre jedoch, diese erst nach Abschluss<br />
der Masterarbeit anzugehen:<br />
- Öffentlichkeitsarbeit durch die Publikation einer Broschüre zum Projektmodell sowie Vorstellung<br />
des Projektes an verschiedenen Veranstaltungen mit Akteuren aus den Bereichen Alter und<br />
Migration. Bei erfolgreich durchgeführtem Projekt: Durchführung einer nationalen Veranstaltung mit<br />
den massgeblichen Akteuren im Alters- und Migrationsbereich.<br />
- Entwicklung eines Schulungsmoduls für Altersbeauftragte in Gemeinden für die systematische und<br />
bedarfsgerechte Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> in der eigenen Gemeinde<br />
(Multiplikatorenmodell).<br />
1.2 Persönlicher Bezug zum Thema<br />
Hildegard Hungerbühler: Seit mehreren Jahren ist die Situation älterer Migrantinnen und Migranten in<br />
der Schweiz einer der inhaltlichen Schwerpunkte meiner Tätigkeit als Ethnologin und Leiterin der<br />
Abteilung Grundlagen und Entwicklung bei der Geschäftsstelle des Schweizerischen Roten Kreuzes.<br />
9
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ich vertrete das SRK zudem im Vizepräsidium des Nationalen Forums Alter und Migration (vgl. Kapitel<br />
1.3), das sich mit seiner Arbeit seit 2003 ebenfalls auf die Zielgruppe „Ältere MigrantInnen“<br />
konzentriert. Mein persönliches Interesse am Thema wächst, je länger und intensiver ich mich damit<br />
auseinandersetze. Dabei fasziniert mich vor allem der Reichtum an Lebenserfahrung, der bei älteren<br />
Menschen mit Migrationshintergrund zusammenkommt. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass eine<br />
erfolgreich in die eigene Biografie integrierte Migrationsgeschichte eine wichtige Ressource für die<br />
Lebensgestaltung im Alter sein kann. Dies lernte ich nicht nur aufgrund meiner wissenschaftlichen<br />
Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern auch durch persönliche Begegnungen, die mich<br />
berührten.<br />
Viviana Abati: Als Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter, die beide als<br />
Arbeitsmigranten vor über 45 Jahren in die Schweiz eingewandert sind, bin ich als sogenannte<br />
Seconda direkt von der Thematik der Situation der älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz<br />
betroffen. Dadurch war es naheliegend, dass ich die Interviews mit den italienischen MigrantInnen<br />
geführt und die Organisation und Leitung der Fokusgruppe mit den VertreterInnen der italienischen<br />
Migrantenoriganisationen übernommen habe. Von allen italienisch sprechenden Beteiligten wurde es<br />
sehr geschätzt, dass sie sich in ihrer Muttersprache ausdrücken konnten. Neben der eigenen<br />
Betroffenheit ist mein Interesse an der Thematik auch damit zu begründen, dass ich seit Anfang 2011<br />
Beauftragte für die Umsetzung der Alterspolitik der Stadt Biel bin. In dieser Funktion obliegt es mir,<br />
einen Massnahmenplan umzusetzen, welcher unter anderem ein Konzept zur besseren <strong>Integration</strong><br />
der älteren Migrationsbevölkerung in Biel vorsieht. Die Möglichkeit, das in dieser Arbeit entwickelte<br />
Modell <strong>MIGRALTO</strong> selbst in einem kommunalen Kontext anwenden und erproben zu können, hat<br />
meine Motivation für den gesamten Entwicklungsprozess verständlicherweise noch zusätzlich<br />
gesteigert.<br />
1.3 Interessierte Organisationen und Netzwerke<br />
Folgende Organisationen/Netzwerke, welche die Autorinnen bereits in der Planungsphase dieser<br />
Arbeit einbezogen und informiert haben, interessieren sich für die Ergebnisse der empirischen<br />
Datenerhebung und unterstützen das gewählte Thema und seine Ziele ideell.<br />
Nationales Forum Alter und Migration (www.alter-migration.ch): Das Forum ist ein Zusammenschluss<br />
der wichtigsten Organisationen der Alters- und Migrationsarbeit auf nationaler Ebene und setzt sich für<br />
die Achtung der Würde und Rechte der älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz ein sowie für die<br />
Verbesserung ihrer ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Situation. Es leistet Studien- und<br />
Öffentlichkeitsarbeit und sensibilisiert für die Belange älterer MigrantInnen.<br />
Netzwerk der Altersbeauftragten der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie, SGG<br />
(http://www.sgg-ssg.ch/cms/pages/de/arbeitsgruppen/altersbeauftrage.php):<br />
Das von der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie koordinierten und geleitete Netzwerk der<br />
kommunalen Altersbeauftragten ermöglichte es den Autorinnen, an einem seiner Treffen im November<br />
10
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2010 das Ziel der Masterarbeit sowie insbesondere die dazu geplante Situationsanalyse und<br />
Bedarfserhebung bei den Altersbeauftragten vorzustellen und eine erste Rückmeldung einzuholen.<br />
Die Autorinnen erhielten an diesem Treffen erste Signale der Bereitschaft, an der Erhebung<br />
teilzunehmen.<br />
Das Comitato Cittadino d'Intesa di Berna e Regione: Die Autorinnen erhielten ebenfalls bereits in der<br />
Planungsphase der Masterarbeit von dieser Vereinigung italienischer MigrantInnenorganisationen in<br />
Bern die Gelegenheit, ihr Vorhaben anlässlich einer Versammlung vorzustellen und dazu<br />
Einschätzungen einzuholen. Auch das Comitato zeigte sich interessiert an den Ergebnissen der<br />
Masterarbeit für seine eigenen künftigen Aktivitäten.<br />
Konferenz der kantonalen und kommunalen <strong>Integration</strong>sdelegierten der Schweiz (KID): Die KID ist mit<br />
einem <strong>Integration</strong>sdelegierten im Nationale Forum Alter und Migration vertreten und teilt somit über<br />
dessen Mitgliedschaft das Erkenntnisinteresse an dieser Arbeit.<br />
Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen, EKM (http://www.ekm.admin.ch/): Mit der EKM<br />
wurde eingehend abgeklärt, ob sie Interesse an der Eingabe und finanziellen Unterstützung eines<br />
Modellvorhabens „Aktive Bürgerschaft für ältere MigrantInnen“ im Sinne ihres Konzepts der<br />
„Citoyenneté“ hätte. Sie signalisierte ihr grundsätzliches Interesse, auf der Grundlage der fertig<br />
erstellten Masterarbeit eine entsprechende Projekteingabe zur Umsetzung und Evaluation mit einem<br />
kommunalen Partner zu prüfen.<br />
Alters- und Versicherungsamt der Stadt Bern, AVA vgl.:<br />
http://www.bern.ch/stadtverwaltung/bss/av/alterspolitik/agalterundmigration/<br />
Das AVA wurde als in Migrationsfragen engagiertes Amt gleich zu Beginn der geplanten Masterarbeit<br />
von den Autorinnen kontaktiert. Es erklärte seine Unterstützung der Arbeit sowie sein grundsätzliches<br />
Interesse hinsichtlich einer allfälligen späteren Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> durch die Stadt<br />
Bern.<br />
11
2. Theoretischer Hintergrund<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
In diesem Kapitel werden am Beispiel ausgewählter Ansätze der theoretische Hintergrund zu den<br />
Themen Lebensraum – Sozialraum (Kapitel 2.1), Sozialisation (Kapitel 2.2), MigrantInnen als Teil der<br />
Altersbevölkerung (Kapitel 2.3), Definition ältere MigrantInnen (Kapitel 2.3.1), Statistische Angaben<br />
und Fakten zur älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz mit Fokus auf die ItalienerInnen (Kapitel<br />
2.3.2), Forschungsstand zu älteren MigrantInnen (Kapitel 2.3.3), Migration/Arbeitsmigration (Kapitel<br />
2.4), <strong>Integration</strong> (Kapitel 2.5), Partizipation und Aktive Bürgerschaft (Kapitel 2.6), Partizipation (Kapitel<br />
2.6.1), Partizipation älterer MigrantInnen (Kapitel 2.6.2), Aktive Bürgerschaft/Citizenship von<br />
MigrantInnen (Kapitel 2.6.3), Das Beispiel der italienischen Selbstorganisation der ersten<br />
Einwanderungsgeneration in der Stadt Bern (Kapitel 2.6.4) aufgezeigt sowie der Forschungsstand<br />
dazu skizziert und kommentiert. Das Kapitel gibt Auskunft darüber, wie die Autorinnen ihre<br />
Untersuchung im Rahmen ihrer Masterarbeit theoretisch einbetten und abstützen.<br />
2.1 Lebensraum – Sozialraum (V. Abati)<br />
Lebensraum<br />
Der von Kurt Lewin (1963) geprägte Begriff des Lebensraumes (im feldtheoretischen Verständnis)<br />
bildet implizit die sozial-theoretische Basis dieser Forschungsarbeit. Die Feldtheorie mit ihrem Konzept<br />
zum psychologischen Lebensraum wird als einer der wesentlichen Beiträge Kurt Lewins zur<br />
psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung angesehen (Lück, 2001). In seinem Buch<br />
‚Feldtheorie in der Sozialwissenschaft„ (1963) beschreibt Lewin sechs Merkmale seiner Theorie (aus<br />
Lück, 2001):<br />
1. Die konstruktive Methode: Übergang von einer klassifizierenden zu einer konstruierenden<br />
Methode.<br />
2. Der dynamische Ansatz: Entwicklung von Konstrukten und Methoden, die sich mit den dem<br />
Verhalten zugrunde liegenden Kräften befassen.<br />
3. Der psychologische Ansatz: Das Feld nicht als objektiver, physikalischer Begriff, sondern als<br />
Raum, in welchem das Individuum subjektiv in einem bestimmten Zeitraum existiert.<br />
4. Ausgangsanalyse von der Gesamtsituation: Nach der Charakterisierung der Gesamtsituation folgt<br />
die Annäherung an verschiedene Aspekte und Teile der Situation.<br />
5. Das Verhalten als eine Funktion des gegenwärtigen Feldes: Das Feld besteht aus Erfahrungen<br />
der Vergangenheit und aus einer denkbaren Zukunft. Beide beeinflussen die Gegenwart als<br />
gegenwärtig existierendes Feld.<br />
6. Die mathematische Darstellung: Durch die Vektoren wird es möglich, psychologisches<br />
Geschehen in einer logischen und konstruktiven Art und Weise zu beschreiben und zu<br />
bestimmen.<br />
In Bezug auf diese Forschungsarbeit sind die Merkmale 2 bis 5 für das Verständnis des sozialen<br />
Lebensraumes von älteren MigrantInnen in der Schweiz hilfreich, resp. konstituierend. Folgende<br />
12
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Erläuterungen stellen eine vereinfachte „Übersetzung“ der Merkmale in den Kontext der älteren<br />
Migrationsbevölkerung dar:<br />
Der dynamische Ansatz zielt darauf ab, Konstrukte und Methoden zu entwickeln, die sich mit den<br />
dem Verhalten zugrunde liegenden Kräften befassen. Übertragen auf den Kontext der älteren<br />
MigrantInnen in der Schweiz besagt Lewin‟s Theorie auch, dass dem Partizipationsverhalten von<br />
MigrantInnen im Aufnahmeland verschiedene Faktoren, respektive verschiedene Kräfte innerhalb des<br />
Feldes „Aufnahmeland“ zugrunde liegen. Mögliche Faktoren werden einerseits in den nächsten<br />
Kapiteln zum theoretischen Hintergrund eingeführt und beleuchtet, andererseits soll die Untersuchung<br />
mögliche Antworten darauf liefern.<br />
Beim psychologischen Ansatz wird das Feld als Raum definiert, in welchem das Individuum<br />
subjektiv in einem bestimmten Zeitraum existiert. Das bedeutet, ältere MigrantInnen sind Subjekte und<br />
erleben ihren Lebensraum im Aufnahmeland und in Bezug auf das eigene Älterwerden als solche. Wie<br />
später aufgezeigt wird, ist in der aktuellen Diskussion zu <strong>Integration</strong> und Partizipation eine deutliche<br />
Veränderung der Wahrnehmung und Definition des/der (ältere/n) MigrantIn vom Objekt zum Subjekt<br />
erkennbar. Es wird zukünftig vermehrt darum gehen, dass sich diese Veränderung auch in der<br />
Umsetzung einer diversitätsgerechten Partizipationspolitik konkret niederschlägt.<br />
Analyse ausgehend von der Gesamtsituation bedeutet im vorliegenden Kontext, dass erst die<br />
Betrachtung des Lebensraumes der MigrantInnen (Kultur und Mentalität) aus dem Ursprungsland<br />
zusammen mit der Betrachtung des Lebensraumes in der Schweiz als Migrationsland mit der ihr<br />
eigenen Kultur und Mentalität zu einem Verständnis der Gesamtsituation führt. Daraus folgt, dass<br />
MigrantInnen allgemein – und spezifisch für diese Arbeit die älteren MigrantInnen insbesondere – ein<br />
Verhalten aufweisen, das durch ihre Erfahrungen im Ursprungsland, genauso aber auch von den<br />
Erfahrungen im Aufnahmeland beeinflusst ist. Weiter unten werden in diesem Zusammenhang Fragen<br />
betreffend Binnenintegration und möglicher Ausgrenzung eingeführt und diskutiert.<br />
Vertieft wird die oben beschriebene Betrachtung der Gesamtsituation durch das Verhalten als eine<br />
Funktion des gegenwärtigen Feldes, in welchem Vergangenheit und (gedachte oder erhoffte)<br />
Zukunft die Gegenwart beeinflussen. In Bezug auf die Gegenwart von älteren MigrantInnen müssen<br />
sich Partizipationsprozesse an deren Vergangenheit und an deren Zukunft orientieren.<br />
Kalbermatten (2010) betrachtet den Lebensraum aus einer angewandten Perspektive und beschreibt<br />
diesen als Umwelt, der eine soziale und eine ökologische Komponente enthält. Der Lebensraum ist<br />
dabei Konstrukt der Selektion und Perspektive und konstituiert das Handeln und die Wahrnehmung<br />
des Individuums. Ausserdem wird er durch Mitmenschen beeinflusst.<br />
In diesem Verständnis führt Lebensraum zu Handlungsspielraum, in welchem es möglich wird,<br />
Kompetenzen zu nutzen, Wahlmöglichkeiten aufzuzeigen und Informationen über Handlungsmöglich-<br />
keiten zu erhalten sowie Handlungsbarrieren abzubauen. Der Raum als solches lässt sich wiederum<br />
unterteilen in verschiedene Aspekte wie körperlich, privat, sozial, öffentlich, usw. Aus dieser<br />
Differenzierung des Begriffes Raum ergibt sich nach Kalbermatten ein Beteiligungs-Mix, in welchem<br />
der oben erwähnte Einfluss in Bezug auf den entsprechenden Lebensraum sichtbar wird:<br />
13
Privatheit Sozialer Raum<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Soziale Interaktion<br />
14<br />
Hilfeebene und<br />
Unterstützungsbedarf<br />
Selbstbestimmung Mitbestimmung Fremdbestimmung<br />
Handlungen<br />
Orte<br />
Handlungen<br />
Orte<br />
Handlungen<br />
Im vorliegenden Kontext wird vor allem der mittlere, der soziale Raum von Bedeutung sein. Handeln<br />
und Wahrnehmung des/der älteren MigrantIn im Lebensraum Schweiz sind sozusagen das Resultat<br />
desselben, genauso wie die wahrgenommenen Handlungsspielräume. Im Sinne dieser Betrachtungs-<br />
weise wird bei der Untersuchung eine multiperspektivische Analyse vorgenommen, da offensichtlich<br />
ist, dass erst eine gemeinsam geteilte Wahrnehmung von Sozialraum und Handlungsspielraum<br />
verschiedener AkteurInnen eines Lebensraumes eine gleichwertige Partizipation ermöglicht.<br />
Sozialraum<br />
Dem Konzept des Lebensraumes ähnlich, ist jenes des Sozialraumes. Hofinger (2007) weist<br />
daraufhin, dass der Ursprung des Begriffes Sozialraum nicht ganz eindeutig sei und sowohl in der<br />
Stadtsoziologie als auch in der Pädagogik genutzt werde. Nach ihm ermöglicht das Konzept, mittels<br />
Analyse die räumliche Umgebung in Verbindung zum sozialen Handeln zu bringen. Somit wird der<br />
„Sozialraum“ nicht nur als sozialgeografisch begrenzter Raum definiert wie beispielsweise ein Stadtteil<br />
oder eine Region. Sozialraum bezieht sich ebenfalls auf einen sozial konstituierten Raum und wird<br />
Orte<br />
damit zu einem Lebensraum und sozialen Mikrokosmos, in dem sich gesellschaftliche<br />
Entwicklungsprozesse ereignen und manifestieren.<br />
Hofinger (ebenda) verweist im Weiteren darauf, dass das Konzept des Sozialraumes (und die in<br />
diesem Zusammenhang meist mitgenannte Sozialraumanalyse) in unterschiedlichen Feldern<br />
Anwendung findet, zum Beispiel in der Planung oder in der Stadtentwicklung. Jedoch auch die<br />
Gemeinwesenarbeit – ein partizipativer und prozessorientierter Ansatz der sozialen Arbeit, der darauf<br />
ausgerichtet sei, die Lebenssituation der Menschen in einem sozialen Raum in materieller und<br />
immaterieller Hinsicht zu verbessern – orientiere sich stark am Konzept des Sozialraumes.<br />
Die Autorinnen teilen die hier vorgestellte Definition des Sozialraumes, wonach dieser direkt mit dem<br />
sozialen Handeln in Verbindung steht, und der als sozialer Mikrokosmos betrachtet werden kann,<br />
welcher gesellschaftliche Entwicklungsprozesse beinhaltet. Im Hinblick auf diese Forschungsarbeit<br />
streichen die Autorinnen speziell den Aspekt der Einflussnahme auf den Sozialraum heraus.<br />
Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen sozialen Rollen (z.B. VertreterInnen schweizerischer<br />
Institutionen oder VertreterInnen der Migrationsbevölkerung) beeinflussen den eigenen Sozialraum<br />
(z.B. im Sinne der Binnenintegration) unterschiedlich. Gleichzeitig teilen sie einen gemeinsamen<br />
Raum, etwa das gemeinsam bewohnte Quartier, in welchem sie mehr oder weniger ausgeprägt<br />
miteinander interagieren. In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus zudem auf dem Aspekt der
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, unter welche die hier diskutierte aktive Bürgerschaft als<br />
Partizipation älterer Migrantinnen subsummiert werden kann.<br />
2.2 Sozialisation (V. Abati)<br />
In Zusammenhang mit der Diskussion, ob unterschiedliche Ethnizität nach ethnien-spezifischen<br />
Angeboten oder partizipativen Prozessen verlangt, soll hier kurz die Sozialisation als Grundkonzept<br />
skizziert werden, um dadurch mögliche Hinweise auf die Frage zu finden, ob und wie stark Ethnizität<br />
den partizipativen Prozess prägt oder prägen könnte.<br />
„Sozialisation ist Persönlichkeitsentwicklung in Aufnahme von und in Auseinandersetzung mit der<br />
gesellschaftlichen, kulturellen und materiellen Umwelt, insbesondere in Interaktion mit Personen.“<br />
(Geulen, 1977)<br />
Die hier verwendete Definition basiert auf den Arbeiten von Hurrelmann und Geulen (2006)<br />
.Sozialisation gilt als die Anpassung eines Individuums an die gesellschaftlichen Denk- und<br />
Gefühlsmuster durch Verinnerlichung von den herrschenden sozialen Normen. Als wissenschaftlicher<br />
Begriff bezeichnet sie zum einen die Entwicklung der Persönlichkeit aufgrund ihrer Interaktion mit ihrer<br />
materiellen und sozialen Umwelt. Zum anderen meint sie die sozialen Bindungen zwischen<br />
verschiedenen Individuen. Dadurch entstehen im sozialen Zusammenleben Handlungsbezüge im<br />
Sinne von Vergemeinschaftung und Handlungsorientierungen als soziale Identität. Das bedeutet, dass<br />
ein Individuum sich tendenziell nach den jeweils geltenden Normen und Werten der Gesellschaft<br />
verhält, in der es sozialisiert wurde.<br />
Unter Sozialisation wird aber meist auch die Gesamtheit der Lernprozesse verstanden, die durch eine<br />
spezifische Gesellschaft vermittelt werden. Dadurch wird das Individuum sozial handlungsfähig und<br />
nimmt am sozialen Leben teil, wodurch es an der Entwicklung der Gesellschaft auch mitwirken kann.<br />
Sozialisation wird ausserdem als lebenslanger Prozess gesehen, der durch sogenannte Sozialis-<br />
ationsinstanzen die sozialen Lernprozesse des Indiviuums beeinflussen oder gar steuern kann.<br />
In diesem lebenslangen Sozialisationsprozess werden drei Stufen der Sozialisation unterschieden: die<br />
primäre, die sekundäre sowie die tertiäre. Nach Berger und Luckmann (1969) wird primäre<br />
Sozialisation als Prozess beschrieben, in welchem einem Menschen in den ersten Lebensjahren<br />
fundamentales Wissen vermittelt wird, um sich in seiner sozialen Umgebung zurechtzufinden und<br />
darin interagieren zu können. Der junge Mensch findet dadurch schrittweise zu seiner Identität und<br />
Rolle.<br />
Die durch die primäre Sozialisierung gelegten Fundamente für die Anpassung an und die Interaktion<br />
mit der Umwelt, führen fliessend zur sekundären Sozialisation des Individuums, die sich im<br />
Jugendlichen- und Erwachsenenalter fortsetzt. Während sich die sekundäre Sozialisation vor allem im<br />
ausserfamiliären Kontext fortsetzt, wird in der tertiären Phase in erster Linie das berufliche Umfeld als<br />
Kontext des Sozialisationsprozesses genannt.<br />
15
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Der zentrale Punkt für diese Forschung ist die Feststellung, dass die Lernerfahrungen der primären<br />
Sozialisationsphase als gefestigt und nicht mehr veränderbar gelten. Das Erlernte der sekundären<br />
(und tertiären) Phase hingegen bleibt veränderbar, der Mensch bleibe also in der Lage auch neue<br />
Rollen anzunehmen und wird vom sozialen Kontext weiterhin beeinflusst.<br />
An dieser Stelle wird auch auf das Konzept der sozial-kognitiven Lerntheorie nach Bandura (in: Abels<br />
und König, 2006) hingewiesen, wonach Lernen stets ein sozialer Vermittlungsprozess ist. Nach den<br />
Lerntheorien würde die Persönlichkeitsentwicklung im Grundsatz dem Aufbau von Lernerfahrungen<br />
gleichgesetzt. Unter dem Begriff Motivationsprozesse innerhalb der Lerntheorie Bandura‟s, hat bereits<br />
die blosse Erwartung von Konsequenzen eine verhaltenssteuernde Wirkung, was bedeutet, dass die<br />
gedankliche Vorwegnahme von Konsequenzen motivierend oder demotivierend wirken kann.<br />
Die Autorinnen gehen aufgrund der vorgestellten Sozialisationskonzepte davon aus, dass Ethnizität<br />
ein mitbestimmender Faktor ist für eine aktive Bürgerschaft im Alter, nicht aber der prägende. Da<br />
Sozialisation als lebenslanger Prozess gesehen wird, der als soziales Lernen interpretiert wird,<br />
bedeutet das, dass ältere MigrantInnen durch ihren jahre- oder jahrzehntelangen Aufenthalt im<br />
Aufnahmeland vielseitige Erfahrungen erworben haben im Sinne der Sekundär- und Tertiär-<br />
sozialisation, dass sie ohnehin nicht mehr einfach eine oder diese spezifische Ethnizität verkörpern.<br />
Im Weiteren ist das Modell <strong>MIGRALTO</strong> ein prospektives Projekt, das von einer Ausgangssituation<br />
ausgeht (Biografie der älteren MigrantInnen), das aber als Ziel vor allem auch Kompetenz-Erwerb<br />
anstrebt und somit Teil einer weiteren Sozialisierung im Sinne eines sozialen Lernens.<br />
In Zusammenhang mit den neueren gerontologischen Konzepten zur Lernfähigkeit im Alter<br />
(Stadelhofer, 1996) liesse sich – allerdings hier ungeprüft – sagen, dass sekundäre und tertiäre<br />
Sozialisation sowie sozial-kognitives Lernen altersunspezifische Konzepte sind. Welche Implikationen<br />
diese Feststellung für Partizipationsprozesse mit älteren MigrantInnen hat, wird aufgrund der<br />
Ergebnisse aus den Analysen und aus dem Erkenntnisgewinn (vergleiche Kapitel 6.2,<br />
Schlussfolgerungen) diskutiert.<br />
2.3 MigrantInnen als Teil der Altersbevölkerung(H. Hungerbühler)<br />
Dieses Kapitel liefert einen Überblick zur Definition „Ältere MigrantInnen“ (2.3.1), zu den statistischen<br />
Angaben und Fakten zur älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz mit Fokus auf den<br />
ItalienerInnen (2.3.2) sowie zum Forschungsstand (2.3.3).<br />
2.3.1 Definition ältere MigrantInnen<br />
In der vorliegenden Masterarbeit verstehen die Autorinnen unter der „älteren Migrationsbevölkerung“<br />
bzw. unter „älteren Migrantinnen und Migranten“ alle Menschen mit Migrationshintergrund, die im<br />
Rentenalter stehen (ab 62 bzw. 65 Jahren). Obwohl die Datenlage zeigt, dass MigrantInnen häufig<br />
aufgrund belastender Arbeitsbedingungen im Niedriglohnbereich gesundheitlich früher altern (Weiss,<br />
2003; Dietzel-Papakyriakou, 1993), nehmen wir das Pensionierungsalter als Indikator. Für<br />
16
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
MigrantInnen stellt sich spätestens dann die Frage, wo sie ihr „Alter“ verbringen wollen – im<br />
Herkunftsland oder in der Schweiz, wo sie meist deutlich mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht<br />
haben. Im Weiteren beschränken wir uns aufgrund des begrenzten Rahmens der Masterarbeit<br />
exemplarisch auf denjenigen Teil der älteren Migrationsbevölkerung, der in der Forschungsliteratur der<br />
Schweiz am besten dokumentiert ist. Es handelt sich um die erste Einwanderungsgeneration nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg, die sogenannten Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Italien, später dann<br />
auch aus Spanien. Es sind diese Personen, die heute mehrheitlich pensioniert sind. Eine weitere<br />
Eingrenzung der Zielgruppe ergibt sich dadurch, dass wir uns schwergewichtig auf die italienische<br />
Migrationsgemeinschaft im lokalen Kontext der Stadt Bern beziehen.<br />
2.3.2 Statistische Angaben und Fakten zur älteren Migrationsbevölkerung in<br />
der Schweiz mit Fokus auf die ItalienerInnen<br />
Obwohl es sich bei den MitgrantInnen in der Schweiz mehrheitlich um eine demografisch junge<br />
Bevölkerung handelt, dürfte die Zahl der über 65-Jährigen gemäss statistischer Szenarien des Bundes<br />
in den nächsten Jahren deutlich wachsen (BFS, 2010, S. 7). Ende 2009 lebten innerhalb der<br />
„ständigen ausländischen Wohnbevölkerung“ in der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen 250„618, in<br />
der Gruppe der 65- 79-Jährigen 110„610 und bei den über 80-jährigen 21„098 Personen in der<br />
Schweiz - Eingebürgerte nicht mitgezählt. Der mit Abstand grösste Teil der älteren<br />
Migrationsbevölkerung stammt aus Italien. Bei den 50 bis 64-Jährigen sind es 58„466, bei den 65 bis<br />
79-Jährigen 47„371 und bei den über 80-Jährigen noch 8„896 Personen. Die demografische Verteilung<br />
der italienischen Altersbevölkerung nach Geschlecht ist das Ergebnis einer männlich dominierten<br />
Einwanderung in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Schweiz benötigte damals für ihren<br />
Arbeitsmarkt vorab junge männliche Arbeitskräfte. Das erklärt den trotz späterem Familiennachzug<br />
kleiner gebliebenen Anteil von Frauen in der Alterskategorie 65 – 79 Jahre. Wie bei der<br />
schweizerischen Bevölkerung auch verfügen jedoch Frauen über die höhere Lebenserwartung und<br />
überwiegt daher ihr Anteil in der Alterskategorie 80+ (vgl. folgende Tabelle).<br />
17
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ständige ausländische Wohnbevölkerung nach Nationalität, Altersgruppe und Geschlecht<br />
Schweizerisches Rotes Kreuz / Departement Gesundheit und <strong>Integration</strong>, basierend auf der<br />
Quelle: Bundesamt für Statistik (Stand am 31.12.2009)<br />
Abbildung 1: Säulengraphik der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung nach Nationalität, Altersgruppe und Geschlecht<br />
18
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ständige ausländische Wohnbevölkerung nach Nationalität, Altersgruppe und Geschlecht<br />
Schweizerisches Rotes Kreuz / Departement Gesundheit und <strong>Integration</strong>, basierend auf der<br />
Quelle: Bundesamt für Statistik (Stand am 31.12.2009)<br />
Tabelle 1: Zahlen zur ständigen ausländischen Wohnbevölkerung nach Nationalität, Altersgruppe und Geschlecht, 31.12.2009<br />
Deutschland/Österreich/Liechtenstein<br />
Frankreich<br />
Italien<br />
Spanien<br />
Portugal<br />
Türkei<br />
Länder ehemaliges Jugoslawien<br />
übriges Europa<br />
nicht europäische Länder<br />
Total<br />
19<br />
Alter<br />
40-49 50-64 65-79 80 +<br />
Frauen 27005 13773 11352 2590<br />
Männer 39309 22982 15432 1891<br />
Total 66314 36755 26784 4481<br />
Frauen 6841 5886 3218 1302<br />
Männer 8942 7844 3505 880<br />
Total 15783 13730 6723 2182<br />
Frauen 20508 24276 21137 5175<br />
Männer 33044 34190 26234 3721<br />
Total 53552 58466 47371 8896<br />
Frauen 5333 6275 2770 718<br />
Männer 6480 8702 2878 377<br />
Total 11813 14977 5648 1095<br />
Frauen 20676 9144 631 111<br />
Männer 25329 14426 531 45<br />
Total 46005 23570 1162 156<br />
Frauen 5620 4362 1157 160<br />
Männer 6533 5016 1301 83<br />
Total 12153 9378 2458 243<br />
Frauen 23904 22729 3685 446<br />
Männer 23199 27674 4013 192<br />
Total 47103 50403 7698 638<br />
Frauen 12771 9507 3999 1222<br />
Männer 13877 11862 4831 1040<br />
Total 26648 21369 8830 2262<br />
Frauen 22578 9816 1887 636<br />
Männer 20390 12154 2049 509<br />
Total 42968 21970 3936 1145<br />
Frauen 145236 105768 49836 12360<br />
Männer 177103 144850 60774 8738<br />
Total 322339 250618 110610 21098<br />
Allgemein wurde angenommen, dass die MigrantInnen, die nach dem zweiten Weltkrieg vorwiegend<br />
aus Europas Süden (Italien und später Spanien) in die Schweiz eingewandert sind, um hier zu<br />
arbeiten, und die heute im Rentenalter sind, nach ihrer Pensionierung wieder in ihre ehemalige Heimat<br />
zurückkehren würden. Studien belegen hingegen am Beispiel italienischer und spanischer
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
MigrantInnen in Genf und Basel, dass nur gerade ein Drittel zurückkehrt, ein Drittel pendelt und ein<br />
Drittel (Tendenz zunehmend) auch das Alter in der Schweiz verbringt (vgl. Bolzman, Fibbi und Vial,<br />
1999). Damit stellen sich nun der schweizerischen Alterspolitik und -arbeit neue Herausforderungen.<br />
Ältere MigrantInnen werden zunehmend zu KlientInnen/PatientInnen der Gesundheits- und<br />
Altersversorgung. Sie sind jedoch nicht nur EmpfängerInnen von Dienstleistungen. Vielmehr verfügen<br />
sie auch über bestimmte Ressourcen, wie etwa migrationsspezifische Kompetenzen und Erfahrungs-<br />
wissen sowie eine teilweise beispielhafte Selbstorganisation in tragenden sozialen Netzwerken. All<br />
diese Faktoren machen sie zu selbstbestimmten AkteurInnen ihrer Lebensgestaltung im Alter.<br />
Die jungen und mittleren Lebensjahre dieser heute älteren Migrationsbevölkerung spielten sich vor<br />
allem in der Arbeitswelt ab. Die dominante Arbeitssprache in denjenigen Sektoren des Arbeitsmarktes,<br />
in welchen die MigrantInnen aus Europas Süden angestellt waren, war Italienisch. Zur <strong>Integration</strong> in<br />
andere gesellschaftliche Bereiche blieb nebst der vieler Arbeit wenig bis keine Zeit. Zudem zeichneten<br />
sich diese Jahre durch eine fehlende staatliche <strong>Integration</strong>spolitik bzw. –förderung seitens der<br />
Schweiz aus. Die italienischen ArbeitsmigrantInnen waren somit gezwungen, sich innerhalb ihrer<br />
Community selber zu helfen, sich selber zu organisieren. Es entstand eine Reihe von Organisationen,<br />
die an Stelle des schweizerischen Staates wichtige <strong>Integration</strong>sarbeit und Unterstützung für ihre<br />
Landsleute leisteten (vgl. Kapitel 2.6.4). Somit kann die heute pensionierte italienische<br />
Migrationsbevölkerung der ersten Generation auch im Alter auf bewährte Netze der sozialen<br />
Unterstützung und Sicherung zurückgreifen.<br />
Auf der andern Seite zeigen sich bei dieser Generation aber auch die Folgen jahrzehntelanger Arbeit<br />
im Niedriglohnbereich und unter Bedingungen, die die Gesundheit stark belastet haben, sowie<br />
Auswirkungen von Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrung: Frühinvalidität und erhöhtes<br />
Krankheitsrisiko im Alter. Zudem führten die geringen Einkommen während des Erwerbslebens zu<br />
tiefen Altersrenten und damit auch zur Gefahr, in die Altersarmut abzugleiten. Und schliesslich wirkt<br />
sich im Alter auch die verpasste <strong>Integration</strong>sförderung durch die Schweiz aus. So bekunden viele,<br />
trotz jahrzehntelangem Leben in der Schweiz, nach wie vor Mühe bei der mündlichen und schriftlichen<br />
Verständigung in der deutschen Sprache. Sie kennen häufig ihre Rechtsansprüche im Rahmen der<br />
Altersversorgung (AHV, EL, Pensionskasse etc.) nicht oder nur lückenhaft und sind über das<br />
schweizerische Gesundheitswesen und im Speziellen die Altersversorgung mit ihren Dienstleistungen<br />
schlecht oder nur unzureichend informiert. Bezüglich der Zielgruppe ‚Ältere Migranten„ zeigt sich ein<br />
wachsender Bedarf an wirkungsvoller Zusammenarbeit zwischen Migrationsorganisationen und<br />
Institutionen des schweizerischen Sozial- und Gesundheitswesens, insbesondere der ambulanten und<br />
stationären Dienstleistungserbringer im Altersbereich (vgl. Kobi, 2008; Hungerbühler, 2010).<br />
Auch in Gremien der Alterspolitik sind ältere MigrantInnen gemäss Aussagen von VertreterInnen aus<br />
Altersorganisationen – wie beispielsweise dem Schweizerischen Seniorenrat – nicht oder nur marginal<br />
vertreten. Eine Altersarbeit, aber auch -politik, die dem Bedarf einer nach nationaler Herkunft immer<br />
heterogener werdenden Altersbevölkerung gerecht werden will, sollte sich jedoch für das Potenzial<br />
von MigrantInnen als partizipierende AkteurInnen interessieren.<br />
20
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2.3.3 Forschungsstand zu älteren MigrantInnen<br />
Innerhalb der Forschungsliteratur zu Migration und <strong>Integration</strong> sind ältere Menschen und ihre<br />
Lebenssituationen bis anhin ein eher marginales Thema. In England - mit seinen auf die Kolonialzeit<br />
zurückgehenden grösseren ethnischen Minderheiten - wird Altern unter anderem auch in Verknüpfung<br />
mit „Ethnicity“ untersucht. So erstaunt es nicht, dass auch die Initiative für eine Länder vergleichende<br />
Studie in Europa mit dem Titel „Minority Elderly Care in Europe: Country Profiles“ (Patel, 2003) von<br />
England ausging. In zehn europäischen Ländern – darunter die Schweiz – wurde untersucht, welche<br />
sozialen und gesundheitlichen Bedürfnisse ältere Menschen mit einem Migrationshintergrund oder mit<br />
einer ethnischen Minderheitenzugehörigkeit haben und mit welchen Dienstleistungsmodellen diese am<br />
besten zu decken seien. In Deutschland hat sich vor allem Dietzel-Papakyriakou (1990, 1993, 2005)<br />
mit älteren Migrantinnen und Migranten befasst. Auch sie hat ihren Fokus auf die Rolle, welche die<br />
„Ethnizität“ für MigrantInnen im Alter spiele, gerichtet und in mehreren Artikeln die Frage diskutiert, ob<br />
sich Ethnizität als Ressource oder Belastung für die Lebensgestaltung im Alter erweise. Einerseits<br />
beobachtete sie die Tendenz zum Rückzug älterer MigrantInnen in ihre eigenen ethnischen Gruppen<br />
im Sinne eines – gerontologisch konzipierten – „disengagements“ (Cumming & Henry, 1961) von der<br />
Mehrheitsgesellschaft. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der „ethnischen Insulation“. Genau<br />
diese verstärkte Binnenintegration (vgl. das Konzept von Elwert, 1982 in Kapitel 2.5) im Alter sei<br />
anderseits auch eine Ressource und könne zum Potenzial für die Lebensgestaltung im Alter werden.<br />
Dazu äussert sie sich wie folgt (2005, S. 397): „Geht man von der Annahme aus, dass das Alter in<br />
einem Lebenskontinuum zu sehen ist, dann prägt die Migration als zentrale Lebenserfahrung den<br />
Alternsprozess mit. Jede Kultur bildet in ihren religiösen Systemen und Weltauffassungen für das Alter<br />
Leitmotive und Bewältigungsstrategien aus. Ältere Migranten, die bis zum Erwachsenenalter im<br />
Herkunftsland sozialisiert worden sind, greifen auf diesen kulturellen Fundus von Altersbildern zurück.“<br />
Sie vertritt die Ansicht, dass ältere MigrantInnen vor diesem Hintergrund in Wechselwirkung mit ihrer<br />
aktuellen Umgebung spezifische Potenziale entwickeln. Sie kritisiert dabei die Mehrheitsgesellschaft,<br />
in ihrem Falle Deutschland: „Häufig behindern jedoch undifferenzierte, klischeehafte Darstellungen<br />
von Migranten die Wahrnehmung solcher Potenziale“ (ebenda).<br />
Dietzel-Papakyriakou weist wiederholt darauf hin, dass in der sozialgerontologischen Arbeit mit älteren<br />
MigrantInnen nebst den auch für die einheimische Altersbevölkerung gültigen Faktoren wie<br />
Berufsbiografie, Schichtzugehörigkeit, Gesundheitsstatus, materielle Situation, etc. das ethnische<br />
Orientierungssystem zu berücksichtigen sei: „So hat das chronologische Alter von 65 Jahren nicht für<br />
alle Populationen die gleiche Bedeutung. Bei den Arbeitsmigranten tritt z.B. das psychosoziale Alter<br />
viel früher als das chronologische ein. Denn sie orientieren sich in ihren Lebensphasen an eigenen<br />
ethnisch-kulturellen Alterspassagen, die früher eintreten; so etwa an der früheren Grosselternschaft<br />
oder an dem früheren Berentungsalter im Herkunftsland. Alter bedeutet eine intensive Identifikation<br />
mit der ethnischen Kultur“ (1993, S. 468).<br />
An diesem Ansatz dominanter Fokussierung von Ethnizität im Alter kritisieren wir, dass Ethnizität<br />
essentialistisch und als ein statisches, unveränderliches Konzept definiert wird, das sich bis ins Alter<br />
als solches aufrechterhält. In diesem Sinne bleibt auch im Alter als einzige Orientierungs- und<br />
21
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Handlungsoption nur der Rückgriff auf das durch die Sozialisierung ein für allemal erworbene<br />
Referenzsystem kultureller Bedeutung erhalten. Unberücksichtigt bleibt in dieser Konzeption die<br />
Tatsache, dass MigrantInnen in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität und<br />
Entwicklung der Aufnahmegesellschaft ihr Bedeutungssystem auch verändern und je nach Kontext<br />
spezifisch handhaben. Die Ethnizitätsforschung der letzten Jahre belegt, dass Ethnizität als<br />
dynamisches Konzept permanenter gegenseitiger und situationaler Abgrenzungsprozesse zu<br />
verstehen ist. Barth legte bereits 1969 die Grundlage für ein Ethnizitätsverständnis, das an<br />
Gruppenbildungs- und interethnische Interaktionsprozesse gebunden ist. Er mass den erst durch<br />
Selbst- und Fremdzuschreibung entstehenden ethnischen Grenzen für die Konstitution ethnischer<br />
Gruppen zentrale Bedeutung zu. Vor dem Hintergrund der Migrations- und Minderheitensituation<br />
liessen sich im Folgenden zwei Ansätze unterscheiden, welche ‚Ethnizität„ eine je unterschiedliche<br />
Funktion zumessen: erstens eine politisch-instrumentelle Funktion, in welcher Ethnizität als<br />
Organisationsressource dient und zur Bildung von Interessensgruppen eingesetzt werden kann und<br />
zweitens eine individuell-entlastende oder identitätsstiftende Funktion, welche zur Entstehung<br />
affektiver Bindung an eine sich als ethnisch formierende und definierende Gruppe beiträgt und<br />
identitätsstiftend wirkt, indem sie als subjektive Orientierungshilfe und stabilisierender Faktor in<br />
persönlichen Krisensituationen mobilisiert wird.<br />
In der vorliegenden Masterarbeit orientieren wir uns an der uns sinnvoll erscheinenden Verknüpfung<br />
dieser beiden Dimensionen von Ethnizität. Unsere Annahme besagt, dass für MigrantInnen – auch im<br />
Alter – Ethnizität eine doppelte Bedeutung hat: als politisches Instrument zum einen und als<br />
psychologischer Erklärungswert zum andern. Ethnizität dient einerseits als Mobilisierungsressource<br />
für die Selbstorganisation in Interessengruppen, anderseits wird sie als Orientierungshilfe herbeige-<br />
zogen, um das Bedürfnis nach identitärer Kontinuität in einem verunsichernden und fremden<br />
Gesellschaftskontext zu befriedigen (Stienen & Wolf, 1991).<br />
In der Schweiz arbeiteten bisher in erster Linie das Genfer Forschungsteam Bolzman, Fibbi und Vial<br />
(1998, 1999), Höpflinger (1999), Kobi (2008), Soom Ammann (2006) und Hungerbühler (2004, 2007,<br />
2010, 2011) zur Thematik der älteren Migrationsbevölkerung. Die Genfer SoziologInnen untersuchten<br />
zum einen die Entscheidpraxis älterer MigrantInnen bezüglich der Wahl ihres Alterswohnsitzes<br />
(Schweiz, Herkunftsland, Pendeln) am Beispiel italienischer und spanischer ArbeitsmigrantInnen der<br />
Städte Genf und Basel (1999) und analysierten Projekte und Dienstleistungen für ältere MigrantInnen<br />
in den Ländern Deutschland, Frankreich und Holland (1999). Höpflinger (1999) skizzierte<br />
demografische Entwicklungsszenarien der älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz, Kobi (2008)<br />
legte ihren Schwerpunkt auf die theoretische und empirische Untersuchung der<br />
Unterstützungsbeziehungen und -erwartungen älterer Menschen aus Italien und Serbien/Montenegro<br />
in Zürich. Sie entwickelte Folgerungen zum familiären Unterstützungspotenzial und Bedarf nach<br />
familienexternen Unterstützungsangeboten. Für den kommunalen Kontext der Stadt Bern liegen mit<br />
Stienen (2006) und Soom & Truffer (2000) Publikationen vor, welche sich den <strong>Integration</strong>sdynamiken<br />
in der Stadt Bern widmen, darunter im Speziellen auch der Geschichte der italienischen<br />
Arbeitsmigration. Soom Ammann (2006) geht dabei der Frage der Selbstorganisation italienischer<br />
22
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
ArbeitsmigrantInnen nach. Am Beispiel der drei Organisationstypen ‚Selbsthilfe„, ‚Interessenvertretung<br />
und politische Partizipation„ sowie ‚Bildung„ arbeitet sie deren Geschichte in der Stadt Bern auf (vgl.<br />
Kapitel 2.6.4). Sie zeigt, dass der Frage, ob die Selbstorganisation dieser ersten<br />
Einwanderungsgeneration zu ihrer gesellschaftlichen <strong>Integration</strong> im Sinne von Partizipation geführt<br />
habe oder vielmehr gegenteilig zu ihrem Selbstausschluss, vertieft nachgegangen werden müsste. Bei<br />
Hungerbühler (2004, 2007, 2011) findet sich zum einen ein genereller Überblick zum Thema ‚Alter und<br />
Migration in der Schweiz„ und zum andern wurden Bedürfnisse und Ressourcen älterer MigrantInnen<br />
mittels der Befragung von Fachpersonen aus der Altersarbeit mit eigenem Migrationshintergrund<br />
erhoben sowie Anforderungen an die gerontologische Arbeit skizziert (2010).<br />
2.4 Migration / Arbeitsmigration (H. Hungerbühler)<br />
Migration verstehen die Autorinnen in dieser Masterarbeit in Anlehnung an Wicker (1993) als jenes der<br />
Marktwirtschaft systemimmanentes Phänomen der Mobilität, welches Menschen dazu bewegt, das<br />
über Modernisierungsprozesse bewirkte und international vernetzte Gefälle von Land zu Stadt oder<br />
von Nation zu Nation mittels Wanderung, wenn auch nicht zu beheben, so doch wenigstens für die<br />
persönliche Lebensgestaltung zu überwinden. Diese Definition gilt nur für die sogenannte<br />
Arbeitsmigration – den Migrationstypus also, der für die in dieser Arbeit thematisierten MigrantInnen<br />
aus Italien relevant ist - nicht hingegen für den Kontext von Flucht aufgrund politischer Unruhen, Krieg,<br />
Menschenrechtsverletzungen, persönlicher oder kollektiver Verfolgung, etc. Fluchtmigration ist ein<br />
eigenes Thema, auf das in unserer Masterarbeit nicht eingegangen wird.<br />
Arbeitsmigration spielt sich zum einen innerhalb eines Landes als sogenannte Binnenmigration von<br />
ländlichen Regionen in städtische Zentren ab oder aber grenzüberschreitend von einem Land mit<br />
keinen oder wenig Perspektiven auf wirtschaftliche Beschäftigung (Push-Faktor) in ein Land, dessen<br />
Arbeitsmarkt über eine Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften verfügt (Pull-Faktor). Im Falle<br />
der hier behandelten Migration handelte es sich um eine klassische Arbeitsmigration als Konsequenz<br />
dieser Push und Pull Faktoren. Die Schweiz, welche für ihre Entwicklung während der damaligen<br />
wirtschaftlichen Hochkonjunktur dringend Arbeitskräfte benötigte, betrieb gezielt eine entsprechende<br />
Rekrutierungspolitik im von den Kriegsfolgen wirtschaftlich zerstörten Italien. Der erste<br />
Anwerbevertrag mit diesem Land datiert von 1948. Die einsetzende Arbeitsmigration war das<br />
Ergebnis der Schweizerischen Arbeitsmarktpolitik, welche sich am sogenannten Rotationsmodell<br />
orientierte. Arbeitskräfte wurden je nach Bedarfslage des Arbeitsmarktes ins Land geholt und wieder<br />
zurückgeschickt.<br />
Als Instrument dieser Politik wurde 1934 das sogenannte Saisonnierstatut geschaffen, um damit auf<br />
konjunkturelle Schwankungen und strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes zu reagieren. Es<br />
ermöglichte, Menschen für eine maximal neunmonatige Saison gezielt für eine Arbeit einzustellen.<br />
Das Aufenthaltsrecht war unmittelbar an diese Arbeitserlaubnis geknüpft, ein Stellenwechsel war in<br />
der Regel nicht möglich, die ausländischen Arbeitnehmer waren vollumfänglich abhängig von ihren<br />
Arbeitgebern. Wenn sie sich gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu wehren wagten,<br />
23
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
gefährdeten sie zugleich ihre Aufenthaltserlaubnis und damit vielfach die ökonomische Existenz ihrer<br />
Familien im Herkunftsland. Das Saisonnierstatut verbot den Nachzug von Ehepartnern und Kindern,<br />
welche oft trotzdem heimlich in die Schweiz gebracht wurden und dort versteckt und ohne Möglichkeit<br />
auf Schulbesuch lebten. Die gesellschaftliche <strong>Integration</strong> dieser südeuropäischen Arbeitsmigranten<br />
war nicht vorgesehen und wurde daher seitens der Schweiz auch nicht gefördert. Es interessierte nur<br />
ihre Arbeitskraft. Das Sprichwort von Max Frisch (1965, S. 7), „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es<br />
kamen Menschen“, beschreibt die damalige Situation treffend. Erst Mitte der sechziger Jahre sah sich<br />
die Schweiz gezwungen, erste Zugeständnisse für den Familiennachzug zu machen. Während der in<br />
den siebziger Jahren ausbrechenden Wirtschaftskrise und den damit einhergehenden<br />
Überfremdungsinitiativen wurden viele der damaligen ArbeitsmigrantInnen vorübergehend in ihre<br />
Heimat zurückgeschickt. Sie erhielten die Funktion eines Reservepotenzials für den schweizerischen<br />
Arbeitsmarkt 1 (vgl. Hungerbühler, 2010, S. 6-7).<br />
Das Push-Pull-Modell geht von einer „Einwegmigration“ aus, die in der Regel immer von Sende-<br />
Gegenden/-Regionen ausgeht, die gegenüber den Ziel-Orten bezüglich politischer Stabilität und<br />
ökonomischer sowie sozialer Sicherheit benachteiligt sind. Was hier nicht berücksichtigt wurde, ist die<br />
Tatsache, dass Migration heute vielfach ein zirkulärer Prozess ist, der auch Re-Migration umfasst.<br />
Gerade für die Arbeitsmigration der ItalienerInnen und später SpanierInnen in die Schweiz, die heute<br />
im Alter längst nicht alle hier bleiben, sondern auch wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren oder<br />
pendeln, trifft dies zu. Migration ist ein Akt der transnationalen Mobilität, der sowohl in den Herkunfts-<br />
als auch Zielländern/-regionen massgebliche Veränderungen bewirkt und diese miteinander vernetzt.<br />
Bereits 1962 postulierte Mayer die Untersuchung von Migration als einen ganzheitlichen Prozess, in<br />
dem Emigration, Immigration und Re-Migration nicht isolierte Aspekte, sondern untrennbare Teile<br />
eines übergeordneten sozialen Prozesses sind. Im Rahmen der modernen Mobilität beteiligen sich<br />
MigrantInnen alternierend an verschiedenen soziokulturellen Systemen. Migration ist somit ein<br />
Prozess, in dem Immigrations- und Emigrationsgesellschaften in einen einzigen Referenzrahmen<br />
eingebunden werden (Alund & Schierup, 1987). An diesem Forschungsansatz fällt erstens die<br />
dynamische Komponente im Verständnis von Kultur und Ethnizität als im Migrationskontext<br />
Transformationen bewirkende Prozesse auf und zweitens die aktive Rolle von MigrantInnen, die<br />
selber durch ihre Alltagspraxis sowohl an der soziokulturellen und ökonomischen Realität ihres<br />
Herkunfts- als auch des Immigrationslandes teilhaben und so gesellschaftlichen Wandel<br />
mitbestimmen. MigrantInnen werden in dieser Konzeption als innovativ handelnde und<br />
emanzipatorische Ziele verfolgende Subjekte wahrgenommen und beschrieben – ein Verständnis, das<br />
sich mit demjenigen der Autorinnen dieser Masterarbeit deckt.<br />
1 Zur Geschichte der schweizerischen Ausländer- bzw. Arbeitsmarktpolitik der Nachkriegsjahre<br />
besteht umfangreiche Fachliteratur. Hier sei exemplarisch nur auf folgende Quellen verwiesen:<br />
Mahnig & Piguet (2003); Stienen (2006); Soom & Truffer, 2000).<br />
24
2.5 <strong>Integration</strong> (H. Hungerbühler)<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Früheren Ausrichtungen der <strong>Integration</strong>sforschung gemeinsam ist meist die Perspektive der<br />
Aufnahmegesellschaft und deren Blick auf die Zugewanderten, die sich in ihr zu integrieren haben.<br />
Dass ‚<strong>Integration</strong>„ in der Regel aus einer Problem- bzw. Defizitperspektive sowie überwiegend<br />
einseitig aus Sicht der Aufnahmegesellschaften beforscht wurde/wird, kritisieren mehrere AutorInnen.<br />
Nach Stienen & Wolf (1991) beispielsweise lässt sich theoriengeschichtlich nachweisen, wie sich die<br />
Terminologie zwar etwas verändert habe, sich im Grundsatz jedoch die Konzeptionalisierung von<br />
<strong>Integration</strong> während Jahrzehnten gleich geblieben sei: „So richtet sich das Erkenntnisinteresse denn<br />
ohne Ausnahme darauf aus, die Fähigkeit zur Anpassung von Migranten auszuloten, um abschätzen<br />
zu können, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen ‚personal disorganization„,<br />
‚aggressivity„ oder ‚inadequate identification„ (Eisenstadt, 1954) zu erwarten sind: mit diesen<br />
Erkenntnissen sollen ‚disfunktionale Spannungen„ für das Aufnahmesystem verhindert oder<br />
abgeschwächt werden.“ (Stienen und Wolf, 1991, S. 193)<br />
In der vorliegenden Masterarbeit wird diese Kritik am einseitigen Blickwinkel auf die<br />
<strong>Integration</strong>sthematik geteilt. Es benötigt eine ergänzende Perspektive, die danach fragt, welche<br />
Ressourcen MigrantInnen aufgrund ihrer Migrationserfahrung entwickelt haben, und inwiefern diese<br />
innovatives Potenzial für die Aufnahmegesellschaft in sich bergen. Ein weiteres Erkenntnisinteresse<br />
liegt darin zu erfahren, inwiefern die Rahmenbedingungen der Aufnahmegesellschaft diese<br />
Ressourcen ungenutzt lassen oder aber zu fördern vermögen. Bei einem solchen Ansatz steht nicht<br />
die erfolgte oder nicht erfolgte Anpassungsleistung der MigrantInnen im Vordergrund, sondern die<br />
Frage, wie „das Zusammenspiel von Aufnahmegesellschaft und Erfahrungshintergrund der Migranten<br />
ein emanzipatives Handeln ermöglicht und fördert.“ (Stienen und Wolf, 1991, S. 193). Darunter<br />
verstehen die Autorinnen ein Handeln, das es Akteuren erlaubt, eine Identität als historische Subjekte<br />
zu erlangen, indem sie sich mit ihrem neuen Umgebungskontext aktiv sowie diesen verändernd<br />
auseinandersetzen.<br />
Dem <strong>Integration</strong>sbegriff immanent ist, dass er nicht frei von ideologischen Ansprüchen ist. Kriterien,<br />
mit denen <strong>Integration</strong> gemessen wird – so dies denn überhaupt möglich ist – sind nicht einfach<br />
vorgegeben, sondern werden immer wieder neu und abhängig vom jeweiligen gesellschaftspolitischen<br />
und wirtschaftlichen Interessenskontext definiert. So ist es wenig erstaunlich, dass je nach Perspektive<br />
<strong>Integration</strong> unterschiedlich bewertet und damit definiert wird. Bei Wicker (2003, S. 46) findet sich eine<br />
knappe Zusammenfassung möglicher Ansätze zum Verständnis von <strong>Integration</strong>:<br />
1. Gleichberechtigungsansatz: <strong>Integration</strong> bedeutet gleichberechtigte gesellschaftliche<br />
Partizipationschancen.<br />
2. Struktur-funktionalistischer Ansatz: MigrantInnen sind integriert, wenn ihre Verteilung<br />
innerhalb der Statushierarchie einer Gesellschaft mit derjenigen von Einheimischen<br />
korrespondiert.<br />
25
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
3. Holistischer Ansatz: <strong>Integration</strong> kommt der guten Beherrschung einer Landessprache der<br />
Aufnahmegesellschaft sowie der Internalisierung lokaler Werte und Normen gleich.<br />
4. Konflikttheoretischer Ansatz: <strong>Integration</strong> ist erreicht, wenn Konflikte bei der Konkurrenz um<br />
knappe Güter wie Arbeit, Wohnraum und staatliche Leistungen beigelegt sind.<br />
Die Autorinnen schliessen sich dem ersten Ansatz an. Im Folgenden wird die historische Entwicklung<br />
des <strong>Integration</strong>skonzepts von der sogenannten ‚Assimilation„, über den ‚Multikulturalismus bzw. das<br />
Recht auf kulturelle Differenz„ bis zu ‚<strong>Integration</strong> im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe/Partizipation„ am<br />
Beispiel der Schweiz zusammengefasst (Wicker, 2003, S. 47 – 49; Wicker 2007, S. 49 - 66).<br />
In den sechziger und siebziger Jahren wurde in der Schweiz <strong>Integration</strong> als Assimilation an eine<br />
sogenannte schweizerische Eigenart verstanden. Damit war gewöhnlich die Anpassung der<br />
MigrantInnen an als schweizerisch geltende Normen und Werte gemeint und entsprechend die<br />
Distanzierung von ihrer bisherigen kulturellen Lebenspraxis. Assimilationsforderungen gehen von der<br />
Annahme aus, es existiere eine in sich geschlossene, homogene nationale Kultur. Mittlerweile hat sich<br />
weitgehend die Erkenntnis über den Mythos dieser Annahme durchgesetzt. <strong>Integration</strong> heisst nicht<br />
Identifikation mit nationalen Gütern eines Staatswesens und Anpassung an seine äusseren Symbole.<br />
Vielmehr macht der Grad der Partizipation an seinen gesellschaftlichen Institutionen und Bereichen<br />
wie Bildung, Arbeit, Gesundheit, Politik, etc. <strong>Integration</strong> aus.<br />
Als Verfechter dieses strukturorientierten Ansatzes beeinflusste der Soziologe Hoffmann-Nowotny mit<br />
seinem „Unterschichtungsmodell“ (1993) den Migrations- bzw. <strong>Integration</strong>sdiskurs im deutsch-<br />
sprachigen Raum. „Unterschichtung“ bedeutet der Prozess der Eingliederung von MigrantInnen in die<br />
untersten Positionen (berufliche Stellung, Einkommen und Wohnsituation umfassend) der Sozial-<br />
struktur der Aufnahmegesellschaft. Ursachen der Unterschichtung sieht Hoffmann-Nowotny einerseits<br />
in den Interessen des Einwanderungslandes, prestigearme Beschäftigungszweige im Niedriglohn-<br />
bereich mit unattraktiven Arbeitsbedingungen durch MigrantInnen abzudecken und anderseits im<br />
Entwicklungsgefälle (geringere Schulbildung, tiefere berufliche Qualifikation, mangelnde Sprach-<br />
kenntnisse, etc.) zwischen Ein- und Auswanderungsland. Die Schichtung der internationalen<br />
Gesellschaft reproduziere sich dabei im Einwanderungsland. Eine adäquate <strong>Integration</strong>spolitik habe<br />
demnach die strukturelle <strong>Integration</strong> von MigrantInnen zu fördern.<br />
Am strukturalistischen Ansatz Hoffmann-Nowotnys lässt sich kritisieren, dass MigrantInnen zu<br />
einseitig als strukturbedingter „Spielball gesellschaftlicher Verhältnisse“ wahrgenommen werden.<br />
Unseres Erachtens macht es Sinn, seine Perspektive mit einem Forschungsinteresse zu verknüpfen,<br />
das MigrantInnen als soziale AkteurInnen mit ihren eigenen Formen kultureller Lebenspraktiken -<br />
mitberücksichtigt.<br />
Die sogenannten Gastarbeiter oder Saisonniers aus Italien und später Spanien, die nur über eine<br />
temporäre und an ihre Arbeitsbewilligung gekoppelte Aufenthaltserlaubnis verfügten, galten nicht als<br />
zu Integrierende. Oder anders formuliert: „Als Verkäufer ihrer Arbeitskraft wurden sie zwar<br />
eingeschlossen, aber als Menschen mit eigenen Ansichten, Lebensformen und kulturellen Werten<br />
26
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
ausgeschlossen.“ (Maiolino, 2010, S. 184) Daher wurde die zwischen ihnen und den Einheimischen<br />
bestehende materielle und ideelle Distanz betont. Maiolino (2010, S. 180) spricht in diesem Zusam-<br />
menhang von einem „kulturprotektionistischen Setting, in welchem das Konstrukt der nationalen<br />
Eigenart wegweisend“ gewesen sei. Als sich dann zeigte, dass ArbeitsmigrantInnen der ersten<br />
Einwanderungsgeneration aufgrund des ab Mitte sechziger Jahre möglichen Familiennachzugs<br />
zunehmend in der Schweiz blieben, stellte sich die <strong>Integration</strong>sfrage doch noch. Basierend auf einem<br />
Defizit-Paradigma wurde versucht, all diejenigen Probleme von MigrantInnen zu lösen, die ihrer<br />
<strong>Integration</strong> hinderlich waren. Damit wurden jedoch nicht die Regelinstitutionen beauftragt. Vielmehr<br />
schuf man zahlreiche Sonderdienste, im Sozialbereich etwa Beratungsstellen für AusländerInnen, in<br />
den Schulen Stützunterricht und <strong>Integration</strong>sklassen für Fremdsprachige, etc.<br />
Die zweite Etappe in der Entwicklung des <strong>Integration</strong>skonzepts fiel in der Schweiz in die achtziger und<br />
frühen neunziger Jahre und war gekennzeichnet durch neue, nach nationaler Herkunft immer hete-<br />
rogenere Einwanderungsgruppen (aus Portugal, Südostasien, dem früheren Jugoslawien, der Türkei,<br />
Sri Lanka, etc.), die sich zunehmend nicht mehr nur aus ArbeitsmigrantInnen, sondern auch aus<br />
Flüchtlingen aus aussereuropäischen Herkunftsgesellschaften zusammensetzten. Dadurch erfuhr die<br />
Schweiz einen Prozess zunehmender kultureller und religiöser Pluralisierung und konnte sich einer<br />
Identität als Einwanderungsland nicht mehr länger verschliessen. Damit einhergehend wechselte auch<br />
das Paradigma im <strong>Integration</strong>sdiskurs. Was im angelsächsischen Raum bereits seit Jahren Standard<br />
war, hielt nun auch in der Schweiz Einzug: die Multikulturalismusdebatte, die das Recht auf kulturelle<br />
Differenz bzw. Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt postulierte und für eine friedliche Koexistenz<br />
verschiedener kultureller Lebenspraktiken eintrat (Räthzel, 1992). In dieser Phase wurde somit ein<br />
<strong>Integration</strong>sbegriff geschaffen, der davon ausging, dass es zunächst die Festigung der Identität in der<br />
eigenen Migrationsgruppe benötige, damit sich Migrantinnen und Migranten – in ihren eigenen<br />
Ressourcen gestärkt – erfolgreich auf den sie umgebenden Kontext der Aufnahmegesellschaft<br />
einlassen können. Elwert zeigte bereits 1982 mit seinem Konzept der ‚Binnenintegration„ auf, wie<br />
unter gewissen Bedingungen ethnische Vergemeinschaftungsprozesse von MigrantInnen zu einem<br />
wichtigen Faktor für ihre gesellschaftliche <strong>Integration</strong> werden. Elwert interessierten die Bedingungen,<br />
unter welchen Binnenintegration einen Beitrag zur gesellschaftlichen <strong>Integration</strong> im Sinne einer<br />
emanzipatorischen Ermächtigung leiste. Dafür erachtete er folgende Faktoren als ausschlaggebend:<br />
Die Gewissheit, „zu einer bestimmten Gruppe zu gehören“ stärke das „Selbstbewusstsein“, das<br />
Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit einer „fremden sozialen Umgebung“ sei (S. 721). Im<br />
Weiteren sei die Weitergabe „von Alltagswissen durch binnenintegrierte Strukturen ein Element von<br />
Selbsthilfe“ (ebenda, S. 722), und letztlich könne die ethnische Vergemeinschaftung zur Formierung<br />
so genannter „pressure-groups“ mit „politischer Wirksamkeit“ führen (Sancar, 1993).<br />
Auch im schweizerischen <strong>Integration</strong>sdiskurs wurde die „fremde Kultur“ nun zunehmend vom Defizit<br />
zur Ressource erhoben. Doch auch dieser Ansatz wurde nicht mittels der <strong>Integration</strong> in gesell-<br />
schaftliche Regelstrukturen umgesetzt. Vielmehr entstanden wiederum neue Parallelinstitutionen,<br />
sogenannte ethnozentrierte Dienstleistungsangebote, welche die gemeinsame Herkunft und Sprache<br />
27
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
ihrer NutzerInnen ins Zentrum stellten und deren ethnospezifischen Bedürfnissen gerecht werden<br />
sollten.<br />
Dieses <strong>Integration</strong>skonzept erwies sich in seiner Umsetzung zwar als eine Unterstützungsmöglichkeit<br />
für MigrantInnen, verhalf ihnen aber ebenfalls nicht zur <strong>Integration</strong> im Sinne einer chancengleichen<br />
gesellschaftlichen Teilhabe auf struktureller Ebene.<br />
In der dritten Etappe, seit den neunziger Jahren, begann sich weitgehend die Überzeugung<br />
durchzusetzen, dass in einer zunehmend globalisierten Welt transnationale Mobilität wirtschaftlich<br />
notwendig und staatspolitisch vermehrt als Chance und nicht nur als Risiko zu begreifen sei. Auch in<br />
der Schweiz etablierte sich nach der Jahrzehnte dauernden Phase einer fehlenden staatlichen<br />
<strong>Integration</strong>spolitik die Erkenntnis, dass die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur<br />
<strong>Integration</strong>sförderung der Migrationsbevölkerung sowie die Investition entsprechender Mittel für die<br />
Umsetzung von <strong>Integration</strong> als gesellschaftspolitischer Auftrag unabdingbar werden. <strong>Integration</strong> ist<br />
nun als gesellschaftliche Querschnittaufgabe definiert mit dem Ziel, die chancengleiche Teilhabe der<br />
schweizerischen Migrationsbevölkerung an den gesellschaftlichen Regelstrukturen und Teilbereichen<br />
wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, etc. zu fördern (AuG, 2008 und BfM, 2008). Nicht mehr<br />
länger der Fokus auf die „kulturelle Andersartigkeit“ soll nun die Diskussion um <strong>Integration</strong> bestimmen,<br />
sondern die materiellen und immateriellen Ressourcen, über welche MigrantInnen verfügen.<br />
Die verschiedenen <strong>Integration</strong>skonzepte spiegeln immer den jeweiligen Entwicklungsstand des<br />
zeitgenössischen Gesellschaftsdiskurses über <strong>Integration</strong> wider. Seit einigen Jahren ist nun im<br />
<strong>Integration</strong>sdiskurs zumindest teilweise ein Perspektivenwechsel erkennbar. MigrantInnen werden<br />
weniger nur als defizitäre DienstleistungsempfängerInnen (KlientInnen) oder als Forschungsobjekte<br />
wahrgenommen. Vielmehr beginnen zunehmend auch ihre Ressourcen und Potenziale zu<br />
interessieren. Es wurde erkannt, dass sie als transnationale AkteurInnen an der Veränderung und<br />
Entwicklung der Aufnahmegesellschaften teilhaben und dass es ihres Mitwirkens bei der Definition<br />
und Umsetzung von <strong>Integration</strong> im Sinne gesellschaftlicher Partizipation bedarf.<br />
Unser <strong>Integration</strong>sverständnis deckt sich mit dem von Wicker (2007, S. 65) postulierten:<br />
Ein für moderne Gesellschaften gültiger <strong>Integration</strong>sbegriff orientiert sich nicht an kollektiven<br />
Identitäten oder so genannten ethnischen/kulturellen Differenzen. Moderne Gesellschaften sind<br />
pluralistisch. Eine gemeinsame (nationale) Identität existiert somit nur als Konstruktion. Im Zentrum<br />
des <strong>Integration</strong>sbegriffs stehen vielmehr der Zugang von Migrantinnen und Migranten zu<br />
gesellschaftlichen Regelinstitutionen, ihre Partizipation und Chancengleichheit. <strong>Integration</strong>sprozesse<br />
sind dann erfolgreich, wenn die Partizipation der Migrationsbevölkerung auf ökonomischer, sozialer<br />
und politischer Ebene stetig zunimmt und sich ihre Chancen denjenigen der schweizerischen<br />
Bevölkerung angleichen. Einschränkung von Partizipation und Diskriminierung verhindern hingegen<br />
<strong>Integration</strong>.<br />
28
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2.6 Partizipation und Aktive Bürgerschaft (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
Zu Partizipation und aktiver Bürgerschaft gibt es zahlreiche, jedoch sehr unterschiedliche Literatur. Es<br />
scheint ein sehr komplexes, aber auch ein widersprüchliches Feld zu sein, in welchem keine<br />
eindeutigen Definitionen der Begrifflichkeiten auszumachen sind. Gerade bei Partizipation handelt es<br />
sich wohl um eine Konstruktion. Die fehlende Einheitlichkeit des Begriffes mag daran liegen, dass im<br />
Kontext der Partizipation von MigrantInnen ohne politische Rechte in der Forschung bisher kein<br />
Klärungsbedarf bestand. Im Folgenden werden kurz einige Konzepte erwähnt, die die Vielfalt der<br />
Beschreibung und des Verständnisses aufzeigen.<br />
Bei Naegele (2008) heisst es beispielsweise, dass Partizipation ein Engagement des einzelnen<br />
zivilgesellschaftlichen Bürgers ist. Kolland (2006) unterscheidet bspw. verschiedene Formen der<br />
Partizipation: kollektive soziale, produktive soziale und politische Partizipation, ohne dabei jedoch die<br />
Bevölkerungsgruppe der MigrantInnen einzubeziehen, zumindest nicht explizit. Das unter dem Begriff<br />
‚Aktives Altern‟ oder des ‚Active Ageing‟ bekannte Konzept der WHO (2002) gilt als das zur Zeit<br />
wichtigste zu sozialer und politischer Partizipation, das auf die Potenzialnutzung älterer Menschen<br />
zielt. Ein weiteres Konzept ist dasjenige von Amartya Sen (1993), welcher mehrere<br />
Schlüsseldimensionen sozialer Wohlfahrt definiert hat: Ressourcen, Funktion, Capability. Damit<br />
Verwirklichungschancen in der Gesellschaft festgelegt werden können, bedarf es partizipativer<br />
sozialer Entscheidungen. Nach Sen (ebenda) fordert reale Freiheit aktive BürgerInnen, die ihre<br />
Chancen durch Teilnahme wahrnehmen. Ausserdem weist er darauf hin, dass es ein Recht<br />
(Eigenverantwortung) und eine Pflicht (Mitverantwortung) zur Partizipation gibt. Auch Kolland (2006)<br />
spricht von der Pflicht älterer Menschen zur politischen und sozialen Teilhabe aufgrund ihrer<br />
Verantwortung in einer insgesamt alternden Gesellschaft.<br />
Weitere Begriffe, die in ähnlicher Weise oder zum Teil sogar synonym verwendet werden, sind die<br />
Engagementförderung, Freiwilligenarbeit oder bürgerschaftliches Engagement. Interessant ist hier der<br />
von Klie und Ross (2000) genannte vierte Megatrend, den sie als Versuch beschreiben, freiwilliges<br />
bürgerschaftliches Engagement strategisch und operativ als festen Bestandteil des Wohlfahrtsplura-<br />
lismus zu konzeptionieren. Eingebettet also in das Konzept des sogenannten Welfare Mixes (Klie<br />
2007).<br />
Dem Begriff Bürgerschaft, stehen zwei weitere Konstrukte nahe: das Konzept der Citoyennneté‟ sowie<br />
dasjenige des ‚Citizenship‟. Keller (2010) beschreibt die Citoyenneté als etwas, das mehr als nur den<br />
Status als StaatsbürgerIn meint. Es gehe insbesondere um eine aufmerksame, partizipative, aktive<br />
Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten, die sich von der Meinungsfreiheit, der<br />
Versammlungsfreiheit und der persönlichen Freiheit ableite. Damit sei sie eine Haltung, eine Form der<br />
Partizipation, die nicht an einen besonderen legalen Status gebunden sein müsse. Damit gehe das<br />
Konzept der Citoyenneté weiter als der Begriff der Bürgerschaft. Die ‚aktive Bürgerschaft‟ wiederum<br />
habe sich in letzter Zeit als neuer Ansatz herausgebildet, der mit der Citoyenneté vergleichbar sei und<br />
als aktivierende Rolle von Bürgerschaft zu sehen sei. Diese beiden zuletzt genannten Begriffe<br />
wiederum, seien stark vom Begriff der ‚Cititzenship‟ beeinflusst, der im angelsächsischen Raum schon<br />
29
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
länger über den legalen Status hinaus auch auf die Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten<br />
verweist. Abschliessend stellt Keller (ebenda) fest, dass sich die Schweizer Migrationspolitik nur in<br />
geringem Mass mit der politischen Partizipation ausserhalb des legalen Bürgerstatus beschäftige (vgl.<br />
Kapitel 2.6.2). Die Autorinnen sehen sich am besten repräsentiert durch die Beschreibung von Steiner<br />
(2010), die schreibt, dass der Citoyen den Bürger bezeichnet, der in der Tradition und im Geist der<br />
Aufklärung eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet. Weiter führt er<br />
aus, dass die Diskussion über Partizipation jedoch nicht auf die politischen Rechte reduziert werden<br />
dürften. Eine Vielzahl anderer Möglichkeiten erlaube es der gesamten Bevölkerung, auf öffentliche<br />
Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einzuwirken.<br />
Dieser Begriffsvielfalt scheint zumindest eines gemeinsam zu sein: Ältere MigrantInnen als Teil der<br />
Bevölkerung werden von keinem der genannten AutorInnen explizit integriert oder auch nur genannt.<br />
Die Autorinnen der vorliegenden Forschungsarbeit haben deshalb beschlossen, als Grundlage dieser<br />
Analyse jene Begriffe genauer zu diskutieren, die aus ihrer Sicht für die Fragestellung in Zusammen-<br />
hang mit älteren MigrantInnen und für das Konzept des Modells <strong>MIGRALTO</strong> Voraussetzung sind.<br />
2.6.1 Partizipation (H. Hungerbühler)<br />
In diesem Kapitel sollen aus der vielfältigen Literatur zu Partizipation älterer Menschen nur wenige<br />
allgemeine, dafür unseres Erachtens grundlegende Gedanken ausgewählt werden, um dann in einem<br />
zweiten Schritt (Kapitel 2.6.2) auf die für unsere Masterarbeit relevante Eingrenzung auf die<br />
„Partizipation älterer Menschen im Migrationskontext“ zu fokussieren.<br />
Unter gesellschaftlicher Partizipation wird generell die Teilhabe oder -nahme am ökonomischen,<br />
politischen, sozialen und kulturellen Leben verstanden.<br />
Nach Eifert (2008, S. 13ff) erfordert Partizipation im gesellschaftlichen Rahmen „grundsätzlich zwei<br />
sich bedingende Teile: teilhabebereite BürgerInnen einerseits und teilhabeermöglichende<br />
Kommunen, Unternehmen, Organisationen, etc. anderseits.“ Aufgabe der Systeme – wie<br />
beispielsweise der Kommunen bzw. Gemeinden – sei es somit, Partizipation ermöglichende<br />
Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehöre auch, dass diese in ihrer Politik und Verwaltung<br />
„Partizipation als eine Haltung“ kommunizieren und kultivieren.<br />
Sie zeigt weiter auf, dass Partizipation zwar erwünscht sei, in der Praxis dann aber selten stattfinde.<br />
Damit weist sie auf eine häufig anzutreffende Diskrepanz zwischen politischer und strategischer<br />
Absichtserklärung (beispielsweise von Gemeinden in ihren Leitbildern festgehalten) einerseits und der<br />
inkonsequenten, mangelhaften oder gar fehlenden Umsetzung von Partizipation anderseits hin. Die<br />
Förderung der Partizipationsbereitschaft von SeniorInnen treffe häufig auf Umsetzungsprobleme. Im<br />
Speziellen sei hier das Problem der Machtasymmetrie zwischen OrganisatorInnen von Partizipation<br />
zum einen und Teilhabenden/-nehmenden zum andern erwähnt – ein Befund, der auch in den<br />
Datenerhebungen der vorliegenden Arbeit angetroffen wurde (z.B. das Machtgefälle zwischen<br />
30
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Institutionen und Organisationen der schweizerischen Altersarbeit und den Migrationsorganisationen<br />
bzw. den älteren MigrantInnen: vgl. Kapitel 5).<br />
Blaumeister und Wappelshammer (2004, S. 438) untersuchten das Thema Partizipation und<br />
Vertretung von SeniorInnen im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Modernisierung. Dabei setzen<br />
sie in Anlehnung an Naegele & Tews (1993) auf einen Ansatz der Partizipation „von unten“, der von<br />
den „Lebenslagen älterer Menschen“ und somit von ihren „unmittelbaren Lebenswelten“ ausgeht. Es<br />
handelt sich dabei sozialräumlich gesehen für ältere Menschen in erster Linie um ihr Wohnumfeld, um<br />
das sich ihre weiteren Kontaktnetze gruppieren. Ein solches Verständnis deckt sich auch mit dem in<br />
dieser Arbeit verwendeten Begriff der aktiven Bürgerschaft bzw. Citoyenneté.<br />
Die Frage der Partizipation stellt sich bei älteren Menschen, die mit der Pensionierung zunehmend<br />
aus wichtigen Bereichen der Gesellschaft, wie beispielsweise aus dem Arbeitsmarkt bzw. dem<br />
Berufsleben ausscheiden, neu. Was heisst für sie Partizipation, wo wollen und können sie<br />
partizipieren und wo wünscht oder rechnet die Gesellschaft sogar weiterhin mit ihrer Partizipation bzw.<br />
ermöglicht sie ihnen überhaupt?<br />
Mit dem Konzept des „active ageing“ (WHO, 2002), das insbesondere auf Ebene der Europäischen<br />
Union, die das Jahr 2012 zum Jahr des „Aktiven Alterns und der intergenerationellen Solidarität“<br />
erklärt hat, stark verbreitet ist, wird älteren Menschen seit bald zehn Jahren weiterhin eine<br />
gesellschaftlich aktive Funktion zugewiesen, vorwiegend im Ehrenamt oder im bürgerschaftlichen<br />
Engagement. Positiv an dieser Entwicklung ist, dass ältere Menschen nicht länger in ein ihnen<br />
zugedachtes „Altersreservat“ verwiesen bzw. ausgegrenzt werden. Sie sollen künftig nicht nur in<br />
sogenannten „Altersbereichen“ eine Rolle spielen oder sich beispielsweise nur für „Alterspolitik“<br />
interessieren und engagieren. Vielmehr gelte es neu, Partizipation zu einem altersübergreifenden<br />
Lebensthema zu machen, das aber die Besonderheiten älterer Menschen - ihre altersspezifischen<br />
Ressourcen und Bedürfnisse - berücksichtigt. Mit diesem neuen Verständnis von älteren Menschen<br />
als wichtige gesellschaftliche Akteure eng verbunden sind auch die von Kruse (2010) sowie weiteren<br />
AlternsforscherInnen vertretenen Postulate der „Eigenverantwortung“ sowie vor allem der<br />
„Mitverantwortung“. Während sich die Eigenverantwortung auf die von älteren Menschen selber<br />
wahrzunehmende und aktiv auszuübende Verantwortung für das eigene Leben bezieht, zielt die<br />
Mitverantwortung auf eine Verantwortung der Gesellschaft sowie den nachfolgenden Generationen<br />
gegenüber ab. Gemäss VertreterInnen dieses Ansatzes haben ältere Menschen nicht nur das Recht,<br />
sondern geradezu die Pflicht zur Partizipation im Sinne der Übernahme von Aufgaben für das<br />
Gemeinwohl. Bei Walker (2006) findet sich eine nützliche Zusammenstellung der verschiedenen<br />
Dimensionen des „Active Ageing“-Konzepts. Dazu gehört unter anderem der Einbezug aller Gruppen<br />
älterer Menschen, auch der sozial Schwächeren oder von Menschen mit Migrationshintergrund, wie<br />
sie für die vorliegende Arbeit relevant sind. Nebst der intergenerationellen Solidarität beinhaltet das<br />
Konzept auch die Beachtung nationaler und kultureller Differenzen sowie die gleichberechtigte<br />
Betonung von Rechten und Pflichten. „Active Ageing“ zielt eher auf eine stärkere soziale Partizipation<br />
im Gemeinwesen, auf die Förderung von Solidarität zwischen allen Beteiligten und weniger auf die<br />
enge politische Mitwirkung, etwa in Parteien oder Gremien. In Anlehnung an das von Walker skizzierte<br />
31
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Konzept des „Aktiven Alterns“ versteht Naegele (2008) unter sozialer und politischer Partizipation im<br />
Alter in erster Linie das aktive zivilgesellschaftliche oder zivilbürgerschaftliche Engagement mit dem<br />
Ziel der Einflussnahme älterer Menschen auf den öffentlichen Raum und dessen Mitgestaltung, und<br />
zwar im Sinne von Mitwirkung bei der Lösung von lebensweltlichen Problemen und Anliegen aller<br />
Altersgruppen (inklusive derjenigen der älteren Menschen selbst).<br />
2.6.2 Partizipation älterer MigrantInnen (H. Hungerbühler)<br />
Während die Gerontologie sich also für dieses neue Alternsbild und für die Partizipation älterer<br />
Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen stark macht (Kruse, u.a., 2010; 2005), ist dieser<br />
Diskurs bisher mehrheitlich ohne Blick auf die alternde Migrationsbevölkerung geführt worden. Auf<br />
diese soll jedoch im Folgenden der Fokus gerichtet werden.<br />
Bachl (2004, S. 15) vertritt die Ansicht: „Würde man ältere Migranten in die Alterspolitik und<br />
Zukunftsgestaltung einbeziehen, würden sie vom „Problem“ und von einer „Belastung“ zu<br />
Mitwirkenden, die Lösungen finden und selbst realisieren.“ Diese Annahme unterstützen die<br />
Autorinnen und verstehen unter Partizipation die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben und seiner Entwicklung in all seinen Phasen, so auch im Alter. Gamboa (2009, S. 176) kritisiert<br />
am aktuellen <strong>Integration</strong>sdiskurs in der Schweiz unter seinem neuen Paradigma des „Förderns und<br />
Forderns“, dass in Partizipationsprozessen zwischen schweizerischen Institutionen und Fachpersonen<br />
einerseits und MigrantInnen anderseits eine hierarchische „Arbeitsteilung“ zu beobachten sei:<br />
„Konzeptarbeit und Entscheidungen fallen in den Aufgabenbereich der von den Institutionen<br />
ernannten <strong>Integration</strong>sexpertinnen und -experten, deren Arbeit dementsprechend entlöhnt und<br />
anerkannt wird. Die konkrete Arbeit an der Basis wird meist den Migrantinnen und Migranten<br />
überlassen, denen in dieser Form von <strong>Integration</strong>sprogrammen und –projekten hauptsächlich Rollen<br />
als Schlüsselpersonen für ihre Communities bzw. als so genannte Kulturvermittlerinnen und -vermittler<br />
zugewiesen werden.“ In den Aufgabenbereich der Letzteren gehören dann in der Regel Arbeiten wie<br />
Übersetzen oder andere eher ausführende Tätigkeiten, die gekennzeichnet seien durch weitgehend<br />
fehlende oder nur wenig Entscheidbefugnis, keinen oder nur tiefen Lohn sowie ein geringeres<br />
Prestige. In Bezug auf die Zielgruppen von <strong>Integration</strong>smassnahmen lasse sich Ähnliches feststellen.<br />
So seien diese meist einseitig an die Adresse der Zugewanderten gerichtet. Im Diskurs, der den<br />
aktuellen Ansatz des „Förderns und Forderns“ begleitet, wie er sich nun immer mehr auch in<br />
kantonalen Gesetzgebungen niederschlägt, würde die Analyse struktureller <strong>Integration</strong>shindernisse<br />
und Diskriminierungsmechanismen ausgelassen. Dadurch werden für den Erfolg oder Misserfolg von<br />
<strong>Integration</strong> einseitig die Migrantinnen verantwortlich gemacht, welche somit einer defizitorientierten<br />
Wahrnehmung seitens der Gesellschaft ausgesetzt sind.<br />
Prodolliet (2009, S. 59) führt diese Kritik mit ihrer Forderung, dass Zielgruppen der <strong>Integration</strong>spolitik<br />
eigentlich neu zu denken seien, konsequent weiter. Sie vertritt die Ansicht, eine <strong>Integration</strong>spolitik, die<br />
– wie neu im Ausländergesetz AuG (2008) verankert – zum Ziel habe, „das friedliche Zusammenleben<br />
aller auf der Grundlage der Werte der Bundesverfassung und der gegenseitigen Achtung und<br />
Toleranz“ zu fördern, nicht einseitig nur auf eine Bevölkerungsgruppe auszurichten sei. Vielmehr<br />
32
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
sollten mit diesen Zielen alle Bevölkerungsteile in die Pflicht genommen werden. In diesem Sinne<br />
seien nicht nur MigrantInnen, sondern ebenso PolitikerInnen, Verantwortliche staatlicher und nicht-<br />
staatlicher Institutionen und Organisationen sowie generell SchweizerInnen anzusprechen. Eine<br />
erfolgreiche <strong>Integration</strong>skultur habe günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit alle Gruppen<br />
echte Perspektiven für ihr gesellschaftliches Zusammenleben erhielten.<br />
Auch eine von der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen EKM in Auftrag gegebene<br />
Studie (Matthey und Steiner, 2009, S. 15) kommt zum Schluss, dass Position, Image und Mittel<br />
zwischen staatlichen <strong>Integration</strong>sstellen und Migrantenvereinen ungleich verteilt seien: „Obwohl sich<br />
die Vereinsmitglieder (gemeint sind Mitglieder von Migrantenvereinen: Anmerkung der Autorinnen)<br />
über die wachsende Vielfalt der Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen und den Vereinen<br />
freuen – die Migrantinnen werden so in der öffentlichen Szene immer sichtbar – erheben sich auch<br />
Stimmen gegen die Art und Weise, wie diese Beziehungen gestaltet sind. Einige Migrantinnen und<br />
Migranten, die das partizipative Ideal in Frage stellen, bemängeln die ungleiche Verteilung der<br />
finanziellen und poltischen Ressourcen zwischen Staat und Vereinen.“<br />
Insbesondere ältere MigrantInnen, die seit Jahrzehnten aktiv sind, kritisieren, dass sie zu wenig<br />
Unterstützung erfahren in ihren eigenen Aktivitäten. Die „<strong>Integration</strong>sbotschaft“ der Behörden kommt<br />
bei ihnen teilweise widersprüchlich an. Einerseits werden sie von der Politik zur <strong>Integration</strong><br />
verpflichtet, anderseits werden ihre Projekte von den Behörden nicht unterstützt und für ihre<br />
Dienstleistungen als freiwillige SozialarbeiterInnen, soziokulturelle AnimatorInnen oder Informations-<br />
vermittlerInnen erhalten sie keine Gegenleistung. Im Weiteren werden Verantwortliche von<br />
Migrantenvereinen oder so genannte Schlüsselpersonen seitens schweizerischer Institutionen oder<br />
Politik vermehrt um Rat angegangen – in Sinne von Partizipation als Grundsatz der neuen<br />
<strong>Integration</strong>sgesetze – doch mangelt es auf der anderen Seite bei ihrem Einbezug in Entscheid-<br />
prozesse und in der Umsetzung von Projekten.<br />
In unserer Masterarbeit verstehen wir daher <strong>Integration</strong> im Sinne gesellschaftlicher Partizipation als<br />
einen Zweiwegprozess mit gegenseitiger Wechselwirkung und wählen daher auch ein methodisches<br />
Vorgehen (vgl. Kapitel 4), das diesem Konzept Rechnung trägt, indem wir beide Akteure, d.h. sowohl<br />
den Staat (vertreten durch Stadt und Kanton Bern und deren Altersbehörden, das schweizweite<br />
Netzwerk der Altersbeauftragten der Gemeinden sowie die kommunalen und kantonalen<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten und Fachstellen für <strong>Integration</strong>sfragen), als auch die ältere Migrations-<br />
bevölkerung (vertreten durch italienische Migrantenorganisationen sowie eine Stichprobe von<br />
Einzelpersonen aus diesem Bevölkerungssegment in der Stadt Bern) zu ihrem Bedarf befragen.<br />
Zudem versuchen wir, theoretische Erklärungsmodelle aus der Sozialgerontologie mit solchen aus der<br />
Migrations- und <strong>Integration</strong>sforschung zu verknüpfen. Die Literaturrecherche zeigt, dass sich einige<br />
Parallelen finden lassen. So kann sowohl in der sozialgerontologischen Forschung als auch in der<br />
Migrations- und <strong>Integration</strong>sforschung eine Entwicklung von defizit- zu ressourcenorientierten<br />
Theorien verfolgt werden. Entsprechend fand auch in der praktischen Alters- oder <strong>Integration</strong>sarbeit<br />
mit älteren Menschen und mit MigrantInnen ein Perspektivenwechsel statt. Nicht mehr länger die<br />
33
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Defizite der Zielgruppen, sondern vielmehr ihre Ressourcen und die Stärkungsmöglichkeiten ihres<br />
Handlungspotenzials standen fortan im Fokus des Interessens.<br />
Eine weitere Parallele besteht darin, dass die Themen ‚Alter„ und ‚Migration„ in ihrer Verknüpfung, der<br />
unser Forschungsinteresse gilt, weder in der Migrations- / <strong>Integration</strong>sforschung noch in der<br />
Sozialgerontologie ein etablierter Untersuchungsgegenstand sind. Vielmehr fristet das Thema<br />
‚Migration„ in der Sozialgerontologie und das Thema ‚Alter„ in der Migrations- und<br />
<strong>Integration</strong>sforschung ein stiefmütterliches Dasein. Das Konzept von Alter als Lebensgestaltung<br />
(Kalbermatten 1998), das ‚Alter„ nicht als einen letzten Lebensabschnitt definiert, der keine<br />
Entwicklungsmöglichkeiten mehr bietet, sondern vielmehr von Leben als einem Kontinuumsmodell<br />
ausgeht, das lebenslange Entwicklung (Erikson, 1966) bedeutet, lässt sich auch auf Migration<br />
übertragen. So teilen wir die These von Dietzel-Papakyriakou (1990), dass im Alter immer mehr ein<br />
Rückzug in die eigene ethnische Gruppe geschehe und im interethnischen Kontakt mit der<br />
Mehrheitsgesellschaft keine grossen Entwicklungschancen mehr liegen würden, nur bedingt. Vielmehr<br />
gehen wir davon aus, dass Migration auch eine Ressource für die Lebensgestaltung im Alter ist und<br />
das Alter von MigrantInnen nicht nur vergangenheitsbezogene, sondern in Interaktion mit der<br />
gesellschaftlichen Umgebung auch zukunftsweisende Perspektiven beinhaltet. Wichtig scheint uns im<br />
Weiteren zu überprüfen, ob die Annahme der doppelten Diskriminierung von ethnischen Minderheiten<br />
und Migrationspopulationen im Alter – einerseits aufgrund der Herkunft und anderseits aufgrund der<br />
materiell häufig kritischen Lage – auch für die Schweiz zutrifft. So vertrat u.a. Moore (1971), dass alte<br />
Menschen „zusätzlich zum Altersstigma auch noch Opfer von ethnischen Vorurteilen“ würden. Aber<br />
auch der sechste Berliner Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland<br />
(2010, S. 94ff) weist darauf hin, dass Alters- und Alternsprobleme von Menschen mit Migrationshinter-<br />
grund ethnogerontologisch häufig mit der „Double-Jeopardy-These“ gefasst werden. Diese besagt,<br />
dass diese Bevölkerungsgruppe von einem doppelten Gefährdungs- oder einem kumulativen<br />
Diskriminierungsrisiko betroffen sei: einerseits von einer ethnisch bedingten und anderseits von einer<br />
altersbezogenen gesellschaftlichen Ausgrenzung (vgl. auch Dowd & Bengtson, 1978).<br />
Solche Benachteiligungen können sich zu einer drei- oder vierfachen ausdehnen, wenn<br />
Altersunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie die jeweiligen Schichtzugehörigkeiten<br />
mitgedacht werden. Somit könne geradezu von einem „grey triangle of structural ageism“ gesprochen<br />
werden. Am meisten benachteiligt in unserer Gesellschaft seien demnach Frauen mit nichtwestlichen<br />
Migrationshintergründen, die aus unteren sozialen Schichten stammen. Aber gerade für diese Gruppe<br />
würden die Orientierung an einem ethnischen Selbstverständnis sowie insbesondere religiöse<br />
Einstellungen und Organisationen einen wichtigen Halt und Schutz im Alter bieten. Die Ethno-<br />
Gerontologie versteht Ethnizität und Religiosität als Ressourcen, auf die gerade im Alter<br />
zurückgegriffen wird (vgl. Kondratowitz, 1999). Das Interesse an herkunftsbezogenen Erinnerungen<br />
nimmt zu, ebenso an der eigenen kulturellen und religiösen Identität, die allerdings nicht statisch ist,<br />
sondern immer wieder in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Umgebungseinflüssen<br />
gedeutet und neu konstruiert wird. Ethnizität, Religiosität und soziokulturelle Herkunftsbezüge<br />
gewinnen somit im Alter zunehmend an Bedeutung. Sie seien aber niemals als gegebene oder gar<br />
34
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
statische Zustimmungen zu interpretieren. Es handle sich vielmehr um ständige Prozesse der<br />
Akzentuierung bestimmter Aspekte, um Neudefinitionen und Aushandlungen von alledem, was für die<br />
eigene Identität im Alter als nützlich und sinnstiftend erlebt wird. Ältere MigrantInnen konstruieren also<br />
ihr Altersselbstbild einerseits als Orientierung an Altersbildern ihres Herkunftslandes, in dem sie<br />
sozialisiert wurden, anderseits in Auseinandersetzung mit ihrem Lebensalltag und ihren Erfahrungen<br />
im Migrationsland. Die Vielfalt von Altersbildern, wie sie sich im globalen Ländervergleich zeigt, hat<br />
sich in der globalisierten Welt längst zu einer transkulturellen Vielfalt innerhalb jeder Gesellschaft<br />
entwickelt. Gemäss Kondratowitz (2007, in Kruse, u.a., 2010, S. 94) kann „vom Altersbild einer<br />
Gesellschaft deshalb auch aus einer Binnenperspektive nur mehr im sozusagen postmodernen Plural<br />
kultureller, lebensweltlicher, gruppenspezifischer Variabilität und Diversität gesprochen werden, (…).“<br />
Wenn wir nun davon ausgehen, dass Ethnizität im Alter reaktiviert wird und eine wichtige Komponente<br />
der Sinnkonstruktion ist, müssen sich die Versorger im Gesundheits- und Sozialwesen, darunter im<br />
speziellen in der Alterspflege und –arbeit die Frage stellen, wie sie mit ihren Dienstleistungen und<br />
Angeboten dieser Tatsache Rechnung tragen.<br />
In der Schweiz weckt zur Zeit die Frage, ob für MigrantInnen im Alter spezifische ethnozentriete<br />
Betreuungsmodelle – wie etwa mediterrane Abteilungen in Altersheimen – zu schaffen seien,<br />
zunehmend das mediale und öffentliche Interesse. Während im fachlichen Diskurs nach Kriterien von<br />
good practice-Ansätzen gesucht wird, warnen vereinzelt politische Stimmen bereits wieder vor einer<br />
„drohenden Gefahr von Parallelgesellschaften im Altersheim.“ (Cortesi, 2010). Brisant daran ist, dass<br />
es sich dabei um dieselbe Einwanderungsgeneration handelt, die in ihrer Jugend bereits für die<br />
schleichende Mediterranisierung der Schweiz verantwortlich gemacht wurde (Maiolino, 2010) und<br />
aufgrund der Überfremdungsinitiativen in den siebziger Jahren Diskriminierung erfuhr.<br />
Im Diskurs über ältere MigrantInnen - am Beispiel der italienischen ArbeitsmigrantInnen - trifft man<br />
häufig auf folgende dominante Annahmen:<br />
Das „Leben zwischen zwei Welten“ habe zu einer fehlenden gesellschaftlichen <strong>Integration</strong> geführt, da<br />
sich MigrantInnen nirgendwo richtig zugehörig oder „Zuhause“ gefühlt hätten. Der Aufenthalt in der<br />
Schweiz – auch wenn er Jahrzehnte gedauert habe – sei als Provisorium erfahren worden und die<br />
aufrecht erhaltene Rückkehrorientierung habe gesellschaftliche Partizipation am Lebensort verhindert.<br />
Dadurch würden sich für die Betroffenen nun auch bei ihrer Lebensgestaltung im Alter negative<br />
Folgen ergeben.<br />
Verstärkt worden sei dieser Prozess durch eine fehlende <strong>Integration</strong>spolitik und –förderung seitens der<br />
Schweiz, die die Arbeitsmigrantinnen und -migranten ihrerseits nur als vorübergehende „Gastarbeiter“<br />
definierte. Dies wiederum sowie die ausländerpolitischen Initiativen und die damit einhergehende<br />
fremdenfeindliche Bewegung der frühen siebziger Jahre hätten als Reaktion die Abkehr von der<br />
Mehrheitsgesellschaft bewirkt und die Tendenz zur Selbstethnisierung sowie zur Selbstorganisation<br />
der ItalienerInnen in eigenen Strukturen und Netzwerken gefördert.<br />
35
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die mangelnde <strong>Integration</strong>, verstanden als fehlende und/oder unzureichende Partizipation an der<br />
schweizerischen Mehrheitsgesellschaft, habe zur Folge, dass ältere ItalienerInnen in der<br />
deutschsprachigen Schweiz auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt noch über keine oder nur geringe<br />
Kenntnisse dieser Landessprache sowie allgemein über ein Informations- und Partizipationsdefizit in<br />
Bezug auf die schweizerische Gesellschaft verfügten.<br />
Mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bzw. mit der Pensionierung würden sich die wenigen,<br />
ungefestigten Sprachkenntnisse weiter zurückbilden und setze ein zunehmender Rückzug in die<br />
eigene ethnische Gruppe - die sogenannte ethnische Insulation (Dietzel-Papakyriakou, 1990) bzw.<br />
damit einhergehend ein „disengagement“ (Cumming & Henry, 1961) von der Mehrheitsgesellschaft<br />
ein. Dieser Prozess wiederum wird tendenziell als ein Defizit interpretiert bzw. als ein Indikator für eine<br />
nicht erfolgreiche <strong>Integration</strong>/Partizipation in der Schweiz.<br />
In der vorliegenden Masterarbeit interessieren nun im Zusammenhang mit der Lebensgestaltung<br />
älterer MigrantInnen – am Beispiel der ItalienerInnen - die eigene Sicht der „Objekte„ des oben<br />
skizzierten Diskurses und somit folgende Fragen:<br />
Was heisst für sie Partizipation im Alter? Welche Bedeutung hat für sie die Vergemeinschaftung in<br />
eigenen ethnischen Strukturen? Welche Auswirkungen hat die oft zitierte gute Selbstorganisation der<br />
italienischen MigrantInnen für ihre Lebensgestaltung im Alter? Ist sie ein Mittel der gesellschaftlichen<br />
Partizipation oder wirkt sie eher als Selbstausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft? Fördert sie die<br />
Auseinandersetzung über Mitsprache und Mitgestaltung zu gesellschaftlichen Fragen des Alter(n)s?<br />
Wirkt sie als Organisationsressource für die Teilhabe an politischen Prozessen zu diesen Fragen?<br />
(vgl. dazu die Ergebnisse der für diese Masterarbeit durchgeführten Befragungen in den Kapiteln 5.2.3<br />
und 5.3).<br />
In der Forschungsliteratur der Schweiz zum Thema ‚Partizipation der Migrationsbevölkerung„ geht u.a.<br />
Soom Amann (2006, S. 415 - 453) auf diese Fragen ein. Sie untersucht diese am Beispiel der<br />
italienischen Organisationen in Bern. In der vorliegenden Masterarbeit teilen wir ihr Interesse an der<br />
Frage, welche Partizipationsmöglichkeiten sich die in Bern wohnhaften ItalienerInnen durch ihre<br />
Vereinstätigkeit geschaffen haben. In der wissenschaftlichen Literatur sind MigrantInnenvereine und<br />
ihre Funktion in <strong>Integration</strong>sprozessen ein eher marginales Thema. Wo sie diskutiert werden, geht es<br />
meist um die Grundsatzfrage, ob die Selbstorganisation von MigrantInnen eine integrative Wirkung<br />
habe für ihre Partizipation an der Gesellschaft des Aufenthaltslandes oder aber zu ihrer Ausgrenzung<br />
führe. Ginge man davon aus, dass sich eine ethnisch definierende Gruppe selbst genüge und sich<br />
daher nicht mit der Aufnahmegesellschaft zu vernetzen brauche, dann könnte man die<br />
Selbstorganisation der ersten italienischen Einwanderungsgeneration nach dem zweiten Weltkrieg in<br />
Bern auch als gelungenen Widerstand gegen den Druck der Mehrheitsgesellschaft zur „kulturellen<br />
Assimilierung“ deuten. Die Frage, ob diese Selbstorganisation auch die Partizipation im Sinne<br />
struktureller Teilhabe an der Gesellschaft förderte, ist damit aber noch nicht beantwortet. Die These<br />
der Binnenintegration (vgl. Elwert, 1982 in Kapitel 2.5) postuliert den Prozess der Selbstorganisation<br />
von MigrantInnen als wichtige Grundlage für die zu erreichende gesamtgesellschaftliche <strong>Integration</strong><br />
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«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
bzw. Partizipation. MigrantInnenorganisationen würden eine unverzichtbare Vermittlerrolle zwischen<br />
ihren Mitgliedern und der sie umgebenden Gesellschaft wahrnehmen. Zum einen versorgen sie ihre<br />
Landsleute mit nützlichem Wissen und Informationen über die Gesamtgesellschaft, zum andern bieten<br />
sie ihnen eine soziale und emotionale Heimat sowie die Möglichkeit zu einer kollektiven Identifikation.<br />
Beides sind wichtige Ressourcen für die Auseinandersetzung mit einem zunächst fremden<br />
gesellschaftlichen Kontext. MigrantInnenorganisationen verfügen aber anderseits auch über das<br />
Potenzial, als sogenannte pressure groups zu wirken und die Interessen von MigrantInnen gegenüber<br />
der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten. In der Konzeption des Multikulturalismus (Rex, 1996) sind<br />
MigrantInnenorganisationen wichtige Orte der kollektiven Identitätsbildung und bieten eine Plattform<br />
für die öffentliche Manifestation dieser ethnischen Identität. Vereine von MigrantInnen können so zu<br />
einer legitimen Interessensvertretung gegenüber Staat und Gesellschaft werden, wie andere<br />
gesellschaftliche Gruppen auch. Diese ist insbesondere dann wirkungsvoll, wenn Multikulturalismus<br />
institutionell verankert und die Einforderung von Minderheitenrechten sowie der Zugang zu<br />
Ressourcen politisch anerkannt sind.<br />
Ob sich MigrantInnen organisieren und in welcher Form sie das tun, hänge weniger von ihrer<br />
nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft ab, als vielmehr vom institutionellen Kontext der<br />
Mehrheitsgesellschaft, in der sie sich befinden und von den direkten und indirekten Möglichkeiten der<br />
Partizipation, die ihnen zustehen oder verwehrt sind. Folgende Kriterien spielen dafür eine Rolle: die<br />
Existenz oder sogar Notwendigkeit der Organisation für MigrantInnen, das Bestehen eines offenen<br />
Zugangs zu Organisationen/Institutionen des Aufnahm Systems, die rechtlichen Begebenheiten im<br />
Aufnahmesystem, welche die möglichen Formen der Selbstorganisation bestimmen, die Definition der<br />
Individuen und ihrer Beziehung zum Staat durch das Aufnahmesystem und davon abgeleitete Kriterien<br />
(ethnisch-nationale, religiöse, schichtspezifisch-soziale, politische, individuelle Neigungen, etc.) für die<br />
Festlegung von Organisationszugehörigkeiten. Ein weiterer wichtiger Faktor dafür, ob und wie sich<br />
MigrantInnen organisieren, ist ihr Erfahrungshintergrund. Der Herkunftskontext beeinflusst somit Form<br />
und Inhalt (Ziele, Aktivitäten) von Migrantenorganisationen. Ireland (1994) zeigt allerdings auf, dass<br />
sich die Organisationsstrukturen/Netzwerke von MigrantInnen verschiedener nationaler Herkunft im<br />
selben Aufnahmekontext ähnlicher sind als die Organisationsformen von MigrantInnen derselben<br />
nationalen Zugehörigkeit in verschiedenen Aufnahmeländern. Dies wiederum bestätigt, dass die<br />
Rahmenbedingungen in den Aufnahmeländern Möglichkeiten, Strukturen und Formen der<br />
Selbstorganisation der Migrationsbevölkerung massgeblich mitprägen. Liberale Systeme, wie<br />
beispielsweise die Schweiz, strukturieren ihre Eingliederungsmassnahmen tendenziell um Individuen<br />
und nicht um Kollektive. Entsprechend wenig direkte Verbindungen existieren zwischen dem Staat<br />
und den MigrantInnenorganisationen. Diese organisieren sich zerstreut und mehrheitlich auf lokaler<br />
Ebene, analog zu den föderalistischen Strukturen der Schweiz.<br />
Die zweite Perspektive zu Partizipation, die für diese Masterarbeit interessiert, ist diejenige des<br />
heutigen schweizerischen Staates, der seit 2008 einem gesetzlich verankerten <strong>Integration</strong>sauftrag<br />
verpflichtet ist, der sich auch auf die ältere Migrationsbevölkerung bezieht.<br />
37
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Wie beurteilen die mit der Umsetzung dieses Auftrags betrauten Behörden und Stellen im Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>sbereich den Bedarf, aber auch die Potenziale sowie die Hürden der Partizipation der<br />
älteren Migrationsbevölkerung auf kantonaler/kommunaler Ebene der Alterspolitik und –arbeit?<br />
Subjektive Einschätzungen und Beurteilungen von Behörden sowie Fachstellen und –personen – so<br />
auch der für diese Masterarbeit befragten Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten/Fachstellen<br />
(vgl. Kapitel 5.2) sind im Kontext der aktuellen <strong>Integration</strong>sdiskurse in der Schweiz zu verorten. In der<br />
Schweiz liegt der Fokus des Diskurses eindeutig auf den MigrantInnen als Individuen und auf deren<br />
Bemühungen oder Widerstände bzw. Erfolge oder Misserfolge gesellschaftlicher <strong>Integration</strong> (vgl. dazu<br />
der bereits in Kapitel 2.5 angesprochene <strong>Integration</strong>sdiskurs zu „Fördern und Fordern“.) Erst in<br />
jüngerer Zeit unterstützt in der Schweiz der Staat vereinzelt auch Strukturen und Tätigkeiten von<br />
MigrantInnenorganisationen. Insbesondere Aktivitäten, welche die Herausbildung und Festigung<br />
kollektiver Identitäten und Strukturen stützen würden, wurden bisher aber nicht mit Fördermass-<br />
nahmen anerkannt. Die Nichtexistenz einer staatlichen Partizipationspolitik hatte vor allem zur Folge –<br />
und das lässt sich am Beispiel der italienischen Migrationsgeschichte in der Schweiz, so auch in Bern,<br />
gut aufzeigen – dass die Herkunftsländer der MigrantInnen in diese Lücke sprangen und sich um die<br />
Organisation ihrer StaatsbürgerInnen im Ausland kümmerten.<br />
Weiter oben haben wir gezeigt, dass dem institutionellen Aufnahmekontext entscheidende Bedeutung<br />
zukommt für die Entstehung von integrationswirksamer Organisation und Partizipation der<br />
Migrationsbevölkerung. Entsprechend ist es auch Aufgabe einer Aufnahmegesellschaft, Bedingungen<br />
zur Verfügung zu stellen, unter denen sich Organisations- und Partizipationstätigkeit von MigrantInnen<br />
entwickeln können. Erst in den neunziger Jahren wurde auch in der Schweiz die Notwendigkeit<br />
erkannt, eine <strong>Integration</strong>spolitik und entsprechende Strategien und Leitbilder zu erarbeiten. Allerdings<br />
ging diese Initiative von grösseren Städten wie Bern, Zürich und Basel, und nicht etwa von der<br />
nationalen Ebene aus. Das liegt darin begründet, dass sich die Folgen einer verpassten<br />
<strong>Integration</strong>spolitik vor allem im konkreten Alltagskontext auf kommunaler Ebene manifestierten. Noch<br />
vor der Revision des damaligen Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer<br />
(ANAG), das heute Bundesgesetz für die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) heisst, trat im Jahr<br />
2000 die Verordnung über die <strong>Integration</strong> von Ausländerinnen und Ausländer in Kraft (VInta). Diese<br />
neuen gesetzlichen Grundlagen schufen für den Bund die Möglichkeit, auf kantonaler und<br />
kommunaler Ebene Finanzen zur <strong>Integration</strong>sförderung zur Verfügung zu stellen. In der Folge wurden<br />
auch auf Bundesebene Leitlinien zum <strong>Integration</strong>sverständnis sowie Handlungsschwerpunkte<br />
formuliert. Soom Ammann (2006, S. 421 f) kommt zum Schluss, dass MigrantInnenorganisationen den<br />
Staat im Zusammenhang mit dem <strong>Integration</strong>sauftrag in drei Funktionen interessieren: a) als<br />
Dienstleister für die Vermittlung von Bildungsangeboten zwecks Erwerb von Sprachkompetenzen, b)<br />
als Interessenvertretungen in Konsultativorganen, die zur Förderung der Partizipation eingerichtet<br />
werden und c) als Kontaktinstanzen oder AuftragsnehmerInnen der Behörden bezüglich institutioneller<br />
Vernetzung bestehender Angebote und Tätigkeiten (vgl. dazu auch die Ergebnisse der Befragung in<br />
dieser Masterarbeit in Kapitel 5.2). Vergleicht man die diversen <strong>Integration</strong>sleitbilder und –papiere,<br />
zeigt sich Konsens in Bezug auf die Anerkennung geleisteter <strong>Integration</strong>sarbeit von<br />
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«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
MigrantInnenorganisationen, die Notwendigkeit von Vernetzungsbemühungen zwischen den einzelnen<br />
Angeboten sowie die Nutzung von Potenzialen und Ressourcen dieser Organisationen (vgl. z.B. das<br />
<strong>Integration</strong>sleitbild der Stadt Bern, 2010). Generell lässt sich feststellen, dass MigrantInnenorga-<br />
nisationen gerne als VermittlerInnen zwischen Individuen und Behörden sowie zwischen MigrantInnen<br />
und Einheimischen eingesetzt werden. Wie steht es aber mit ihren reellen Partizipationschancen im<br />
Sinne von gleichwertiger Mitsprache, Mitgestaltung und Mitbestimmung? Leitbilder der Verwaltung<br />
halten in der Regel fest, dass es zur Förderung der Partizipation „in den gesellschaftlichen, politischen<br />
und kulturellen Lebenswelten (…) die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten von<br />
Ausländerinnen und Ausländern zu nutzen und zu erweitern“ gilt (Eidgenössisches Justiz- und<br />
Polizeidepartement EJPD, 2008, S. 8). Oder an anderer Stelle: für die <strong>Integration</strong> ist „das<br />
Mitredenkönnen und dürfen die wesentlichste Voraussetzung„ (Regierungsrat des Kantons Basel-<br />
Stadt, 1997, S. 72). Da MigrantInnen in den meisten Kantonen und Gemeinden nicht über Mittel der<br />
direkten demokratischen Mitbestimmung (Stimm- und Wahlrecht) verfügen, wurden in den letzten<br />
Jahren vielerorts – so auch in der Stadt Bern - Fachkommissionen, Gremien und Arbeitsgruppen<br />
eingeführt, welche einerseits die Anliegen und Interessen der MigrantInnen vertreten sollen und<br />
anderseits die Kantone und Gemeinden in Fragen der <strong>Integration</strong>spolitik beraten. 2 MigrantInnen-<br />
organisationen interessieren den Staat im Zusammenhang mit seinem <strong>Integration</strong>sauftrag in zweierlei<br />
Hinsicht: zum einen, wenn es darum geht, auf bestehende Angebote, Erfahrungen und Leistungen<br />
zuzugreifen und zum andern, wenn es darum geht, die Kommunikation zwischen den Behörden und<br />
der Migrationsbevölkerung zu optimieren. Ein wichtiges Ziel der <strong>Integration</strong>spolitik ist es immer auch,<br />
sogenannt schwer erreichbare Zielgruppen anzusprechen. Und hier zeigt sich nach Soom Ammann<br />
(2006, S. 423) eine der primären Schwierigkeiten bei der Beteiligung von MigrantInnenorganisationen<br />
in der öffentlichen <strong>Integration</strong>sförderung. Trotz des Wissens um die Existenz schwer erreichbarer<br />
Zielgruppen, wird die Migrationsbevölkerung seitens staatlicher Stellen in der Regel als homogene<br />
Gruppe wahrgenommen und wird daher davon ausgegangen, dass sich diese nach ethnisch-<br />
nationalen Kriterien organisiert. Dabei lässt man oft die berechtigte Frage ausser Acht, inwiefern<br />
MigrantInnenorganisationen für sich überhaupt in Anspruch nehmen können, auch schwer erreichbare<br />
Gruppen zu repräsentieren bzw. zu vertreten. Die Existenz von MigrantInnenorganisationen heisst<br />
nicht automatisch, dass damit auch eine umfassende Repräsentanz oder gar Partizipation der<br />
gesamten Migrationsbevölkerung gesichert ist. Am Beispiel der italienischen Organisationsaktivitäten<br />
in Bern lasse sich das gut aufzeigen. So sei die italienische Migrationscommunity weder eine<br />
homogene, nach ethnisch-nationalen Kriterien definierte Gemeinschaft, noch seien die verschiedenen<br />
italienischen Vereine und Organisationen fähig, die heterogene italienische Bevölkerung partizipativ zu<br />
integrieren und adäquat zu vertreten.<br />
Die öffentliche Legitimation und Förderung ethnisch-kollektiver Identitäten, wie sie das Konzept des<br />
Multikulturalismus vorsieht, ist nicht Ziel der schweizerischen <strong>Integration</strong>spolitik. Dennoch wird aber<br />
2 Für eine gesamtschweizerische systematische Zusammenstellung dazu: vgl. Emch-Fassnacht & Arn<br />
(2008). Bei Pineiro, Bopp & Kreis (2009) findet sich ein guter Überblick über die Gesetzesgrundlagen<br />
der schweizerischen <strong>Integration</strong>spolitik, kantonale und städtische Leitbilder und Strategien, rechtliche<br />
Instrumente sowie über die politischen Rechte von MigrantInnen in Kantonen und Gemeinden.<br />
39
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
die Selbstorganisation von MigrantInnen nach ethnischen Kriterien befürwortet. Es bleibt somit<br />
fraglich, ob dadurch nicht Widersprüche erzeugt werden. Vermag die italienische<br />
Organisationsgeschichte in Bern dazu mehr Erkenntnisse zu liefern? (vgl. Kapitel 2.6.4)<br />
2.6.3 Aktive Bürgerschaft / Citizenship von älteren MigrantInnen (V. Abati)<br />
Literatur und Forschung zu aktiver Bürgerschaft und Citizenship (oder Citoyenneté) von älteren<br />
MigrantInnen ist bis dato kaum zu finden. Ältere MigrantInnen als in Zukunft in grösseren Zahlen in<br />
Erscheinung tretende Gruppe, sind zur Zeit praktisch nur in Bezug auf ihren Versorgungsbedarf im<br />
Alter ein Thema.<br />
Zwei Autorinnen, die sich mit der Thematik der aktiven Bürgerschaft, resp. der Bürgerbeteiligung und<br />
Engagementförderung für ältere Menschen auseinandergesetzt haben, sind Wegner (2010) und Vogel<br />
(2008). Allerdings fehlt auch bei ihnen der Bezug zur älteren Migrationsbevölkerung. Bereits 2002<br />
hingegen fand im deutschen Lünen eine Fachtagung mit dem Titel „Auch Migranten werden alt!“ der<br />
Forschungsgesellschaft für Gerontologie statt. Eine Arbeitsgruppe befasste sich dabei mit der<br />
Partizipation und der interkulturellen Begegnung durch Selbstorganisation älterer MigrantInnen. Neben<br />
einigen interessanten Erkenntnissen fällt aber auch hier auf, dass der Diskussion keine klare, stringent<br />
formulierte Definition von Partizipation zugrunde lag. Das Thema der Partizipation älterer MigrantInnen<br />
wurde im Weiteren unter dem Titel „Mehr Mit – Weniger Für“ auch an einer länderübergreifenden<br />
Tagung in Konstanz und Kreuzlingen aufgegriffen (2011).<br />
Da in der vorliegenden Arbeit ‚Partizipation älterer MigrantInnen im lokalen Kontext’ das eigentliche<br />
Forschungsinteresse begründet, folgt unten eine Definition von Partizipation und Citoyenneté, welcher<br />
die Autorinnen in ihrer Untersuchung sowie in den Schlussfolgerungen und den Massnahmen für das<br />
Modell <strong>MIGRALTO</strong> konsequent verpflichtet bleiben.<br />
Partizipation – Citoyennté nach EKM<br />
Gemäss der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen EKM wird erfolgreiche <strong>Integration</strong><br />
durch die gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme ermöglicht. Ein <strong>Integration</strong>sverständnis, das sich<br />
nur an der Teilhabe im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich orientiere, sei zu eng gefasst.<br />
Poltische Partizipation sei ein ebenso wichtiger Aspekt der <strong>Integration</strong> wie die strukturelle. Daher<br />
müsse auch der aktiven Teilnahme und Teilhabe an politischen Prozessen ein wichtiger Stellenwert<br />
beigemessen werden, wenn die Chancengleichheit zwischen der schweizerischen und der<br />
ausländischen Bevölkerung gefördert werden soll. Aus diesem Grund will die EKM im Rahmen ihrer<br />
Ausschreibung „Citoyenneté – aktive Bürgerschaft“ Vorhaben unterstützen, die Migranten neue<br />
Partizipationsformen eröffnen.<br />
In der vorliegenden Masterarbeit stützen wir uns auf den Begriff der ‚aktiven Bürgerschaft„, wie er von<br />
der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen EKM definiert wird: „In dieser Konzeption sind<br />
Bürgerinnen und Bürger Personen, die unabhängig von ihrer jeweiligen nationalen Zugehörigkeit<br />
40
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
aufgrund ihres Wohnortes oder dem Bezug zu einer spezifischen Angelegenheit über Mitsprache- und<br />
Mitgestaltungsmöglichkeiten verfügen.“ (vgl. Anhang A: Ausschreibungstext Modellvorhaben der EKM,<br />
S. 6)<br />
Um mit dem im Projekt zu erarbeitenden Modell der aktiven Bürgerschaft auch ältere MigrantInnen<br />
ohne Bürgerrechte (also die nicht Eingebürgerten) zu erfassen, stützt sich das Vorhaben zudem auf<br />
den von der EKM definierten Begriff der „Betroffenendemokratie“:<br />
„Im Vordergrund dieses Modells steht der Aspekt der Betroffenheit. Alle, die von einer Frage betroffen<br />
sind, sollen mitentscheiden können. Dieser Ansatz kommt dem Demokratieideal wesentlich näher, als<br />
wenn nur Staatsangehörige entscheiden können. Aus dieser Perspektive haben Ausländerinnen und<br />
Ausländer aufgrund ihrer Betroffenheit ebenso das Recht mitzubestimmen wie Staatsangehörige.<br />
(…).“ (ebenda, S. 7).<br />
„Betroffenheit“ verstehen wir für unser Forschungsvorhaben folgendermassen: Die Betroffenheit<br />
besteht darin, dass die Frage der Lebensgestaltung im Alter alle Personen in der Schweiz,<br />
unabhängig von ihrer nationalen Herkunft, gleichermassen betrifft. Zudem tangiert sie diese Frage am<br />
Ort ihres unmittelbaren Lebensmittelpunktes am direktesten, d.h. in ihrer Wohngemeinde. Somit ist es<br />
hilfreich, den Begriff der „Betroffenheitsdemokratie“ mit der von der EKM definierten Bezeichnung der<br />
„Territorialdemokratie“ zu koppeln: „Die Territorialdemokratie ist eine mögliche Ausgestaltung der<br />
Betroffenendemokratie. „Betroffen“ ist, wer in einem bestimmten Staatsgebiet wohnt. Dies ist ein klar<br />
bestimmter geographischer Bereich und daher ausschlaggebend für das Stimm- und Wahlrecht der<br />
darin lebenden Personen. (…).“ (ebenda).<br />
2.6.4 Das Beispiel der italienischen Selbstorganisation der ersten<br />
Einwanderungsgeneration in der Stadt Bern (H. Hungerbühler)<br />
Nach Soom Ammann (2006, S. 425 ff) weist die organisationelle <strong>Integration</strong>sgeschichte der ersten<br />
Einwanderungsgeneration der ItalienerInnen in Bern „binnenintegrative Tendenzen“ auf, was die<br />
Entstehung einer besonderen italo-bernischen Struktur bedeutet. Diese könne vor allem als Reaktion<br />
auf die vom Aufnahmeland gesetzten Bedingungen verstanden werden. Da die italienische<br />
Einwanderung sowohl vom Schweizer Staat als auch den italienischen MigrantInnen selber lange als<br />
temporär verstanden wurde, versuchten letztere bei auftauchenden Schwierigkeiten, diese mit Hilfe<br />
des eigenen Herkunftsstaates und nicht der Schweiz zu überbrücken. Drei für die<br />
<strong>Integration</strong>sdiskussion bedeutungsvolle Themen, in welchen die italienische Migrationscommunity<br />
(selbst)organisiert war und teilweise immer noch ist, sind in diesem Zusammenhang für Bern<br />
besonders wichtig:<br />
a) Die Selbsthilfe: z.B. die Missione Cattolica Italiana di Berna, die Casa d„Italia di Berna<br />
b) Die Bestrebungen der italienischen Organisationen um Interessenvertretung und politische<br />
Partizipation: z.B. die Colonia Libera Italiana di Berna<br />
41
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
c) Der Bildungsbereich: z.B. die Scuola Italiana und CISAP/Formazione<br />
Die Missione Cattolica Italiana di Berna ist seit den späten zwanziger Jahren eine der zentralen<br />
Institutionen für ItalienerInnen in Bern. Ihre wichtigste Aufgabe war und ist die seelsorgerische<br />
Begleitung der in Bern und Umgebung wohnhaften italienischen MigrantInnen. Diese weitete sich bald<br />
zu sozialen Aufgaben aus. In den sechziger Jahren eröffnete die Missione zudem einen<br />
Mehrzwecksaal sowie ein Restaurant. Damit wurde ergänzend zu den religiösen Bedürfnissen der<br />
italienischen MigrantInnen jener Zeit vor allem der Bedarf nach einem sozialen Treffpunkt<br />
aufgenommen. Mit der Zunahme an Familiennachzug und –gründung wurde die Missione auch in der<br />
Kinderbetreuung und –ausbildung tätig. Die nach italienischem System geführte Schule blieb bei den<br />
Berner Behörden immer umstritten. Als Ergebnis der von der Stadt vorangetriebenen <strong>Integration</strong> der<br />
Kinder mit Migrationshintergrund in die öffentlichen Schulen wurde der schulische Betrieb der<br />
Missione in den frühen achtziger Jahren eingestellt. Die heutige Missione hat als Parallelprozess zu<br />
den Entwicklungen in der italienischen Migrationsgemeinde ihr Aufgabenfeld nebst der kirchlichen<br />
Arbeit ebenfalls verändert in Richtung SeniorInnenbetreuung, Beratung von Familien bei Problemen<br />
wie Drogenkonsum der Jugendlichen sowie Arbeitslosigkeit. Die Missione ist mit der römisch-<br />
katholischen Kirche in Bern, von der sie finanziell mitgetragen wird, vernetzt, sowie in sozialen Fragen<br />
mit dem Centro Familiare, einer ethnospezifischen Beratungsstelle für Familien- und Jugendprobleme,<br />
die sich auch mit intergenerationeller Verständigungsschwierigkeit befasst und in der SeniorInnen-<br />
betreuung mit der Pro Senectute Bern zusammenarbeitet. Die Missione wird, u.a. auch von einem Teil<br />
der ItalienerInnen selbst, für einen „gewissen kulturellen und sozialen Konservatismus“ (Soom<br />
Ammann, 2006, S. 427) kritisiert. So habe sie sich zwar um die Unterstützung der italienischen<br />
Migrationsgemeinschaft der ersten Einwanderungsgeneration bemüht und verdient gemacht, dabei<br />
jedoch die Förderung der <strong>Integration</strong> von MigrantInnen in die Gesamtgesellschaft der Schweiz<br />
vernachlässigt. Die Missione verstand sich eher als ein „Auffangbecken“, linderte Symptome der<br />
erlebten Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft und stand dort zur Verfügung, wo seitens der<br />
Schweiz keine Hilfe zu erwarten war.<br />
Die zweite wichtige Institution der ItalienerInnen der ersten Einwanderungsgeneration (Vor- und<br />
Nachkriegseinwanderung) in Bern war (und ist) die Casa d‟Italia. 1937 mit Unterstützung des<br />
italienischen Konsulats gegründet, bietet sie einerseits vor allem einen stadtbekannten (auch bei<br />
SchweizerInnen beliebten) Restaurantbetrieb mit italienischer Küche an und zum andern Infrastruktur<br />
und Koordination für italienische Vereinstätigkeiten. Die Casa d‟ Italia ist ein beliebter Treffpunkt – vor<br />
allem für die ältere (schwergewichtig männliche) Generation - und nimmt für sich gemäss ihrer<br />
Statuten in Anspruch, das gesamte „italienische Kollektiv“ zu vertreten und das „Erbe der<br />
„italienischen Kultur“ zu pflegen (ebenda, S. 428). Die Casa positionierte sich offiziell immer als nicht<br />
politische Institution. Trotzdem wurde ihr zunächst – aufgrund ihrer Gründungszeit während des<br />
italienischen Faschismus – eine gewisse politische Nähe zu diesem nachgesagt, während sie in den<br />
sechziger und siebziger Jahren eher der kommunistisch-sozialistischen Politik zugeordnet wurde. Die<br />
Casa diente der italienischen Migrationscommunity als Ort der Diskussion und der sozialen<br />
Vernetzung sowie als Freizeitstätte. Während das Haus von den dreissiger bis in die sechziger Jahre<br />
42
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
hauptsächlich einer „geschlossenen italienischen Gesellschaft“ zur Verfügung stand, öffnete es sich<br />
vor allem mit seiner Gastronomie auch für SchweizerInnen. Für die ItalienerInnen der ersten<br />
Generation erlangte sie eine wertvolle Bedeutung als Raum der soziokulturellen Binnenintegration.<br />
Die Colonia Libera Italiana di Berna (CLI) war v.a. während der sechziger und siebziger Jahre eine<br />
weitere historisch wichtige Institution der italienischen MigrantInnen. Als Organisation des<br />
antifaschistischen Widerstands im Exil entwickelte sie sich im mehreren Schweizer Städten und<br />
formierte sich 1943 in einer Dachorganisation, der Federazione delle Colonie Libere Italiane in<br />
Svizzera (FCLIS). Auch nach dem Ende des Faschismus in Italien bleib diese Dachorganisation<br />
bestehen, repräsentierte jedoch fortan vor allem die kommunistisch-sozialistisch geprägte Linie. Die<br />
Colonia Libera unterhielt im Unterschied zu den meisten anderen italienischen MigrantInnenorgani-<br />
sationen auch zu schweizerischen Gewerkschaften und linken Parteien eine Beziehung. Die<br />
Organisation stellte Forderungen für die Verbesserung der arbeitsrechtlichen und gesellschaftlichen<br />
Situation italienischer MigrantInnen in der Schweiz, sowohl an die Adresse Italiens als auch der<br />
Schweiz und setzte sich für die politische Partizipation sowie erfolgreich für Verbesserungen bei der<br />
Krankenversicherung und der Pensionskasse ein. Die CLI war auch der Ort, an dem engagierte<br />
Diskussionen zur <strong>Integration</strong>spolitik geführt wurden. Zudem war sie massgeblich für die Gründung des<br />
Berufsbildungszentrums CISAP in Bern verantwortlich. Kontrovers debattierte die Organisation, ob die<br />
Berufsbildung für italienische MigrantInnen als eigene Struktur oder integriert in das Schweizer<br />
Ausbildungssystem zu konzipieren sei. Der heutige Verein Colonia Libera Italiana existiert nur noch<br />
formell, ist aber nicht mehr aktiv.<br />
Als Letztes seien die italienischen Binnenstrukturen im Bildungsbereich erwähnt. Diese hatten zwei<br />
Zielgruppen im Blick: zum einen die Erwachsenen (Deutschkurse und berufliche Weiterbildung) und<br />
zum andern die Kinder (Schul- und Berufsbildung). Die zwei wichtigsten Angebote waren die Scuola<br />
Italiana (Missione Cattolica di Berna) und das Berufsbildungszentrum CISAP, heute Formazione. In<br />
der Bildung der Kinder wurde nicht das Erlernen der deutschen Sprache fokussiert, sondern die<br />
Förderung der italienischen Sprachkompetenzen. Im Falle des CISAP lässt sich nach Soom Ammann<br />
(2006, S. 444-448) eine Entwicklung weg vom ethno- und hin zum migrationsspezifischen<br />
Lernangebot ausmachen. Auch die Einrichtung einer italienischen Berufsschule in Bern war umstritten<br />
wie die Scuola Italiana der Missione Cattolica. Selbst wenn begrüsst wurde, dass Italienischsprachige<br />
überhaupt ein Berufsbildungsangebot erhielten, blieb es problematisch, weil eine Berufsausbildung<br />
nach italienischem System nicht anerkannt wurde und diese für Jugendliche keine wirklichen<br />
Perspektiven brachte. Das Angebot des CISAP könne als für die italo-bernische Migrationsstruktur<br />
typisch bezeichnet werden: Die Aufgabendelegation des Staates an Private und die Selbsthilfe der<br />
MigrantInnen ermöglichten zwar Lösungen, jedoch vielfach nur provisorische, ohne wirklichen<br />
Anschluss an die Regelstrukturen (Bildung, Arbeitsmarkt) der Mehrheitsgesellschaft (ebenda).<br />
Welche Bilanz kann zum Schluss bezüglich des Potenzials der Selbstorganisation italienischer<br />
MigrantInnen in Bern gezogen werden? Verhalf sie zur gesellschaftlichen <strong>Integration</strong> oder wirkte sie<br />
eher als Selbstausschluss? Die Antwort fällt sowohl gemäss Soom Ammann (2006) als auch aufgrund<br />
der in dieser Masterarbeit durchgeführten Erhebungen (vgl. Kapitel 5) ambivalent aus.<br />
43
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Italienische Organisationsaktivität wird häufig als good practice-Beispiel für erfolgreiche<br />
Selbstorganisation von MigrantInnen zitiert. Soom Ammanns Analyse der Organisationsgeschichte der<br />
italienischen Migrationsbevölkerung in Bern hat jedoch gezeigt, dass ihre Vereinstätigkeit sowie die<br />
Arbeit der privaten italienischen Organisationen die Partizipationschancen in der Mehrheits-<br />
gesellschaft nur bedingt und punktuell gefördert haben. Vielmehr haben sie eher zur Etablierung einer<br />
spezifischen italienischen - jedoch heterogenen - Organisationsstruktur beigetragen. Anderseits könne<br />
aber die Tatsache, dass die von der ersten Generation aufgebauten Organisationsstrukturen sich<br />
allmählich auflösen, auch als Zeichen interpretiert werden, dass trotz starker Binnenintegration nun<br />
vor allem auch über die zweite Generation eine <strong>Integration</strong> in die Gesamtgesellschaft stattgefunden<br />
habe. Zwei Faktoren prägten die Partizipationsmöglichkeiten der italienischen MigrantInnen und ihrer<br />
Organisationen in der Stadt Bern hauptsächlich: ihre Ausgrenzung als „Gastarbeiter“ durch das<br />
gesellschaftliche Umfeld sowie das eigene Verständnis ihres Aufenthalts in der Schweiz als nur<br />
temporären und an die Arbeit gekoppelten Zustand. Beides schwächte die Auseinandersetzung mit<br />
der Mehrheitsgesellschaft und die Teilhabe an dieser. Die italienischen Organisationen fingen<br />
ihrerseits die Auswirkungen der geringen bis fehlenden gesellschaftlichen Zugehörigkeit auf und<br />
trugen zur Stärkung einer ethnisch definierten Identität bei. In diesem Sinne ist die gelungene<br />
Selbstorganisation der italienischen MigrantInnen auch als integrationsförderndes Potenzial zu werten.<br />
Soom Amman (2006, S. 451) ist aber der Ansicht, dass es falsch wäre, deswegen die Formierung von<br />
MigrantInnenvereinen von öffentlicher Seite zu fördern, da sich die Schweiz nicht als multikulturelle<br />
Gesellschaft definiere, in welcher der Staat Gruppeninteressen vertritt, sondern als Rechtsstaat, in<br />
welchem das Gleichheitsprinzip aller BürgerInnen gelte und das Gegenüber des Staates das<br />
Individuum sei und nicht Kollektive. Der wirkungsvollste Weg, um die Partizipation aller zu erreichen,<br />
sei daher ein garantierter und direkter Zugang der Einzelnen zur Gesellschaft und ihren Institutionen,<br />
insbesondere der Zugang zu den BürgerInnenrechten. Da dieser jedoch, mit Ausnahme weniger<br />
Kantone und Gemeinden vorab in der Romandie, nicht gegeben ist, greifen die Behörden nach wie<br />
vor gerne auf MigrantInnenorganisationen zurück, um sogenannt schwer erreichbaren Zielgruppen<br />
unter den MigrantInnen anzusprechen (vgl. dazu die Erhebungsergebnisse in Kapitel 5). Ob diese von<br />
den Organisationen überhaupt adäquat repräsentiert werden können, bleibe fraglich. Abschliessend<br />
muss nochmals betont werden, dass MigrantInnengemeinschaften keine homogenen Gruppen sind.<br />
Somit kann auch nicht unkritisch auf MigrantInnenorganisationen als Vermittlungsinstanzen zwischen<br />
individuellen MigrantInnen und der Aufnahmegesellschaft gesetzt werden.<br />
44
3. Fragestellung<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Abgeleitet von der Forschungsidee und der Zielsetzung (Kapitel 1) sowie dem recherchierten<br />
Forschungsstand (Kapitel 2) wird in diesem Kapitel die konkrete Fragestellung formuliert, auf die mit<br />
der Masterarbeit Antworten gefunden werden sollen. Im Weiteren zeigen die Autorinnen auf, weshalb<br />
sie die folgende Fragestellung wählen und welche Perspektiven sie dabei einnehmen.<br />
3.1 Wahl und Begründung der Fragestellung (H. Hungerbühler)<br />
Gemäss gerontologischer Zukunftsszenarien (Höpflinger, 2010; Perrig-Chiello u.a., 2008) werden sich<br />
Fragen des Alters künftig aufgrund der demografischen Entwicklungen akzentuieren und zu einer der<br />
wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen werden. Wie die aktuelle gerontologische<br />
Forschung zeigt, führt die heutige Pluralisierung von Lebensläufen zu einer historisch noch nie da<br />
gewesenen Vielfalt an Lebensgestaltung im Alter (Höpflinger, 2010; Perrig-Chiello u.a., 2008). Somit<br />
sind auch verschiedene Ansprüche an gesellschaftliche Mitsprache und Mitgestaltung im Alter zu<br />
erwarten. Die Entwicklung neuer Modelle politischer und gesellschaftlicher Partizipation einer<br />
zunehmend vielfältigen Altersbevölkerung wird nötig werden. Einen wichtigen Anteil an dieser<br />
wachsenden Diversität machen Menschen mit Migrationshintergrund aus. Die Autorinnen erachten es<br />
als erstrebenswert, dass MigrantInnen sowohl zu AkteurInnen als auch zur Zielgruppe einer neuen<br />
Partizipationskultur im Alter werden. Sie tragen aufgrund ihrer Heterogenität nach Herkunft in den<br />
nächsten Jahren immer mehr zur Diversifizierung der Altersbevölkerung in der Schweiz bei.<br />
Seit der Bundesrat <strong>Integration</strong>sförderung zu einer gesellschaftlichen Querschnittaufgabe erklärt hat<br />
(BfM, 2008), ist auch das für die Altersversorgung verantwortliche Bundesamt für<br />
Sozialversicherungen (BSV) verpflichtet, über die Leistungsverträge mit Organisationen im<br />
Altersbereich die <strong>Integration</strong> bzw. Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung zu unterstützen. Die<br />
Altersorganisationen haben seither den Auftrag, Massnahmen zur <strong>Integration</strong> bzw. Partizipation älterer<br />
MigrantInnen umzusetzen (BfM, 2008, S.53). Diverse Studien und Erhebungen (Kobi, 2008; Martin,<br />
2006; EKM, 2009; Moret, & Dahinden, 2009 u. Hungerbühler, 2010) wiederum zeigen, dass sich<br />
MigrantInnen sowie ihre Organisationen eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit mit<br />
Institutionen in der Schweiz wünschen. Sie belegen teilweise das Anliegen von<br />
Partizipationsmöglichkeiten bei der Definition und Konzipierung einer Politik, die ihre Anliegen und<br />
Bedürfnisse mitvertritt. MigrantInnen sollten dabei als AkteurInnen und nicht bloss als InformantInnen<br />
und/oder Forschungsobjekte auftreten können.<br />
In diesem Sinne wird die Erarbeitung eines Modells der aktiven Bürgerschaft für ältere MigrantInnen in<br />
der Schweiz je länger desto mehr eine Notwendigkeit, die sowohl im Interesse des Staates als auch<br />
der älteren Migrationsbevölkerung liegen dürfte. Gerade im Altersbereich benötigt es ein integratives<br />
Modell, welches Partizipation als einen gegenseitigen Prozess versteht, an dem sämtliche im<br />
Projektvorhaben vertretenen AkteurInnen gleichwertig beteiligt sind. Ein solches Modell muss auf<br />
einer Abklärung basieren, welche den Bedarf aller wichtigen AkteurInnen erhebt und analysiert.<br />
45
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Mit der vorliegenden Forschungsidee sollen folgende Fragen beantwortet werden können:<br />
d) Welches Erfahrungswissen zum Thema <strong>Integration</strong> (im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe/<br />
Partizipation), welche Ressourcen und welches Potenzial zur Selbstorganisation haben ältere<br />
MigrantInnen, die sich für die Altersarbeit und -politik in der Schweiz nutzen lassen?<br />
e) Wie sehen die Frage- und Problemstellungen aus der Perspektive der Altersarbeit und<br />
-politik aus, die den Auftrag hat, für eine nach Herkunft immer heterogener werdende<br />
Altersbevölkerung bedarfsgerechte Dienstleistungen zu erbringen sowie Vertretungen aller<br />
Gruppierungen zu beteiligen?<br />
f) Welche Rahmenbedingungen benötigt es, damit ältere Migrantinnen als AkteurInnen an der<br />
Entwicklung und Umsetzung einer Altersarbeit und -politik im Sinne der politischen Vorgaben<br />
partizipieren können und wollen? Was für ein Modell ermöglicht das Einbringen der Angebote und<br />
der Forderungen nach Partizipation auf der kommunalpolitischen Seite sowie das Einbringen des<br />
eigenen Potenzials und der aktiven Beteiligung auf Seite der MigrantInnen?<br />
Zum Zeitpunkt der Erarbeitung des Konzepts für die vorliegende Masterarbeit bestimmten folgende<br />
Annahmen unser Erkenntnisinteresse und damit unsere Frageperspektive:<br />
Migration als biografische Ressource<br />
Migration ist eine Ressource für die Lebensgestaltung im Alter, wenn sie biografisch erfolgreich<br />
integriert werden kann.<br />
Ethnizität als Organisationspotenzial und Identitätsstiftung im Alter<br />
Ethnizität wird als Potenzial zur Selbstorganisation mobilisiert, um kollektive Interessen der eigenen<br />
Gruppe zu vertreten. Im Weiteren wirkt sie identitätsstiftend und dient als Orientierungshilfe im Alter.<br />
Ethnizität im Alter: Ressource oder Kumulierung der Benachteiligung<br />
Ethnizität im Alter kann sowohl Ressource sein als auch zu einer doppelten Diskriminierung aufgrund<br />
nationaler Herkunft und Alter führen. Ethnizität ist daher ein wichtiger Faktor, dem in der<br />
sozialgerontologischen Arbeit sowie bei der Entwicklung und Umsetzung von Partizipationsmodellen<br />
Rechnung getragen werden muss.<br />
Migrantinnen und Migranten als Subjekte im Forschungsprozess<br />
MigrantInnen beteiligen sich als Subjekte mit ihrem spezifischen Erfahrungswissen und ihren<br />
kulturellen Lebenspraxen am Aushandlungsprozess der Definition und Umsetzung von Partizipation.<br />
Partizipation als transkultureller Aushandlungsprozess<br />
Damit alle beteiligten Akteure gleichwertig von einem Partizipationsmodell profitieren können und ein<br />
solches auch bedarfsgerecht und nachhaltig entwickelt und implementiert wird, benötigt es zunächst<br />
die Erhebung der Definition/des Verständnisses und der Praxis von Partizipation sowohl seitens der<br />
älteren MigrantInnen und ihrer Organisationen als auch der Behörden und Stellen im Altersbereich.<br />
46
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Voraussetzung einer neuen Partizipationskultur ist ein transkultureller Aushandlungsprozess zum<br />
Partizipationsverständnis.<br />
Gendergerechte Partizipation<br />
Frauen und Männern werden unterschiedliche gesellschaftliche Geschlechterrollen zugeschrieben. Je<br />
nach sozialem Geschlecht kann somit Partizipation eine andere Bedeutung erhalten sowie<br />
unterschiedlich wahrgenommen und ausgeübt werden. Ein Modell für die aktive Bürgerschaft von<br />
älteren Migrantinnen und Migranten hat diese Aspekte zu berücksichtigen, um gendertauglich zu sein.<br />
Vom Defizit- zum Ressourcenorientierten Ansatz<br />
Sowohl in der sozialgerontologischen Forschung/Arbeit als auch in der Migrations-/<br />
<strong>Integration</strong>sforschung und -arbeit ist ein konsequenter und nachhaltiger Perspektivenwechsel vom<br />
defizit- zum ressourcenorientierten Ansatz angesagt.<br />
Diversität als Innovationspotenzial für die Alterspolitik und -arbeit<br />
Alter wird kulturell unterschiedlich konstruiert. Entsprechend existiert in einer Einwander-<br />
ungsgesellschaft – wie es die Schweiz ist – eine Vielfalt von Modellen, wie Alter gelebt und wie mit<br />
älteren Menschen umgegangen wird. Diese Diversität kann für die Alterspolitik und<br />
-arbeit zum Innovationspotenzial werden, wenn über die damit einhergehenden Herausforderungen<br />
eine konstruktive Auseinandersetzung geführt wird.<br />
An diesen Annahmen haben die Autorinnen auch im Verlaufe der Masterarbeit festgehalten und sie<br />
noch um folgende Annahme erweitert:<br />
Wirkungen von Partizipation<br />
Von Partizipation älterer Menschen - generell und in der vorliegenden Arbeit von älteren MigrantInnen<br />
im Speziellen – können folgende Wirkungen angenommen werden:<br />
Partizipation ist die wirksamste Form der <strong>Integration</strong>.<br />
Partizipation fördert die Wahrnehmung der Gesellschaft in Bezug auf ältere Menschen, baut<br />
Vorurteile ab und wirkt Altersdiskriminierungen entgegen.<br />
Ob und wie die Autorinnen diese Annahmen in ihrer Erhebung bestätigt fanden, wird in Kapitel 6.2<br />
erläutert.<br />
3.2 Abgrenzung der Fragestellung (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
Die Autorinnen grenzen ihre Fragestellung auf die Migrationsgruppe der italienischen Arbeitsmi-<br />
grantInnen der ersten Einwanderungsgeneration nach dem zweiten Weltkrieg ein. Zum einen handelt<br />
es sich dabei um die zahlenmässig grösste Gruppe innerhalb der älteren Migrationsbevölkerung,<br />
welche über die meiste Erfahrung in der für sämtliche Partizipationsmodelle wichtigen Selbstorgani-<br />
sation verfügt, zum andern ist ihre Migrationsgeschichte am besten dokumentiert. Es bleibt zu<br />
vermuten, dass gerade die gemeinsame Diskriminierungserfahrung als so genannte Saisonniers in<br />
47
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
den siebziger Jahren ihre Solidarisierung in der ethnischen Vergemeinschaftung gefördert und ihre<br />
Ressourcen gestärkt hat.<br />
Im Weiteren wird in der geplanten Forschung auf die Untersuchung der Alterssituation von<br />
Flüchtlingen sowie weiteren Gruppen nach nationaler Herkunft weitgehend verzichtet, da dies den<br />
vorgegebenen Rahmen der Masterarbeit sprengen würde. Deshalb beschränkt sich die Daten- und<br />
Bedarfsanalyse ausschliesslich auf die so genannten ArbeitsmigrantInnen. Den Autorinnen ist es<br />
jedoch ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass zur Situation anderer Gruppen der älteren Migrations-<br />
bevölkerung Forschungsbedarf besteht, dem in einer eigenen Studie nachgegangen werden müsste.<br />
Auch eine territoriale Eingrenzung wurde definiert. Abgeleitet vom Untersuchungsplan gilt es, hier<br />
darauf hinzuweisen, dass sowohl qualitative als auch quantitative Daten erhoben werden. Bei den<br />
quantitativen Erhebungen (Fragebogen) werden gesamtnationale Gruppen befragt. Hierzu gehören<br />
bspw. die schweizerischen <strong>Integration</strong>sdelegierten sowie die schweizerischen Altersbeauftragten. Auf<br />
die geplante Dokumentenanalyse bei ausgewählten Gemeinden wurde aus Ressourcengründen –<br />
entgegen der im Konzept (Abati & Hungerbühler, 2010) der vorliegenden Arbeit geäusserten Absicht –<br />
verzichtet. Dafür wurde die schriftliche Befragung der Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten<br />
mit einer telefonischen Nachbefragung einer ausgewählten Stichprobe ergänzt.<br />
Bei den qualitativen Datenerhebungen grenzen die Autorinnen die zu befragenden Gruppen territorial<br />
auf den kommunalen Kontext der Stadt Bern ein. Dies gilt für die Fokusgruppen-Gespräche mit den<br />
VertreterInnen aus dem Altersbereich, mit den VertreterInnen der Migrationsorganisationen sowie für<br />
alle Einzelinterviews mit den älteren MigrantInnen.<br />
4. Methodisches Vorgehen und Durchführung der<br />
Untersuchung<br />
In diesem Kapitel werden die einzelnen Untersuchungsinstrumente für die Datenerhebung sowie der<br />
Untersuchungsplan erläutert.<br />
4.1 Ausgangslage zur Methodenwahl (V. Abati)<br />
Die für die Masterarbeit gewählte Methodenwahl richtet sich nach dem dafür definierten Modell,<br />
welches einerseits Basis für die Datenerhebung ist und andererseits den Rahmen für die zu<br />
erarbeitenden Massnahmen vorgibt. Ausgangslage für die inhaltlichen Aspekte der einzelnen<br />
Befragungsinstrumente sind die in Kapitel 3 gestellten Fragen sowie die Zielsetzung aus Kapitel 1.1.<br />
Zur besseren Übersicht werden hier nochmals die Fragen und die Zielsetzung aufgeführt.<br />
48
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
1) Welches Erfahrungswissen zum Thema <strong>Integration</strong> (im Sinne gesellschaftlicher<br />
Teilhabe/Partizipation), welche Ressourcen und welches Potenzial zur Selbstorganisation haben<br />
ältere MigrantInnen, die sich für die Altersarbeit und -politik in der Schweiz nutzen lassen?<br />
2) Wie sehen die Frage- und Problemstellungen aus der Perspektive der Altersarbeit und<br />
-politik aus, die den Auftrag hat, für eine nach Herkunft immer heterogener werdende<br />
Altersbevölkerung bedarfsgerechte Dienstleistungen zu erbringen sowie Vertretungen aller<br />
Gruppierungen zu beteiligen?<br />
3) Welche Rahmenbedingungen benötigt es, damit ältere Migrantinnen als AkteurInnen an der<br />
Entwicklung und Umsetzung einer Altersarbeit und -politik im Sinne der politischen Vorgaben<br />
partizipieren können und wollen? Was für ein Modell ermöglicht das Einbringen der Angebote und<br />
der Forderungen nach Partizipation auf der kommunalpolitischen Seite sowie das Einbringen des<br />
eigenen Potenzials und der aktiven Beteiligung auf Seite der MigrantInnen?<br />
Das Modell „<strong>MIGRALTO</strong>“<br />
Das Hauptziele der Forschungsarbeit ist die Entwicklung eines Modells, das auf verschiedenen<br />
Kriterien beruht, die bspw. von der EKM (Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen) für die<br />
Durchführung von Migrationsprojekten gefordert werden (vgl. Anhang A):<br />
- Innovation mit substantiellem Gewinn für die <strong>Integration</strong><br />
- Übertrag- und Kommunizierbarkeit<br />
- Langfristige Wirkung<br />
- Ergänzung, Öffnung von Regelstrukturen<br />
- Berücksichtigung der Zielgruppe MigrantInnen<br />
Das hier vorgestellte Modell orientiert sich an den<br />
oben genannten Kriterien. Aufgrund der<br />
Bedarfsanalyse wird sich möglicherweise<br />
Handlungsbedarf zeigen, aufgrund dessen das<br />
Modell angepasst oder erweitert werden muss.<br />
Die Hauptpfeiler im Modell sind:<br />
- Information<br />
- Kompetenzerweiterung<br />
- Partizipation<br />
Als sich gegenüber stehende Hauptakteure wurden<br />
staatliche Beteiligte (Gemeinde, Region, Staat, linke<br />
49<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
Information / /<br />
Kommunikation<br />
Kompetenzerweiterung<br />
Partizipation<br />
Abbildung 2: Basismodell <strong>MIGRALTO</strong> -<br />
Partizipation der älteren MigrantInnen<br />
blaue Säule) sowie die entsprechende Ziel- resp. Bevölkerungsgruppe (konkret für die<br />
Forschungsarbeit die ältere italienische MigrantInnengruppe, rechte blaue Säule) definiert.<br />
Zielgruppe / Bevölkerung<br />
Zielgruppe / Bevölkerung
Tabelle 2: Felder im Modell <strong>MIGRALTO</strong><br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Information Soll Partizipation funktionieren, muss Information und Kommunikation<br />
zwingend als Zweiweg-Strategie angelegt sein. Das gegenseitige Wissen<br />
über Erwartungen, Bedürfnisse und Ziele ist Basis für bedarfsgerechte<br />
Massnahmen und Aktivitäten.<br />
Kompetenzerweiterung Als Kompetenzerweiterung ist hier gemeint: Vermitteln von Wissen und<br />
Fähigkeiten, Fördern von Fähigkeiten, Einbringen und Fördern von<br />
Ressourcen. Im Weiteren werden darunter auch der Austausch und die<br />
Diskussion zu gegenseitigen Vorstellungen und Erfahrungen im Bereich<br />
Menschen- und Grundrechte oder demokratische Prinzipien verstanden.<br />
Auch hier gilt die Maxime der Zweiweg-Strategie im Sinne von Reziprozität.<br />
Was können/müssen ältere MigrantInnen aus Sicht der Gemeinde lernen?<br />
Was können/sollten die Gemeinden von den älteren MigrantInnen lernen?<br />
Partizipation Partizipation umfasst die oben definierten Stufen: Information – Mitwirkung<br />
(i.S. von Mitsprache) – Mitentscheid – Selbstverwaltung. Das Modell baut<br />
auch in Bezug auf diese vier Stufen auf der Reziprozität auf. Notwendige<br />
Rahmenbedingungen für den angestrebten gegenseitigen<br />
Partizipationsprozess werden definiert und in der Umsetzung auf ihre<br />
Tauglichkeit hin überprüft. (Willener, 2007)<br />
Gemeinde / Region Die AkteurInnen aus Behörden und Institutionen sind im Modell als aktive<br />
Beteiligte integriert. Sie müssen Klarheit schaffen in Bezug auf:<br />
- Forderungen / Anforderungen an die älteren MigrantInnen<br />
- Erwartungen an diese<br />
- die eigene Rolle im Prozess und Projekt <strong>MIGRALTO</strong><br />
Zielgruppe / Bevölkerung Die älteren MigrantInnen müssen umgekehrt definieren:<br />
- welche Bedürfnisse sie haben<br />
- welche Erwartungen sie haben<br />
- welche Zielsetzungen in Bezug auf Partizipation sie haben<br />
- welche Bereitschaft und Ressourcen sie mit- resp. einbringen.<br />
4.2 Methodenwahl und Instrumente (V. Abati und H. Hungerbühler)<br />
In Kapitel 4.1 wird aufgezeigt, dass es in der Forschungsarbeit verschiedene AkteurInnen einzube-<br />
ziehen gilt, nämlich einerseits die staatlichen Institutionen und andererseits die exemplarische<br />
MigrantInnengruppe der älteren ItalienerInnen. Dazu werden folgende Erhebungsmethoden mit einem<br />
thematisch unterschiedlichen Fokus (siehe Fragen in Punkt 1 bis 3) genutzt:<br />
1. Schriftliche Befragung bei den Altersbeauftragten und den <strong>Integration</strong>sdelegierten: Wurde bereits<br />
etwas zum Thema Alter und Migration gemacht? Wenn ja, welche Aktivitäten? Was war<br />
erfolgreich? Was nicht? Zusätzlich zur schriftlichen Befragung sind stichprobenweise Telefonge-<br />
spräche geplant, um bestimmte Aspekte aus den quantitativen Ergebnissen qualitativ zu<br />
vertiefen.<br />
50
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2. Fokusgruppen: Einmal mit VertreterInnen aus staatlichen Institutionen und einmal mit<br />
VertreterInnen aus italienischen Migrantenorganisationen: Wie gelingt aus der jeweiligen Sicht<br />
Partizipation von (älteren MigrantInnen)? Welche Strukturen und Gefässe gibt es, resp. benötigt<br />
es? Welche Erfahrungen haben sie mit Beispielen der Good Practice? Wie können Partizipations-<br />
prozesse gelingen? Welche Rahmenbedingungen sind notwendig? Welche, Forderungen und<br />
Erwartungen bestehen gegenseitig?<br />
3. Einzelinterviews mit italienischen MigrantInnen: Welche Bedürfnisse und Ressourcen haben sie<br />
für das Leben nach der Pensionierung, insbesondere welche Bedürfnisse nach Mitsprache und<br />
Mitgestaltung im Sinne einer aktiven Bürgerschaft und nach den Prinzipien einer Betroffenen-<br />
und Territorialdemokratie? Welche Formen/Varianten der Partizipation erachten sie als<br />
bedarfsgerecht?<br />
4.2.1 Die Instrumente der Datenerhebung (V. Abati)<br />
Nachfolgend werden die eingesetzten Instrumente kurz erläutert:<br />
� Schriftliche Befragung mittels Fragebogen (quantitative Erhebung)<br />
Bei verschiedenen staatlichen AkteurInnen kommen klassische schriftliche Fragebogen zur<br />
Anwendung, welche eine quantitative Auswertung spezifischer Inhalte ermöglichen (Diekmann,<br />
2008).<br />
� Halbstrukturierte Interviews (quantitative und qualitative Erhebung)<br />
Halbstrukturierte Interviews finden in dieser Forschungsarbeit bei den Akteuren auf Seite der<br />
MigrantInnen Anwendung. Es wird ein Fragebogen kreiert, welcher einerseits geschlossene<br />
Fragen beinhaltet, um von den Befragten standardisierte (Auswahl vorgegebener Ant-<br />
wortmöglichkeiten, quantitativer Ansatz, Diekmann, 2008) Antworten zu erhalten. Andererseits<br />
beinhaltet er halboffene Fragen, welche den Befragten den Freiraum eigener Antworten ermöglicht<br />
(qualitativer Ansatz, Mayring, 2002).<br />
� Fokusgruppe<br />
Eine Fokusgruppe ist eine moderierte Gruppendiskussion von 6-10 Personen, die ein im Voraus<br />
festgelegtes Thema zielgerichtet bearbeitet. Die Diskussion dauert in der Regel 1-2 Stunden. In der<br />
Gesundheitsförderung und Prävention werden Fokusgruppen realisiert, um Rückmeldungen zu<br />
allen Phasen der Planung und Durchführung eines Projekts von Personen aus der Zielgruppe zu<br />
erhalten (Dürrenberger und Behringer, 1999).<br />
Die Stärke der Fokusgruppe ist, dass sich ein Projekt in relativ kurzer Zeit über die Sicht der<br />
Zielgruppe auf ein Problem oder eine (geplante) Intervention informieren und dabei auch Einblicke<br />
in die Lebenswelt der Zielgruppe gewinnen kann. Die Fokusgruppe ist eine Methode aus der<br />
Marktforschung, die international auch im Gesundheits- und Sozialwesen breite Anwendung findet.<br />
51
Überblick über die Arbeitsschritte<br />
1. Festlegen eines Themas für die Diskussion<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2. Entwicklung eines Leitfadens für die Diskussion<br />
3. Organisation eines Ortes<br />
4. Zusammensetzung der Gruppe festlegen<br />
5. Personen aus der Zielgruppe für die Teilnahme an der Fokusgruppe gewinnen<br />
6. Durchführung der Diskussion (Moderation und Festhalten der Ergebnisse)<br />
7. Auswertung der Ergebnisse<br />
52
4.3 Untersuchungsplan (V. Abati)<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Im Überblick sieht der Untersuchungsplan für die Datenerhebung wie folgt aus:<br />
Alle Instrumente werden in Anlehnung<br />
an das Arbeitsmodell erarbeitet. Die<br />
Datenerhebung orientiert sich dabei<br />
an den Pfeilern Information –<br />
Kommunikation – Kompetenz-<br />
erweiterung - Partizipation<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
Information / /<br />
Kommunikation<br />
Kompetenzerweiterung<br />
Partizipation<br />
Zielgruppe / Bevölkerung<br />
Zielgruppe / Bevölkerung<br />
Tabelle 3: Untersuchungsplan<br />
Akteure Instrument Stichprobe<br />
Staatliche Akteure<br />
Altersbeauftragte schriftlicher Fragebogen alle dem Netzwerk der Altersbeauftragten der Gemeinden<br />
angehörenden Altersbeauftragten<br />
(64 Mitglieder)<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte, inkl.<br />
Fachstellen<br />
ExpertInnengruppe „Alter<br />
und Migration“ Stadt u.<br />
Kanton Bern<br />
Akteure auf Migrantenseite<br />
Migrantinnen und Migranten<br />
(62/65 Jahre+)<br />
schriftlicher Fragebogen alle dem Netzwerk der <strong>Integration</strong>sdelegierten der<br />
Gemeinden u. Kantone angehörenden<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten<br />
(65 Mitglieder)<br />
Fokusgruppe Gruppenzusammensetzung aus Gemeinde- oder<br />
InstitutionsvertreterInnen (8 bis 12 TN)<br />
Einzel-Interviews anhand<br />
halbstrukturierter Interview-<br />
Fragebogen (kombinierter<br />
quantitativer und qualitativer<br />
Ansatz)<br />
53<br />
geplant sind 20 oder mehr Einzelinterviews mit<br />
MigrantInnen italienischer Herkunft<br />
MigrantInnen-Organisationen Fokusgruppe Gruppenzusammensetzung aus Mitgliedern folgender<br />
Bereiche (8 bis 12 TN):<br />
- Kirche / Religion<br />
- Bildungsinstitutionen<br />
- Vereine / Vereinigungen<br />
- Gewerkschaften<br />
- weitere
4.4 Durchführung der Datenerhebung (V. Abati)<br />
Vor der konkreten Erarbeitung und Planung der einzelnen Instrumente wurde von den Autorinnen<br />
entschieden, einige Hauptbegriffe für die Fragekomplexe zu definieren, um einerseits eine klare<br />
Beschränkung des Fragegegenstandes zu erreichen und um andererseits eine grössere<br />
Vergleichbarkeit der Daten zwischen den verschiedenen befragten Gruppen zu erzielen.<br />
Ausgehend von den Forschungsfragen in Kapitel 3.1 und ausgehend von den verschiedenen<br />
Perspektiven, welche für die Datenerhebung definiert wurden, wurden induktiv verschiedene<br />
Themenbereiche abgeleitet. In den folgenden Quadranten sind diese Bereiche ersichtlich und den<br />
verschiedenen Befragungsgruppen (Perspektiven) zugeordnet. In der Folge werden diese<br />
Themenbereiche ‚Hauptbegriffe„ genannt.<br />
Tabelle 4: Definition Hauptbegriffe<br />
VertreterInnen aus Migrantenorganisationen<br />
- <strong>Integration</strong>sleistung<br />
- Gefässe und Strukturen<br />
- Bedingungen<br />
- Erwartungen und Forderungen<br />
- Wie erleben sie die Behörden bez. Partizipation<br />
- Bedürfnisse / Bedarf<br />
- Was wünschen sie sich bez. <strong>Integration</strong> und<br />
Partizipation<br />
- Ressourcen (personelle und institutionelle)<br />
- Formen und Varianten, Mittel für Partizipation<br />
ExpertInnengruppe<br />
- <strong>Integration</strong>sbestrebungen<br />
- Gefässe und Strukturen<br />
- Erwartungen / Forderungen<br />
- Bedarf<br />
- Ressourcen<br />
- Bedingungen<br />
- Formen und Varianten, Mittel für Partizipation<br />
Perspektive der MigrantInnen<br />
54<br />
Einzelinterviews ältere MigrantInnen<br />
- bisherige Partizipation / Partizipationserfahrung<br />
- Verständnis von Partizipation<br />
- Erwartungen<br />
- Ressourcen (personelle)<br />
- Bedarf<br />
- Bedingungen für Parizipation<br />
- Gefässe und Strukturen<br />
Perspektive der staatlichen VertreterInnen<br />
<strong>Integration</strong>s- und Altersbeauftragte / Gemeinden<br />
- Was wurde bisher bez. Partizipation in der<br />
Gemeinde gemacht?<br />
- Was war erfolgreich, was nicht?<br />
- Strukturen / Gefässe<br />
- Ressourcen<br />
- Bedarf<br />
- Erwartungen / Forderungen<br />
- Bedingungen<br />
Aus diesem Raster ergeben sich folgende Hauptbegriffe, die auch für die Zuordnung der Antworten für<br />
die Datenauswertung Anwendung finden werden:<br />
- Bedürfnisse / Bedarf / Wünsche<br />
- Erwartungen / Forderungen<br />
- Ressourcen<br />
- Bedingungen<br />
- Strukturen / Gefässe (inkl. Formen und Varianten, Mittel)<br />
- Hindernisse und Hürden
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Basierend auf der Definition dieser Hauptbegriffe wurden nun die einzelnen Instrumente<br />
ausgearbeitet. Dies betrifft im Konkreten die Fragekomplexe für die Fragebogen zur Onlinebefragung<br />
der <strong>Integration</strong>s- und Altersbeauftragten, jene für den Interviewleitfaden für die Interviews mit den<br />
älteren MigrantInnen sowie jene für die Diskussion in den beiden Fokusgruppen (VertreterInnen des<br />
Altersbereichs von Stadt und Kanton Bern und VertreterInnen aus MigrantInnenorganisationen der<br />
Stadt Bern).<br />
Im Folgenden werden Organisation und Durchführung der einzelnen Erhebungsschritte skizziert.<br />
4.4.1 Durchführung der schriftlichen Befragung der Altersbeauftragten und<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten (H. Hungerbühler)<br />
Um eine umfassende Übersicht zu erhalten, ob und wie Gemeinden und Kantone mit der in dieser<br />
Arbeit interessierenden Zielgruppe „ältere MigrantInnen“ konfrontiert sind, wurden kommunale und<br />
kantonale Fachpersonen, die mit der Förderung der <strong>Integration</strong> bzw. Partizipation von älteren<br />
Menschen und MigrantInnen beauftragt sind, schriftlich befragt. Im November 2010 erhielt die Autorin<br />
dieses Kapitels seitens der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG) die Gelegenheit, an<br />
einem Treffen des schweizweiten Netzwerks der Altersbeauftragen das Projekt der Masterarbeit sowie<br />
die geplante Datenerhebung vorzustellen. Parallel dazu präsentierten die Autorinnen das Vorhaben<br />
auch im Nationalen Forum Alter und Migration (www.alter-migration.ch), in dem nebst anderen<br />
nationalen Akteuren auch die Konferenz der <strong>Integration</strong>sdelegierten (KID) vertreten ist. Beide Gremien<br />
begrüssten die Themenwahl der vorliegenden Masterarbeit, die sie als politisch und praktisch relevant<br />
einstuften, und sagten ihre ideelle Unterstützung für das Vorhaben zu. Die Adressen der im nationalen<br />
„Netzwerk der Altersbeauftragten“ organisierten Personen erhielten wir von der Geschäftsstelle der<br />
Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG), diejenigen der <strong>Integration</strong>sdelegierten und<br />
Fachstellen <strong>Integration</strong> vom Sekretariat der Schweizerischen Konferenz der kantonalen und<br />
kommunalen <strong>Integration</strong>sdelegierten (KID). Mit einem umfangreichen, mehrheitlich quantitativ<br />
angelegten und somit strukturierten Fragebogen (vgl. im Anhang F integriert), der jedoch auch die<br />
Möglichkeit zu inhaltlichen Kommentaren enthält, wurden insgesamt 129 Personen, darunter 64<br />
Altersbeauftragte und 65 <strong>Integration</strong>sdelegierte, schriftlich befragt. Der Fragebogen wurde in die<br />
französische Sprache übersetzt, um auch die Beauftragten und Delegierten in der Romandie<br />
anzusprechen. Um die Befragung möglichst niederschwellig zu gestalten, wurde sie im online-<br />
Befragungsinstrument www.surveymonkey.com installiert. Dies erlaubte eine effiziente Erfassung der<br />
Daten, den Transfer ins SPSS-Statistikprogramm und eine entsprechend einfachere Auswertung der<br />
gewonnenen Antworten nach absoluten Häufigkeiten (Anzahl Antworten = N) und nach prozentualer<br />
Verteilung der Antworten (Diekmann, 2008).<br />
Übergeordnetes Ziel der elektronischen Befragung war die Erhebung der aktuellen Situation, der<br />
bisherigen Erfahrungen und Bemühungen sowie des geltend gemachten Bedarfs im Bereich der<br />
‚Partizipation älterer MigrantInnen auf kantonaler und kommunaler Ebene„. Da dieses Thema in der<br />
Schweiz noch kaum beforscht ist, wählten die Autorinnen ein exploratives Vorgehen.<br />
55
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Das hauptsächliche Ziel der Befragung ist somit die Erkundung des Themas und dessen<br />
Wahrnehmung seitens der befragten Fachpersonen.<br />
Die Erhebung richtete sich dabei an zwei Zielgruppen, die seitens des Staates (Kantone/Gemeinden)<br />
den politischen Auftrag haben, die <strong>Integration</strong>/Partizipation bestimmter Gruppen innerhalb der<br />
kantonalen/kommunalen Wohnbevölkerung zu fördern/stärken. Es sind dies:<br />
a. Die Altersbeauftragten der Gemeinden, deren Zielgruppe die älteren Menschen sind<br />
b. Die kantonalen und kommunalen <strong>Integration</strong>sdelegierten, deren Zielgruppe Migrantinnen und<br />
Migranten sind.<br />
Der Fragebogen (integriert im Anhang F) wurde gemäss Erkenntnisinteresse in vier thematische<br />
Blöcke aufgeteilt:<br />
I. Alterspolitik/-arbeit/<strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit in der Gemeinde/im Kanton: Ältere MigrantInnen<br />
als Zielgruppe?<br />
II. Information/Kommunikation gegenüber der Zielgruppe ältere MigrantInnen?<br />
III. <strong>Integration</strong> im Sinne von Partizipation, d.h. ältere Migrantinnen „reden mit, entscheiden mit,<br />
gestalten mit“ (Erwartungen, Bedarf, Hürden, erfolgreiche Faktoren, Mittel,<br />
Rahmenbedingungen, Ressourcen, etc.)?<br />
IV. Diversitätsgerechte Alterspolitik/-arbeit u. altersgerechte <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit?<br />
Die beiden Gruppen „Altersbeauftragte der Gemeinden“ und „Kantonale/Kommunale<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte“ wurden getrennt befragt, da sie in ihrer unterschiedlichen Funktion<br />
angesprochen werden sollten und daher der Wortlaut, nicht jedoch der Inhalt der Fragen, leicht<br />
angepasst werden musste (z.B. ‚Alterspolitik„ versus ‚<strong>Integration</strong>spolitik„, ‚Altersleitbilder„ versus<br />
‚<strong>Integration</strong>sleitbilder„ etc.: vgl. Anhang F). Um den Anhang F umfangmässig zu begrenzen, werden<br />
die beiden Fragebogen komprimiert in ein- und demselben Tabellenraster dargestellt und gleich mit<br />
den Antwortwerten ergänzt. Somit ist die Auswertung der Antworten beider Befragungsgruppen auch<br />
vergleichend möglich. Auch wenn ein Gruppenvergleich nicht unserem primären Erkenntnisinteresse<br />
entspricht, gehen wir davon aus, dass er Ergebnisse dazu liefern kann, wo das Thema „Partizipation<br />
der älteren Migrationsbevölkerung“ bei den beiden Befragungsgruppen als VertreterInnen ihrer<br />
Kantone und Gemeinden steht und wie es gehandhabt wird. Dadurch soll ein Einblick ermöglicht<br />
werden in die Erfahrungspraxis der Kantone und Gemeinden mit ihrer Alterspolitik/-arbeit bzw.<br />
<strong>Integration</strong>spolitik-/arbeit bezüglich der Zielgruppe „ältere Migrationsbevölkerung“ (= MigrantInnen ab<br />
Pensionierungsalter). Ebenfalls aus Gründen der Umfangbeschränkung des Anhangs wird darauf<br />
verzichtet, die in die französische Sprache übersetzten Fragebogen ebenfalls abzubilden. Sie können<br />
bei Bedarf separat eingesehen werden.<br />
56
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Wir haben uns dafür entschieden, mit vorgegebenen Antwortkategorien zu arbeiten. Diese wurden<br />
aufgrund einschlägiger Literatur (Soom Ammann & Salis Gross, 2011; Bisegger & Hungerbühler,<br />
2008) und Erfahrungen aus der Praxis (Hungerbühler, 2010) mit der genannten Zielgruppe gebildet.<br />
Ziel war es, ein Bild davon zu erhalten, wie die Befragten diese Kategorien in ihrem Aufgabenbereich<br />
und auf der Grundlage ihres Auftrags bewerten. Der Fragebogen (vgl. Anhang F) gibt zu jeder Frage<br />
mehrere Antwortkategorien vor, die mit Zustimmung „ja“, Ablehnung „nein“ oder im Falle der<br />
Unkenntnis mit „weiss nicht“ beantwortet werden müssen. Pro Antwortkategorie ist immer nur eine<br />
Antwort möglich. In der Regel ist bei jeder Frage auch eine unbestimmte Antwortkategorie „Andere“<br />
enthalten. Wenn diese angekreuzt wurde, gab es die Möglichkeit für einen Kommentar zur Frage<br />
„Wenn andere, welche?“. Im Weiteren konnten die Befragten ihre Bereitschaft zu einem zusätzlichen<br />
kurzen Telefoninterview erklären (vgl. Frage 42 im Erhebungsbogen im Anhang F sowie unter dem in<br />
diesem Kapitel folgenden Punkt „Methodik der telefonischen Nachfassung“).<br />
Am Ende des Fragebogens (vgl. Frage 48 im Anhang F) erhielten die Befragten schliesslich die<br />
Gelegenheit, einen inhaltlichen Kommentar anzufügen oder Erfahrungen zum Thema weiterzugeben.<br />
Der Fragebogen ist so aufgebaut, dass nicht für alle Fragen eine Antwort erzwungen wurde, sondern<br />
je nach Verneinung einer grundsätzlichen Frage die logischen Folgefragen übersprungen werden<br />
konnten.<br />
Ein Entwurf des Fragebogens wurde in einem Pretest mit drei Personen geprüft, davon mit zwei,<br />
welche zu den beiden Zielgruppen der Befragung, den Altersbeauftragten“ und den<br />
„<strong>Integration</strong>sdelegierten“, gehören. Die rückgemeldeten Kritikpunkte wurden in der Überarbeitung zur<br />
definitiven Version des Fragebogens berücksichtigt.<br />
Methodik der telefonischen Nachfassung<br />
Um die in der schriftlichen online-Befragung gewonnenen, hauptsächlich standardisierten Antworten<br />
mit der Generierung qualitativer Daten zu ergänzen und zu differenzieren, wurde im Erhebungsbogen<br />
(Frage 42, im Anhang F) die Bereitschaft der Antwortenden abgeklärt, sich bei Bedarf für ein<br />
zusätzliches Telefoninterview zur Verfügung zu stellen. Erfreulicherweise war rund die Hälfte (= Total<br />
42 Personen) zu einem Gespräch bereit. Um den Aufwand im vorgegebenen Rahmen dieser<br />
Masterarbeit in Grenzen zu halten, haben wir uns für ein quantitativ beschränktes, stichprobeartiges<br />
Vorgehen mit insgesamt 16 Telefoninterviews von durchschnittlich 15 Minuten entschieden.<br />
Die Auswahl der GesprächspartnerInnen wurde nach folgenden Kriterien getroffen:<br />
1. Paritätische Vertretung aus beiden Befragungsgruppen (Altersbeauftragte und<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte)<br />
2. Sowohl kleine Landgemeinden als auch grosse Stadtgemeinden/-kantone<br />
3. Relativ viel Auseinandersetzung mit Thema / relativ wenig Auseinandersetzung mit Thema<br />
57
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
4. Im Fragebogen wurden spezifische Bemühungen/Projekte mit der Zielgruppe ältere<br />
MigrantInnen erwähnt (mögliche Hinweise für zu multiplizierende good practice)<br />
Den InterviewpartnerInnen stellten wir folgende drei offene und bewusst allgemein gehaltene Fragen.<br />
Wir wollten Ihnen viel Raum für eigene Ausführungen lassen, um qualitative Daten zu generieren.<br />
1. Was beobachten Sie zur Situation älterer MigrantInnen in Ihrer Gemeinde/Ihrem Kanton?<br />
2. Wie wird in Ihrer Gemeinde/Ihrem Kanton mit dieser Zielgruppe umgegangen?<br />
3. Was würden Sie wichtig finden bezüglich Partizipation der älteren MigrantInnen?<br />
Die Telefongespräche wurden nicht wortgetreu transkribiert, sondern während der Durchführung mit<br />
Notizen aufgezeichnet. Diese wurden gleich anschliessend nach den meist genannten Themen in<br />
groben Tendenzen zusammengefasst und dargestellt. Die so gewonnenen Daten dienen in der<br />
vorliegenden Arbeit als zusätzliche Informationen zu den Ergebnissen der schriftlichen Befragung (vgl.<br />
Kapitel 5.2.2).<br />
4.4.2 Durchführung der Fokusgruppe mit VertreterInnen von<br />
Altersinstitutionen und –organisationen von Stadt und Kanton Bern<br />
(H. Hungerbühler)<br />
Die der Durchführung der Fokusgruppen zugrunde liegende Methodik wurde bereits in Kapitel 4.2.1<br />
beschrieben und wird daher an dieser Stelle nicht mehr wiederholt. Die Fokusgruppendiskussionen<br />
mit den VertreterInnen von Altersinstitutionen und –organisationen von Stadt und Kanton Bern sowie<br />
mit den VertreterInnen der italienischen MigrantInnenorganisationen (vgl. Kapitel 4.4.4) wurden<br />
bezüglich Form und Ablauf gemeinsam besprochen und definiert.<br />
Wie bei der Fokusgruppe mit den italienischen MigrantInnenorganisationen war das Ziel der hier<br />
beschriebenen Fokusgruppe mit den Altersinstitutionen und –organisationen von Stadt und Kanton<br />
Bern, Themen der in Kapitel 4.4 definierten Hauptbegriffe zu konkretisieren und die Teilnehmenden<br />
mit den Ergebnisse aus der elektronischen Befragung der kommunalen Altersbeauftragten sowie der<br />
kantonalen und kommunalen <strong>Integration</strong>sdelegierten und –fachstellen einerseits sowie mit den<br />
Ergebnissen aus den 22 Interviews mit den älteren italienischen MigrantInnen und aus der<br />
Fokusgruppe mit den italienischen MigrantInnenorganisationen anderseits zu konfrontieren.<br />
Der Diskussionsleitfaden enthielt folgende fünf Fragebereiche (vgl. Anhang C):<br />
1. Was ist aus Sicht der ExpertInnen aus dem Altersbereich zu berücksichtigen, um ältere<br />
MigrantInnen erfolgreich zu erreichen und für die aktive Partizipation zu gewinnen? Mittel der<br />
Information/Kommunikation? (Gelingen diese? Was wäre aufgrund der bisherigen<br />
Erfahrungen zu optimieren?)<br />
58
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
2. Als ExpertInnen im Altersbereich haben Sie den Auftrag, die Partizipation der<br />
Altersbevölkerung, also auch der älteren Migrantinnen und Migranten zu fördern. Wo und wie<br />
(konkrete Beiträge) wünschen Sie sich die Partizipation von älteren MigrantInnen? Wo und<br />
wie ermöglicht Ihre Gemeinde/Institution/Organisation diese Partizipation<br />
(Rahmenbedingungen)?<br />
3. Was sind aus Sicht der ExpertInnen aus dem Altersbereich die Faktoren für eine erfolgreiche<br />
Partizipation der älteren MigrantInnen? Wie lassen sich diese in der Praxis umsetzen? Gibt es<br />
dazu good practice-Erfahrungen aus Bern? Worauf ist nicht gelingende Partizipation<br />
zurückzuführen? (Schranken/Hürden)<br />
4. Welche Faktoren gehören für Sie zu einer diversitätsgerechten Alterspolitik und –arbeit, die<br />
auch älteren MigrantInnen gerecht wird? (Strategie, Ziele, Strukturen, Mittel, etc.?) Können<br />
Sie aufgrund Ihrer Erfahrung good practice-Beispiele nennen?<br />
5. Wie denken Sie, kann konkret ein bidirektionales, wechselseitiges Partizipationsverständnis<br />
umgesetzt werden? Was muss hierzu seitens der Gemeinde und ihrer Institutionen und<br />
PartnerInnen (NGO, etc.) konkret geleistet werden und was ist seitens der<br />
Migrationsorganisationen, ihrer Kontaktpersonen sowie der älteren MigrantInnen im<br />
Allgemeinen beizutragen?<br />
Die Wahl des Veranstaltungsorts fiel auf einen geräumigen und zentral gelegenen Sitzungsraum der<br />
Bernischen Stadtbehörden.<br />
Die 11 zur Teilnahme an der Fokusgruppe eingeladenen Personen wurden nach den Kriterien<br />
„berufliche Funktion im Alters- und <strong>Integration</strong>sbereich bei einer Behörde von Stadt und Kanton Bern<br />
oder bei einer im Raum/Kanton Bern lokalisierten Altersinstitution/-organisation“ und „Vertretung<br />
beider Geschlechter“ ausgewählt. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus den Mitgliedern der die<br />
Stadt Bern beratende und vom Alters- und Versicherungsamt der Stadt Bern (AVA) geleiteten<br />
Arbeitsgruppe Alter und Migration. Ergänzend wurden noch weitere ExpertInnen aus dem Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>sbereich eingeladen.<br />
2 Personen mussten sich wegen unvorhergesehener Terminkollision kurzfristig entschuldigen lassen.<br />
Die definitive Gruppenzusammensetzung von Total 9 Personen präsentierte sich wie folgt:<br />
- 7 Frauen, 2 Männer<br />
- Vertretene Institutionen/Organisationen: Rat für Seniorinnen und Senioren der Stadt Bern,<br />
Caritas Bern (Projekt Migration und Alter), Schweizerisches Rotes Kreuz des Kantons Bern<br />
(Projekt Gesundheitsförderung mit älteren MigrantInnen), Pro Senectute der Region Bern,<br />
Spitex Bern, Domicil Bern, Alters- und Versicherungsamt der Stadt Bern (AVA),<br />
Kompetenzzentrum <strong>Integration</strong> Stadt Bern, Fachstelle Sozialarbeit der Missione Cattolica<br />
Italiana Biel<br />
59
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die Institutions- und OrganisationsvertreterInnen wurden in einem ersten Schritt telefonisch<br />
kontaktiert. Dabei wurde auf die Leiterin der städtischen Arbeitsgruppe Alter und Migration verwiesen,<br />
die uns die Adressen vermittelt hatte. Die angefragten ExpertInnen wurden kurz über Sinn und Zweck<br />
der geplanten Fokusgruppe informiert. Im Weiteren wurde ihnen das Ziel sowie der thematische und<br />
methodische Rahmen unserer Masterarbeit vorgestellt. Nach erfolgter Terminumfrage und<br />
-festlegung, wurden sämtliche Angefragte schriftlich eingeladen. Zudem erhielten sie eine kurze<br />
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse aus der elektronischen Befragung der kommunalen<br />
Altersbeauftragten/kommunalen und kantonalen <strong>Integration</strong>sdelegierten, damit sie sich bereits<br />
vorgängig zur Fokusgruppe damit vertraut machen konnten.<br />
Sämtliche Angefragten, die am 25. Mai 2011 verfügbar waren, sagten spontan und für unser<br />
Diskussionsthema motiviert ihre Teilnahme zu.<br />
Die Fokusgruppe wurde von der Autorin dieses Kapitels moderiert und nach dem zuvor definierten<br />
Ablauf durchgeführt. In einem ersten Schritt wurden die wichtigsten Aspekte der Masterarbeit<br />
vorgestellt, d.h. die Forschungsidee, die Zielsetzung, die Fragestellung sowie der methodische<br />
Untersuchungsplan. In einem zweiten Schritt wurde dann zu Ziel und Inhalt der Fokusgruppe<br />
übergeleitet, welche einen Teil des Untersuchungsplans bzw. der Datenerhebung bilden. Im dritten<br />
Schritt wurde mit der Diskussionsrunde gestartet. Den Teilnehmenden wurden die formalen Kriterien<br />
einer Fokusgruppe erklärt und sie wurden gebeten, sich an die damit verbundenen Regeln zu halten:<br />
- Unterzeichnung der Einverständniserklärung (vgl. Anhang B), dass die Diskussion auf<br />
Tonband aufgezeichnet und anschliessend transkribiert werden darf, unter Zusicherung der<br />
Autorinnen, dass die Daten anonymisiert und ausschliesslich für den Zweck der Masterarbeit<br />
verwendet werden (nach Abschluss der Studie: Löschen der Aufzeichnung).<br />
- Einigung auf die Definition von Partizipation, wie sie in der vorliegenden Arbeit verwendet wird<br />
(die Definition wurde allen Teilnehmenden schriftlich abgegeben und war während der ganzen<br />
Diskussionsdauer präsent).<br />
- Es spricht jeweils nur eine Person, um eine gute Qualität der Tonbandaufnahme für die<br />
Diskussionstranskription zu sichern.<br />
Mit den 9 Teilnehmenden wurden in der Folge fünf Fragebereiche, die aus den bereits durchgeführten<br />
Befragungen mit den GemeindevertreterInnen und den älteren MigrantInnen abgeleitet wurden,<br />
intensiv diskutiert. Zudem präsentierte die Moderatorin ihnen die Ergebnisse aus diesen Befragungen<br />
und bat sie um ihren Kommentar dazu (Anhang C).<br />
Zum Abschluss der Diskussionsrunde wurden die Teilnehmenden gebeten, im Sinne einer<br />
Zusammenfassung zu folgenden Bereichen ihre Massnahmenvorschläge auf Moderationskarten zu<br />
notieren: Partizipation(sprozess), Ressourcen/Potenziale/Kompetenzen, Erwartungen/Forderungen,<br />
Rahmenbedingungen/Strukturen.<br />
60
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Für die anschliessende Auswertung wurden die erhobenen Daten und Erkenntnisse aus der<br />
Diskussion folgendermassen erfasst:<br />
- Tonbandaufzeichnung der gesamten Diskussion, anschliessende wortgetreue Transkription<br />
- Verfassen eines Prozessprotokolls<br />
- Festhalten der Massnahmenvorschläge auf separaten Moderationskarten und anschliessende<br />
Transkription in ein zusammenfassendes Dokument<br />
- Bei der Textanalyse der transkribierten Fokusgruppendiskussion wurde ein induktives Vorgehen<br />
gewählt, das die Erarbeitung generalisierter Themenschwerpunkte ermöglicht, d.h. es wurde nach<br />
einer Häufung ähnlicher Aussagen gesucht, die einen übergeordneten Konsens ergeben.<br />
Die Ergebnisse der Fokusgruppe werden im Kapitel 5.2.3 dargestellt.<br />
4.4.3 Durchführung der Einzelinterviews mit italienischen MigrantInnen (V. Abati)<br />
In einem ersten Schritt wurde der Fragebogen (Interviewleitfaden) entwickelt, der neben sozio-<br />
demografischen Daten auch die Erfassung verschiedener qualitativer und quantitativer Aussagen<br />
erlaubt. Ein Exemplar dieses Interviewleitfadens findet sich im Anhang G.<br />
Ziel war es, mindestens 20 Einzelinterviews mit älteren MigrantInnen der italienischen Community in<br />
Bern und Agglomeration zu führen. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte über eine<br />
Namensliste, welche von der FASA (Fachstelle Soziale Arbeit) der Kirchgemeinde St. Antonius in<br />
Bern zur Verfügung gestellt wurde. Bei der Auswahl der Stichprobe wurde darauf geachtet, dass<br />
sowohl männliche wie weibliche InterviewpartnerInnen in ähnlicher Anzahl und dass alle<br />
Altersgruppen von 65 bis 85 vertreten waren.<br />
Die Personen wurden telefonisch kontaktiert und nach einer kurzen Erklärung über Ziel und Zweck der<br />
Interviews wurde ein Termin für ein persönliches Gespräch ausgemacht. Alle kontaktierten Personen<br />
wurden jeweils gefragt, ob sie weitere Personen kennen würden, die Interesse hätten, diese Arbeit mit<br />
einem Gespräch zu unterstützen. Dadurch wurde der Kreis der möglichen InterviewpartnerInnen<br />
deutlich erweitert und führte zu einer grösseren Zufälligkeit innerhalb der Stichprobe.<br />
Nur wenige der kontaktierten Personen lehnten ein Interview ab. Der Umstand, dass bei der<br />
Kontaktaufnahme auf eine bekannte Person verwiesen werden konnte (entweder Herausgeber der<br />
Namensliste oder die Empfehlung von Bekannten, die ebenfalls mitgemacht hatten), führte dazu, dass<br />
die Angefragten sehr offen waren für das Anliegen und rasch Bereitschaft zeigten, ebenfalls<br />
mitzumachen.<br />
Im Zeitraum vom 21. Februar bis 20. April 2011 wurden insgesamt 22 Interviews durchgeführt; die<br />
meisten zu Hause bei den älteren MigrantInnen, einige an einem öffentlichen Ort (z.B. Casa d‟Italia in<br />
Bern). Die ersten beiden Interviews wurden im Sinne eines Pre-Test durchgeführt, um zu prüfen, ob<br />
die Fragen verständlich und beantwortbar waren, und um zu prüfen, ob ein Interview innerhalb der<br />
61
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
vorgesehenen Zeit von 40 bis 60 Minuten durchgeführt werden konnte. Alle Interviews wurden auf ein<br />
Diktiergerät aufgenommen und von da in ein elektronisches Dokument transkribiert. Vor der<br />
Durchführung der Interviews wurden alle Personen gebeten, eine Einverständniserklärung zu<br />
unterzeichnen (vgl. Anhang D), die auch einen Hinweis darauf enthielt, dass alle Daten ausschliesslich<br />
in anonymisierter Form verwendet würden.<br />
Der halbstrukturierte Fragebogen enthielt einen separaten Block zu sozio-demografischen Angaben<br />
der Teilnehmenden. Der zweite Teil enthielt insgesamt 16 Fragen, davon waren mehrere Fragen<br />
quantitativ gestellt mit der zusätzlichen Möglichkeit, diese Fragen zu kommentieren. Die Auswertung<br />
erfolgt deshalb getrennt in zwei Schritten (siehe unten).<br />
Für die Auswertung wurde allen Interviews ein individueller Code zugewiesen. Dieser setzt sich wie<br />
folgt zusammen: I für Interview – 1 als fortlaufende Nummerierung / Anfangsbuchstabe des<br />
Nachnamens und Anfangsbuchstabe des Vornamens (Beispiel: I-1 / A.C.).<br />
Tabelle 5: Aufstellung der Interview-PartnerInnen<br />
Code Geb.Datum Alter Sex Datum Dauer Bemerkung<br />
Interview Min.<br />
I-1 08.10.1936 75 m 17.02.2011 48<br />
I-2 24.04.1931 80 m 17.02.2011 25 Grosse Mühe, inhaltlich zu folgen<br />
I-3 11.06.1938 73 m 21.02.2011 55<br />
I-4 27.01.1940 71 m 24.02.2011 45<br />
I-5 28.03.1944 67 m 25.02.2011 69<br />
I-6 17.09.1939 72 w 02.03.2011 45<br />
I-7 20.07.1938 73 w 03.03.2011 25<br />
I-8 03.01.1935 76 w 08.03.2011 31<br />
I-9 10.08.1924 87 w 08.03.2011 60<br />
I-10 11.07.1940 71 w 09.03.2011 42<br />
I-11 24.09.1945 66 m 09.03.2011 40<br />
I-12 30.03.1945 66 m 09.03.2011 44<br />
I-13 02.04.1940 71 m 11.03.2011 30<br />
I-14 29.03.1923 88 w 16.03.2011 61 Viele narrative Abweichungen<br />
I-15 25.12.1936 75 m 16.03.2011 32<br />
I-16 14.08.1932 69 m 16.03.2011 32<br />
I-17 16.03.1941 70 m 17.03.2011 35<br />
I-18 04.11.1940 71 m 17.03.2011 42<br />
I-19 20.03.1941 70 w 22.03.2011 27<br />
I-20 04.12.1930 81 m 24.03.2011 33<br />
I-21 14.09.1945 66 m 18.04.2011 35<br />
I-22 01.03.1942 69 w 26.04.2011 16 Pflegt behinderte Tochter, wenig aktiv<br />
Total 872 Durchschnitt pro Interview: 40 Minuten<br />
Aus zeitlichen und sprachlichen Gründen wurde die Transkription der Interviews einer italienisch-<br />
sprachigen Studentin übertragen. Sie wurde in diesen Arbeitsschritt eingeführt und übertrug die<br />
Interviews wortwörtlich vom Tonband in einen Dokumentenraster. So konnten die Daten original in der<br />
Auswertung weiterverarbeitet werden (siehe Kapitel 5.3.1).<br />
Alle handschriftlich ausgefüllten Fragenbogen (sozio-demografische und quantitative Fragen sowie<br />
Bemerkungen der Interviewerin) liegen vollständig vor, werden aber in dieser Arbeit nicht integriert.<br />
Alle Daten sind in aufgearbeiteter Form entweder im Kapitel 5 – Auswertung und Ergebniss oder im<br />
Anhang enthalten.<br />
62
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
4.4.4 Durchführung der Fokusgruppe mit VertreterInnen von italienischen<br />
Migrantenorganisationen (V. Abati)<br />
Wie in Kapitel 4.4.2 beschrieben, wurden die beiden Fokusgruppen (Schweizer VertreterInnen sowie<br />
VertreterInnen italienischer Migrantenorganisationen) in Form und Ablauf gemeinsam und gleich<br />
definiert. Wie bei der Fokusgruppe der Schweizer VertreterInnen war das Ziel der Fokusgruppe mit<br />
den italienischen Migrantenorganisationen, Themen der in Kapitel 4.4 definierten Hauptbegriffe zu<br />
konkretisieren und die Teilnehmenden mit Resultaten aus den Einzelinterviews und aus der Befragung<br />
der <strong>Integration</strong>s- und Altersbeauftragten zu konfrontieren.<br />
Die in der Fokusgruppe gestellten Fragen wurden dabei zuerst aus den vorliegenden Ergebnissen der<br />
Einzelinterviews sowie aus den Ergebnissen der schriftlichen Befragung der staatlichen VertreterInnen<br />
entwickelt.<br />
Der entwickelte Leitfaden enthielt definitiv die folgenden Fragen (vgl. Anhang E):<br />
1. Was gilt es aus Sicht der Mitglieder von Migrantenorganisationen zu berücksichtigen, wenn in<br />
Zukunft die Partizipation von älteren MigrantInnen erfolgreich sein soll? Welche Strukturen und<br />
Formen der Partizipation sind geeignet, um die älteren MigrantInnen zu erreichen?<br />
2. Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ressourcen älterer MigrantInnen und wie können<br />
diese konkret für Partizipation in der Wohngemeinde genutzt werden? Wie können die<br />
MigrantInnen gewonnen werden und was müssen die Gemeinden dabei beachten? Welche<br />
Erfahrungen im Sinne von Good practice haben Sie in der Vergangenheit gemacht?<br />
3. Wie stehen die Migrationsorganisationen zur Haltung der Gemeinden bezüglich Erwartungen/<br />
Forderungen an die MigrantInnen? Welche Erwartungen / Forderungen stellen die<br />
Migrationsorganisationen umgekehrt an die Gemeinden?<br />
4. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass die älteren MigrantInnen bereit sind, sich aktiv (i.S.<br />
von Partizipation) einzubringen? Mit welchen konkreten Mitteln können die Hürden genommen<br />
oder abgebaut werden?<br />
5. Welche Fragen, Anliegen und Vorschläge haben Sie an die VertreterInnen der städtischen Gruppe<br />
neben den diskutierten Aspekten?<br />
Bei der Wahl des Ausführungsortes war klar, dass dieser in den Strukturen der teilnehmenden Gruppe<br />
liegen musste. Es wurde deshalb ein Sitzungszimmer in der Casa d‟Italia, ein in Bern seit Jahrzenten<br />
bekanntes Restaurant und ein Treffpunkt der italienischen Bevölkerung, reserviert.<br />
Die Teilnehmenden wurden nach den Kriterien „Funktion in einer Migrantenorganisation“ und<br />
„Geschlechterverteilung“ ausgewählt. Dabei sollten Migrationsorganisationen verschiedener Bereiche<br />
vertreten sein: Kirche, Bildung, Gewerkschaften und weitere. Die definitive Zusammensetzung der<br />
Gruppe war folgende:<br />
63
- insgesamt 8 Teilnehmende<br />
- 2 Frauen, 6 Männer<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
- vertretene Organisationen: Comitato d‟intesa, FASA, Missione Cattolica Italiana, Patronato ITAL-UIL,<br />
Comitato Cittadino di Berna, S.I.P CGIL, Alter und Migration Köniz, Donne Italiane all‟Estero<br />
Die verschiedenen VertreterInnen wurden telefonisch kontaktiert. Dabei wurde stets auf eine Person<br />
Bezug genommen, die entweder die Liste mit verschiedenen FunktionsträgerInnen zur Verfügung<br />
gestellt hatte, oder auf eine Person, die bereits zugesagt hatte und eine weitere mögliche interessierte<br />
Person angab. Die angefragten Personen wurden kurz über die Idee und das Ziel der Fokusgruppe<br />
informiert und um Teilnahme gebeten. Alle Angefragten, die am 14. Mai verfügbar waren, sagten<br />
spontan und mit grosser Motivation für das Thema zu. Diejenigen, die eine Absage erteilten, waren<br />
am festgelegten Datum nicht verfügbar.<br />
Die Fokusgruppe wurde von der italienisch-sprachigen Autorin geleitet und nach dem zuvor definierten<br />
Ablauf durchgeführt. Das Treffen wurde mit einer ungezwungenen Kaffeerunde und einem ersten<br />
spontanen Austausch zwischen den Teilnehmenden gestartet. Nach dem offiziellen Start wurde ein<br />
kurzer Überblick über die Masterarbeit, die Forschungsidee, die Zielsetzung, die Fragestellungen und<br />
über den Untersuchungsplan gegeben. Beim letzten Punkt wurde die Überleitung zur Fokusgruppe<br />
gemacht, die ein Schritt des Untersuchungsplanes, respektive der Datenerhebung darstellt.<br />
Anschliessend wurde mit der Diskussionsrunde gestartet. Analog zur deutsch-sprachigen Gruppe<br />
wurden die Teilnehmenden zu Beginn gebeten eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen<br />
(Anhang D).<br />
Am Ende der Diskussionsrunde wurden die Teilnehmenden gebeten, im Sinne einer<br />
Zusammenfassung zu folgenden Bereichen kurz ihre Massnahmenvorschläge auf separate Karten zu<br />
notieren: Partizipation(sprozess) / Ressourcen, Potenziale / Erwartungen, Forderungen /<br />
Bedingungen, Strukturen.<br />
Für die anschliessende Auswertung wurden die erhobenen Daten und Erkenntnisse während der<br />
Diskussion wie folgt erfasst:<br />
- Tonbandaufnahme der gesamten Diskussion, anschliessende wörtliche Transkription<br />
- Führen eines Prozessprotokolls<br />
- Festhalten der Massnahmenvorschläge auf separate Moderationskarten und anschliessende<br />
Transkription in ein zusammenfassendes Dokument<br />
Die Resultate der Fokusgruppe sind in Kapitel 5.3.2 dargestellt.<br />
64
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
5. Auswertung und Ergebnisse (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
5.1 Einleitung<br />
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Erhebungsteilen bei den<br />
GemeindevertreterInnen zum einen (Kapitel 5.2) und bei den älteren MigrantInnen und ihren<br />
Organisationen zum andern (Kapitel 5.3) zusammengetragen. In Kapitel 5.4. sollen die Ergebnisse<br />
aus beiden Perspektiven - seitens der GemeindevertreterInnen und seitens der MigrantInnen -<br />
miteinander kontrastiert werden, um danach für Kapitel 6 Schlussfolgerungen für das zu entwickelnde<br />
Modell <strong>MIGRALTO</strong> zu ziehen.<br />
5.2 Ergebnisse aus der Befragung der GemeindevertreterInnen<br />
(H. Hungerbühler)<br />
In diesem Kapitel wird ein Überblick über die Ergebnisse der elektronischen Befragung der<br />
Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten sowie deren Interpretation (Kapitel 5.2.1), über die<br />
Ergebnisse der telefonischen Nachbefragung (Kapitel 5.2.2) sowie über die Ergebnisse der<br />
Fokusgruppe mit den Altersinstitutionen und –organisationen von Stadt und Kanton Bern und deren<br />
Interpretation (Kapitel 5.2.3) gegeben.<br />
5.2.1 Ergebnisse der elektronischen Befragung<br />
Die Analyse der Befragungsergebnisse ist unter Berücksichtigung folgender Aspekte zu lesen:<br />
Von den insgesamt 129 angeschriebenen Fachpersonen (64 Altersbeauftragte und 65<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte) antworteten Total 81 - davon 39 Altersbeauftragte (61,9%) und 42<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte (64,6%). Der gesamte Rücklauf kann mit insgesamt 62,8 Prozent als erfreulich<br />
bezeichnet werden. Einschränkend ist jedoch festhalten, dass die Anzahl der Antworten (=N) bei<br />
einigen Fragen klein ist. Den Bemerkungen bei den qualitativen Antwortkategorien ist zu entnehmen,<br />
dass nicht wenige der Befragten (insbesondere bei den Altersbeauftragten) noch über keine oder erst<br />
geringe Erfahrung mit der Zielgruppe ‚ältere Migrationsbevölkerung„ verfügen. Bei den<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten wiederum lassen die Antworten darauf schliessen, dass ältere MigrantInnen<br />
weniger eine spezifische und explizite Zielgruppe ihrer Tätigkeit sind. Vielmehr werden sie einfach als<br />
Teil ihrer gesamten Zielgruppe, der „Migrationsbevölkerung“, verstanden.<br />
Der Kürze halber werden in diesem Kapitel die befragten „Fachstellen <strong>Integration</strong>“ begrifflich nicht<br />
separat aufgeführt, sondern sind bei den „<strong>Integration</strong>sdelegierten“ immer mit enthalten.<br />
Die Zusammensetzung der Antwortenden umfasst ein breites Spektrum von Personen aus kleinen<br />
Landgemeinden bis zu grossen Städten und Stadtkantonen. Da den Befragten für die Darstellung der<br />
Auswertungsergebnisse Anonymität zugesichert wurde, sind im Folgenden keine Daten<br />
wiedergegeben, die eine Identifizierung der Aussagen nach Kanton, Gemeinde oder Fachperson<br />
erlauben, obwohl sowohl nach den Namen des Kantons/der Gemeinde als auch der antwortenden<br />
65
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Fachperson (inklusive Angaben zu Telefonnummer, Mailadresse und Erreichbarkeit) gefragt wurde<br />
und diese mit deutlicher Mehrheit auch bekannt gegeben wurden (Frage 1, 43, 44, 45, 46, 47 im<br />
Erhebungsbogen: vgl. Anhang F).<br />
Die Ergebnisse der Befragung wurden nach absoluten Häufigkeiten (Anzahl Antworten = N) und nach<br />
prozentualer Verteilung der Antworten ausgewertet – getrennt nach den beiden befragten<br />
Zielgruppen, „Altersbeauftragte“ und „<strong>Integration</strong>sdelegierte“. Dabei sind die Prozentangaben im<br />
folgenden Text gerundet und in ganzen Zahlen festgehalten. Zudem sind pro Frage und<br />
Befragungsgruppe in der Regel nur die zwei bis drei meist genannten Antworten wiedergegeben, um<br />
so die wichtigsten Tendenzen aufzuzeigen. Für eine detailliertere Einsicht verweisen wir auf die<br />
gesamte tabellarische Auswertung im Anhang F, in welcher die Zahlen – gemäss SPSS-<br />
Statistikprogramm - mit Kommagenauigkeit belassen wurden. Die im Folgenden erläuterten<br />
Ergebnisse sind in Unterkapiteln zusammengefasst, die einerseits den vier thematischen Bereichen<br />
(vgl. I. – IV.) unseres in Kapitel 4.4.1 dargestellten Erkenntnisinteressens zugeordnet werden können<br />
und anderseits der Nummerierung der Fragen im Erhebungsbogen entsprechen (I.2 – IV.41.11: vgl.<br />
Anhang F). Um den Umfang dieses Kapitels zu begrenzen, werden zur Illustration nur ausgewählte<br />
Ergebnisse als Balkendiagramme dargestellt. Sämtliche restliche Ergebnisse können in den Tabellen<br />
im Anhang eingesehen werden. Die Abkürzungen AB (= Altersbeauftragte) und ID (=<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte) kennzeichnen in den Balkendiagrammen jeweils die beiden Gruppen der<br />
Antwortenden.<br />
Wurde bei den vorgegebenen Antwortkategorien „Andere“ angekreuzt, erhielten die Antwortenden die<br />
Möglichkeit, auf folgende Frage zu antworten: „Wenn andere, welche?“ Dort, wo Antworten auf diese<br />
Fragen vorliegen, sind sie im Anhang F dieser Arbeit - gleich im Anschluss an die tabellarische<br />
Darstellung der Befragungsauswertung - wortgetreu wiedergegeben. Dort finden sich ebenfalls die<br />
Kommentare zu Frage 48: „Haben Sie abschliessend noch einen inhaltlichen Kommentar anzufügen<br />
oder eine Erfahrung zum Thema weiter zu geben?“<br />
I. Ältere MigrantInnen als Zielgruppe der Alterspolitik/-arbeit und der <strong>Integration</strong>spolitik/-<br />
arbeit (Frage u. Auswertung im Anhang F: I.2 – I.6)<br />
Die Befragungsergebnisse bestätigen unsere Annahme, dass ältere MigrantInnen bisher mehrheitlich<br />
(noch) keine flächendeckende, explizite und prioritäre Zielgruppe sind, weder in der Alterspolitik/-<br />
arbeit, noch in der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit.<br />
Interessant ist aber, dass ältere MigrantInnen noch eher eine Zielgruppe in der Alterspolitik/-arbeit<br />
sind als in der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit: So sagen mit 49% immerhin beinahe die Hälfte der<br />
antwortenden Altersbeauftragten, dass ältere MigrantInnen in ihren Gemeinden eine Zielgruppe der<br />
Alterspolitik und –arbeit seien. Demgegenüber sehen nur 39% der antwortenden<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten ältere MigrantInnen als explizite Zielgruppe der kantonalen/kommunalen<br />
<strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit und diese kommt gemäss 64% der Antwortenden auch nicht in den<br />
kantonalen/kommunalen <strong>Integration</strong>sleitbildern oder anderen Dokumenten der <strong>Integration</strong>spolitik und -<br />
66
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
arbeit vor. 90% der antwortenden Altersbeauftragten bestätigen, dass ihre Gemeinde über ein<br />
Altersleitbild verfügt und über die Hälfte gibt zudem an, dass ältere MigrantInnen in ihren<br />
Altersleitbildern oder anderen schriftlichen Dokumenten der Alterspolitik vorkommen. An der<br />
Konzipierung und Umsetzung der Altersstrategie seien ältere MigrantInnen jedoch mehrheitlich (mit<br />
83%) nicht mitbeteiligt. Dieser Befund trifft mit 69% ebenfalls für die Antworten der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten zu.<br />
Interpretation: Ältere MigrantInnen sind mehrheitlich (noch) keine explizite Zielgruppe der<br />
Alters- und <strong>Integration</strong>sarbeit<br />
Das Ergebnis, dass die Zielgruppe ‚ältere MigrantInnen„ eher in der Alterspolitik und –arbeit präsent ist<br />
als in der <strong>Integration</strong>spolitik und –arbeit, wurde nicht erwartet. Es erstaunt umso mehr, als die<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten von ihren Kantonen/Gemeinden den politischen Auftrag haben, die<br />
<strong>Integration</strong>/Partizipation der auf ihrem Territorium wohnhaften MigrantInnen aller Alterskategorien zu<br />
fördern. Diese Tatsache wiederum lässt aber auch folgende Interpretation der Antworten der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten zu: Gerade weil dieser Auftrag selbstverständlich ist, sind ältere MigrantInnen<br />
in den Vorgaben der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit nicht als explizite eigene Zielgruppe vermerkt, sondern<br />
unter der übergeordneten Zielgruppe „kantonale/kommunale Migrationsbevölkerung“ subsummiert<br />
und geniessen daher keine altersklassenspezifische Aufmerksamkeit. Damit verbunden ist jedoch das<br />
Risiko, dass altersspezifische Situationen, Probleme, Bedürfnisse, aber auch Ressourcen dieser<br />
Gruppe (noch) nicht erhoben und daher auch nicht bekannt sind. 74% antworten denn auch, dass es<br />
für die <strong>Integration</strong>/Partizipation der älteren MigrantInnen in ihren Kantonen/Gemeinden keine<br />
(spezifischen) Zielvorgaben gebe.<br />
Auch wenn ältere MigrantInnen häufig als eigene explizite Zielgruppe in den Strategien, den<br />
Leitbildern sowie in einer entsprechenden Politik fehlen, ist die Sensibilität dafür vorhanden, dass<br />
diese Zielgruppe aufgrund der demografischen Entwicklung künftig in den Kantonen und Gemeinden<br />
an Relevanz gewinnen wird. Dafür spricht auch die Tatsache, dass rund die Hälfte der antwortenden<br />
Personen zu einem zusätzlichen Telefoninterview bereit war (vgl. Kapitel 5.2.2).<br />
Information/Kommunikation (Fragen u. Auswertung im Anhang F: II.1 - II.13 u. II.2 –II.14)<br />
Mit welchen Mitteln werden ältere MigrantInnen informativ/kommunikativ zu erreichen versucht? Zu<br />
dieser Frage antworten die beiden Befragungsgruppen mit denselben Prioritäten: Die mündliche<br />
Vermittlung der Information/Kommunikation über Kontaktpersonen aus den Migrationsgemeinschaften<br />
wird an erster Stelle genannt: Bei den Altersbeauftragten sind es 43% und bei den <strong>Integration</strong>s-<br />
delegierten sogar 76% der Antwortenden. An zweiter Stelle wird die Informationsverbreitung in<br />
Zusammenarbeit mit Migrationsorganisationen in den eigenen sozialen Netzwerken der älteren<br />
MigrantInnen angegeben: Bei den Altersbeauftragten mit 21% und bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten mit<br />
46%. Interessant ist, dass nicht nur bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten (mit 38%), sondern auch bei den<br />
Altersbeauftragten (mit 14%) die schriftliche (übersetzte) Information nicht an erster Stelle steht.<br />
Obwohl beide Befragungsgruppen mit ihren Antworten mehrheitlich die mündliche Information/<br />
Kommunikation als wichtiges Instrument bestätigen, scheint die Wahl dieses Mittels jedoch nicht<br />
67
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
einfach erfolgsversprechend zu sein. So gibt von den antwortenden Altersbeauftragten die Mehrheit<br />
an, dass die mündliche Vermittlung über Kontaktpersonen aus den Migrationsgemeinschaften (75%)<br />
bzw. in Zusammenarbeit mit Migrationsorganisationen (57%) nur teilweise gelinge. Bei den<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten teilen 64% bzw. 63% diese Meinung.<br />
Interpretation: Mündliche Information/Kommunikation in Zusammenarbeit mit MigrantInnen<br />
und ihren Organisationen ist zwingend<br />
Dass in erster Linie die „mündliche Vermittlung der Information/Kommunikation über Kontaktpersonen<br />
aus den Migrationsgemeinschaften“ sowie die „Informationsverbreitung in Zusammenarbeit mit<br />
Migrationsorganisationen in den eigenen sozialen Netzwerken der älteren Migrantinnen“ gewählt wird,<br />
um ältere MigrantInnen zu erreichen, zeigt, dass die Befragten vermutlich aus der Erfahrung gelernt<br />
haben, dass schriftliche Information/Kommunikation alleine keinen Erfolg verspricht. Dies belegen<br />
auch entsprechende Studien (Soom Ammann & Salis Gross, 2011; Bisegger & Hungerbühler, 2008).<br />
Zugleich scheint aber die Erreichbarkeit der Zielgruppe „Ältere MigrantInnen“, unabhängig von den<br />
gewählten Mitteln, grundsätzlich schwierig zu bleiben.<br />
II. <strong>Integration</strong> im Sinne von Partizipation (= ältere MigrantInnen reden mit, entscheiden mit,<br />
gestalten mit) (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.16 - III.17.7)<br />
Auf die Frage, ob es aus ihrer Sicht in ihren Gemeinden/Kantonen explizite Ziele in Bezug auf die<br />
<strong>Integration</strong> der älteren Migrationsbevölkerung im Sinne von Partizipation gebe, antworteten die beiden<br />
Befragungsgruppen erstaunlich identisch: Die Altersbeauftragten verneinten dies mit 62% und die<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten gar noch deutlicher mit 66%. Das letztere Ergebnis kann wohl wiederum auf<br />
die Tatsache zurückgeführt werden, dass <strong>Integration</strong>sdelegierte einen politischen <strong>Integration</strong>sauftrag<br />
für die Gesamtheit der Migrationsbevölkerung haben und nicht explizit nach Altersgruppen<br />
differenzierte Ziele.<br />
Abbildung 3: Explizite Ziele in Bezug auf die <strong>Integration</strong> der älteren Migrationsbevölkerung im Sinne von Partizipation?<br />
Sowohl Altersbeauftragte als auch <strong>Integration</strong>sdelegierte wünschen sich die Partizipation älterer<br />
MigrantInnen auf kantonaler/kommunaler Ebene. Dabei sind die Werte bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten<br />
insgesamt höher. Beide Befragungsgruppen messen den beiden Bereichen „Freiwilligenarbeit<br />
(Altersarbeit, Vereinsarbeit, Mitarbeit in interkulturellen und intergenerationellen Projekten)“ sowie<br />
„Gesundheit, Prävention, Gesundheitsförderung“ eine hohe Wünschbarkeit für die Partizipation der<br />
Zielgruppe zu: die Altersbeauftragten mit 63% bzw. mit 59% und die <strong>Integration</strong>sdelegierten mit 77%<br />
bzw. mit 74%. Letztere gewichten mit 77% aber auch den Bereich der „Politik (Mitarbeit in<br />
68
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Altersorganisationen, Quartierpolitik, Verkehrs- und Wohnbaupolitik, etc.)“ als für die Partizipation<br />
älterer MigrantInnen deutlich wünschenswert.<br />
Finanzielle Mittel zur Partizipationsförderung (Fragen u. Auswert. im Anhang F.: III.18 – III.19)<br />
Zur Frage, ob die Partizipation älterer MigrantInnen mit einem festen Budgetbeitrag gefördert werde,<br />
antworteten nur 9% der Altersbeauftragten mit „Ja“ gegenüber 78% mit “Nein“ und 13% mit „Weiss<br />
nicht“. Bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten bejahten sogar nur 6% diese Frage, 91% verneinten sie und<br />
3% wussten darauf keine Antwort. Die Frage (III.19) nach der konkreten Höhe der vom Kanton/der<br />
Gemeinde zur Verfügung gestellten Mittel für die <strong>Integration</strong>s-/Partizipationsförderung älterer<br />
MigrantInnen wurde nur von drei Altersbeauftragten und einem <strong>Integration</strong>sdelegierten, der zudem auf<br />
die Angaben der Altersbeauftragten aus derselben Stadt verwies, beantwortet: zweimal Fr. 25„ 000<br />
und einmal „je nach Projekt“. Diese Ergebnisse zeigen, dass sowohl in der Alterspolitk/-arbeit als auch<br />
in der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit wenige bis keine finanziellen Mittel zur Partizipationsförderung älterer<br />
MigrantInnen investiert werden. Eine Ausnahme bilden eine kleine sowie eine grosse städtische<br />
Gemeinde, die sich auch in ihrer Alterspolitik, in Strategie und Leitbild zu diesem Ziel bekennen und<br />
beide den gleichen Budgetposten von Fr. 25„ 000 ausweisen. Beim Ergebnis zur finanziellen<br />
Partizipationsförderung ist jedoch wiederum zu berücksichtigen, dass finanzielle Mittel - dort wo<br />
vorhanden - vermutlich für die gesamte Aufgabe der Umsetzung von Alterspolitik/-arbeit bzw.<br />
<strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit, also zielgruppenunspezifisch für die Gesamtheit der Alters- und Migrations-<br />
bevölkerung in den Kantonen und Gemeinden eingesetzt werden. Hierfür stehen unseres Wissens mit<br />
teilweise beträchtlichen kantonalen und kommunalen Unterschieden kleinere bis grössere<br />
Budgetbeiträge zur Verfügung, da der Bund auf seiner Gesetzesgrundlage die <strong>Integration</strong>sförderung<br />
an die Kantone überträgt.<br />
Mittel/Methoden der Partizipationsförderung (Frage u. Auswert. im Anhang F.: III.20 – III.20.8)<br />
Hier zeigen sich Unterschiede zwischen den beiden Befragungsgruppen. Während die<br />
Altersbeauftragten mit 66% am meisten auf das zur Verfügung stellen von Infrastruktur<br />
(Räumlichkeiten, etc.) setzen, um Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung zu fördern, legen<br />
die <strong>Integration</strong>sdelegierten ihr Hauptgewicht auf den Einsatz von MultiplikatorInnen mit eigenem<br />
Migrationshintergrund (60%). Hingegen scheint die <strong>Integration</strong> von älteren MigrantInnen in<br />
Regelstrukturen der Partizipation - wie z.B. in die wichtigsten Gremien für Altersfragen – mehrheitlich<br />
nicht gegeben zu sein. Die Altersbeauftragten verneinen eine Vertretung älterer MigrantInnen in ihren<br />
Gemeinden mit 83% und die <strong>Integration</strong>sdelegierten mit 57%. Befunde aus der Fachliteratur (Soom<br />
Ammann u. Salis Gross, 2011; Pro Senectute Schweiz, 2010, Bisegger u. Hungerbühler, 2008)<br />
belegen, dass ein aufsuchender, milieu- oder settingbezogener Ansatz, der die Zielgruppe in ihren<br />
eigenen lebensweltlichen Zusammenhängen zu erreichen sucht, eine wichtige Voraussetzung für<br />
gelingende Partizipation ist. Dieser Ansatz wird jedoch nach Einschätzung der beiden<br />
Befragungsgruppen in ihren Gemeinden/Kantonen nicht prioritär gewählt: Bei den Altersbeauftragten<br />
bejahen nur 21% den Einsatz dieser Methode, bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten 37%.<br />
69
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ermöglichung der Partizipation bei der Entwicklung von Angeboten/Dienstleistungen (Frage u.<br />
Auswertung im Anhang F: III.21 - III.21.7)<br />
Beide Befragungsgruppen sind der Ansicht, dass ihre Gemeinden/Kantone älteren MigrantInnen im<br />
Bereich der „Freiwilligenarbeit (Altersarbeit, Vereinsarbeit, Mitarbeit in interkulturellen und<br />
intergenerationellen Projekten)“ am häufigsten die Möglichkeit bieten, bei der Entwicklung von<br />
Angeboten/Dienstleistungen mitzuwirken. Bei den Altersbeauftragten bejahen dies 48% und bei den<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten 44%. Im Gegensatz dazu bejahen nur 28% der Altersbeauftragten, dass ihre<br />
Gemeinden älteren MigrantInnen die Partizipation im Bereich „Politik (Mitarbeit in<br />
Altersorganisationen, Quartierpolitik, Verkehrs- und Wohnbaupolitik, etc.)“ ermöglichen, bei den<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten sind es 37%.<br />
Abbildung 4: Ermöglichung der Mitwirkung älterer MigrantInnen bei der Entwicklung von Angeboten/Dienstleistungen?<br />
Bezüglich Partizipation der älteren MigrantInnen im Gemeinde- und Kantonskontext ist folgende<br />
Tendenz erkennbar: Die Beauftragten/Delegierten gehen davon aus, dass ältere MigrantInnen - wie<br />
alle anderen älteren Menschen in der Gemeinde/im Kanton - in den bestehenden Regelstrukturen<br />
partizipieren können. Sie sind als Zielgruppe mitgemeint und nicht ausgeschlossen. Es werden daher<br />
auch verhältnismässig wenig spezifische Bemühungen unternommen, um ihre Partizipation mit<br />
gezielten Mitteln (explizites Auffordern, gezielte Vertretung in Kommissionen/Arbeitsgruppen, etc.) zu<br />
erwirken.<br />
Gewünschte Beiträge älterer MigrantInnen ans politische und gesellschaftliche Leben in den<br />
Gemeinden/Kantonen (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.22 – III.22.8)<br />
Beide Befragungsgruppen machen bei den konkreten Beiträgen, die ältere MigrantInnen ins politische<br />
und gesellschaftliche Leben ihrer Gemeinden/Kantone einbringen sollen, hohe Erwartungen geltend.<br />
Dies betrifft alle erfragten Bereiche von der Mitarbeit in Altersorganisationen, über kulturelle Beiträge<br />
(Kunst, Musik, Literatur, etc.) bis zu politischer Mitarbeit (Alterspolitik, Quartierpolitik, etc.), Mitarbeit in<br />
interkulturellen und intergenerationellen Projekten, Begleitung jüngerer Landsleute, Begleitung und<br />
70
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Entlastung anderer älterer Menschen sowie andere. Dieses Ergebnis verdeutlicht somit noch einmal,<br />
dass die politische und gesellschaftliche Teilhabe der Zielgruppe ältere Migrationsbevölkerung im<br />
kommunalen und kantonalen Kontext sowohl seitens der Altersbeauftragten als auch der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten erwünscht ist. Diese Haltung steht jedoch im Gegensatz zur Einschätzung der<br />
Befragungsgruppen bezüglich der Ermöglichung dieser Partizipation seitens ihrer<br />
Gemeinden/Kantone. Übersetzt auf den Handlungsbedarf in den Gemeinden/Kantonen bedeutet das,<br />
dass diese vermehrt Bemühungen zur Partizipationsförderung der Zielgruppe ältere MigrantInnen<br />
anstreben müssten, damit ihre Erwartungen sich mehr mit den tatsächlichen Beiträgen der Zielgruppe<br />
decken.<br />
Abbildung 5: Gewünschte konkrete Beiträge älterer MigrantInnen ans politische und gesellschaftliche Leben am Wohnort?<br />
Einschätzung zum Gelingen der Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung (Frage u.<br />
Auswertung im Anhang F: III.23 – III.23.3)<br />
Die Bilanz zum Gelingen der Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung – verstanden als „diese<br />
Zielgruppe redet mit, entscheidet mit, gestaltet mit“ – ist negativ, d.h. nur gerade 7% der antwortenden<br />
Altersbeauftragten und 9% der <strong>Integration</strong>sdelegierten sind der Ansicht, die politische und<br />
gesellschaftliche Teilhabe der Zielgruppe gelinge. 35% der Altersbeauftragten und sogar 43% der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten finden, dass die Partizipation „kaum oder gar nicht gelinge“. Am häufigsten<br />
antworteten die Befragten jedoch mit der Antwortkategorie „Ich weiss nicht, ob die Partizipation älterer<br />
MigrantInnen gelingt“, bei den Altersbeauftragten mit 59% und bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten mit<br />
49%. Dies dürfte ein Indiz für den weitgehend fehlenden Kontakt mit der Zielgruppe sein bzw. dafür,<br />
dass diese bisher weder im Fokus der Alterspolitik/-arbeit, noch der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit stand.<br />
71
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Abbildung 6: Gelingt die Partizipation älterer MigrantInnen in Ihrer Gemeinde/Ihrem Kanton?<br />
Faktoren für eine erfolgreiche Partizipation (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.24 – III.24.9)<br />
Nur 3 Altersbeauftragte und 6 <strong>Integration</strong>sdelegierte sagten aus, dass die Partizipation älterer<br />
MigrantInnen gelinge. Diese gaben mit ihrer Bewertung von neun vorgegebenen Aussagen ihre<br />
Einschätzung zu Faktoren, auf die sie den Erfolg von Partizipation zurückführen:<br />
Zwei Altersbeauftragte führen die erfolgreiche Partizipation auf folgende Faktoren zurück:<br />
„Ältere MigrantInnen verfügen über eine gute Selbstorganisation/starke Netzwerke“<br />
„Ältere MigrantInnen werden in unserer Gemeinde aktiv und gezielt zur Partizipation<br />
aufgefordert“<br />
„Unsere Gemeinde arbeitet mit Migrationsorganisationen zusammen“<br />
„Unsere Gemeinde arbeitet mit Kontaktpersonen aus den Migrationsgemeinschaften<br />
zusammen“<br />
„Unsere Gemeinde ist bereit, sich auch auf die Partizipationsstrukturen und –formen älterer<br />
Migrantinnen einzulassen.“<br />
Alle sechs auf diese Frage antwortenden <strong>Integration</strong>sdelegierten priorisieren folgende zwei Aussagen:<br />
„Unsere Gemeinde arbeitet mit Migrationsorganisationen zusammen“<br />
„Unsere Gemeinde arbeitet mit Kontaktpersonen aus den Migrationsgemeinschaften<br />
zusammen“<br />
Drei <strong>Integration</strong>sdelegierte stimmen folgenden drei Aussagen zu:<br />
„Ältere MigrantInnen verfügen über eine gute Selbstorganisation/starke Netzwerke“<br />
72
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
„Unsere Gemeinde ist bereit, sich auch auf die Partizipationsstrukturen und –formen älterer<br />
MigrantInnen einzulassen“<br />
„anderen Faktoren für erfolgreiche Partizipation“<br />
Interessant ist, dass beide Befragungsgruppen die Erfahrung einer „guten Selbstorganisation bzw.<br />
starken Netzwerken der älteren MigrantInnen“ sowie die Einschätzung zur „Notwendigkeit, sich auch<br />
auf Partizipationsstrukturen und –formen der MigrantInnen einzulassen“ und mit<br />
„Migrationsorganisationen zusammenzuarbeiten“ teilen.<br />
Schranken für die Partizipation (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.25 – III.25.13)<br />
Die fehlende oder geringe Partizipation führen die Befragungsgruppen (bei den Altersbeauftragten<br />
liegt mit 10 eine relativ kleine Zahl an Antworten vor) hauptsächlich auf folgende Schranken zurück:<br />
Die Altersbeauftragten machen an erster Stelle mit 70% die „<strong>Integration</strong> in eigene Netzwerke, welche<br />
eine darüber hinaus reichende Partizipation erübrigt“ dafür verantwortlich, an zweiter Stelle mit je 60%<br />
„Angebote sprechen ältere MigrantInnen zu wenig an“ sowie „Sprachliche Hürden“ und an dritter<br />
Stelle mit je 50% die „Fehlende Willkommenskultur“, „Fehlende spezifische<br />
Bemühungen/Massnahmen zur Erreichung der Zielgruppe“ sowie der „Fehlende Einbezug älterer<br />
MigrantInnen bei der Konzipierung und Umsetzung von Angeboten/Dienstleistungen“.<br />
Die <strong>Integration</strong>sdelegierten ihrerseits sehen die hauptsächlisten Schranken mit 85% bei den<br />
„sprachlichen Hürden“, gefolgt von 81% bei den „fehlenden spezifischen Bemühungen/Massnahmen<br />
zu Erreichung dieser Zielgruppe“ und von 69% beim „fehlenden Einbezug älterer MigrantInnen bei der<br />
Konzipierung und Umsetzung von Angeboten/Dienstleistungen“.<br />
Einig sind sich die beiden Befragungsgruppen somit, dass zwecks Förderung der Partizipation älterer<br />
MigrantInnen mehr spezifische Bemühungen/Massnahmen unternommen werden müssten und dass<br />
diese Zielgruppe in die Konzipierung und Umsetzung von Dienstleistungen/Angeboten einzubeziehen<br />
wäre.<br />
Massnahmen zum Abbau von Hürden (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.26 – III.26.8)<br />
Beide Befragungsgruppen pflichten in hohem Masse den vorgeschlagenen Antwortkategorien für<br />
Massnahmen zum Abbau von Partizipationshürden zu. Interessant ist, dass die<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten den beiden Antwortkategorien „Offensive und angepasste Werbung zwecks<br />
Zielgruppenerreichung“ und „Übersetzungsleistungen zwecks Erleichterung der Partizipation“ mit je<br />
58% im Vergleich zu den andern Antwortkategorien deutlich weniger zustimmen. Dies könnte<br />
allenfalls darauf hindeuten, dass die Antwortenden vielleicht bereits die Erfahrung gemacht haben,<br />
dass diese beiden Massnahmen alleine - ohne Kombination mit anderen Mitteln - nur teilweise zum<br />
Erfolg führen.<br />
Ressourcen/Potenziale und Kompetenzen älterer MigrantInnen, die für ihre Partizipation besser<br />
eingesetzt und genutzt werden könnten (Frage u. Auswertung im Anhang F: III.27 – III.27.11)<br />
Bezüglich der Einschätzung von Ressourcen/Potenzialen und Kompetenzen der älteren<br />
Migrationsbevölkerung, die besser eingesetzt und genutzt werden könnten, teilen die beiden<br />
73
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Befragungsgruppen in ihrer Priorisierung der Antwortkategorien einen tendenziellen Konsens. Dass<br />
Mehrsprachigkeit (Erstsprache und mindestens eine Landessprache der Schweiz sowie gegebenen-<br />
falls noch weitere Sprache(n)) eine Ressource darstelle, bestätigen 74% der Altersbeauftragten und<br />
71% der <strong>Integration</strong>sdelegierten. Die sozialen Netzwerke (Gewerkschaften, Ausländermissionen,<br />
Migrantenvereine, etc.) der älteren Migrationsbevölkerung werden ebenfalls als eine wichtige<br />
Ressource eingestuft mit 82% der Altersbeauftragten und 77% der <strong>Integration</strong>sdelegierten. Ebenfalls<br />
viel Zustimmung erhält mit 70% der Altersbeauftragten und sogar 84% der <strong>Integration</strong>sdelegierten die<br />
Antwortkategorie „Erfahrungswissen (zu <strong>Integration</strong>sprozessen).“ Identisch bewertet wird das<br />
Potenzial des „Freiwilligenengagements“ mit je 74%. Die beiden Befragungsgruppen sind sich auch<br />
einig, dass „herkunftsgeprägte Konzepte/Ressourcen im Umgang mit Alter“ sowie die „eigene<br />
Migrationsbiographie“ wichtige Ressourcen sein können. Dies bestätigen mit je 74% die Altersbeauf-<br />
tragten und mit je 77% die <strong>Integration</strong>sdelegierten. Letztere bewerten „Offenheit für Neues und<br />
Ungewohntes“ und „Flexibilität/Anpassungsfähigkeit“ von älteren MigrantInnen mit 26% und 32% als<br />
weniger grosse Ressource verglichen mit den Altersbeauftragten mit je 56%. Es fällt auf, dass beide<br />
Befragungsgruppen „Organisationspotenzial und –erfahrung“ mit 41% (Altersbeauftragte) und mit 37%<br />
(<strong>Integration</strong>sdelegierte) weniger als Ressource/Kompetenz älterer MigrantInnen gewichten, obwohl sie<br />
an früherer Stelle mit 67% (Altersbeauftragte) und mit 50% (<strong>Integration</strong>sdelegierte) die „gute<br />
Selbstorganisation/die starken Netzwerke älterer MigrantInnen“ als einen Faktor für erfolgreiche<br />
Partizipation bezeichnet haben.<br />
Abbildung 7: Ressourcen/Potenziale/Kompetenzen, die sich für die Partizipation älterer MigrantInnen besser nutzen lassen?<br />
74
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Aspekte, die sich negativ auf Partizipation(schancen) auswirken (Frage u. Auswertung im<br />
Anhang F: III.28 – III.28.9)<br />
Gefragt nach den Aspekten, die sich auf die Partizipation(schancen) älterer MigrantInnen negativ<br />
auswirken, nannten beide Gruppen die zwei gleichen Aussagen am meisten: „Sprachliche<br />
Verständigungsschwierigkeiten“ und „Informationsdefizit bezüglich<br />
Partizipationsmöglichkeiten/Angebote im Alter“ mit 82% bzw. 70% (Altersbeauftragte) und mit 94%<br />
bzw. 81% (<strong>Integration</strong>sdelegierte). An dritter Stelle folgt bei den Altersbeauftragten mit 59% die<br />
„soziale Isolation“, während es bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten mit 77% das „Dilemma bezüglich Wahl<br />
des Lebensortes nach der Pensionierung (Schweiz-Herkunftsland) ist. Letztere schätzen die „soziale<br />
Isolation“ und die „beeinträchtigte Gesundheit (physisch und/oder psychisch)“ mit je 74% an vierter<br />
Stelle gleichermassen als Aspekte ein, die sich negativ auf die Partizipation auswirken, während es<br />
bei den Altersbeauftragten mit je 56% das „geringe Bildungskapital“ sowie das „Dilemma bezüglich<br />
Wahl des Lebensortes nach der Pensionierung (Schweiz-Herkunftsland)“ sind. Letzteres wurde auch<br />
in der Fokusgruppe (Kapitel 5.2.3) festgestellt.<br />
Die am höchsten gewichteten Aspekte „Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten“ sowie<br />
„Informationsdefizite bezüglich Partizipationsmöglichkeiten/Angebote im Alter“ entsprechen<br />
weitgehend den Befunden in der Literatur bzw. in anderen Erhebungen (vgl. z.B. Bisegger &<br />
Hungerbühler, 2008; Hungerbühler, 2010; Soom Amman & Salis Gross, 2011).<br />
Handlungsbedarf für die Partizipation älterer MigrantInnen nach Themenbereichen (Frage u.<br />
Auswertung im Anhang F: III.29 – III.29.7)<br />
Den höchsten Handlungsbedarf für die Partizipation älterer MigrantInnen sehen beide Gruppen bei<br />
der „Gesundheit, Prävention, Gesundheitsförderung“ mit 74% der Altersbeauftragten und 84% der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten. Letztere werten jedoch die „Freiwilligenarbeit (Altersarbeit, Vereinsarbeit,<br />
Mitarbeit in interkulturellen und intergenerationellen Projekten)“ gleich hoch. Den zweithöchsten<br />
Handlungsbedarf sehen die Altersbeauftragten bei der „Bildung“ mit 63% und die<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten/Fachstellen bei der „Politik (Mitarbeit in Altersorganisationen, Quartierpolitik,<br />
Verkehrs- und Wohnbaupolitik, etc.)“ mit 74%. An dritter Stelle folgen sowohl bei den<br />
Altersbeauftragten mit 59% als auch bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten/Fachstellen mit 68%<br />
„Bewegungsangebote“ (vgl. Ergebnisse der Fokusgruppe, Kapitel 5.2.3). Dies bestätigt wiederum<br />
Erfahrungen aus der Praxis z.B. der Pro Senectute, wonach ältere MigrantInnen wenig teilhaben an<br />
„Gesundheitsförderungs- und Präventionsangeboten“ sowie an „Bewegungsangeboten“, und hier aus<br />
Sicht der Gesundheitsbehörden sowie weiterer in der Gesundheitsförderung tätiger Akteure<br />
Handlungsbedarf besteht.<br />
Interpretation: Spannungsfeld zwischen fehlender/geringer und erwünschter Partizipation (=<br />
ältere MigrantInnen reden mit, entscheiden mit und gestalten mit)<br />
Kantone und Gemeinden verfügen mehrheitlich über keine expliziten Ziele bezüglich der <strong>Integration</strong><br />
im Sinne von Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung. Die Partizipation dieser Zielgruppe wird<br />
- mit wenigen Ausnahmen - auch nicht speziell mit finanziellen Mitteln gefördert. Die<br />
<strong>Integration</strong>/Teilhabe von älteren MigrantInnen in den Regelstrukturen der Partizipation (Gremien für<br />
75
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Altersfragen, etc.) ist mehrheitlich nicht gegeben. Die deutliche Mehrheit der antwortenden Befragten<br />
gibt an, dass sie nicht wisse, ob die Partizipation älterer MigrantInnen gelinge oder aber, sie ist der<br />
Ansicht, dass diese kaum oder gar nicht gelinge. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung wünschen<br />
sich die Antwortenden jedoch die Partizipation dieser Zielgruppe. Dabei werden primär folgende zwei<br />
thematische Bereiche der erwünschten Partizipation gewichtet: „Freiwilligenarbeit (Altersarbeit,<br />
Vereinsarbeit, Mitarbeit in interkulturellen und intergenerationellen Projekten)“ sowie „Gesundheit,<br />
Prävention, Gesundheitsförderung“. Diese Ergebnisse entsprechen einem allgemeinen gesellschafts-<br />
politischen Trend, ältere Menschen vermehrt für Freiwilligenarbeit zu engagieren, die damit auch nach<br />
ihrer Pensionierung in die Verantwortung genommen werden, ihren Beitrag ans Gemeinwohl der<br />
Bevölkerung zu leisten, einen immer wesentlicheren Teil von gesellschaftlich notwendiger Arbeit<br />
unentgeltlich abdecken und den Staat dadurch entlasten. In Deutschland wird diese Entwicklung der<br />
durch SeniorInnen geleisteten Freiwilligenarbeit mit dem Begriff des bürgerschaftlichen Engagements<br />
gefasst, das innerhalb der Gerontologie ein eigenes breites Forschungsgebiet bildet (vgl. z.B.<br />
Kricheldorff, 2008). Freiwilligenarbeit älterer Menschen erfüllt eine doppelte Funktion: sie kommt<br />
einem wachsenden gesellschaftlicher Bedarf entgegen und unterstützt die subjektive Sinnfindung<br />
älterer Menschen, insbesondere in deren nachberuflichen Lebensphase (vgl. dazu auch die<br />
Ergebnisse der Interviews mit den älteren italienischen MigrantInnen in Kapitel 5.3.1.). Die Betonung<br />
der Wichtigkeit des Freiwilligenengagements durch die Befragten deckt sich mit den wichtigsten<br />
Trends im öffentlichen und fachlichen Diskurs zur Partizipation älterer Menschen generell. So nimmt<br />
der gesellschaftliche Stellenwert der von pensionierten Personen geleisteten Freiwilligenarbeit im<br />
Rahmen der Diskussion um die demografische Entwicklung unserer Gesellschaften zu. Auf dem<br />
Konzept des „active ageing“ (WHO, 2002) aufbauend geht es immer mehr darum, auch nach der<br />
Pensionierung möglichst viele ältere Menschen aktiv im gesellschaftlichen Prozess zu halten, um so<br />
ihre Lebensqualität sowie ihre gesellschaftliche <strong>Integration</strong> zu erhöhen (vgl. Kapitel 2.6.1). Um auch in<br />
der nachberuflichen Phase einen für sie selbst und für die Gesellschaft sinnvollen sowie produktiven<br />
Beitrag zu leisten, müssen sie aber über die dazu nötige Gesundheit verfügen. Aus diesem Grund<br />
erhält auch das Bekenntnis zu einem aktiven Gesundheitsverständnis und die Bereitschaft zur<br />
Beteiligung an Präventions- und Gesundheitsförderungsprogrammen zwecks Stärkung der eigenen<br />
Gesundheitskompetenz für die ältere Bevölkerung immer mehr Bedeutung. Dieser Diskurs scheint<br />
nun bei den Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten auch in Bezug auf die ältere<br />
Migrationsbevölkerung aufgenommen zu werden.<br />
Generell haben die Befragten Erwartungen bezüglich Teilhabe in Form konkreter Beiträge älterer<br />
MigrantInnen an das politische und gesellschaftliche Leben auf kantonaler/kommunaler Ebene. Diese<br />
stehen im Gegensatz zu ihrer Einschätzung bezüglich der tatsächlichen Ermöglichung dieser<br />
Partizipation seitens der Kantone/Gemeinden. Die Bilanz der Einschätzung zum Gelingen der<br />
Partizipation älterer MigrantInnen ist seitens beider Befragungsgruppen deutlich negativ ausgefallen.<br />
Aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Umfrage können die Gründe dafür nicht mit Sicherheit<br />
identifiziert werden. Vermutlich spielen verschiedene Faktoren in Kombination miteinander eine Rolle:<br />
unter anderem machen die Altersbeauftragten die „<strong>Integration</strong> (der MigrantInnen) in eigene<br />
76
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Netzwerke, welche eine darüber hinaus reichende Partizipation erübrigt“ dafür verantwortlich. Zudem<br />
werden „Sprachliche Hürden“, „fehlende spezifische Bemühungen/Massnahmen zur Erreichung der<br />
Zielgruppe“ sowie der „fehlende Einbezug älterer MigrantInnen bei der Konzipierung und Umsetzung<br />
von Angeboten/Dienstleistungen“ als Erklärung herbeigezogen. Somit wird „beiden Seiten“ die<br />
Mitverantwortung für die negative Bilanz der Partizipation älterer MigrantInnen auf<br />
kantonaler/kommunaler Ebene zugewiesen.<br />
Sollten sich künftig Erwartungen und Realität besser decken, müsste den Kantonen/Gemeinden<br />
aufgezeigt werden, mit welchen Mitteln sie die Partizipation der Zielgruppe „ältere MigrantInnen“ in<br />
Form einer diversitätsgerechten Alterspolitik/-arbeit und einer altersgerechten <strong>Integration</strong>spolitik/-<br />
arbeit fördern können. Sie sollten einerseits methodische Beratung erhalten und anderseits konkrete<br />
Instrumente wie finanzielle, personelle und fachliche Ressourcen, um diese Zielgruppe sowohl bei der<br />
Konzipierung als dann auch bei der Umsetzung von Partizipationsstrukturen gezielt einzubeziehen.<br />
Auf der andern Seite müssten Kantone/Gemeinden wohl auch noch stärker die Bereitschaft für einen<br />
Perspektivenwechsel entwickeln, denn „Partizipation in eigenen Netzwerken und Strukturen der<br />
Migrantenorganisationen“ - so wie sie viele ältere MigrantInnen heute bereits praktizieren - ist ja sehr<br />
wohl auch Partizipation. Bidirektionale und wechselseitige Partizipationsprozesse würden somit auch<br />
erfordern, dass sich Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte (noch) gezielter darum bemühen, die<br />
Organisations- und Partizipationsstrukturen und –formen älterer MigrantInnen kennen zu lernen, um<br />
gemeinsame Bedürfnisse, aber auch Potenziale und Ressourcen zu erkunden. Hier besteht noch<br />
Handlungsbedarf, gibt doch ein nicht unwesentlicher Teil der Antwortenden an, nicht zu wissen, ob<br />
ältere MigrantInnen in eigenen Vereinen/Organisationen organisiert seien und diese auch nicht oder<br />
nur teilweise zu kennen – somit ein Indiz dafür, dass wenig Kontakt zur Zielgruppe vorhanden ist.<br />
Die Ausgangslage hierfür ist gemäss Befragungsergebnissen nicht schlecht, sieht doch die Mehrheit<br />
der antwortenden Altersbeauftragten in der wachsenden Vielfalt der Altersbevölkerung eher Chancen<br />
und Potenziale für eine neue Partizipationskultur und eine Bereicherung der Alterspolitik und –arbeit,<br />
als Überforderung, Probleme und Konflikte.<br />
Der Begriff „Partizipation“, wie er von den Autorinnen in dieser Arbeit definiert wird, wurde nur den<br />
Altersbeauftragten vorgelegt, weil er für die <strong>Integration</strong>sdelegierten/Fachstellen <strong>Integration</strong><br />
selbstverständlich ist. Dieser Definition stimmten die Altersbeauftragten hundertprozentig zu. Sie teilen<br />
somit das Verständnis von Partizipation als einem gegenseitigen Prozess, der zwischen den<br />
verschiedenen AkteurInnen ausgehandelt werden muss und auch Prozesse der gegenseitigen<br />
Befähigung und des Lernens voneinander beinhaltet.<br />
Diversitätsgerechte Alterspolitik und –arbeit / Altersgerechte <strong>Integration</strong>spolitik und -arbeit<br />
(Fragen u. Auswertung im Anhang F: IV.30 – IV.31.7)<br />
Die antwortenden Altersbeauftragten verneinen mit 67%, dass in ihrer Gemeinde bereits eine<br />
Alterspolitik und –arbeit praktiziert werde, die auch MigrantInnen gerecht wird. Ebenso verhält es sich<br />
bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten, welche mit 58% verneinen, dass ihre Gemeinde/ihr Kanton bereits<br />
77
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
eine <strong>Integration</strong>spolitik praktiziere, die auch älteren MigrantInnen gerecht wird. Diese selbstkritische<br />
Einschätzung beider Befragungsgruppen bestätigen die Annahmen, die dieser Masterarbeit zugrunde<br />
liegen: die ältere Migrationsbevölkerung in der Schweiz ist eine Gruppe, die bisher weder im Fokus<br />
der Alters- noch der <strong>Integration</strong>spolitik und –arbeit steht und somit Gefahr läuft „zwischen Stuhl und<br />
Bank“ zu fallen.<br />
Abbildung 8: In Gemeinde/Kanton wird Alterspolitik/-arbeit bzw. <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit praktiziert, die auch MigrantInnen<br />
gerecht wird.<br />
Nur je 7 Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte geben an, dass ihre Gemeinde/ihr Kanton<br />
bereits über methodische und materielle Mittel verfüge, um die Alterspolitik und-arbeit bzw.<br />
<strong>Integration</strong>spolitik und –arbeit so zu gestalten, dass sie auch älteren MigrantInnen gerecht wird. Dies<br />
steht in positivem Gegensatz zum vorherigen Ergebnis. Es handelt sich bei diesen Antwortenden<br />
jedoch um dieselben Personen, die bereits bei der grundsätzlichen Frage, ob die Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>spolitik in ihrer Gemeinde/ihrem Kanton älteren MigrantInnen gerecht werde, eine positive<br />
Bilanz gezogen haben. Die Altersbeauftragten nennen als die drei hauptsächlichen Mittel, die ihnen<br />
zur Verfügung stehen, „Personal“ (86%) „Strategie und Leitbild fordern diversitätsgerechte Alterspolitik<br />
und –arbeit“ (71%) und „Genügend Finanzen“ (71%). <strong>Integration</strong>sdelegierte machen Folgendes<br />
geltend: „Zusammenarbeit mit MultiplikatorInnen aus den Migrationsgemeinschaften“ (86%), gefolgt<br />
von der drei gleichwertig gewichteten „Strategie und Leitbild fordern altersgerechte <strong>Integration</strong>spolitik“,<br />
„Fachliches/methodische Know How“ und „Gute Vernetzung mit Migrantenorganisationen“ mit je 71%.<br />
Daraus lässt sich ableiten, dass zur „good practice“ einer diversitätsgerechten Alterspolitik/-arbeit und<br />
einer altersgerechten <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit entsprechende finanzielle, personelle und fachliche<br />
Mittel gehören sowie eine gute Vernetzung mit Migrationsorganisationen und eine enge<br />
Zusammenarbeit mit MultiplikatorInnen derselben.<br />
Vielfalt der Altersbevölkerung (Fragebogen i. A.: IV.32 – IV.33.5)<br />
Die Aussage „Die wachsende Vielfalt der Altersbevölkerung (darunter insbesondere die Diversität<br />
nach nationaler Herkunft) ist eine Chance für die Alterspolitik/-arbeit meiner Gemeinde“ wurde nur den<br />
Altersbeauftragten vorgelegt. 37% der Antwortenden stimmten dieser Aussage zu, 33% verneinten sie<br />
und 30% waren der Ansicht, dass sie das nicht beurteilen können. Von der wachsenden Vielfalt nach<br />
78
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
nationaler Herkunft erwarten die Altersbeauftragten mit folgender Gewichtung “kulturelle<br />
Bereicherung der Alterspolitik und -arbeit“ (74%), „verschiedene, neue Modelle/Projekte im<br />
Altersbereich“ (70%) und eine „vielseitigere, neue Partizipationskultur“ (52%). Nur 37% erwarten<br />
„mehr Probleme/Konflikte“ und 36% „vermehrte Überforderung für die Alterspolitik und –arbeit“.<br />
Vertretung älterer MigrantInnen in Gremien (Fragebogen i. A.: IV.34 – IV.39)<br />
51% der antwortenden Altersbeauftragten bestätigen, dass in ihrer Gemeinde ein Seniorenrat<br />
existiert, 48% verneinen dies. 14% geben an, dass ältere Migrantinnen darin vertreten seien, 57%<br />
verneinen dies und 29% wissen es nicht. Die Zahl der Antwortenden ist hier nur hälftig, da ja die<br />
Hälfte der Antwortenden in ihrer Gemeinde über keinen Seniorenrat verfügt.<br />
Die Tatsache, dass fast in der Hälfte der Gemeinden der antwortenden Altersbeauftragten kein<br />
Seniorenrat besteht, weist darauf hin, dass die Partizipation der älteren Wohnbevölkerung vielerorts<br />
nicht über ein gesondertes Gremium gewährleistet ist. Dort, wo ein Seniorenrat existiert, sind jedoch<br />
MigrantInnen mehrheitlich nicht darin vertreten.<br />
Die Frage, ob ältere MigrantInnen in ihrer Gemeinde/ihrem Kanton in eigenen<br />
Organisationen/Vereinen organisiert seien, wurde wieder beiden Befragungsgruppen gestellt.<br />
Während die Altersbeauftragten dies mit 41% bejahen, mit 26% verneinen und es zu 33% nicht<br />
wissen, stimmen bei den <strong>Integration</strong>sdelegierten 36% dieser Frage zu, 42% verneinen sie und 23%<br />
wissen es nicht. Dass ein nicht unwesentlicher Teil der Antwortenden nicht weiss, ob ältere<br />
MigrantInnen in eigenen Organisationen/Vereinen organisiert sind, ist ein weiterer Hinweis dafür, dass<br />
es sich bei ihnen nicht um eine Zielgruppe handelt, zu der ein näherer Kontakt besteht. Dies ist<br />
insbesondere in Bezug auf die <strong>Integration</strong>sdelegierten ein nicht zu erwartendes Ergebnis, sollten<br />
diese doch die Migrationsbevölkerung als Ganzes, also altersunabhängig, als Zielgruppe ihres<br />
<strong>Integration</strong>s- bzw. Partizipationsauftrags verstehen.<br />
Von 11 antwortenden Altersbeauftragten geben 36% an, „die Arbeit und Angebote dieser<br />
Organisationen/Vereine zu kennen“, 9% verneinen dies und 55% kennen die Arbeit und Angebote<br />
zum Teil. Von 10 antwortenden <strong>Integration</strong>sdelegierten geben 40% an, die Arbeit und Angebote der<br />
Organisationen/Vereine der MigrantInnen zu kennen und 60% kennen sie zum Teil.<br />
Ob ihre Gemeinde/ihr Kanton mit Organisationen/Vereinen von MigrantInnen zusammenarbeite,<br />
bestätigten 44% der Altersbeauftragten, 41% verneinen es und 15% wissen es nicht. Bei den<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten bestätigen dies 87%, 7% verneinen es und 7% wissen es nicht.<br />
Wiederum nur den Altersbeauftragten legten wir eine Definition von Partizipation zur Bewertung vor:<br />
„Partizipation verstehen wir als einen gegenseitigen Prozess, der zwischen den verschiedenen<br />
Akteuren ausgehandelt werden muss. Das beinhaltet auch Prozesse der gegenseitigen Befähigung<br />
und des Lernens voneinander.“ Alle 27 antwortenden Altersbeauftragten stimmten dieser Definition<br />
zu.<br />
79
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Rahmenbedingungen erfolgreicher Partizipation (Frage u. Auswertung im Anhang F: IV.40 –<br />
IV.40.6)<br />
Hierzu mussten sich wieder beide Befragungsgruppen äussern. Für Rahmenbedingungen einer<br />
erfolgreichen Partizipation von älteren MigrantInnen gaben beide die folgenden drei häufigsten<br />
Antworten: „Ältere MigrantInnen partizipieren auch in den Strukturen und Netzwerken der Schwei-<br />
zerInnen“ (96% Altersbeauftragte und 90% <strong>Integration</strong>sdelegierte), „Strukturen und Formen der<br />
Partizipation werden von SchweizerInnen und älteren MigrantInnen vermehrt gemeinsam gegründet<br />
und umgesetzt“ (89% Altersbeauftragte und 80% <strong>Integration</strong>sdelegierte) und „SchweizerInnen lernen<br />
von den älteren MigrantInnen neue Partizipationsformen kennen und anwenden“ (85% Altersbe-<br />
auftragte und 63% <strong>Integration</strong>sdelegierte). Mit 78% der Altersbeauftragten und 50% der<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten sind die Befragten aber mehrheitlich auch der Meinung, dass sich ältere<br />
MigrantInnen an die Bedingungen/Strukturen/das Verständnis der SchweizerInnen und ihrer<br />
Gremien/Organisationen anpassen sollen. Für eine erfolgreiche Partizipation weniger stark gewichtet<br />
wurde hingegen die „hauptsächliche Partizipation älterer MigrantInnen in ihren eigenen<br />
Strukturen/Netzwerken.“ (22% der Altersbeauftragten und 45% der <strong>Integration</strong>sdelegierten.) Dies,<br />
obwohl an früherer Stelle die Selbstorganisation von MigrantInnen als wichtige Partizipations-<br />
ressource bewertet wurde.<br />
Insgesamt weist das Befragungsergebnis zu den Rahmenbedingungen einer erfolgreichen<br />
Partizipation auf folgende Tendenz hin: Die Befragten verstehen Partizipation als einen<br />
bidirektionalen, gegenseitigen Prozess. Zum einen sollen sich ältere MigrantInnen um Teilhabe an<br />
Strukturen und Formen der Partizipation von SchweizerInnen bemühen, zum andern sollen<br />
SchweizerInnen aber auch die Bereitschaft zeigen, von älteren MigrantInnen neue<br />
Partizipationsformen kennen- und anwenden zu lernen. Als wichtige Rahmenbedingung für<br />
erfolgreiche Partizipation erhält die Kooperation zwischen älteren MigrantInnen und SchweizerInnen<br />
bei der Gründung und Umsetzung von Strukturen und Formen der Partizipation deutliche<br />
Zustimmung.<br />
80
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Abbildung 9: Faktoren einer erfolgreichen Partizipation<br />
Rahmenbedingungen für eine gleichwertige Partizipation (Frage u. Auswertung in Anhang F:<br />
IV.41 – IV.41.11)<br />
Beide Befragungsgruppen erachten folgende Rahmenbedingungen für eine gleichwertige Partizipation<br />
älterer MigrantInnen für besonders wichtig: „Anerkennung der Migrationsbevölkerung als gleichwertige<br />
Zielgruppe der kommunalen Altersbevölkerung“ (96% Altersbeauftragte und 93%<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierte), „Enge Kooperation zwischen schweizerischen Altersorganisationen/-vereinen<br />
und derjenigen von MigrantInnen“ (89% Altersbeauftragte und 87% <strong>Integration</strong>sdelegierte) und<br />
„Politische Zielvorgaben für eine diversitätsgerechte Alterspolitik (entsprechende Strategie, Leitbild)“<br />
(78% Altersbeauftragte und 73% <strong>Integration</strong>sdelegierte).<br />
Die Altersbeauftragten gewichten zudem die Antwortkategorie „Bereitschaft, sich auf unvertraute<br />
Partizipationspraxen einzulassen“ mit 78% und die <strong>Integration</strong>sdelegierten die Antwortkategorie<br />
„Punktuelle Vertretung älterer MigrantInnen in Gemeinde- und Quartierprojekten“ mit 87%.<br />
Auch aus diesen Antworten wird die Zustimmung zu einem Partizipationsverständnis, das in der<br />
Interaktion zwischen MigrantInnen (-organisationen) und SchweizerInnen und ihren<br />
Organisationen/Institutionen ausgehandelt werden muss, ersichtlich. Zudem sind sich die Befragten<br />
mehrheitlich auch über den Stellenwert von Vorgaben (Strategie, Leitbild) für eine diversitätsgerechte<br />
Alterspolitik einig. Diversitätsgerecht kann an dieser Stelle auch übersetzt werden mit der<br />
Ermöglichung gleichwertiger Partizipationschancen. Mit diesem Ergebnis zeigt sich somit eine Kluft<br />
zwischen der Einschätzung der Realität in den Gemeinden/Kantonen durch die Befragten (unter Pt. 15<br />
hat die Mehrheit beider Befragungsgruppen verneint, dass in ihrer Gemeinde bereits eine<br />
diversitätsgerechte Alterspolitik und –arbeit praktiziert werde) und der bei diesen Antworten erfolgten<br />
81
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Einschätzung der Notwendigkeit von Rahmenbedingungen für eine gleichwertige Partizipation der<br />
älteren Migrationsbevölkerung bzw. einer diversitätsgerechten Alterspolitik und –arbeit.<br />
Interpretation: Diversitätsgerechte Alterspolitik/-arbeit und altersgerechte <strong>Integration</strong>spolitik/-<br />
arbeit: Schritte für eine erfolgreiche und gleichwertige Partizipation der älteren<br />
Migrationsbevölkerung<br />
Die Befragung zeigt als Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Partizipation folgende Tendenzen<br />
auf: Es benötige ein Verständnis von Partizipation als bidirektionalen und gegenseitigen Prozess, in<br />
dem sich einerseits ältere MigrantInnen um die Teilhabe an Strukturen und Formen der Partizipation<br />
von SchweizerInnen bemühen sollen, und andererseits SchweizerInnen auch die Bereitschaft zeigen<br />
sollen, von älteren MigrantInnen neue Partizipationsformen kennen- und anwenden zu lernen. Wichtig<br />
sei es daher, die Kooperation bereits bei der Gründung und Umsetzung von Strukturen und Formen<br />
der Partizipation zu suchen.<br />
Mit der Frage nach der gleichwertigen Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung ist gemäss<br />
Ergebnissen auch eine Haltungsfrage verbunden. Die „Anerkennung der Migrationsbevölkerung als<br />
gleichwertige Zielgruppe der kommunalen Altersbevölkerung“ ist eine wesentliche Voraussetzung,<br />
damit Partizipation gleichwertig erfolgen kann. Zudem kommt politischen Zielvorgaben, die in<br />
Strategien und Leitbildern ihren Ausdruck finden, ein entscheidender Stellenwert zu. Eine<br />
diversitätsgerechte Alterspolitik und –arbeit bedeutet die Ermöglichung gleichwertiger<br />
Partizipationschancen für alle Gruppen, auch für MigrantInnen. Trotz teilweiser engagierter<br />
Bestrebungen (vgl. dazu die Ergebnisse aus den telefonischen Interviews in Kapitel 5.2.2 sowie die<br />
inhaltlichen Kommentare der Antwortenden im Anhang F) kann gemäss der durchgeführten Umfrage<br />
heute noch nicht von einer diversitätsgerechten Alterspolitik und –arbeit als Selbstverständlichkeit und<br />
im Sinne eines erfolgreichen Mainstreamings gesprochen werden. Erste Anfänge und eine<br />
zunehmende Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer solchen als Antwort auf die wachsende<br />
Diversität der aktuellen und künftigen Altersbevölkerung sind jedoch deutlich festzustellen.<br />
Zusammenfassende Kritik am Fragebogen seitens der Befragten<br />
6 der Total 81 antwortenden Befragten nutzten die dafür zur Verfügung gestellte Möglichkeit, um eine<br />
Kritik am Fragebogen anzubringen, die der Transparenz halber an dieser Stelle zusammenfassend<br />
festgehalten wird:<br />
Die hauptsächlich geäusserte Kritik bezog sich darauf, dass die drei Antwortkategorien „ja“, „nein“ und<br />
„weiss nicht“ die komplexere Realität nur unzureichend abzubilden vermögen. Eine weitere Kategorie<br />
„teilweise“ wäre hilfreich gewesen. Im Weiteren wäre eine Kategorie „Mangelnde Mittel“ nützlich<br />
gewesen, da es sich nicht immer um fehlenden politischen Willen handle, wenn keine gezielten<br />
Bemühungen unternommen würden, sondern vielfach um fehlende finanzielle und personelle<br />
Ressourcen.<br />
Eine weitere Kritik wurde an der zu pauschalen Definition der „älteren Migrationsbevölkerung“<br />
geäussert bzw. an einer fehlenden Differenzierung nach Altersklassen, Zugehörigkeit zu sozialem<br />
82
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Milieu und nationaler Herkunft. Diese hätten dann zwingend zu pauschalisierenden Antworten geführt,<br />
die wiederum der komplexeren Realität und der Heterogenität der Zielgruppe nicht genügend<br />
Rechnung tragen können.<br />
Stellungnahme zur Kritik<br />
Die angeführte Kritik bestätigt die quantitativen Grenzen einer Masterarbeit. Mit der schriftlichen<br />
Befragung verfolgten wir nicht den Anspruch, hoch differenzierte Ergebnisse und Erkenntnisse zum<br />
komplexen Phänomen der Partizipation einer in sich heterogenen älteren Migrationsbevölkerung zu<br />
erhalten. Vielmehr handelt es sich methodisch um ein exploratives Vorgehen, mit welchem wir grobe<br />
Tendenzen aufzeigen und ein erstes Bild erheben wollten über die Wahrnehmung der hier<br />
untersuchten Thematik seitens der Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten. Der Hinweis, dass<br />
die ältere Migrationsbevölkerung nicht homogen ist, und daher die Antwortmöglichkeiten, da nicht<br />
differenziert nach verschiedenen Altersgruppen, Geschlecht, Herkunft, Schichtzugehörigkeit, etc. zu<br />
pauschal sind, ist berechtigt und wird von den Autorinnen im Grundsatz geteilt. In unserer<br />
Masterarbeit legen wir jedoch aus Gründen der Eingrenzbarkeit den Fokus auf die „ältere<br />
Migrationsbevölkerung ab Pensionierungsalter“ und haben dies auch so definiert. Sie setzt sich zum<br />
heutigen Zeitpunkt noch mehrheitlich aus ArbeitsmigrantInnen der ersten Einwanderungsgeneration<br />
nach dem zweiten Weltkrieg, d.h. primär aus ItalienerInnen, gefolgt von SpanierInnen zusammen.<br />
Hiermit ergibt sich automatisch eine „gewisse Homogenisierung“, z.B. nach Migrationsmotiven,<br />
gemeinsamen Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen Umfeld jener Zeit, das ihre<br />
<strong>Integration</strong>/Partizipation politisch nicht vorsah (Stichwort: Kohortenzugehörigkeit) etc. Die Kritik, dass<br />
diese Definition zu pauschal sei und die komplexere Differenzierung dieses Bevölkerungssegments<br />
nicht widerspiegle, könnte jedoch für allfällige Folgeuntersuchungen berücksichtigt werden.<br />
5.2.2 Ergebnisse der telefonischen Nachbefragung<br />
Die oben zusammengefasste Kritik wurde vermutet. Aus diesem Grund erhielten die Befragten bereits<br />
im Fragebogen die Möglichkeit anzugeben, wenn sie grundsätzlich mit einem zusätzlichen<br />
Telefongespräch von maximal 15 Minuten einverstanden waren. Erfreulicherweise hat rund die Hälfte<br />
der Antwortenden (= Total 42 Personen) ihre Bereitschaft dazu bestätigt. Um den Aufwand in Grenzen<br />
zu halten, haben wir uns für ein quantitativ beschränktes, stichprobeartiges Vorgehen entschieden<br />
und mit insgesamt 16 Personen Telefongespräche geführt zu folgenden drei offenen Fragen:<br />
1. Was beobachten Sie zur Situation älterer MigrantInnen in Ihrer Gemeinde/Ihrem Kanton?<br />
2. Wie wird in Ihrer Gemeinde/Ihrem Kanton mit dieser Zielgruppe umgegangen?<br />
3. Was würden Sie wichtig finden bezüglich Partizipation der älteren MigrantInnen?<br />
Im Folgenden sind die Ergebnisse aufgrund der meist genannten Aussagen zusammengestellt. Dort,<br />
wo konsensuale Meinungen vertreten wurden, wird dies in Klammer vermerkt.<br />
83
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
1. Situation älterer MigrantInnen in den Gemeinden/Kantonen<br />
Ältere MigrantInnen sind demografisch noch kein wichtiger Faktor und treten in der<br />
Gemeindeöffentlichkeit kaum in Erscheinung. Sie sind mehrheitlich auch noch keine KlientInnen<br />
in Alterseinrichtungen und –diensten, daher liegen auch nur wenige oder keine Daten zu dieser<br />
Zielgruppe vor. Dies wird sich in den nächsten Jahren ändern. (Konsens)<br />
Die ältere Migrationsbevölkerung bildet keine homogene Bevölkerungseinheit, sondern ist in<br />
sich sehr heterogen.<br />
Ältere MigrantInnen verfügen über viel Lebenserfahrung und somit über Ressourcen. Ihre<br />
soziale Vernetzung in Vereinen, ihre gegenseitige Unterstützung in Form des freiwilligen<br />
Engagements sowie ihre gute Selbstorganisation und –hilfe (auf Italienerinnen und<br />
SpanierInnen bezogen) fallen dabei besonders auf.<br />
Ältere MigrantInnen haben ein deutliches Informationsdefizit bezüglich ihrer Situation und ihrer<br />
Rechte nach der Pensionierung (Aufenthaltsbedingungen im Alter und Alterssicherung (AHV,<br />
EL, Pensionskasse) im Rahmen der bilateralen Verträge, etc.) Im Weiteren sind sie meist bei<br />
eintretendem Unterstützungsbedarf oder Pflegebedürftigkeit nicht über stationäre (Alters- und<br />
Pflegeheime) und ambulante (Spitex, etc.) Dienstleistungen informiert und verfügen über keine<br />
oder nur unzureichende Kenntnisse über das schweizerische Altershilfe- und pflegesystem.<br />
(Konsens)<br />
Ältere MigrantInnen aus Italien und Spanien werden stark in ihre eigenen Vereinsstrukturen<br />
integriert erlebt bzw. in ihren eigenen Familiensystemen eingebunden. (Konsens)<br />
Ältere MigrantInnen bedauerten und kritisierten, dass sie erst nach dreissig Jahren<br />
Landesanwesenheit explizit zu Informationsveranstaltungen eingeladen werden.<br />
Bedürfnisse, die bei älteren MigrantInnen festgestellt werden, sind:<br />
1. Altersgerechte, in die Alltagswelt eingebettete Deutschkurse (weitgehend Konsens)<br />
2. Muttersprachliche und niederschwellig vermittelte Information zu Fragen nach der<br />
Pensionierung (Alterssicherung (AHV, EL, Pensionskasse), Aufenthaltsrecht,<br />
Altersversorgung und –pflegemöglichkeiten, sowohl stationär als auch Zuhause)<br />
(weitgehend Konsens)<br />
3. Information über Strukturen und Möglichkeiten der Partizipation (= Voraussetzung zur<br />
aktiven Teilhabe)<br />
4. Beteiligung bei der Schaffung bedürfnisgerechter Unterbringungs- und Pflegemodelle im<br />
Alter<br />
5. Treffpunkte und Unterstützung für Aktivitäten in ihren eigenen Strukturen<br />
6. Alter sei innerhalb der Migrationsgemeinschaften selbst noch kein prioritäres Thema.<br />
2. Umgang der Gemeinde/des Kantons mit älteren MigrantInnen<br />
Das Bewusstsein, dass ältere MigrantInnen gemäss demografischer Entwicklung bald eine<br />
neue Zielgruppe der Gemeinde/des Kantons sein werden, ist am Wachsen. Die Sensibilität<br />
dafür wird spätestens dann eintreten, wenn ältere MigrantInnen zu relevanten<br />
84
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
KlientInnen/KundInnen von Altersdienstleistungen und –einrichtungen der Gemeinden/Kantone<br />
werden. (Konsens)<br />
Bisher bestehen mehrheitlich punktuelle Bemühungen und Initiativen, ältere MigrantInnen mit<br />
ihren Bedürfnissen zu erreichen, sei es mit dem Aufbau von Sonderdienstleistungen, oder aber<br />
mit Bestrebungen zur Verbesserung ihres Zugangs und ihrer Nutzung von Regeldiensten/-<br />
angeboten im Altersbereich. Beide Ansätze werden parallel und als notwendige Kombination für<br />
die ältere erste Einwanderungsgeneration geltend gemacht. (Konsens)<br />
Die Erkenntnis wächst, dass „ältere MigantInnen“ eine Zielgruppe sind, die seitens der<br />
Gemeinden/Kantone einem gewissen Marginalisierungsrisiko ausgesetzt ist. Bei fehlender<br />
Vernetzung/Zusammenarbeit zwischen der Alterspolitik/-arbeit und der <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit<br />
besteht die Gefahr, dass diese Gruppe „zwischen Stuhl und Bank“ fällt, zumal sie (bisher) auch<br />
häufig weder in der Öffentlichkeit noch als KlientInnen auffällt und somit keine Aufmerksamkeit<br />
erregt. Gemeinden/Kantone, welche bereits eine gezielte Zusammenarbeit zwischen Alters- und<br />
<strong>Integration</strong>sbereich pflegen (z.B. gemeinsame Tagungen oder Foren, gegenseitige Mitwirkung<br />
und Vernehmlassung bei der Erarbeitung von Alters- bzw. <strong>Integration</strong>sleitbildern), berichten von<br />
guten Erfahrungen und sehen dies als Zukunftsmodell.<br />
Die Beauftragten/Delegierten der Gemeinden/Kantone stellen fest, dass ältere MigrantInnen<br />
häufig zu den schwer erreichbaren Zielgruppen gehören. Gute Erfahrungen damit belegen,<br />
dass die zweite Generation einbezogen werden muss, um die Erreichbarkeit zu verbessern.<br />
(Konsens)<br />
Die Situationen, in denen ältere MigrantInnen den Gemeinden als KlientInnen ihrer<br />
Altersarbeit/-hilfe gegenüberstehen, nehmen zu. Dabei erleben Fachpersonen der Altersarbeit<br />
und –pflege immer wieder Verunsicherungen und benötigen daher Weiterbildung, um ihre<br />
Kompetenz im Umgang mit älteren MigrantInnen zu fördern.<br />
3. Wichtige Faktoren für die Partizipation älterer MigrantInnen<br />
Die lokale demografische Datenbasis zur älteren Migrationsbevölkerung muss verbessert<br />
werden, damit die Gemeinden mehr konkrete Anhaltspunkte und eine informiertere<br />
Ausgangslage haben für die Zusammenarbeit mit dieser Zielgruppe.<br />
Die Bedürfnisse älterer MigrantInnen bezüglich Partizipation sind zielgruppenspezifisch im<br />
lokalen Kontext zu erheben. (Konsens)<br />
Voraussetzung für ihre Partizipation ist eine offene und konsequente Informations- sowie<br />
Willkommenskultur. Ältere MigrantInnen müssen sich zur Partizipation eingeladen und<br />
willkommen fühlen. Informations- und Kommunikationswege/-mittel sind von MigrantInnen<br />
mitzugestalten, wenn sie die älteren Menschen ihrer eigenen Zielgruppe erreichen sollen.<br />
Die Erreichbarkeit der Zielgruppe sollte mit angepassten Mitteln sicher gestellt werden<br />
(muttersprachliche Übersetzung, Zusammenarbeit mit Kontaktpersonen aus<br />
Migrationsgemeinschaften sowie mit Migrationsorganisationen; aufsuchender Settingansatz:<br />
lebensraum- und milieubezogen). (Konsens)<br />
85
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Befähigung und Empowerment: Ältere MigrantInnen sind als MultiplikatorInnen zu schulen<br />
zwecks Verbreitung der Information über wichtige Themen im Alter und die entsprechenden<br />
Dienstleistungen in der Gemeinde/im Kanton; Ältere MigrantInnen und ihre Vereine sind<br />
ebenfalls administrativ und strategisch zu unterstützen bei ihren Initiativen sowie konkret bei der<br />
Eingabe von Projektgesuchen und Finanzierungsanträgen für ihre Aktivitäten und<br />
Infrastrukturen.<br />
Die Information über Partizipationsstrukturen, -formen und -möglichkeiten sowie über den<br />
Zugang zu Regelstrukturen der Partizipation ist zu fördern; Gemeinden/Kantone müssten eine<br />
gezielte Partizipationsermöglichung bieten. Sie haben in Bezug auf ältere MigrantInnen – eine<br />
häufig schwer erreichbare Zielgruppe - eine sogenannte „Bring-Schuld“. Es ist Aufgabe der<br />
Dienstleister im Altersbereich, ihre Angebote mit einem aufsuchenden Ansatz an die Zielgruppe<br />
„ältere MigrantInnen“ heranzutragen.<br />
Die Gemeinden/Kantone sollen ihre Steuerungsmöglichkeiten der Partizipation gezielt nutzen:<br />
beispielsweise nur neue Projekte/Angebote und Dienstleistungen unterstützen, bei denen<br />
nachgewiesen wird, dass die Zielgruppe „ältere MigrantInnen“ bereits bei der Konzipierung aktiv<br />
mitgewirkt hat (Stichwort: Partizipation nicht für, sondern mit den Betroffenen).<br />
Um die <strong>Integration</strong> bzw. Partizipation der älteren MigrantInnen zu erreichen, sind als erste<br />
Zielgruppe die stationären und ambulanten Dienstleister in den Regelstrukturen des<br />
Altersbereichs anzugehen. Bei ihnen ist die Bereitschaft zu wecken, vermehrt bedürfnis- und<br />
somit zielgruppenorientiert und weniger angebotsorientiert zu arbeiten. Im Fokus<br />
diversitätsgerechter Partizipationsstrukturen im Alter stehen somit nicht bereits entwickelte<br />
Angebote, sondern die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen, darunter diejenigen älterer<br />
MigrantInnen. Unter ihrer Mitwirkung sind für die Regelstrukturen Innovationsangebote zu<br />
entwickeln.<br />
Ältere MigrantInnen müssen im Fokus der Politik einer Gemeinde/eines Kantons stehen (Ziele,<br />
Strategie und Leitbilder, an denen die Zielgruppe mitgewirkt hat und die entsprechend auch<br />
konkret umgesetzt werden), wenn ihre Partizipation gefördert und erfolgreich - d.h. auch<br />
nachhaltig und nicht nur projektbezogen - erreicht werden soll.<br />
Eine gute Selbstorganisation von MigrantInnen vereinfacht die Zusammenarbeit. Bei der<br />
italienischen und spanischen Migrationsbevölkerung ist diese weitgehend gegeben, schwieriger<br />
sei dies bei neuen Migrationsgruppen, die altern, und bei welchen für die Partizipation nicht auf<br />
bewährte Vereinsstrukturen zurückgegriffen werden könne (z.B. Personen aus dem Balkan).<br />
(Konsens)<br />
Wenn Gemeinden/Kantone mit Migrationsgemeinschaften entlang ethnischer Kriterien<br />
zusammenarbeiten, stellen sich ihnen das Problem der Repräsentanz und hiermit folgende<br />
Fragen: „Welche Vereine, Kontaktpersonen oder MultiplikatorInnen können für sich in Anspruch<br />
nehmen, das „ethnische Kollektiv“ zu vertreten? Gibt es eine solche Repräsentanz überhaupt<br />
und macht es angesichts der grossen innerethnischen Heterogenität der MigrantInnen<br />
überhaupt Sinn, die Zusammenarbeit bzw. Altersarbeit mit sogenannten ethnischen Gruppen zu<br />
86
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
suchen? Müssten nicht vielmehr andere Faktoren der Zielgruppenorientierung herangezogen<br />
werden wie Geschlecht, sozioökomische Zugehörigkeit, Migrationsursache, Bildungsgrad, etc.?<br />
Regelmässiger Kontakt der Altersbeauftragten/<strong>Integration</strong>sdelegierten zu<br />
Migrantenorganisationen sowie Interesse für dieselben sind eine wichtige Bedingung, um die<br />
Partizipationsbereitschaft älterer MigrantInnen zu gewinnen.<br />
5.2.3 Ergebnisse aus der Fokusgruppe<br />
In diesem Kapitel werden die Resultate der Fokusgruppe mit den Altersinstitutionen und –<br />
Organisationen von Stadt und Kanton Bern präsentiert. Dabei werden diejenigen<br />
Diskussionsergebnisse festgehalten, welche neue, ergänzende oder inhaltlich vertiefende<br />
Informationen liefern oder aber solche, die von den Ergebnissen aus der elektronischen Befragung<br />
der GemeindevertreterInnen abweichen. Zwecks Illustration werden zudem stellenweise Zitate aus<br />
der Diskussion herbeigezogen. Die übrigen Ergebnisse aus der Fokusgruppendiskussion bestätigten<br />
weitgehend die Befragungsergebnisse, insbesondere diejenigen aus der telefonischen<br />
Nachbefragung, und werden deshalb nicht nochmals wiedergegeben (vgl. Kapitel 5.2.2). Bei der<br />
Textanalyse der transkribierten Fokusgruppendiskussion wurde ein induktives Vorgehen gewählt, das<br />
die Erarbeitung generalisierter Themenschwerpunkte ermöglicht, d.h. es wurde nach einer Häufung<br />
ähnlicher Aussagen gesucht, die einen übergeordneten Konsens ergeben.<br />
Fragebereich 1)<br />
Was ist aus Sicht der ExpertInnen aus dem Altersbereich zu berücksichtigen, um ältere MigrantInnen<br />
erfolgreich zu erreichen und für die aktive Partizipation zu gewinnen?<br />
Mittel der Information/Kommunikation?<br />
(Gelingen diese? Was wäre aufgrund der bisherigen Erfahrungen zu optimieren?)<br />
Diskussionsergebnisse:<br />
Konsens besteht bezüglich der schwierigen Erreichbarkeit der älteren MigrantInnen. Um diese zu<br />
verbessern, sei unbedingt ein kombiniertes Vorgehen zu wählen, d.h. müsse man verschiedene<br />
Informations-/Kommunikationskanäle zugleich – sowohl mündliche als auch schriftliche (in übersetzter<br />
Form) - nutzen.<br />
Bezüglich sprachlicher Erreichbarkeit bestehe ein deutlicher Nachholbedarf. Eine grössere<br />
Mehrsprachigkeit beim Personal schweizerischer Institutionen/Organisationen im Altersbereich wäre<br />
eine wichtige institutionelle Ressource, um die Erreichbarkeit der Zielgruppe älterer MigrantInnen zu<br />
verbessern.<br />
Eine weitere Schwierigkeit zeige sich bei der schriftlichen Erreichung. MigrantInnen erscheinen, wenn<br />
sie eingebürgert und/oder mit SchweizerInnen verheiratet sind, in den Adressdateien in der Regel<br />
nicht mehr als solche. Eine grosse Gruppe könne somit nicht erreicht werden. Ein Teilnehmer schlägt<br />
87
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
vor, Kontakt mit der AHV aufzunehmen. Über diese Versicherung liegen immer aktualisierte Daten<br />
vor, die eine Erreichbarkeit gewährleisten.<br />
Die Erreichbarkeit von SeniorInnen wird grundsätzlich nicht als einfach eingeschätzt, auch bei der<br />
Schweizer Bevölkerung. Umso schwieriger gestalte sie sich bei MigrantInnen. Zudem spiele es eine<br />
Rolle, dass letzteren die direkte demokratische Partizipation in Form des Stimm- und Wahlrechts<br />
verwehrt sei, was sich für die Partizipation in anderen Formen und Bereichen des gesellschaftlichen<br />
Lebens nicht motivationsfördernd auswirke.<br />
Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob man die älteren MigrantInnen bereits zu einem früheren<br />
Zeitpunkt, beispielsweise mit 55+ erreichen und ansprechen soll, zu einem Zeitpunkt also, in dem sie<br />
noch aktiv im Erwerbsleben stehen.<br />
Ebenfalls kontrovers war die Haltung, inwieweit die ethnische Gruppenzugehörigkeit ein dominantes<br />
bzw. prägendes Merkmal sei und ein jeweils unterschiedliches Vorgehen zur Erreichung von<br />
Partizipation bedinge oder nicht. Mehrheitlich wurde in dieser Frage differenziert in ItalienerInnen<br />
(teilweise zusammen mit SpanierInnen) zum einen und in andere Gruppen (TürkInnen, Personen aus<br />
dem Balkan, TamilInnen sowie Personen aus anderen Ländern der Welt).<br />
Können ältere MigantInnen einmal unter Rückgriff auf bestehende Netze erreicht werden, sei danach<br />
das „Schneeballprinzip“ ein erfolgreiches Instrument, um ihre Partizipation zu fördern:<br />
„Ich habe auf mein Netz zurückgegriffen (…) das sind Leute aus der interkulturellen Übersetzung, sind<br />
zum Teil Frauen, die bei uns auch in ihrer Muttersprache Seniorenkurse geben, und an Altersarbeit<br />
interessiert sind und selber ein grosses Netz haben. (…) Ich habe dann zwei Leute motiviert zu<br />
kommen, ja, so ist die Gruppe entstanden und einige haben dann wieder weitere Personen<br />
mitgebracht. Das ist also übers persönliche und übers Arbeitsnetz gelaufen. (…) Dann haben sich<br />
auch Tandems gebildet und Personen, die besser Deutsch können, haben immer für eine andere<br />
Person übersetzt.“<br />
Voraussetzung für Erfolge in der Erreichbarkeit und Partizipationsförderung seien deutliche Signale<br />
seitens der VertreterInnen schweizerischer Organisationen/-institutionen des Altersbereichs, dass die<br />
Beteiligung der älteren MigrantInnen tatsächlich gewünscht wird. Die Erwartungen seien jedoch in<br />
einem realistischen Rahmen zu halten:<br />
„Also ich denke, es ist immer wichtig, auch zu schauen, was wäre eine realistische Erwartung, die<br />
weder die Partizipation anbietenden Menschen, noch die abholenden oder nutzenden überfordert.“<br />
Ausserdem wurde auch darauf hingewiesen, dass es ein Recht auf „Nicht-Erreichbarkeit“ gebe bzw.<br />
entsprechend auch ein Recht darauf, nicht partizipieren zu wollen/müssen. Bei älteren<br />
ArbeitsmigrantInnen der ersten Einwanderungsgeneration aus Italien und Spanien sei dies umso mehr<br />
zu respektieren, als sie in der Regel 30 – 40 Jahre in der Schweiz gelebt haben mit der Erfahrung, als<br />
Arbeitskräfte, nicht jedoch als an dieser Gesellschaft partizipierende BürgerInnen gefragt zu sein.<br />
88
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ein weiterer Aspekt, welcher die Erreichbarkeit und Bereitschaft zur Partizipation erschwere, könne<br />
auch in persönlichen negativen Erfahrungen älterer MigrantInnen liegen, die sie im Laufe ihrer<br />
Biografie in der Schweiz gemacht haben. Viele seien deshalb auch heute noch Behörden gegenüber<br />
misstrauisch und ängstlich. Anstatt positiver Angebote zur Partizipation, erwarten sie eher die<br />
gewohnte Kontrolle. Diese erworbene Abwehrhaltung vermögen dann auch gut gemeinte und<br />
konstruktive Bemühungen von Seiten der Altersinstitutionen und –organisationen nicht mehr immer<br />
aufzulösen:<br />
„Mir war das gar nicht bewusst, dass das ein Problem sein könnte. Scheinbar ist es aber ein Thema<br />
für viele und in dem Sinn auch eine Aufgabe für die Behörden, da Hemmungen abzubauen.“<br />
Als weitere Erklärung für die Schwierigkeit, ältere MigrantInnen zu erreichen und für die Partizipation<br />
ausserhalb ihrer eigenen Lebenswelt zu gewinnen, wird die starke Binnenintegration der italienischen<br />
ArbeitsmigrantInnen der ersten Einwanderungsgeneration der Nachkriegszeit in die Gruppe der<br />
eigenen Landsleute als Reaktion auf das fremdenfeindliche gesellschaftliche Umfeld der Schweiz in<br />
ihren jungen Jahren (60-er und 70-er Jahre) herbeigezogen:<br />
„Das ist noch heutzutage die Mentalität. ‚Wir helfen uns selber, das ist die beste Lösung. Wir haben<br />
kein Vertrauen in die Institutionen‘ (…) Das war ihre Überlebenskraft, die sie hatten. ‚Wir gegen alle‘.<br />
Und was bedeutet das, wenn jemand zwanzigjährig in die Schweiz kommen musste, nur um zu<br />
arbeiten, ohne Rechte, nur arbeiten. Wurdest Du krank, warst Du weg. Das ist den Leuten als Gefühl<br />
geblieben. Leider. Und das wird sehr schwierig sein, das zu ändern. (…) Ich bin überzeugt, wir werden<br />
es nie ändern. Das geht nicht. Es gibt Sachen im Leben, die man leider nicht mehr ändern kann.“<br />
Fragebereich 2)<br />
Als ExpertInnen im Altersbereich haben Sie den Auftrag, die Partizipation der Altersbevölkerung, also<br />
auch der älteren Migrantinnen und Migranten zu fördern.<br />
Wo und wie (konkrete Beiträge) wünschen Sie sich die Partizipation von älteren MigrantInnen?<br />
Wo und wie ermöglicht Ihre Gemeinde/Institution/Organisation diese Partizipation<br />
(Rahmenbedingungen)?<br />
Diskussionsergebnisse:<br />
Der Begriff der Partizipation wird kontrovers diskutiert. Die ExpertInnen wünschen, dass ältere<br />
MigrantInnen ihre Bedürfnisse formulieren (können). Um zu partizipieren brauche es MigrantInnen, die<br />
ihre eigenen Interessen vertreten. Allerdings habe diese erste Einwanderungsgeneration in der<br />
Schweiz nicht Bedingungen vorgefunden, welche der Partizipationsbereitschaft und -kompetenz<br />
förderlich waren:<br />
„Sie sind es nicht gewohnt, dass ihre Meinungen und Erwartungen gefragt sind und äussern diese<br />
daher auch nicht einfach von sich aus aktiv. (…) So wie wir leben, so gehen wir dann auch ins Alter.“<br />
89
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Um Bedürfnisse formulieren zu können und diese in aktiver Partizipation auch geltend zu machen,<br />
müsse zudem die Wahl des Lebensorts im Alter entschieden sein. Viele ältere MigrantInnen seien<br />
jedoch gerade bezüglich dieses Entscheids ambivalent und zwischen den Optionen Italien oder<br />
Schweiz hin- und hergerissen:<br />
„Häufig ist es auch schwierig, dass sie die Bedürfnisse gar nicht genau sagen können, denn sie sind<br />
zerrissen zwischen der Sehnsucht oder der Erwartung, im Alter vielleicht nach Italien zurück zu gehen<br />
oder hier zu bleiben. Aber jetzt sind sie hier, und hier sind die Kinder und Enkelkinder, und darum<br />
möchten sie eigentlich hier bleiben. Und dann ist es sehr schwierig, die Bedürfnisse überhaupt zu<br />
formulieren, was möchte ich denn eigentlich? Ich möchte dort sein und hier sein und Familie und alles.<br />
Ja.“<br />
Konsens besteht zur wichtigen Funktion der Selbstorganisation unter ItalienerInnen, welche auch<br />
gegenseitige Selbsthilfe beinhalte und daher eine gewisse „Selbstgenügsamkeit“ oder „Autarkie“<br />
entwickle. Es sei fraglich, ob die Partizipation ausserhalb der eigenen Strukturen für die älteren<br />
ItalienerInnen überhaupt ein Ziel sei:<br />
„Sie nehmen ihre Aktivitäten selber in die Hand und sie kommen so wahrscheinlich am Weitesten.“<br />
Die Fokusgruppe ist sich einig, dass eine Selbsthilfegruppe und andere Selbstorganisation in eigenen<br />
Strukturen auch Formen von Partizipation darstellen.<br />
Die ExpertInnen sind sich zudem einig, dass die Verständigungsmöglichkeit in der deutschen Sprache<br />
eine wichtige Grundlage für die Partizipation in der deutschsprachigen Schweiz ist. Die<br />
Sprachkompetenzen älterer MigrantInnen sollten daher in altersgerechten, niederschwelligen und<br />
anwendungsorientierten Kursen gefördert werden. Die praktische Durchführung zeige dann bisweilen,<br />
dass Personen derselben ethnischen Lerngruppe über ein unterschiedliches Bildungskapital verfügen:<br />
„Das ist eine Feststellung, die wir in unseren Kursen machen, dieser Spagat zwischen wenig<br />
schulischer Bildung und dann gibt es Leute, die haben viel und die sind in derselben Gruppe. Das<br />
alles irgendwie unter einen Hut zu bringen, das ist einfacher gesagt als getan.“<br />
Grundsätzlich sei für ein funktionierendes Zusammenleben auf Gemeindeebene die soziale, kulturelle<br />
und auch politische Partizipation älterer MigrantInnen in möglichst allen Bereichen wünschenswert.<br />
Auch Vereine sowie Fachgremien (für Alters- oder <strong>Integration</strong>sfragen) würden hier eine wichtige<br />
Funktion einnehmen. Die Fokusgruppe ist sich einig, dass MigrantInnen zumindest bei lebensraum-<br />
und alltagsbezogenen Themen wie Alter, Quartier, Wohnen und Verkehr ein Mitsprache- und<br />
Mitbestimmungsrecht haben sollten. Auch ihre politische Partizipation sei in diesem Rahmen<br />
wünschenswert:<br />
„Also, sie sind ja genau so gleichwertige Bürger wie die Schweizer auch. Dadurch sollten sie auch<br />
gleich einbezogen werden.“ (…) „Ich würde es auch so sagen, es geht auch um das Thema Nutzung<br />
einer Ressource, die viel zu wenig geschätzt wird, ganz allgemein, nicht nur migrationsspezifisch.“<br />
90
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Teilweise berichten die ExpertInnen von Vorgaben ihrer Gemeinde oder ihrer Institution, künftig bei<br />
allen geplanten Projekten/Dienstleistungen/Angeboten mit MigrantInnen, eine Person mit<br />
Migrationshintergrund in die Mitarbeit einzubeziehen. In der Praxis stelle sich dann jedoch häufig das<br />
Problem, dass immer dieselben Personen (die sogenannten ständigen MigrantInnenvertretungen)<br />
angefragt würden, was einerseits zu einer einseitigen Repräsentanz und anderseits zur Überlastung<br />
dieser Personen führe. Hier gebe es somit Handlungsbedarf bei der Rekrutierung eines vielfältigeren<br />
Personalpools unter den MigrantInnen.<br />
Für ältere MigrantInnen spielen die „richtigen“ Rahmenbedingungen für ihre Partizipation eine wichtige<br />
Rolle. Die ExpertInnen bestätigen ausnahmslos das weit verbreitete Bedürfnis, eine ständige<br />
Infrastruktur, „ihren“ Treffpunkt für ihre Aktivitäten zu haben:<br />
„Dieser Wunsch, ein Lokal zu haben, wo man hingehen kann und sicher sein kann, dass dort jemand<br />
ist, den man kennt, mit dem man spielen, essen trinken, etwas besprechen, eben etwas tun kann. Das<br />
ist unterdessen sehr stark formuliert und an unserem Runden Tisch auch immer wieder diskutiert.“<br />
Das Bedürfnis nach eigenen Lokalitäten scheine ein prioritäres zu sein und werde auch als Erwartung<br />
formuliert und mit einer klaren Anspruchshaltung ausgedrückt:<br />
„Ihr müsst. Wir haben doch schon so lange für Euch gearbeitet. Jetzt müsste Euch das (das zur<br />
Verfügung stellen eines Alterstreffpunkts: Anmerkung der Autorin) wert sein.“<br />
Es gibt Gemeinden, in welchen Partizipation auf einer ganz niederschwelligen Ebene in Form einer<br />
ständigen offenen Gesprächsrunde (Runder Tisch) gemeinsam zwischen älteren MigrantInnen und<br />
SchweizerInnen funktioniere. Diese müsse jedoch in der Regel eng begleitet sein und gründe auf<br />
persönlichen Beziehungsnetzen:<br />
„Es geht darum, das Netz zu stärken, damit sich die Leute an einem Ort treffen können. (…) Aber das<br />
ist etwas, das Zeit braucht. Zu dieser Form der Partizipation gehört immer eine verantwortliche Person<br />
in der Gemeinde oder in der Pfarrei, ein Raum, eine Infrastruktur, ein Eingeladensein und kein<br />
Aufdrängen.“<br />
Übereinstimmend identifizieren die ExpertInnen die Freiwilligenarbeit als einen wichtigen<br />
gesellschaftlichen Bereich, in dem ältere MigrantInnen partizipieren sollen und erfahrungsgemäss<br />
auch wollen. Zum einen konzentriert sich diese auf deren eigene soziale Netzwerke, immer wieder<br />
erleben es die ExpertInnen aber auch, dass ältere MigrantInnen sich für Freiwilligenarbeit bei einer<br />
schweizerischen Institution melden und diese dann häufig – aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse<br />
der InteressentInnen - mit konkreten Einsatzangeboten überfordert sei:<br />
„Es gibt eine Gruppe albanischer SeniorInnen, und deren Leiterin ist zu mir gekommen und hat<br />
gesagt, unsere Leute möchten der Schweiz etwas zurückgeben. Sie möchten gerne eine<br />
Freiwilligenarbeit leisten. Sie sprechen aber sehr wenig Deutsch. Sie hatten sich überlegt, Blut zu<br />
spenden, das wäre eine Möglichkeit, aber sie sind dafür zu alt. Ich bin mir nun am Überlegen, wo und<br />
91
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
was ich ihnen anbieten könnte. Ja, es ist so toll, aber ich bin wirklich irgendwie an der Grenze bei der<br />
Suche nach Möglichkeiten. Ja, es ist wegen der Sprache alles irgendwo nicht möglich.“<br />
Ein weiteres Problem bestehe darin, dass das Konzept der Freiwilligenarbeit, wie es in der Schweiz<br />
praktiziert werde, nicht einfach übernommen werden könne, da MigrantInnen darunter etwas anderes<br />
verstehen würden. Auch hier zeige sich oft eine transkulturelle Verständigungsschwierigkeit bzw. die<br />
Abhängigkeit von Fachpersonen schweizerischer Altersinstitutionen und –organisationen in ihrer<br />
Arbeit von der interkulturellen Vermittlungstätigkeit seitens MultplikatorInnen/-Schlüsselpersonen.<br />
Für das Engagement als Freiwillige benötigt es zudem Freizeit. Die ExpertInnen stellen immer wieder<br />
fest, dass gerade unter italienischen und spanischen MigrantInnen der ersten<br />
Einwanderungsgeneration, die über eine ausgeprägte „Arbeiterbiografie und –identität“ verfügen, der<br />
Begriff „Freizeit“ als persönliches Konzept der Lebensgestaltung auch nach der Pensionierung<br />
weitgehend inexistent ist.<br />
„Mir ist aufgefallen, dass viele ältere MigrantInnen sagen, sie haben keine Freizeit. Also, wenn man<br />
sie fragt, was macht ihr in der Freizeit oder was habt ihr für Hobbies, dann sagen sie, wir sind zum<br />
Arbeiten gekommen. Sie sind heute noch stark überarbeitet. Auch in der Familie, mit den Enkeln, mit<br />
dem Garten, mit dem Haus, und wenn man etwas für die Freizeit anbietet oder sie fragt, dann ist es,<br />
als ob sie das nichts angehe.“<br />
Fragebereich 3)<br />
Was sind aus Sicht der ExpertInnen aus dem Altersbereich die Faktoren für eine erfolgreiche<br />
Partizipation der älteren MigrantInnen?<br />
Wie lassen sich diese in der Praxis umsetzen? Gibt es dazu good practice-Erfahrungen aus Bern?<br />
Worauf ist nicht gelingende Partizipation zurückzuführen? (Schranken/Hürden)<br />
Diskussionsergebnisse:<br />
Die Fokusgruppe ist sich einig, dass ein möglichst niederschwelliger Zugang zu Partizipation<br />
geschaffen werden muss, dem ein zeitlich grosszügig bemessener Prozess der Vertrauensbildung<br />
über persönliche Beziehungen vorauszugehen habe. Sie ist der Ansicht, dass die Ergebnisse aus den<br />
Befragungen nicht die beste Voraussetzung für eine gelingende Partizipation darstellen.<br />
Als wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Partizipation wird der chancengleiche Zugang zu den<br />
Regelstrukturen und Angeboten des Altersbereichs genannt. Kontrovers diskutiert wird, ob das<br />
spezifische Benennen der Zielgruppe ältere MigrantInnen in Altersleitbildern und die Entwicklung<br />
spezifischer Projekte für diese als nicht beabsichtigten Nebeneffekt nicht auch eine stigmatisierende<br />
Wirkung haben könne.<br />
Sprachliche Verständigungskompetenz und die <strong>Integration</strong> in ein soziales Beziehungsnetz seien<br />
wichtige Faktoren für die Kommunikation und Teilhabe im Sinne einer erfolgreichen Partizipation.<br />
92
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Um Partizipationshürden abzubauen bzw. den Einstieg zu erleichtern, eigenen sich<br />
Beteiligungsformen, die keine deutschsprachigen Kompetenzen voraussetzen, wie beispielsweise<br />
gemeinsame Bewegungsangebote:<br />
„Im Bereich Bewegung, der nicht sprachlastig ist, da gibt es in der Gemeinde interessante<br />
Konstellationen. Beispielweise Aquagym mit Italienerinnen, Spanierinnen und einer Türkin. Geleitet<br />
wird die Gruppe von einer Mexikanerin. Die Leute haben viel Spass miteinander.“<br />
Das Mittel der offenen Gesprächsrunden (Runder Tisch) als good practice sei geeignet, um den<br />
Teilnehmenden aufzuzeigen, dass sie im Alter nicht nur unterschiedlich seien, sondern aufgrund<br />
ähnlicher und gleicher Lebensphasenthemen auch eine gemeinsame Betroffenheit teilen. Diese<br />
bringe sie einander näher, auch über die entlang ethnischer Kriterien definierten Gruppengrenzen<br />
hinweg. Partizipation setze auf einem ganz einfachen Niveau des Gemeinde- oder Quartieralltags ein<br />
und bedinge ein persönliches Interesse füreinander sowie die Bereitschaft, Zeit für das gegenseitige<br />
Kennenlernen zu investieren:<br />
„Wir beginnen ganz am Anfang, indem es darum geht, dass sich Leute im Dorf erkennen, dass sie<br />
sich grüssen, dass sie zusammen sprechen. Es beginnt ganz im Alltag, ganz privat mit sich<br />
austauschen, sich informieren und dann sagen, das brauchen wir, das versuchen wir zusammen<br />
selber in die Wege zu leiten. (…) Ich kenne Dich, Du kennst mich, Du bist Italiener, ich bin<br />
Schweizerin, aber wir können etwas zusammen erreichen, wenn wir uns füreinander interessieren.(…)<br />
Also, bei uns treffen sich die Leute nun regelmässig. Ihr Beitrag ist dann, dass sie immer wieder ihre<br />
Zeit zur Verfügung stellen und anderes zurückstellen. (…) Es geht darum, dass sie wirklich kommen<br />
und andere Leute mitbringen. (…) Aber es ist ein langer Prozess und braucht enorm viel Zeit.“<br />
Häufig könnten dann auf der Grundlage gegenseitiger Kenntnisse über die jeweiligen<br />
Lebensbiografien auch Vorurteile abgebaut werden. Bisweilen sei auch ein Entwicklungsprozess<br />
bezüglich transkultureller Öffnung von ursprünglich ethnospezifischen Gruppen zu beobachten. Über<br />
die Diskussion gewisser Themen oder über gemeinsame Aktivitäten geschehe eine sukzessive<br />
<strong>Integration</strong> von Personen anderer Gruppen. Dabei überwinden gemeinsame Interessen und<br />
Betroffenheit ethnische Gruppengrenzen.<br />
Erfolgreiche Partizipation müsse zudem von einer entsprechenden Politik der Öffnung und<br />
Anerkennung getragen sein. Zudem gelte es good practice zu etablieren, erfahrbar zu machen, der<br />
Öffentlichkeit und Politik zu kommunizieren und dann zu multiplizieren. Die ExpertInnen stellen sich<br />
die Frage, wie eine Behörde/Organisation mit ihren guten Absichten glaubwürdig auftreten könne,<br />
wenn auf politischer Ebene allenfalls gegenteilige Prozesse laufen würden:<br />
„Da habe ich das Gefühl, wir können nur in konkreten Handlungen aufzeigen, was wir wollen, auf der<br />
Ebene einzelner Projekte, die sich dann, wenn sie erfolgreich sind, herumsprechen. Wo die<br />
MigrantInnen dann denken, ach so, da durften wir von Anfang an dabei sein, und da und hier auch.“<br />
93
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Als ein good practice Beispiel könne man die Gegenwartskonferenz bezeichnen, die in einer<br />
bernischen Gemeinde vor einigen Jahren stattgefunden habe und an der achtzig bis hundert<br />
Personen teilgenommen hätten. Die Angebotspallette der heutigen Arbeitsgruppe Alter und Migration<br />
sei ein Ergebnis davon.<br />
Auf die Frage, worauf eine nicht gelingende Partizipation zurückzuführen sei, erläutert die<br />
Fokusgruppe, dass die Schweiz den MigrantInnen vorgebe, wie sie sich zu integrieren hätten.<br />
Einseitige Vorgaben könnten aber nicht zu einem gegenseitig getragenen Partizipationsprozess<br />
führen. Vielmehr benötige es dazu die gegenseitige Bereitschaft, sich auf unbekannte Sichtweisen<br />
und Praktiken einzulassen, diese gegenseitig kennen zu lernen, um so ein geteiltes Verständnis<br />
auszuhandeln. Vielfach seien es die schweizerischen Institutionen/Organisationen, welche die<br />
Initiative ergreifen würden. Um eine beidseitig getragene Partizipationskultur aufzubauen, benötige es<br />
auch mehr Initiative seitens der MigrantInnen. Im Sinne einer good practice sei in gleichberechtigter<br />
Partnerschaft eine interkulturelle Co-Leitung von Partizipationsinitiativen zu empfehlen. Auf diese<br />
Weise seien gleich beide Seiten repräsentiert und stellten somit sicher, dass verschiedene<br />
Partizipationskulturen einfliessen. Dies wiederum setze gegenseitige Offenheit, Toleranz und die<br />
Überzeugung, voneinander lernen zu können, voraus.<br />
Im Weiteren könne von Personen, die man ein Leben lang nicht partizipieren liess, nicht erwartet<br />
werden, dass sie nun im Alter mit den hiesigen Strukturen, Formen und Mittel der Partizipation vertraut<br />
seien:<br />
„(…) Sie verstehen wahrscheinlich nicht, wann und wie sie mitwirken und mitdenken können. Das ist<br />
nicht im Kopf drin und muss erklärt werden. Oder, ich denke, das Verständnis ist nicht da.“ (…) Auf<br />
der symbolischen Ebene sagen wir halt immer noch, wir wollen euch nicht. (…) Ich denke, diejenigen<br />
mit einer langen symbolischen Geschichte, die sich in den 70er Jahren überlegen mussten, gehen wir<br />
zurück oder riskieren wir es, hier zu bleiben. Sie mussten Abstimmungen über sich ergehen lassen,<br />
einige sind zurück, weil sie es nicht ausgehalten haben. Und jetzt kommen wir plötzlich und sagen, ihr<br />
seid eingeladen. Das muss man auch irgendwie zunächst verstehen, dass das nun ernst gemeint ist.“<br />
Bei der Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung auf Gemeindeebene zeige sich ein weiteres<br />
Problem. Ihre Beteiligung – im Sinne aktiver Bürgerschaft – möge zwar in konkreten<br />
Gemeindeprojekten oder auf Quartierebene durchaus gefragt sein. Wenn sich dann aber<br />
Bürgerinitiativen etc. daraus entwickeln, die zur Abstimmung gelangen, sei dieser Bevölkerungsteil<br />
aufgrund fehlende politischer Rechte (Stimmrecht) gleich wieder vom Partizipationsprozess<br />
ausgeschlossen, was nicht motivierend wirke. Ebenso verhalte es sich beispielsweise im<br />
Schulbereich:<br />
„Vor Jahren ist mir bewusst geworden, dass man MigrantInnen in die Elternräte geholt hat, damit sie<br />
dort mitsprechen können. In die Schulkommissionen konnten sie dann aber wieder nicht gewählt<br />
werden, wenn sie nicht eingebürgert waren. (…) Da sind dann so viele Frustrationen entstanden, und<br />
94
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
genau dasselbe kann dann hier wieder geschehen, dass sie mitarbeiten und viel Arbeit leisten und<br />
dann entscheidet die Politik ohne sie etwas anderes.“<br />
Weiter erschwerend komme hinzu, dass Selbstverpflichtung im fortgeschrittenen Alter ein Risiko<br />
bedeute, dessen sich ältere Menschen bewusst seien und sich aus Furcht, „auszufallen“, nicht mehr<br />
so gerne regelmässig und längerfristig zur Partizipation verpflichten würden:<br />
„Im Lebensalter 70+ ist zwar Vieles möglich, weil man nicht mehr im Berufsleben steht, aber auch die<br />
Risiken nehmen zu, wie die eigene oder die Erkrankung des Partners. Und es fällt dann vielen<br />
schwer, wenn sie ihr Engagement nicht mehr einlösen können, das sie zugesagt haben. Dann sagt<br />
man lieber gar nicht erst zu, damit man dann auch nicht absagen muss.“<br />
Problematisch sei zudem, wenn Projekte nicht aufgrund der Erhebung eines tatsächlichen Bedarfs<br />
entstehen, sondern Institutionen und Organisationen diese einfach entwickeln, um etwas vorweisen zu<br />
können.<br />
Fragebereich 4)<br />
Welche Faktoren gehören für Sie zu einer diversitätsgerechten Alterspolitik und –arbeit, die auch<br />
älteren MigrantInnen gerecht wird? (Strategie, Ziele, Strukturen, Mittel, etc.?)<br />
Können Sie aufgrund Ihrer Erfahrung good practice-Beispiele nennen?<br />
Diskussionsergebnisse:<br />
Die ExpertInnen finden Folgendes wichtig, um eine diversitätsgerechte Alterspolitik im Sinne der<br />
Ermöglichung von gleichwertigen Partizipationschancen für alle umzusetzen:<br />
Wichtigste Voraussetzung sei ein Bewusstsein für die Diversität der Altersbevölkerung und damit<br />
verbunden auch die Einsicht, dass ältere Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben (können).<br />
Um diese zu befriedigen, benötige es entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen. Im Falle<br />
der älteren MigrantInnen heisse diversitätsgerechte Alterspolitik auch Gelder zur Verfügung zu stellen,<br />
damit schriftliche und mündliche Übersetzungsleistungen bezahlt werden können, um diese<br />
Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Oder aber, um ihre eigenen Räume (Infrastruktur) und Aktivitäten<br />
zu unterstützen, im Sinne des Empowerment.<br />
Bei allen Fragen (Infrastruktur im Quartier, Mobilität, Wohnen, Gesundheit, etc.), welche die<br />
Lebensgestaltung im Alter betreffen, sind alle, d.h. auch MigrantInnen im Sinne der<br />
Partizipationsförderung an der Diskussion aktiv und gleich von Beginn an zu beteiligen:<br />
„Es sind ja mehrheitlich dieselben Fragen, welche sie genau gleich beschäftigen wie uns auch. Sie<br />
sind dann bisher einfach immer etwas ‚draussen‘, wenn wir solche Fragen diskutieren. Da ist der Rat<br />
für SeniorInnen eben ein geniales Mittel, finde ich. (…) In Bern hat dieser Rat eine Quote von zwei<br />
Sitzen, welche durch MigrantInnen zu besetzen sind. Das ist eine politische Vorgabe des<br />
Gemeinderats und das finde ich gut und richtig.“<br />
95
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Im <strong>Integration</strong>sleitbild der Stadt Bern sind ältere MigrantInnen eine Zielgruppe des Handlungsfelds<br />
„Gesundheit“. Das strategische Ziel sei es, die Information und Sensibilisierung zum Thema ‚ältere<br />
MigrantInnen„ zu verstärken sowie im Rahmen der formulierten Alterspolitik 2020 entsprechende<br />
Massnahmen (Angebote, Projekte) in Zusammenarbeit mit dem Alters- und Versicherungsamt der<br />
Stadt Bern umzusetzen.<br />
Als ein Beispiel von good practice der direkten Partizipation der älteren Migrationsbevölkerung wird<br />
auf die Entstehungsgeschichte der mediterranen Abteilung des Altersheims (Domizil) Schwabgut in<br />
Bümpliz verwiesen. Bei der italienischen Bevölkerung in diesem Quartiert wurde eine grosse Umfrage<br />
zu ihren Bedürfnissen an die Betreuung (bei Pflegebedürftigkeit) im Alter durchgeführt. Als Ergebnis<br />
der Erhebung wurde diese nach ihren Bedürfnissen gestaltete italienische Abteilung konzipiert und<br />
realisiert. Fachpersonen mit Migrationshintergrund und VertreterInnen der wichtigsten Organisationen<br />
der ItalienierInnen waren von Anfang an im Entwicklungsprozess involviert und mitentscheidend.<br />
Auch die Notwendigkeit nach einem neuen Altersleitbild als Ausdruck der genannten Diversität der<br />
heutigen Altersbevölkerung wurde diskutiert. Die Stadt Bern verfüge über ein Altersleitbild, in der<br />
Migration als ein Querschnittthema enthalten sei. Das bedeute, dass MigrantInnen als Zielgruppe bei<br />
allen Themenbereichen mitgedacht und mitgemeint seien. Im Massnahmenplan seien entsprechend<br />
auch zielgruppenspezifische Massnahmen formuliert. Wichtig sei es aber auch, MigrantInnen nicht nur<br />
als Zielgruppen, sondern auch als AkteurInnen einer altersgerechten Diversitätspolitik teilhaben zu<br />
lassen. Konkret bedeute dies, nicht zu vergessen, sie gezielt einzubeziehen in die Formulierung<br />
politischer Stellungnahmen, Altersleitleitbilder oder in Vernehmlassungsverfahren zu Altersfragen.<br />
Hier – so wurde selbstkritisch angemerkt – bestehe bisweilen immer noch eine Diskrepanz zwischen<br />
politischer Absichtserklärung zur Beteiligung der Migrationsbevölkerung zum einen und der<br />
tatsächlichen Praxis zum andern, in der sie dann häufig doch wieder vergessen werde. Seitens der<br />
Vertretung des Seniorenrats wird darauf verwiesen, dass die politische Thematisierung, die<br />
Lancierung eines neuen Diskurses oft mindestens so wichtig sei, wie das Ergebnis der konkreten<br />
Abstimmung selbst. Das Thema ‚MigrantInnen als Teil unserer Altersbevölkerung„ sei daher immer<br />
wieder auf die politische Agenda zu bringen, um einen Sensibilisierungseffekt zu erzielen und Einfluss<br />
zu nehmen.<br />
Die Fokusgruppenteilnehmenden äusserten sich auch zum Ergebnis aus der elektronischen<br />
Befragung der GemeindevertreterInnen, dass die deutliche Mehrheit der Antwortenden entweder nicht<br />
wusste, ob die Partizipation der älteren MigrantInnen in ihren Gemeinden gelinge oder aber der<br />
Ansicht war, dass diese kaum oder nicht gelinge:<br />
„Also, ich denke, da läuft bei uns im Moment viel. Wir sind daran, hier Defizite unsererseits<br />
selbstkritisch wahrzunehmen. Wir müssen uns immer wieder selber daran erinnern, dass wir die<br />
MigrantInnen einbeziehen sollten, d.h. dann aber eigentlich auch eine Erfolgskontrolle durchzuführen.<br />
Das wird nun ein Thema, da ist Einiges im Umbruch. (…) Ein grosses Problem sind die personellen<br />
Ressourcen bei uns. Wir haben zwar einen fixen Budgetbeitrag für Projekte, jedoch zu wenig<br />
Stellenprozente. Und Migration ist ja nur eines von vielen Themen, das wir bearbeiten.“<br />
96
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Eine diversitätsgerechte Alterspolitik lasse sich aber nicht alleine durch Strategie, Leitbild und<br />
Finanzen umsetzen. Es benötige ebenfalls eine Haltungsänderung derjenigen, die in diesem Feld<br />
arbeiten, was meist einen längeren Prozess bedeute. Die kritische Selbstreflexion der eigenen<br />
Haltung sei dafür eine wichtige Grundlage.<br />
Nicht erwartet wurde von den ExpertInnen die Aussage der älteren MigrantInnen aus den Interviews,<br />
dass ihnen die Partizipation in der Schweiz „zu teuer“ sei. Damit sind z.B. Kurskosten gemeint, die für<br />
viele Schweizer SeniorInnen angemessen sein mögen, für viele ältere MigrantInnen, die gemäss<br />
Armutsbericht des Bundes (BSV, 2010) zu den Risikogruppen der Armutsbetroffenheit gehören,<br />
jedoch zu hoch sind und sich auf ihre Teilhabe hinderlich auswirken. Auch hohe Gebühren für die<br />
Teilnahme an Tagungen und fachlichen Veranstaltungen, an welchen über Altersfragen diskutiert und<br />
ausgetauscht wird, erschweren die Partizipation dieser Gruppe und wirken somit ausschliessend. Hier<br />
benötigt es seitens der Schweizer Organisationen/Institutionen ein entsprechendes Bewusstsein und<br />
eine flexiblere Praxis, um die Beteiligung älterer MigrantInnen trotzdem gezielt zu ermöglichen.<br />
Konsens besteht auch, dass ein wichtiger Grundpfeiler einer diversitätsgerechten Alterspolitik auf der<br />
Haltungsebene ansetzen muss, mit einer gelebten Kultur der Anerkennung von Vielfalt. In Bezug auf<br />
ältere MigrantInnen bedeutet dies die Anerkennung und Würdigung bzw. Wertschätzung ihrer<br />
Biografie als ArbeitsmigrantInnen, die für die Schweiz viel geleistet haben.<br />
Fragebereich 5)<br />
Wie denken Sie, kann konkret ein bidirektionales, wechselseitiges Partizipationsverständnis<br />
umgesetzt werden?<br />
Was muss hierzu seitens der Gemeinde und ihrer Institutionen und PartnerInnen (NGO, etc.) konkret<br />
geleistet werden und was ist seitens der Migrationsorganisationen, ihrer Kontaktpersonen sowie der<br />
älteren MigrantInnen im Allgemeinen beizutragen?<br />
Diskussionsergebnisse:<br />
Dieser Fragebereich wurde auf einer eher allgemeinen Ebene diskutiert. Die ExpertInnen sind der<br />
Ansicht, dass es ein gegenseitiges Interesse benötige für das Partizipationsverständnis der jeweils<br />
anderen. Nur auf dieser Basis könne in einem längeren Prozess eine gemeinsame<br />
Partizipationspraxis ausgehandelt werden, was die Voraussetzung für deren Gelingen sei. Im<br />
Weiteren brauche es in den Institutionen ein Umdenken bezüglich der Zielgruppe „Ältere<br />
MigrantInnen.“ Diese seien nicht einfach als DienstleistungsempfängerInnen zu verstehen, sondern<br />
als AkteurInnen, die es möglichst bereits zu Beginn eines Partizipationsprozesses einzubeziehen<br />
gelte:<br />
„Hier ist in den Institutionen wahrscheinlich ein Umdenken nötig. Da fehlt es einfach noch am<br />
Bewusstsein. Wir wollen immer etwas für die anderen machen, aber es geht eigentlich nur mit ihnen<br />
zusammen. Also, wenn wir das wirklich wollen, dann müssen wir sie eben auch fragen und<br />
miteinbeziehen und dann zusammen etwas entwickeln, eben als gleichwertige PartnerInnen. (…) Es<br />
97
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
ist vielleicht auch wichtig, auf politischer Ebene ein symbolisches Zeichen zu setzen. So wie es jetzt<br />
das ‚Jahr der Freiwilligen‘ gibt, machen wir ein ‚Jahr der MigrantInnen‘. Es muss jetzt noch viel<br />
passieren bezüglich der Veränderung unserer Haltungen, aber auch im konkreten Zusammenkommen<br />
der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Da könnte so etwas vielleicht eine Chance sein, etwas in<br />
Bewegung zu setzen.“<br />
Aber auch von MigrantInnen wird eine Bereitschaft zur aktiven Zusammenarbeit erwartet. Es sei zwar<br />
richtig, wenn diese Forderungen stellen würden, aber das alleine reiche nicht aus, es benötige eine<br />
gemeinsame Entwicklung und Umsetzung.<br />
Eine weitere wichtige Aufgabe wird in der Sensibilisierung der Bevölkerung für <strong>Integration</strong> im Sinne<br />
von Partizipation als bidirektionalen und wechselseitigen Prozess gesehen. In diesem<br />
Zusammenhang benötige es auch eine neue Informations- und Kommunikationspolitik, die viel mehr<br />
die Chancen der Bevölkerungsvielfalt fokussiere und nicht immer nur einseitig deren Probleme:<br />
„In der Öffentlichkeit ist <strong>Integration</strong> bzw. Partizipation ja immer nur ein Thema, wenn etwas nicht gut<br />
funktioniert. Vielleicht müsste man das mal umkehren und gezielt darauf hinweisen, was eigentlich<br />
alles gut läuft im Alltag, auch miteinander. Die Strategie müsste sein, den Leuten mehr Positives und<br />
die guten Erfahrungen aufzuzeigen.“<br />
Eine weitere Bedingung für die konkrete Umsetzung einer gemeinsamen Partizipation sei die<br />
gemeinsame thematische Betroffenheit. Es gelte somit gemeinsam Alltagsthemen der<br />
Lebensgestaltung im Alter zu identifizieren, die von allgemeinem Interesse seien. Als guter<br />
Ausgangspunkt wurden die lokale Ebene (Gemeinde oder Quartier) genannt sowie das Thema<br />
„Wohnen im Alter“. Dies wäre ein ideales Handlungsfeld, um kleinräumige Projekte gemeinsam zu<br />
initiieren und umzusetzen.<br />
Vorgeschlagene Ideen zur Partizipationsförderung der älteren MigrantInnen<br />
Die von den Mitgliedern der Fokusgruppe der bernischen Altersinstitutionen/-organisationen<br />
vorgeschlagenen Massnahmen (Mehrfachnennungen jeweils in einer Massnahme zusammengefasst)<br />
lassen sich folgenden vier Bereichen zuordnen:<br />
1. Politisch-Strategischer Bereich<br />
2. Struktureller/Organisatorischer Bereich<br />
3. Haltungs-/Verhaltensbereich<br />
4. Bereich einer Good Practice<br />
Die Gewichtung der vorgeschlagenen Massnahmen konzentriert sich primär mit 14 Zuordnungen auf<br />
den ‚Haltungs-/Verhaltensbereich„, gefolgt von 9 Zuordnungen zum ‚Politisch-Strategischen Bereich‟,<br />
8 Zuordnungen zum Bereich einer ‚Good Practice„ und 4 Zuordnungen zum<br />
‚Strukturellen/Organisatorischen Bereich„.<br />
98
1. Politisch-Strategischer Bereich:<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Gemeinden sollen jeweils ein Jahr unter ein spezifisches Motto stellen, z.B. „Jahr des<br />
multikulturellen Zusammenlebens“, mit konkreten Zielen, die erreicht werden sollen.<br />
Bei Behörden das Bewusstsein fördern für die Heterogenität der Altersbevölkerung, z.B. über<br />
Weiterbildung.<br />
Längerfristig über gemeinsame Partizipation an einer gemeinsamen „lokalen Identität“ bauen<br />
(z.B. „SchweizerInnen sind wir nicht alle, aber BernerInnen - im Sinne von territorialer<br />
Zugehörigkeit zur Wohnbevölkerung - sind wir alle und übernehmen gemeinsam Verantwortung.“<br />
(Stichwort: aktive Bürgerschaft).<br />
Es ist auch auf ein politisches Partizipationsrecht (Stimm- und Wahlrecht) für MigrantInnen<br />
hinzuwirken, die Möglichkeit zur aktiven Bürgerschaft (ohne politische Rechte) reicht nicht.<br />
Partizipation ist nicht gratis: Gemeinde/Kanton muss finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um<br />
die Partizipation zu fördern (spez. für die aufwändigere Erreichung der Zielgruppe: Übersetzung<br />
von Informationsmaterial und Informationsveranstaltungen, etc.).<br />
Gemeinden müssen einen öffentlichen Diskurs über Partizipation initiieren.<br />
Alterspolitik und –arbeit sind „weiblich“. Ziel muss auch der Einbezug von Männern in die<br />
Partizipation zu Fragen des Alter(n)s sein.<br />
<strong>Integration</strong>spolitik muss die Partizipation zum Ziel haben bzw. <strong>Integration</strong> ist Partizipation im<br />
Sinne von Mitsprache, Mitwirkung und Mitentscheidung.<br />
Alterspolitik muss eine Diversitätsperspektive verfolgen, d.h. Mainstreaming von ‚Migration„ und<br />
‚Gender„ als Querschnittsthemen in Verwaltungsbehörden, Organisationen (auch NGO) sowie in<br />
den Medien.<br />
2. Struktureller/Organisatorischer Bereich:<br />
Besetzen von Schlüsselstellen in der Gemeinde mit Personen mit Migrationshintergrund<br />
(beispielsweise Leiterin der die Gemeinde beratende ‚Arbeitsgruppe Alter und Migration„).<br />
Einsatz von Schlüsselpersonen als MultiplikatorInnen, TüröffnerInnen und Vertrauenspersonen<br />
der Zielgruppe.<br />
Gezielte und aktive Vernetzung von Gemeinde, Migrations- und Altersorganisationen.<br />
Gemeinsam den Bedarf erheben, gemeinsam Ressourcen und Finanzen zur Verfügung stellen<br />
sowie Lösungen entwickeln.<br />
Schaffung von Infrastruktur (Soziale Treffpunkte: Planung, Einrichtung und Finanzierung).<br />
3. Haltungs-/ Verhaltensbereich (gegenseitige Erwartungen/Forderungen):<br />
Altersinstitutionen/-organisationen sollen sich aktiv in Kenntnis setzen über die lokale ältere<br />
Migrationsbevölkerung, indem sie diese aufsuchen an ihren lebensweltlichen Bezugsorten (z.B.<br />
in ihren Vereinen), sie kennenlernen, namentlich solche Personen, die partizipieren möchten<br />
(Daten erheben, Namenskarteien anlegen). MigrantInnen anhalten, MultiplikatorInnen zur<br />
Verfügung zu stellen.<br />
99
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Wertschätzende Haltung gegenüber älteren MigrantInnen einnehmen und Anerkennung geben.<br />
Sich für ältere MigrantInnen, ihre Biografie, Lebenswelten sowie ihre Sozialnetzte (Vereine, etc.)<br />
und ihre Aktivitäten interessieren.<br />
Schrittweiser Vertrauensaufbau und sich dafür viel Zeit nehmen. Vertrauensbildende<br />
Massnahmen, um Misstrauen in den schweizerischen Staat abzubauen.<br />
Seitens der schweizerischen Institutionen/Organisationen benötigt es Kontaktpersonen, die<br />
selber über Fremdsprachenkenntnisse und Wissen über die Herkunftskontexte/Biografien der<br />
älteren MigrantInnen verfügen.<br />
Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen und Forderungen der älteren Migrationsbevölkerung im<br />
lokalen Kontext erheben.<br />
Entschädigung für Partizipation anbieten (diese nicht einfach auf ehrenamtlicher Basis<br />
voraussetzen).<br />
Seitens der Kontaktpersonen aus der Migrationsbevölkerung benötigt es auch den Willen, Neues<br />
und Unkonventionelles auszuprobieren.<br />
Gegenseitiges Kennenlernen mit den je eigenen Ressourcen und „sozialen Ritualen“, Aufbau von<br />
gegenseitigem Verständnis; gegenseitiger Respekt und Anerkennung von Rechten und Pflichten.<br />
Gegenseitige Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen für eine gemeinsame Partizipation.<br />
Forderung an Migrationsbevölkerung, flexibel zu sein, von vielleicht aktuell unrealistischen<br />
Wünschen abzurücken und zur konkreten Mitarbeit bereit zu sein.<br />
Erwartung an die Migrationsbevölkerung, Geduld zu haben (Es benötige Zeit, um 1. das Problem<br />
zu erkennen, 2. Massnahmen zu formulieren und 3. die Umsetzung aufzugleisen).<br />
Erwartungen der Altersinstitutionen/-organisationen, dass MigrantInnen die von ihnen<br />
angebotenen Dienstleistungen (Vereine, Sprachkurse, Informationsanlässe) nutzen.<br />
Nebst den Forderungen seitens älterer MigrantInnen müssten diese auch Bereitschaft zur<br />
Mitgestaltung von Veränderungen zeigen. Forderungen sind realistisch zu formulieren, damit<br />
Umsetzungschancen erhalten bleiben.<br />
4. Bereich einer Good Practice:<br />
Es gilt jeweils lokal oder regional/überregional good practice Ansätze zur Partizipationsförderung<br />
zu identifizieren, evaluieren und multiplizieren (Bsp. niederschwelliger Runder Tisch im Raum<br />
Lyss, „Könizer Modell“, etc.)<br />
Partizipationsangebote zielgruppen- und bedürfnisorientiert und nicht angebotsorientiert<br />
entwickeln.<br />
Ressourcen- und nicht defizitorientierte Ansätze; Ressourcen nutzen, d.h. z.B. ältere<br />
MigrantInnen sollen Gelegenheit haben, ihre Ressourcen (Küche, Kultur, soziales<br />
Organisationstalent, etc.) darzustellen, über ihr Leben und ihre Erfahrungen in der Schweiz zu<br />
erzählen; ihre Biografie ist wissenswert und lehrreich.<br />
Generationenübergreifende Altersarbeit mit MigrantInnen (Intergenerationalität).<br />
Kleinräumige Projekte, die alle ansprechen (z.B. auf Quartierebene).<br />
100
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die Zielgruppe „ältere MigrantInnen“ bereits bei der Planung von Projekten immer mit<br />
einbeziehen.<br />
Gemeinsam sowohl interkulturelle als zugleich intergenerationelle Projekte entwickeln und<br />
durchführen.<br />
Partizipation mittels eines Ansatzes der „Betroffenendemokratie“ fördern: Viele Themen,<br />
Bedürfnisse und Probleme im Alter (Wohnen, Gesundheit, Familie, soziales Netz,<br />
intergenerationelle Beziehungen, Finanzen, Leben und Sterben) sind herkunftsunabhängig und<br />
werden geteilt bzw. vermitteln eine gemeinsame Betroffenheit. Diese kann als Ausgangspunkt für<br />
gemeinsame Partizipation dienen.<br />
Interpretation der Fokusgruppendiskussion mit VertreterInnen von Altersinstitutionen und –<br />
organisationen von Stadt und Kanton Bern<br />
Die Fokusgruppendiskussion verlief in einer engagierten Atmosphäre. Alle von der Moderatorin<br />
gestellten Fragen wurden diskutiert, jedoch nicht gleichermassen systematisch und nicht überall in<br />
derselben Tiefe. Die Teilnehmenden zeigten eine erhöhte Sensibilität für die Zielgruppe ‚ältere<br />
MigrantInnen„, auch wenn in ihrer täglichen Arbeit nicht alle in gleicher Weise und gleich intensiv mit<br />
dieser konfrontiert werden. Interessant war, dass sie bei den meisten Fragen, auch wenn sich diese<br />
auf sie selber oder die Organisationen/Institutionen des Altersbereichs bezogen, die sie vertreten, eine<br />
hohe Bereitschaft zum Perspektivenwechsel bzw. zur Identifizierung mit der Zielgruppe ihrer Arbeit<br />
zeigten und immer wieder aus der Sicht von MigrantInnen argumentierten. Beispielsweise zeigten sie<br />
Verständnis dafür, dass die älteren italienischen MigrantInnen der Meinung sind, die schweizerischen<br />
Organisationen/Institutionen müssten den ersten Schritt für eine Kontaktaufnahme und spätere<br />
gemeinsame Partizipation machen.<br />
Die Diskussion verlief mehrheitlich nicht kontrovers, sondern häufig einander bestätigend und die<br />
jeweiligen Blickwinkel ergänzend. Insgesamt war ein grosses Bemühen festzustellen, sich auf die<br />
Herausforderungen in der Alterspolitik und –arbeit mit älteren MigrantInnen einzulassen. Die Lust auf<br />
Auseinandersetzung war spürbar, ebenfalls eine hohe Bereitschaft zur Selbstreflexion und –kritik. Es<br />
wurde festgestellt, dass – obwohl alle in der Stadt oder im Kanton Bern im Altersbereich tätig sind -<br />
längst nicht alle die Arbeitsbereiche und/oder Projekte voneinander kennen. Als positiver Nebeneffekt<br />
der Diskussion wurde das gegenseitige Interesse geweckt, der Austausch von Adressen sowie der<br />
Wunsch nach projektbezogener Vernetzung untereinander gefördert.<br />
Bei folgenden Themen wurde – basierend auf den diskutierten Erfahrungen der Teilnehmenden - ein<br />
Erkenntnisprozess ausgelöst, der für künftige Massnahmen im Rahmen eines Modells <strong>MIGRALTO</strong><br />
relevant sein wird:<br />
Diversität der älteren Migrationsbevölkerung: Die ältere Migrationsbevölkerung ist ebenso divers<br />
wie die schweizerische Altersbevölkerung. Ethnische Gruppen sind zudem auch in sich selbst niemals<br />
homogen. Somit wird es schwierig, die Vertretung/Repräsentanz von Interessen alleine an ethnische<br />
Zugehörigkeitskriterien zu knüpfen und stellt sich die Frage, ob die Zusammenarbeit mit Personen und<br />
Gruppen entlang ethnischer Definitionen in jedem Fall Sinn macht.<br />
101
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Gemeinsame Betroffenheit von Themen und aufgrund des gemeinsamen Lebensraums: Nebst<br />
der hohen Diversität besteht auch eine Similarität aufgrund gemeinsamer Betroffenheit durch<br />
gemeinsame Themen im Alter sowie aufgrund eines gemeinsam geteilten Lebensumfelds (z.B. die<br />
Stadt Bern oder ein Quartier).<br />
Gegenseitige Kenntnis und Vertrauen als Grundlage gemeinsamer Partizipation: Good practice-<br />
Erfahrungen – beispielsweise der sogenannte „Runde Tisch in Lyss“ – zeigen, dass gemeinsame<br />
Partizipation sehr niederschwellig ansetzen muss. Sie setzt einen zeitlich grosszügig bemessenen<br />
Prozess des gegenseitigen Kennenlernen(wollens) und gegenseitiger Vertrauensbildung voraus.<br />
Partizipation basiert auf dem Prinzip der Betroffenendemokratie: Ist oben genannte Grundlage<br />
einmal gelegt, können Themen der gemeinsamen Betroffenheit identifiziert und diskutiert werden.<br />
Partizipation basiert auf dem Prinzip der Territorialdemokratie: Partizipation hat die besten<br />
Chancen bezogen auf den eigenen Lebensort/-raum (Wohngemeinde, Wohnquartier). Es besteht ein<br />
Interesse, dort mitsprechen, mitwirken und mitentscheiden zu können, wo die eigene räumliche<br />
Betroffenheit am direktesten gegeben ist.<br />
Voraussetzung für gemeinsame Partizipation ist der gegenseitige Respekt vor den bisherigen<br />
Kompetenzen und Erfahrungen der verschiedenen AkteurInnen mit Partizipation: Strukturelle<br />
Rahmenbedingungen für eine gleichwertige Partizipation sind wichtig, reichen aber alleine nicht aus,<br />
wenn die beteiligen Akteure nicht auch auf der Haltungsebene bereit sind, sich für ihnen allenfalls<br />
fremde Partizipationserfahrungen, -praktiken und -kompetenzen zu interessieren und sich gegenseitig<br />
darauf einzulassen.<br />
Partizipation ist ein Prozess der gegenseitigen Kompetenzerweiterung und der transkulturellen<br />
Aushandlung: Das Verständnis von Partizipation ist vielfältig. Es benötigt eine Einigung auf<br />
gemeinsame Grundregeln. Bei der Ausgestaltung von Partizipationsprozessen müssen die diversen<br />
AkteurInnen hingegen Bereitschaft zur Flexibilität und Offenheit für ein gegenseitiges voneinander<br />
Lernen zeigen.<br />
Bedürfnisse und Formen der Partizipation können sich je nach Zielgruppen innerhalb der<br />
älteren Migrationsbevölkerung unterscheiden: Gemeinden, welche die Partizipation älterer<br />
MigrantInnen fördern möchten, müssen sich bewusst sein, dass Gender, drittes oder viertes<br />
Lebensalter, Bildungsstand, Schichtzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, Zivilstand, Sozialisierung<br />
im Herkunftsland, etc. alles Faktoren sind, welche unterschiedliche Bedürfnisse und Formen der<br />
Partizipation hervorbringen können. Diesen ist in der Ausgestaltung von Partizipation allenfalls auch<br />
zielgruppenspezifisch Rechnung zu tragen.<br />
102
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
5.3 Auswertung der Daten aus den Interviews mit MigrantInnen<br />
und aus der Fokusgruppe mit VertreterInnen von<br />
Migrantenorganisationen und Ergebnisse (V. Abati)<br />
5.3.1 Auswertung und Ergebnisse Einzelinterviews mit MigrantInnen<br />
Die Daten des quantitativen und des qualitativen Teils der Interviews wurden getrennt ausgewertet<br />
und sie werden in der Folge auch getrennt dargestellt und kommentiert. Wo sinnvoll wird jedoch vom<br />
quantitativen auf den qualitativen Teil und umgekehrt verwiesen, respektive es werden, wo sinnvoll,<br />
Auffälligkeiten oder mögliche Zusammenhänge aufgezeigt. Im quantitativen Teil der Fragen hatten die<br />
Probanden jeweils die Möglichkeit, Bemerkungen zu machen, die anschliessend wörtlich von der<br />
Tonbandaufnahme transkribiert wurden. Diese transkribierten Bemerkungen wurden für den Teil der<br />
qualitativen Auswertung genutzt. Dasselbe gilt für alle anderen auf Tonband festgehaltenen und<br />
transkribierten Äusserungen der Probanden bei den quantitativen Fragen.<br />
5.3.1.1 Auswertung und Ergebnisse der quantitativen Interviewdaten<br />
Die quantitativen Daten, also der erste Block des Fragebogens, werden nur in Bezug auf die Anzahl<br />
Nennung, also in Bezug auf Ihre Häufung analysiert.<br />
Tabelle 6: Sozio-demografische Angaben<br />
Frage<br />
Soziodemografische Fragen<br />
103<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
männlich 13<br />
weiblich 9<br />
Durchschnitt<br />
Alter in J. 1607 73<br />
ital. Staatsbürger 17<br />
Doppelbürger 5<br />
eingebürgert<br />
in der CH seit (Jahrzahl)<br />
in Anzahl Jahren 1156 52.5<br />
keine Ausbildung 6<br />
angelernt 12<br />
Lehre 1<br />
tertiär 4<br />
andere 1<br />
Kinder nein 2<br />
ja 20<br />
wie viele 36<br />
Enkelkinder nein 8<br />
ja 14<br />
wie viele 42<br />
Rückkehr nicht vorgesehen 20<br />
in x Jahren vorgesehen 2<br />
parzielle Rückkehr
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die insgesamt 22 Probanden verteilen sich geschlechtsspezifisch auf 13 Männer und 9 Frauen. Dies<br />
entspricht einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern. In Bezug auf die<br />
Auswertung der Daten gilt es allerdings festzuhalten, dass diese nicht auf geschlechtsspezifische<br />
Unterschiede untersucht wurden. Dafür ist einerseits die Datenmenge (n = 22) zu klein und<br />
andererseits wird eine diesbezügliche Unterscheidung für die Fragestellung der Untersuchung als<br />
zweitrangig angesehen. Ein konkreter Faktor liesse sich weiter vertiefen: Wenn es um eine „offizielle<br />
Funktion“ innerhalb einer Vereinigung oder einer Institution geht, scheinen diese deutlich häufiger von<br />
Männern übernommen zu werden als von Frauen. Inwieweit und ob sich diese Beobachtung auf die<br />
Thematik der Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft im Vergleich von Männern und Frauen<br />
auswirkt, bedarf einer weiteren Klärung.<br />
Die Altersgruppen verteilen sich über ein Spektrum von 65 (Mindestalter, das als Kriterium bei der<br />
Auswahl der Probanden festgelegt wurde) bis über 80 Jahre. Der älteste Proband war zu Zeit des<br />
Interviews 88 Jahre alt.<br />
Die Aufteilung der Probanden nach Altersgruppen zeigt sich wie folgt:<br />
65 – 69 n = 6<br />
70 – 74 n = 9<br />
75 – 79 n = 3<br />
80 – mehr n = 4<br />
Der bisherige Grad von Partizipation und Aktivität in den eigenen Strukturen und Vereinigungen ist bis<br />
etwa zum 75. Lebensjahr altersunabhängig. Das heisst, wer bis dahin aktiv war und partizipiert hatte,<br />
tat das auch bis ins höhere Alter. Ab dem 76. Lebensjahr lässt sich feststellen, dass die Äusserung, in<br />
der Zwischenzeit zu alt für eine aktive Beteiligung an der Gesellschaft zu sein, gehäuft auftritt. Man sei<br />
dann einfach zu alt, habe nicht mehr die entsprechende Energie oder möchte einfach seine Ruhe<br />
geniessen.<br />
Bei der Frage der Staatsbürgerschaft fällt auf, dass keiner der Probanden in der Schweiz eingebürgert<br />
ist. 17 Personen sind nach wie vor italienische Staatsbürger, 5 sind durch Heirat italienisch-<br />
schweizerische Doppelbürger. Der Grund dafür mag in der Tatsache liegen, dass in früheren Zeiten<br />
die Doppelbürgerschaft in Italien nicht anerkannt war und dass die ItalienerInnen der ersten<br />
Generation auf eine Einbürgerung verzichtet hatten, um die italienische Staatsbürgerschaft nicht zu<br />
verlieren. Dieser Frage wurde allerdings nicht vertieft nachgegangen.<br />
Insgesamt haben die 22 befragten Personen 1„156 Jahre in der Schweiz verbracht, das entspricht<br />
einem Durchschnitt von 52,5 Jahren pro Person. In Bezug auf die Lebenserwartung der untersuchten<br />
Kohorte entsprechen diese in der Schweiz verbrachten Lebensjahre deutlich mehr als der Hälfte eines<br />
ganzen Lebens.<br />
Was den Bildungsstand der Interviewten betrifft, zeigt sich, dass MigrantInnen der ersten Generation<br />
ein tiefes Bildungs- und Ausbildungsniveau mitbringen. In der vorliegenden Untersuchung haben die<br />
meisten keine Ausbildung oder wurden in ihrer Jugend oder im frühen Erwachsenenalter in einem<br />
Beruf angelernt. Das entspricht auch heute noch der italienischen Bildungslandschaft, welche neben<br />
104
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
der universitären Ausbildung das klassische System der Lehre, wie es in der Schweiz besteht, nicht<br />
kennt.<br />
Ausser zwei der befragten Personen haben alle anderen Kinder, welche als sogenannte Secondos im<br />
schweizerischen Alltags- und Berufsleben bestens integriert sind. Zwei Drittel geben an, Enkelkinder<br />
zu haben. Die Frage, inwiefern Kinder und Enkelkinder zum Entscheid geführt haben, den<br />
Lebensabend in der Schweiz zu verbringen, wurde nicht gestellt (siehe nächsten Punkt Rückkehr).<br />
Für zwanzig der befragten Personen ist eine Rückkehr nach Italien nicht vorgesehen. Neunzehn<br />
dieser Personen haben Kinder, die hier leben. Zwei dieser neunzehn Personen haben keine Kinder,<br />
wollen aber dennoch hier bleiben. Eine Person, die sowohl Kinder als auch Enkelkinder hier hat, gibt<br />
an, so schnell wie möglich nach Italien zurückkehren zu wollen. Eine Person, die ebenfalls Kinder und<br />
Enkelkinder hier hat, sagt, dass sie dann nach Italien zurückkehren wird, sobald das Geld zum Zahlen<br />
(der Verpflichtungen, die Autorin) nicht mehr reichen wird. Eine nähere Angabe zu dieser Aussage<br />
machte die Probandin nicht. Keiner der Probanden gab an, eine parzielle Rückkehr in Betracht zu<br />
ziehen. Gemeint ist hier, dass ein Teil des Jahres in der Schweiz und ein Teil des Jahres in Italien<br />
verbracht werden würde.<br />
Tabelle 7: Interviewfrage 1<br />
Frage<br />
1<br />
An wen wenden Sie sich bei Fragen zum Alter?<br />
105<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
(jüngere) Familienmitglieder 6<br />
Migranten-Organisationen 10<br />
Verwaltungsstellen (z.B. Sozialdienst) 8<br />
Quartierleist 0<br />
Freunde aus der eigenen Migrantengruppe 3<br />
Schweizer Freunde 0<br />
Arzt 6<br />
Gewerkschaften 4<br />
Missione Cattolica / andere kirchl. Institutionen 5<br />
Mehrfachnennungen waren möglich<br />
Bei der Frage, an wen sie sich bezüglich des Themas Alter wenden würden oder bereits wenden,<br />
figurieren an erster Stelle Migrantenorganisationen, danach die Familienmitglieder. Ebenfalls aus der<br />
eigenen Sprachgruppe werden in absteigender Reihenfolge genannt: Missione Cattolica/Kirche (5<br />
Nennungen), Gewerkschaften (4 Nennungen) und Freunde (3 Nennungen).<br />
Auch bei deutsch-sprachigen Stellen wird bei Altersfragen um Information nachgesucht: Bei<br />
Verwaltungsstellen (meist in Bezug auf finanzielle Fragen) und auch bei Ärzten. Bei den Ärzten wurde<br />
jeweils speziell als Bedingung erwähnt, dass diese neben Deutsch auch Italienisch sprechen.<br />
Auffällig war, dass diese Frage für die Interviewten ungewöhnlich war. Teilweise wurde sogar<br />
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie sich diese Frage selbst noch nicht gestellt hatten und sie<br />
daher zuerst einen Moment darüber nachdenken mussten, welche Antwortmöglichkeiten sie angeben<br />
wollten.
Tabelle 8: Interviewfrage 2<br />
Frage<br />
2<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ist eine spezielle öffentliche Anlaufstelle<br />
für Altersfragen sinnvoll?<br />
106<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
ja 21<br />
nein 1<br />
Bedingungen: (nur JA-Antworten eingeben)<br />
Mitarbeitende (MA) sprechen italienische Sprache 10<br />
Ma stammen aus eigener Migrantengruppe 4<br />
MA verstehen Probleme der ital. MigrantInnen 19<br />
andere 3<br />
Gibt es im eigenen Umfeld eine solche Anlaufstelle:<br />
ja 6<br />
nein 16<br />
Wenn ja, was?<br />
Mehrfachnennungen bei „Bedingungen“ waren möglich<br />
Mit einer Ausnahme geben alle Probanden an, dass sie eine spezielle öffentliche Anlaufstelle für<br />
Altersfragen als sinnvoll einstufen. Bei den Bedingungen, unter welchen sie eine solche Anlaufstelle<br />
auch nutzen und aufsuchen würden, sind zwei Faktoren ausschlaggebend: Die Mitarbeitenden dort<br />
sprechen Italienisch und/oder die Mitarbeitenden dort verstehen die Probleme der italienischen<br />
MigrantInnen. Es gibt mehrheitlich (noch) keine solchen Anlaufstellen in der Wohnumgebung der<br />
Befragten.<br />
Tabelle 9: Interviewfragen 3a und 3b<br />
Frage<br />
3a<br />
3b<br />
War schon in Italien aktiv im Sinne von Partizipation?<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
politisch 4<br />
gewerkschaftlich 4<br />
kirchlich 9<br />
Verein/Vereinigung 5<br />
selbstorganisierte Gruppen 1<br />
andere<br />
Hat die Kriegs-/Nachkriegszeit den eigenen<br />
Partizipationsentscheid beeinflusst?<br />
nein 16<br />
ja 6<br />
wenn ja, wie<br />
Mehrfachnennungen bei 3a waren möglich<br />
Insgesamt 16 Personen haben angegeben, bereits in Italien partizipativ aktiv gewesen zu sein im<br />
Sinne von bürgerschaftlichem Engagement. Sieben dieser Personen geben an, in verschiedenen<br />
Bereichen aktiv gewesen zu sein. Die anderen 9 Probanden geben an, in Italien nicht aktiv partizipiert<br />
zu haben. Der meistgenannte Bereich für partizipative Aktivitäten ist die Kirche mit insgesamt 9<br />
Nennungen. Bei der Frage 3b sollte in Erfahrung gebracht werden, ob die Tatsache, den Krieg oder<br />
die Nachkriegszeit miterlebt zu haben, ihre Entscheidung, im Leben Partizipation im Sinne der aktiven<br />
Bürgerschaft zu betreiben, beeinflusst habe. Mehr als zwei Drittel der Befragten gibt an, dass das<br />
nicht der Fall war. Jene 6 Personen, die diese Frage mit ja beantwortet haben, haben dies wie folgt<br />
begründet:
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
- Der Krieg und die danach herrschende Armut haben evtl. eine partizipative Haltung gefördert.<br />
- Die Armut hat zu einer Arbeitermentalität geführt.<br />
- Der Krieg hat zu einer ablehnenden Haltung gegenüber Faschismus und Arroganz geführt.<br />
- Nach dem Krieg gab es viele Kinder, die alle bei der Arbeit der Eltern mitgeholfen haben.<br />
- Man wollte etwas für den Einsatz der Eltern zurückgeben.<br />
Insgesamt lässt sich in Bezug auf diese Frage sagen, dass die erlebte Kriegs- oder Nachkriegszeit<br />
keinen direkten oder spezifischen Einfluss auf das Partizipationsverhalten der Einzelnen hatte.<br />
Tabelle 10: Interviewfrage 4<br />
Frage<br />
4<br />
Im eigenen Quartier bereits aktiv i.S. von Partizipation?<br />
107<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
ja 11<br />
nein 11<br />
wenn nein, warum nicht<br />
Bei dieser Frage findet sich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen jenen Personen, die im eigenen<br />
(schweizerischen) Wohnquartier bereits aktiv sind oder waren und jenen, die es nicht sind oder waren.<br />
Dabei machen die Partizipierenden folgende Bemerkungen:<br />
- Vielleicht nehmen die Alten in den Vereinigungen teil, weil sie sich zu Hause alleine fühlen:<br />
Aber was ist in 5 bis 10 Jahren?<br />
- Gewerkschaftlich aktiv, immer in führender Position – Mitgründer des CISAP<br />
- Ich war in ganz vielen Vereinigungen aktiv und bin es noch<br />
- Mitglied im Club 70+, Freiwilligenarbeit<br />
- In unserem Alter lernt man nicht mehr viel, aber wenigstens kommt man so ein bisschen raus.<br />
- War für 8 Jahre bei Ausländerfragen für die Gemeinde beratend tätig.<br />
- Freiwilligenarbeit beim Roten Kreuz<br />
- In der Pensioniertenvereinigung im Quartier mit dabei<br />
- Zusammen mit den Schweizern gegen einen Entsorgungshof engagiert, für solche Sachen<br />
partizipiert man miteinander.<br />
- Ich bin ziemlich aktiv.<br />
Die nicht-partizipierenden Personen geben dagegen folgendes an:<br />
- In meinem Alter mache ich nichts mehr.<br />
- Früher schon, heute nicht mehr.<br />
- Früher war ich Mitglied, aber diese Vereinigungen sterben langsam aus. Die erste Generation ist<br />
nicht mehr aktiv, weil sie alt ist. Die Jungen interessieren sich nicht.<br />
- Mit der Arbeit, den Kindern und Enkelkindern fühlte ich mich voll ausgelastet.<br />
- Heute als Pensionierter nicht mehr, auch weil ich viel weg bin<br />
- Ich mache anderes, z.B. zur Wohnung schauen<br />
- Ich bin nirgends mehr aktiv, helfe aber bei Festen oder so<br />
- Nachdem ich krank wurde, konnte ich nicht mehr arbeiten<br />
- Nachdem ich einmal reingelegt wurde in einer italienischen Vereinigung, habe ich mich
zurückgezogen<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
- Vielleicht waren wir einfach gleichgültig und haben uns nur für die Familie interessiert oder auch<br />
einfach nichts gebraucht.<br />
- Wir können ohne Stimmrecht nicht partizipieren, also nehme ich nirgends teil.<br />
Tabelle 11: Interviewfrage 5<br />
Frage<br />
5<br />
Hat Gemeinde zu Partizipations-Prozessen eingeladen?<br />
108<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
ja 9<br />
nein 13<br />
wann<br />
zu welchen Themen<br />
Der Einladung gefolgt:<br />
ja 7<br />
nein<br />
Mehr als die Hälfte gibt an, bisher noch nie von der eigenen Wohngemeinde zu Partizipations-<br />
Prozessen eingeladen worden zu sein. Neun Personen geben an, bereits eingeladen worden zu sein<br />
und sieben davon sind der Einladung der Gemeinde gefolgt.<br />
Die Frage nach den Themen der partizipativen Prozesse ergab folgende Antworten:<br />
- Von verschiedenen Gesellschaften (Gemeinde/Vereinigungen) eingeladen worden<br />
- Die wussten, dass ich nicht mitmachen würde. Ich habe Freiwilligenarbeit gemacht.<br />
- Frauenverein<br />
- Für ein einigendes Fest von Schweizern und Ausländern, dann waren aber die Schweizer und<br />
die Ausländer je unter sich.<br />
- Die Gemeinde hat verschiedene Bewohner, auch Ausländer, für die Lösung eines aktuellen<br />
Problems zum Mitmachen eingeladen<br />
- Der Punkt ist, dass du ohne Staatsbürgerschaft automatisch draussen bist.<br />
- Schriftliche Informationen in deutscher Sprache lese ich gar nicht.<br />
- Beim Projekt der Vereinigung „Terza età“ mitgemacht.<br />
- Wir haben Karten nach Hause geschickt bekommen.<br />
- Jetzt, wo ich pensioniert bin, erhalte ich manchmal einen Brief von den ital. Vereinigungen.<br />
Tabelle 12: Interviewfrage 6<br />
Frage<br />
6<br />
Bei welchen Themen ist Mitsprache/-entscheid<br />
gewünscht?<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
Quartiergestaltung (Tempolimit/Grünanlagen, etc.) 10<br />
Angebotsgestaltung 13<br />
Mobilität 5<br />
Wohnen 9<br />
Gesundheitsthemen 16<br />
weitere 2<br />
Mehrfachnennungen waren möglich
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Diese Frage zielt konkret darauf ab, ob eine Mitsprache oder ein Mitentscheid in spezifischen<br />
Bereichen gewünscht ist, ohne dass dabei eine aktive Partizipation im Sinne von Mitwirken oder<br />
Mitentwickeln verbunden sein muss (siehe Frage 7).<br />
Die drei häufigsten Nennungen betreffen das Thema Gesundheit (16), die Angebotsgestaltung (13)<br />
sowie die Quartiergestaltung (10).<br />
Tabelle 13: Interviewfrage7<br />
Frage<br />
7<br />
Bei welchen Angeboten würden Sie gerne mitwirken?<br />
109<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
Bildungsangebote 8<br />
Angebote zu Gesundheit 10<br />
Mithilfe bei Beratung/Begleitung Altersfragen 11<br />
weitere 1<br />
Mehrfachnennungen waren möglich<br />
Bei der Frage 7 geht es ganz spezifisch darum, ob die Befragten bei Angeboten / Projekten /<br />
Prozessen mitwirken möchten im Sinne von Mitentwickeln, Mitgestalten und Umsetzen. Das Interesse<br />
in Bezug auf die Themen ist relativ ausgewogen mit 8, 10 und 11 Nennungen.<br />
Während 16 der Interviewten angeben, dass sie (durch Angabe der Themen) an aktiver Mitwirkung<br />
interessiert sind, geben 6 von ihnen an, kein Interesse an Mitwirkung zu haben. Von den 16 Personen<br />
mit Interesse, haben 9 Mehrfach-Antworten gegeben.<br />
Tabelle 14: Interviewfrage 12<br />
Frage<br />
12<br />
Wie muss die Stadt Bern vorgehen, um MigrantInnen für<br />
Partizipation zu gewinnen?<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
CH Vertreterinnen in italienische Organisationen kommen 19<br />
2. Generation soll miteinbezogen werden 17<br />
Infos müssen in italienischer Sprache angeboten werden 20<br />
Teilnahme von ital. Ansprechpartnern/Kontaktpersonen aus<br />
der eigenen Community 21<br />
weitere 7<br />
Mehrfachnennungen waren möglich<br />
Bei allen Antwortmöglichkeiten zeigt sich eine hohe Anzahl Nennungen (17 bis 21 Nennungen pro<br />
Antwortmöglichkeit). Hier lassen sich eindeutige Hinweise für den Zugang zu und das Zugehen auf<br />
ältere MigrantInnen ablesen, wenn diese für Partizipationsprozesse gewonnen werden sollen.<br />
Tabelle 15: Interviewfrage 15<br />
Frage<br />
15<br />
Kennen Sie die CH <strong>Integration</strong>spolitik<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
ja 11<br />
nein 11<br />
Bei dieser Frage muss angefügt werden, dass gerade bei jenen, die angegeben haben, dass sie die<br />
<strong>Integration</strong>spolitik der Schweiz kennen würden, ein sehr unterschiedliches Verständnis bezüglich dem<br />
Terminus „<strong>Integration</strong>spolitik“ bestand.
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Bei den Befragten, die diese Frage mit Ja beantwortet haben, muss tendenziell davon ausgegangen<br />
werden, dass sie zwar wissen, dass <strong>Integration</strong> im politischen Sinne gesteuert wird. Dass es sich<br />
dabei um eine Politik handelt, die auf einer konkreten gesetzlichen Grundlage beruht, ist nur einer<br />
Person klar, da sich diese aktiv und vertieft mit der Thematik der <strong>Integration</strong>spolitik befasst hat.<br />
Bei den Personen, die diese Frage verneinten, herrschte ein spontanes und klar geäussertes Nein<br />
vor. Einige beantworteten die Frage erst – dann aber mit einem deutlichen Nein – als die Interviewerin<br />
einige Zusatzinformationen und Erklärungen zum Begriff <strong>Integration</strong>spolitik gab.<br />
Tabelle 16: Interviewfrage 16<br />
Frage<br />
16<br />
Was halten Sie von der Idee, ältere MigrantInnen für<br />
Partizipation zu gewinnen?<br />
Grundsätzlich:<br />
110<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
zeitgemäss und notwendig 10<br />
zeitgemäss aber illusorisch 0<br />
wünschenswert 9<br />
nicht nötig 3<br />
Umsetzbarkeit:<br />
nicht umsetzbar 4<br />
nur umsetzbar, wenn MigrantInnen mitentscheiden können 14<br />
Bei der Frage, was die Probanden von der Idee halten, ältere MigrantInnen in Zukunft für Partizipation<br />
gewinnen zu wollen, geben sie an, dass sie das grundsätzlich für zeitgemäss und notwendig halten<br />
(10 Nennungen), weitere 9 Personen geben an, dass es zumindest wünschenswert wäre.<br />
Bei der Umsetzbarkeit der Partizipation älterer MigrantInnen wird deutlich, dass diese aus ihrer Sicht<br />
nur gelingen kann, wenn MigrantInnen bei den Partizipationsprozessen auch mitentscheiden können.<br />
Vier von zweiundzwanzig Befragten geben an, dass sie nicht glauben, dass das umsetzbar ist.<br />
Tabelle 17: Interviewfrage 17<br />
Frage<br />
17<br />
Definition Partizipation<br />
Teilen Sie dieses Verständnis von Partizipation?<br />
Anzahl<br />
Nennungen<br />
vollständig 13<br />
teilweise 9<br />
nein<br />
Den Befragten wurde zu Beginn des Interviews und dann erneut vor der Beantwortung dieser Frage<br />
folgende Definition von Partizipation in italienischer Sprache und schriftlich vorgelegt:<br />
Definition von Partizipation:<br />
Ältere MigrantInnen sollen – auch wenn sie kein politisches Recht (kein Stimm- und kein Wahlrecht) haben – an<br />
ihrem Wohnort als gleichwertige Bürger partizipieren können im Sinne von mitreden, mitentscheiden und<br />
mitgestalten bei Themen des allgemeinen Lebens und des Lebensraumes.<br />
Etwas mehr als die Hälfte der Interviewten antwortet, dass sie diese Definition von Partizipation<br />
vollständig teilen können. Neun der Befragten beantworten dies mit „teilweise“. Während niemand die
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Frage mit „nein“ beantwortet hat, haben diejenigen Personen, die mit „teilweise“ geantwortet haben,<br />
folgende Bemerkungen dazu gemacht:<br />
- Der Ausländer trägt automatisch mit seinem Geld bei, dafür sollte er auch mitreden können.<br />
- Das ist illusorisch.<br />
- Aufgrund der Sprache glaube ich nicht, dass sie (die Italiener) sich wirklich einbringen können.<br />
- Es braucht mindestens das kommunale Stimmrecht.<br />
- Du kannst zwar vielleicht mitreden, aber entscheiden kannst du dann nicht.<br />
- Funktioniert nicht, weil sich z.B. ein Türke nie integrieren würde.<br />
- Unterschiedliche Religionen erschweren das.<br />
- Bei kommunalen Sitzungen war ich immer der einzige Ausländer.<br />
- Die Ausländer partizipieren halt einfach nicht.<br />
- Sobald meine Meinung gefragt wird, fühle ich mich integriert. Weshalb gibt man uns dann das<br />
Stimmrecht nicht?<br />
- Solange sie uns das Stimmrecht nach so vielen Jahren nicht geben….<br />
- Nach 40 Jahren in einer Gemeinde kann ich nicht stimmen, das heisst, ich habe keine Rechte.<br />
- Man müsste auch als Nicht-Bürger (i.S. von Schweizer) politisch partizipieren können.<br />
- Die Kinder müssten uns Alten erklären, was in diesem Land (bezüglich Partizipation) geschieht.<br />
- Jetzt sagen sie, dass wir eingeladen sind zu partizipieren….<br />
- Es müsste besser erklärt werden.<br />
- Wenn wir wenigstens das (kommunale) Stimmrecht hätten.<br />
5.3.1.2 Auswertung und Ergebnisse der qualitativen Interviewdaten<br />
Für die qualitative Auswertung wird das Vorgehen der „Zusammenfassung und induktiven<br />
Kategorienbildung“ (Mayring, 2010) gewählt. Es geht dabei um eine reine inhaltliche Zusammen-<br />
fassung im Sinne einer Häufung von bestimmten Nennungen sowie um eine ordnende Strukturierung.<br />
In einem nächsten Schritt wird dann ein Kategoriensystem entwickelt. Alle Aussagen werden einer<br />
Kategorie zugeordnet, können aber aufgrund der ursprünglichen Kodierung stets dem originären Text<br />
(Interview) zugeordnet werden.<br />
Vorgehensweise: Form des Interpretierens (Mayring, 2010):<br />
Zusammenfassung Häufigkeitsanalyse<br />
Strukturierung Klassifizierung (Strukturieren nach Ordnungsgesichtspunkten)<br />
Kategorienbildung Textbasierende Kategorienbildung / zusammenfassende<br />
Kategorisierung (Haupt- und Unterkategorien)<br />
Die transkribierten Interviews wurden nacheinander durchgearbeitet. Die weiter verwendeten<br />
Textpassagen (Paraphrasierungen) wurden im Originaltext fett markiert und in eine neue Spalte<br />
übertragen (Schritt 1 der Auswertung. Aufgrund der grossen Datenmenge ist dieser Teil nicht im<br />
Anhang enthalten, kann aber jederzeit bei den Autorinnen nachgefragt werden).<br />
Für die Auswertung wurde allen Interviews ein individueller Code zugewiesen. Dieser setzt sich wie<br />
folgt zusammen: I für Interview – 1 als fortlaufende Nummerierung der Interviews / Anfangsbuchstabe<br />
111
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
des Nachnamens und Anfangsbuchstabe des Vornamens (Beispiel: I-1 / A.C.). Auf eine detailliertere<br />
Kodierung des Materials (wie z.B. Zeilenmarkierung) wurde verzichtet, da durch die Kodierung des<br />
Interview-Bogens, der Nummerierung der Fragen sowie durch das fett Markieren des übertragenen<br />
Textes ein Auffinden von spezifischen Textstellen auf einfache Weise ermöglicht wird.<br />
Im Weiteren folgte ein standardisiertes Vorgehen beim Durcharbeiten des Materials, welches sich am<br />
Ablaufmodell der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) orientiert.<br />
Tabelle 18: Auswertungsschritte qualitative Daten Interviews<br />
Vorgehensschritte<br />
Schritt 0<br />
Bestimmung der Analyseeinheiten<br />
Schritt 1<br />
Auswahl und Markierung der<br />
inhaltsprägenden Aussagen<br />
Schritt 2<br />
Paraphrasierug und Reduktion inkl.<br />
Übersetzung des Originaltextes<br />
Schritt 3<br />
2. Reduktion, Generalisierung und<br />
erste Kategorienbildung<br />
Schritt 4<br />
Kategorienordnung und<br />
Unterkategorien<br />
Schritt 5<br />
Zusammenfassende Kategorienliste<br />
Erläuterungen<br />
Die Interviews und die Textpassagen werden in der durchgeführten<br />
Reihenfolge analysiert.<br />
Die kleinste Analyseeinheit (Kodiereinheit) kann ein vom Interviewten<br />
genannter einzelner Begriff, aber auch ein ganzer Satz sein.<br />
Eine zu analysierende Kontexteinheit entspricht der gesamten Antwort<br />
zu einer Frage.<br />
Pro Interview wird der gesamte Text durchgearbeitet und<br />
inhaltstragende / relevante Aussagen werden fett markiert. Alle fett<br />
markierten Stellen werden anschliessend in einem Dokument<br />
zusammengefasst.<br />
Jede inhaltsprägende Aussage wird paraphrasiert und im gleichen<br />
Arbeitsschritt reduziert und übersetzt und in einer separaten Spalte<br />
erfasst.<br />
Ausgehend von der ersten und übersetzten Reduktion wird eine<br />
Generalisierung der Kodiereinheiten vorgenommen. Die<br />
Generalisierung ist der Ausganspunkt für das Bilden eines<br />
ungeordneten Kategoriensystems. Jede Kategorie wird so kodiert, dass<br />
sie dem Ursprungstext zugeordnet werden kann (Beispiel: F5/I-11)<br />
Alle in Schritt 3 definierten Kategorien werden in ein separates<br />
Dokument übertragen und in eine alphabetische Reihenfolge gebracht.<br />
Die Kategorien-Kodierung erlaubt erneut, jede zugeordnete Aussage im<br />
Ursprungsmaterial präzise wieder aufzufinden.<br />
Die Zusammenfassung enthält Haupt-, Unter- und Unterunterkategorie<br />
mit den entsprechend zugewiesenen Titeln. Die Zahl hinter jeder<br />
Kategorie verweist auf die Anzahl der in dieser Kategorie enthaltenen<br />
ursprünglichen Aussagen und erlaubt damit einen ersten Vergleich der<br />
Häufungen.<br />
Das gesamte Rohmaterial der qualitativen Datenerhebung beinhaltet nicht nur die Antworten der<br />
offenen, qualitativen Fragen (nämlich die Fragen Nummer 9, 10, 11, 13 und 14), sondern alle<br />
Bemerkungen, die zu den anderen (quantitativen) Fragen von den Interviewten ebenfalls gemacht<br />
wurden. In den gebildeten Kategorien sind also die Aussagen der quantitativen Fragen enthalten.<br />
Im Folgenden werden die gebildeten Kategorien und Unterkategorien vorgestellt und kommentiert. Die<br />
induktiv gewonnenen Hauptkategorien sind:<br />
- Rechte<br />
- Alter<br />
- Charakter und Mentalität<br />
112
- Erwartung / Forderung an die Schweiz<br />
- Information und Dienstleistungen<br />
- <strong>Integration</strong><br />
- Partizipation<br />
- Selbstorganisation und Selbsthilfe<br />
- Kostenfaktor<br />
- Sozio-psychologische Faktoren<br />
- Sozialisation und historische Prägung<br />
Tabelle 19: Hauptkategorie Rechte<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Rechte Stimmrecht /Ausländer brauchen<br />
Rechte<br />
113<br />
11 Ohne Rechte keine Wirkung 8<br />
Der Ausländer verdient Rechte 5 Keine Rechte – kein Interesse 1<br />
In der Kategorie „Recht“ fällt auf, dass viele der Befragten (Anzahl Nennungen total 25) darauf<br />
verweisen, dass sie es als MigrantInnen als richtig oder notwendig erachten, zumindest auf der<br />
kommunalen Ebene ein politisches Mitspracherecht zu haben. Es wurde ebenfalls deutlich, dass die<br />
Frage der Partizipation, wie sie in dieser Arbeit definiert ist, gar nicht nötig wäre, würde die Schweiz<br />
den MigrantInnen das (kommunale) Stimmrecht zubilligen. Die Bemerkungen zur Kategorie Rechte<br />
deuten auf ein emotionales Erleben dieses Themas hin.<br />
Tabelle 20: Hauptkategorie Alter<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Alter Isolation 5 Gemeinschaft erleben 2<br />
Alter ist Defizit orientiert 14<br />
Zuwendung erleben 1<br />
Zu alt für Partizipation / zum aktiv sein 11 Vereinigungen sterben aus 4<br />
Schweiz wird zum alt werden<br />
vorgezogen<br />
Die Aussagen in der Kategorie Alter verweisen auf die von MigrantInnen erlebte Problematik des<br />
Alters. Es zeigt sich eine tendenziell Defizit orientierte Haltung zum alt werden und alt sein. Die<br />
Bemerkungen in den Unterunterkategorien „Gemeinschaft erleben“ und „Zuwendung erleben“ sind<br />
Ausdruck dessen, wie wichtig soziales Eingebundensein eingeschätzt wird.<br />
Es besteht ausserdem ein Bewusstsein darüber, dass die von der ersten Generation gegründeten und<br />
geführten Vereinigungen überaltert sind und dass sie nicht mehr lange überleben werden, wenn die<br />
junge Generation nicht bereit ist, sie weiterzuführen. Alt werden in der Schweiz wird als positiv<br />
gewertet, einerseits wegen guter und sicherer Strukturen, andererseits weil die eigenen Kinder in der<br />
Schweiz zu Hause sind und das den Kontakt und die Unterstützung erleichtert, resp. gewährleistet.<br />
Mehrmals wurde auch genannt, dass man noch zu wenig alt und deshalb von Altersfragen oder<br />
–problemen noch nicht oder noch zu wenig betroffen sei.<br />
4
Tabelle 21: Hauptkategorie Charakter und Mentalität<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Charakter und<br />
Mentalität<br />
48 Anpassungsfähigkeit 11<br />
Stolz 5<br />
<strong>Integration</strong>sfähigkeit 5<br />
Die Nennungen der Kategorie „Charakter und Mentalität“ resultieren vor allem aus den Fragen nach<br />
den Ressourcen und was die Selbstorganisation der älteren italienischen MigrantInnen so erfolgreich<br />
macht. Die häufigste Nennung war, dass Italiener eine Arbeitermentalität hätten und dass sie sehr<br />
offen seien. Umgekehrt wurde in diesem Zusammenhang auffällig häufig erwähnt, dass die Schweizer<br />
wenig offen seien, dass die Schweizer lieber unter sich sein wollten und dass sie vorsichtig und<br />
zurückhaltend und ernst seien. Weitere Nennungen zu diesem Punkt waren: die Italiener haben<br />
Fantasie / Mut und Kraft / Wille, für ein besseres Leben zu kämpfen. Nicht zu übersehen und zu<br />
überhören war, dass viele der Interviewten diese Frage mit einem gewissen Stolz für die<br />
„Besonderheiten des italienischen Charakters“ beantworteten.<br />
Tabelle 22: Hauptkategorie Erwartung/Forderung CH<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Erwartung / Forderung<br />
CH<br />
30 Generelle Ansätze erarbeiten 6<br />
Insgesamt gab es bei den Erwartungen / Forderungen 36 Nennungen, die in ihrem Inhalt zum Teil<br />
stark auseinander gehen, respektive auf gänzlich unterschiedliche Haltungen zu diesem Punkt<br />
hinweisen. Während einige zum Ausdruck bringen, dass sie bezüglich Partizipation keine Erwartungen<br />
an die Schweiz oder an die eigene Gemeinde hätten, sind einige andere der Überzeugung, dass die<br />
Gemeinden die Initiative ergreifen und mehr tun müssten, wenn diese wollten, dass die älteren<br />
MigrantInnen aktiv werden sollen. Es wurde auch mehrfach darauf hingewiesen, dass der Kontakt mit<br />
der älteren Migrationsbevölkerung konkret(er) angegangen und gepflegt werden müsste. Weitere<br />
Äusserungen betrafen nicht direkt Erwartungen an die Partizipation: mehr italienische Abteilungen in<br />
den Altersheimen / ein Treffpunkt für alle.<br />
Tabelle 23: Hauptkategorie Information und Dienstleistungen<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Information und<br />
Dienstleistungen<br />
1 Informationsbedarf 6 Kein Informationsbedarf 3<br />
Dienstleistungen im Alter sind gut 6<br />
Kirche als hilfreiche Anlaufstelle 6<br />
Schlecht besuchte Angebote 2<br />
Schlechte Erreichbarkeit der<br />
Migranten<br />
114<br />
3<br />
Keine Fragen zum Alter 6<br />
Sich nicht selbst darum<br />
gekümmert<br />
1
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Hilfe bei Bedarf in der CH<br />
gewährleistet<br />
Genügend Informationen und Dienste<br />
vorhanden<br />
Mehrfach wurde genannt, dass die Dienstleistungen (finanzielle und soziale Unterstützung) für alte<br />
Menschen in der Schweiz sehr gut seien. Zum Teil wurde dies explizit im Vergleich zu den Leistungen<br />
in Italien geäussert. Ein Teil der Befragten ist der Meinung, dass es zu wenig Informationen speziell<br />
zum Alter gäbe, ein weiterer Teil meint, keinen Informationsbedarf zu Altersfragen zu haben und ein<br />
dritter Teil sagt, dass es viele / genügend Informationsstellen, Dienstleistungen und Informationen<br />
gäbe und dass diese bei Bedarf auch gefunden würden. Für einen Teil der befragten Personen stellt<br />
die Kirche eine wichtige Informationsquelle für Fragen zum Alter dar. Einige Nennungen verweisen<br />
darauf, dass die bestehenden Angebote zu wenig besucht würden und dass vorhandene<br />
Informationen die Zielgruppe der älteren MigrantInnen gar nicht erreichen würden.<br />
Tabelle 24: Hauptkategorie <strong>Integration</strong><br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
<strong>Integration</strong> 5 <strong>Integration</strong>sfähigkeit 2<br />
Die CH <strong>Integration</strong>spolitik ist nicht<br />
nachhaltig<br />
Barriere, Distanz zw. Migranten und<br />
CHn<br />
Italiener sind nicht integriert 3<br />
Sprachbarriere 12<br />
Zum Thema <strong>Integration</strong> und <strong>Integration</strong>sfähigkeit gibt es verschiedene Meinungen:<br />
- Italiener verstehen es, sich zu integrieren<br />
- <strong>Integration</strong> unter den Migranten scheint höher zu sein, als die <strong>Integration</strong> im Migrationsland<br />
- man sei früher nicht davon ausgegangen, dass man bleiben würde / man wollte Geld verdienen<br />
Ein deutlicheres Bild zeigt sich bei den Punkten „Barrieren/Distanz“ und „Sprachbarriere“: Die<br />
Äusserungen reichen von „gegenseitigen Vorurteilen“, zu „Mauer zwischen Schweizern und<br />
Ausländern“, bis „Angst davor, im Altersheim allein unter Schweizern zu sein“. Bei der Sprachbarriere<br />
wird auf verschiedene Aspekte hingewiesen:<br />
- Deutsche Informationen werden nicht gelesen<br />
- Verständnisprobleme<br />
- Information (mündlich und schriftlich) müsste in Italienisch möglich sein<br />
- Information in der Muttersprache führt zu mehr Partizipation<br />
- aufgrund der Sprache können sich Italiener nicht wirklich einbringen<br />
115<br />
3<br />
7<br />
2<br />
7
Tabelle 25: Hauptkategorie Partizipation<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Partizipation 17 Kein Interesse an Partizipation 13<br />
Keine Zeit für Partizipation 3<br />
Desinteresse der 2. Generation 5<br />
Regelmässiges Engagement 3<br />
Freiwilligenarbeit 4<br />
Zur Kategorie „Partizipation“ allgemein gibt es viele unterschiedliche Äusserungen. Diese reichen von<br />
„immer schon partizipiert“ zu „die 2. Generation müsste Partizipation der 1. Generation fördern /<br />
unterstützen“. Einige geben an, sich regelmässige zu engagieren und weitere, als Freiwillige tätig zu<br />
sein. In Bezug auf die 2. Generation herrscht dahingehend Einvernehmen, dass diese sich nicht für<br />
das Thema interessiere oder keine Lust habe. Der Punkt „Kein Interesse an Partizipation“ zeigt<br />
verschiedene Facetten. Die einen haben grundsätzlich kein Interesse an Partizipation. Andere haben<br />
kein Interesse mehr, sei dies, weil man jetzt „frei“ sein will oder weil es nach einem langen<br />
Arbeitsleben kein Bedürfnis mehr ist.<br />
Tabelle 26: Hauptkategorie Selbstorganisation und Selbsthilfe<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Selbstorganisation<br />
und Selbsthilfe<br />
Selbstorganisation als Bedürfnis und<br />
Notwendigkeit<br />
Selbsthilfe 4<br />
Unterstützung der eigenen<br />
Landsleute<br />
Unterstützung in Familie 1<br />
Hilfe durch die eigenen Kinder 4<br />
Der gemeinsame Tenor bezüglich Selbstorganisation ist, dass es ein Bedürfnis vieler war, sich im<br />
Sinne von Selbsthilfe zu organisieren. Die Äusserungen weisen auch darauf hin, dass es als<br />
selbstverständlich angesehen wird, sich untereinander, also den eigenen Landsleuten, zu helfen, nicht<br />
zuletzt, weil die mangelnde Verständigungskompetenz in der deutschen Sprache ein bedeutendes<br />
Problem darstelle. Wenn es heute um Hilfe geht, wird diese auch von den eigenen Kindern geboten.<br />
Tabelle 27: Hauptkategorie Kostenfaktor<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Kostenfaktor Dienstleistungen sind zu teuer 10<br />
Einbürgerung ist zu teuer 3<br />
Der Punkt, dass Dienstleistungen in der Schweiz zu teuer seien, muss im Kontext gelesen werden,<br />
dass viele der Befragten erwähnt haben, dass sie nur wenig AHV und meist gar keine<br />
Pensionskassenersparnisse hätten. An diesem Punkt die Äusserung einer interviewten Person: „Das<br />
Geld bestimmt, wie man alt wird.“ Der Faktor „Einbürgerung ist zu teuer“ muss vor dem Hintergrund<br />
gesehen werden, dass man bei einer Einbürgerung automatisch das Stimmrecht und somit eine<br />
(politische) Partizipationsmöglichkeit hätte, dass die Naturalisierung aber aufgrund der hohen Kosten<br />
116<br />
13<br />
5
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
des Einbürgerungsverfahrens nicht möglich sei. Ein Unverständnis oder eine gewisse Frustration<br />
gegenüber der Handhabung der Einbürgerung des Schweizer Staates wurde bei diesem Punkt implizit<br />
und explizit deutlich.<br />
Tabelle 28: Hauptkategorie Sozio-psychologische Faktoren<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Sozio-psych. Faktoren Vertrauenswürdigkeit 5 Italienische Institutionen 3<br />
Unverständnis über Schweizer<br />
Haltung<br />
117<br />
15<br />
Unmut über Schweizer Haltung 22<br />
Desillusionierung 16<br />
Schweizer Institutionen 2<br />
Diese Kategorie wurde „Sozio-psychologische Faktoren“ genannt, um den beiden immanenten<br />
Aspekten Ausdruck zu geben: Soziologisch in Bezug auf die Richtung der Antwort, die in den<br />
Interviews als „die Schweiz“ oder „die Schweizer“ als Gesellschaft insgesamt gemeint war. Der<br />
psychologische Aspekt weist auf die Bedeutung von Gegebenheiten und Erlebtem, welche die<br />
befragten Personen den von ihnen vorgebrachten Punkten beimessen und welche in diesem<br />
soziologischen Kontext stattfinden.<br />
Auffällig sind die drei Unterkategorien „Unverständnis“, „Unmut“ (auch im Sinne einer gewissen<br />
Frustration) und Desillusionierung. Hier die häufigsten Nennungen zu diesen Unterkategorien:<br />
- es nützt ja doch nichts (Partizipation für Ausländer)<br />
- wenn bis jetzt nicht gefragt wurde, dann auch in Zukunft nicht<br />
- man schweigt, wenn man bleiben will<br />
- man lässt uns ja nicht partizipieren<br />
- was gemacht wird, ist ein Tropfen auf den heissen Stein<br />
- die Organisationen wollen keine Ausländer<br />
- wir durften früher nichts, die Ausländer heute dürfen alles<br />
- wir haben so viel geleistet und bekommen nichts (keine Rechte)<br />
- man will Partizipation – warum gibt man uns nicht das Stimmrecht?<br />
Tabelle 29: Hauptkategorie Sozialisation und historische Prägung<br />
Hauptkategorie Unterkategorien Unterunterkategorie<br />
Sozialisation und<br />
historische Prägung<br />
Historische Bedingtheit und Prägung 5 Einfluss aus Kriegserfahrung 6<br />
Sehnsucht nach der Heimat 3<br />
Gemeinschaft 9<br />
Stellung der Frau 2<br />
Die hohe Selbstorganisation wird auch damit begründet, dass „der Italiener“ es gewöhnt sei und das<br />
Bedürfnis habe, mit anderen Menschen zusammen zu sein (Geselligkeit). Um in der Schweiz als<br />
MigrantInnen nicht alleine zu sein, wurden Vereinigungen gegründet. Die Tatsache, Vereinigungen zu<br />
gründen, sei auch in Italien ein Brauch. Eher historisch sind folgende Äusserungen zu erklären:
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
- Durchhaltefähigkeit der Italiener kommt von der Erfahrung, immer wieder besetzt worden zu sein<br />
- sie seien Kinder einer Kriegsgeneration<br />
- Italien war immer schon ein Emigrationsland<br />
Die Frage, ob die Kriegserfahrung zu mehr Partizipation im Sinne von aktiver Bürgerschaft geführt<br />
habe, muss verneint werden. Eine politische Partizipation war je nach Parteizugehörigkeit oder –<br />
sympathie geprägt. Der Faktor Armut scheint eher auf einen Einfluss für eine partizipative Haltung im<br />
Leben hinzuweisen. Die meisten der Befragten sagten zu diesem Punkt, dass sie entweder noch zu<br />
klein waren, um den Krieg bewusst zu erleben, oder dass sie zu wenig nahe am eigentlichen<br />
Kriegsgeschehen gewesen seien und deshalb eher die kollateralen Folgen wie die Armut persönlich<br />
erlebt hätten.<br />
5.3.1.3 Interpretation und Erkenntnisse aus den Einzelinterviews<br />
Definitionsverständnis von Partizipation und Implikation für einen geplanten<br />
Partizipationsprozess<br />
Während der Durchführung der Einzelinterviews wurde immer wieder aufs Neue deutlich, dass der<br />
Begriff „Partizipation“, wie er in dieser Arbeit verwendet und von der EKM als Prozess der Mitsprache,<br />
Mitentscheidung und Mitgestaltung definiert wird, nicht in gleicher Weise von den Befragten<br />
verstanden wurde. Zu Beginn des Gesprächs wurde allen Befragten die hier verwendete Definition in<br />
schriftlicher Form vorgelegt und diese blieb während es gesamten Interviews in Griffnähe. Nichts<br />
desto trotz wurde der Begriff grundsätzlich verstanden als „Teilnahme“ im Sinne einer passiven<br />
Teilnahme, wie KonsumentInnen, die sich bspw. an einem Kurs einschreiben. Es musste deshalb<br />
mehrmals wiederholt werden, um welche spezifische Definition von Partizipation es sich beim<br />
Interview handelte.<br />
Diese Schwierigkeit mag einerseits darin liegen, dass das Wort „partecipare“ und „partecipazione“ in<br />
der italienischen Sprache grundsätzlich als die „passive“ Form der Teilnahme im Gegensatz zur<br />
„aktiven“ Teilnahme im Sinne der Teilhabe verwendet wird. Andererseits kann es auch teilweise daran<br />
liegen, dass diese Art der aktiven Teilhabe ein neues und vor allem ungewohntes Konzept für die<br />
Befragten darstellt und sie sich erst daran gewöhnen müssen. Deshalb ist auch verständlich, dass in<br />
den Interviews wiederholt eine Hilfestellung für die richtige Verwendung des Begriffs in Bezug auf die<br />
Beantwortung der Fragen gegeben werden musste.<br />
Dem Begriff der Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft wurde von allen Interviewten als<br />
positive Haltung zugestimmt und ein Partizipationsprozess, der dieser Definition folgt, sehr begrüsst.<br />
Es bleibt hier unbeantwortet, ob diese Verständnisschwierigkeit in Bezug auf den durch diese Arbeit<br />
eingeführten Begriff der Partizipation nur bei den italienisch sprechenden (älteren) MigrantInnen zum<br />
Tragen kommt. Möglicherweise würde sich dies bei den anderen Ethnien, welche eine Muttersprache<br />
mit lateinischen Wurzeln haben (z.B. SpanierInnen, PortugiesInnen) ähnlich zeigen.<br />
Ungeachtet dessen muss darauf hingewiesen werden, dass die Definition der Partizipation gemäss<br />
EKM für viele Menschen, auch für SchweizerInnen, kein gängiger Begriff ist. Es ist deshalb<br />
118
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
entscheidend, darauf zu achten, dass bei Projekten zur Partizipation von Beginn an bei allen<br />
Beteiligten (also auch bei Personen aus Schweizer Institutionen oder GemeindevertreterInnen)<br />
Klarheit und Konsens über den verwendeten Begriff herrscht.<br />
Alter ist Defizit orientiert<br />
Was sich in der Forschung und in der Bevölkerung allgemein zeigt nämlich dass das Alter mehrheitlich<br />
als eine defizitäre Phase des Lebens behandelt wird, wird auch von den befragten älteren<br />
MigrantInnen so gesehen. Darauf verweisen Aussagen wie „ich bin zu alt für Partizipation“ oder „im<br />
Alter lernt man nicht mehr“. Es wird deshalb auch für Partizipationsprozesse oder –projekte für und mit<br />
älteren MigrantInnen wichtig sein, dieses Bild vom Alter zu verändern und andere Facetten wie bspw.<br />
die Aktivierung von Ressourcen und das Pflegen und Nutzen im Leben erworbener Kompetenzen zu<br />
vermitteln und in den Vordergrund zu stellen.<br />
Bekannte und unbewusste Ressourcen<br />
Gefragt nach ihren Ressourcen, die zu einer (so) guten Selbstorganisation geführt haben, fällt auf,<br />
dass dies die befragten ItalienerInnen unisono auf charakterliche Eigenschaften und auf die<br />
spezifische italienische Mentalität zurückführen. Sehr oft liess sich bei der Beantwortung dieser Frage<br />
in den Interviews ein Leuchten und ein gewisser Stolz erkennen. Ein besonderer Kontrast ergab sich<br />
bei der Beschreibung des Eigenbildes „wir sind offen“ im Vergleich zum Bild der SchweizerInnen, die<br />
in zahlreichen Nennungen als „wenig offen“, „distanziert“ und „zurückhaltend“ beschrieben werden.<br />
Hier zeigt sich wahrscheinlich das psychologische Phänomen der Eigen- und Fremdethnisierung, bei<br />
welcher dem eigenen Volk ganz spezifische Eigenschaften zugeschrieben werden, während einer<br />
anderen Ethnie genau diese Eigenschaft tendenziell abgesprochen, resp. das Gegenteil attribuiert<br />
wird.<br />
Auffallend ist, dass ausser den charakterlichen und den die Mentalität betreffenden Aussagen kaum<br />
Ressourcen genannt wurden. Selbst beim Nachfragen mit den Begriffen Kompetenzen und<br />
Fähigkeiten konnten keine weiteren Nennungen generiert werden. Es wird vermutet, dass die<br />
befragten MigrantInnen kein explizites Bewusstsein über ihre Ressourcen im Sinne von Kompetenzen<br />
und Fähigkeiten haben und dass sie auch nicht gewohnt sind, danach gefragt zu werden. In Bezug<br />
auf zukünftige Partizipationsprozesse wird es wichtig sein, darauf zu achten, dass die vorhandenen<br />
Ressourcen der älteren MigrantInnen in den Prozess miteinbezogen und genutzt werden, dass diese<br />
aber auch im Sinne eines Empowerments sichtbar gemacht und gefördert werden.<br />
Partizipation - Voraussetzungen und Erschwernisse<br />
Bei den Fragen, die Antworten zum Thema Partizipation lieferten, zeigt sich ein sehr gemischtes Bild.<br />
In den Aussagen der einzelnen Befragten von „kein Interesse“, zu „war immer schon aktiv“ bis zu „zu<br />
spät/zu alt“ findet sich die gesamte Bandbreite an heterogener Haltung. Dieses Bild dürfte sich aber<br />
kaum von der Schweizer Bevölkerung oder auch von anderen ethnischen Gruppen unterscheiden.<br />
Genauso wenig wie SchweizerInnen zu hundert Prozent über ihr politisches Stimmrecht partizipieren,<br />
genauso wenig kann man davon ausgehen, dass ältere MigrantInnen plötzlich partizipieren würden,<br />
nur weil sie jetzt dazu eingeladen sind. Konsequenterweise kann es sich deshalb bei der von der<br />
119
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Schweiz angedachten Partizipation der MigrantInnen nur um eine Einladung handeln, die von der<br />
Prämisse der Freiwilligkeit getragen ist.<br />
Auch wenn fast alle Befragten angegeben haben, dass Partizipation im Sinne von aktiver Bürgerschaft<br />
zeitgemäss und notwendig oder zumindest zeitgemäss und wünschenswert sei, knüpfen sie diese<br />
Aussage an die Voraussetzung, dass die Umsetzung einer solchen Partizipation nur machbar und<br />
möglich sei, wenn das Mitentscheidungsrecht auf Seiten der MigrantInnen gegeben sei. Demgegen-<br />
über steht ein gewisses Misstrauen, dass es (dennoch) nicht gelingen könnte, da eine deutliche<br />
Barriere (nicht nur sprachlich) zwischen den SchweizerInnen und MigrantInnen – nicht explizit so<br />
deklariert, aber wahrscheinlich psychologisch begründet – bestünde, das die beschriebene<br />
Partizipation wenn nicht verhindern, so doch zumindest erschweren könnte.<br />
Und schlussendlich ist die Aussage einer interviewten Person zum Thema Partizipation von älteren<br />
MigrantInnen in gewissem Masse auch verständlich: „Warum geben sie (die SchweizerInnen) uns<br />
nicht das lokale Stimmrecht? Dann wäre Partizipation ja automatisch möglich.“ Natürlich lässt sich<br />
argumentieren, dass dies aufgrund der aktuellen politischen Gegebenheiten nicht möglich sei. Denn<br />
auch wenn bereits in mehreren Schweizer Gemeinden das lokale Stimmrecht für MigrantInnen<br />
Wirklichkeit ist, so kann man nicht davon ausgehen, dass die anderen Schweizer Gemeinden diesem<br />
Beispiel in absehbarer Zeit oder überhaupt folgen werden. Nach den Gesprächen mit den befragten<br />
Personen bleibt der Eindruck, dass die Idee der Partizipation nach EKM teilweise als Alibiübung<br />
gesehen wird und dass folgende Frage unartikuliert zurückbleibt: „Ihr habt uns bis jetzt nicht<br />
partizipieren lassen, warum jetzt, wo wir alt sind?“<br />
Sozio-psychologische Faktoren<br />
Unter diesem Punkt werden die so definierten Unterkategorien ‚Unverständnis über Schweizer<br />
Haltung„, ‚Unmut über Schweizer Haltung„ und ‚Desillusionierung„ interpretiert. Allein die Definition<br />
dieser Unterkategorien, für welche es zahlreiche Nennungen in den Interviews gab, lässt aufhorchen.<br />
Während bei der Desillusionierung eine eher im Individuum begründete Haltung differenziert werden<br />
kann, verweisen die Äusserungen beim Unverständnis und beim Unmut sehr viel stärker auf das in<br />
der Vergangenheit Erlebte als AusländerInnen in der Schweiz. Hier wird für einmal bewusst der<br />
Terminus Ausländer benutzt, da alle Befragten und „der/die ItalienerIn“ im Allgemeinen vom Ausländer<br />
(lo straniero) spricht und nicht vom Migranten.<br />
Zusammenfassend liesse sich hier von einer „Verletzung“ der Befragten (stellvertretend für die<br />
meisten ItalienerInnen in der Schweiz?) sprechen, die sich in Aussagen wie diesen deutlich<br />
wiederspiegelt:<br />
- Man schweigt, wenn man bleiben will.<br />
- Wir sind hier nur im Weg, wenn wir bleiben.<br />
- Wer so lange hier ist und so viel geleistet hat, sollte besser behandelt werden.<br />
- Die Schweiz will auch nach 50 Jahren einem Ausländer keine Rechte geben oder lässt sich diese<br />
bezahlen.<br />
- Die anderen Ausländer dürfen sich im Vergleich zu uns damals heute alles erlauben.<br />
120
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Es geht in keiner Weise darum, diese Feststellungen und Erkenntnisse zu beurteilen, weder in Bezug<br />
auf die befragten MigrantInnen noch in Bezug auf die SchweizerInnen. Diese Ergebnisse dürften aber<br />
eine gewisse Relevanz haben, ob, aufgrund welcher Prämissen und auch in welcher Art und Weise<br />
die älteren MigrantInnen für Partizipation im vorliegenden Sinne überzeugt werden können. Es wird<br />
davon ausgegangen, dass diese sogenannten sozio-psychologischen Faktoren eine Auswirkung auf<br />
die Haltung und Offenheit der MigrantInnen zu Beginn von Partizipationsprozessen haben können und<br />
dass es für die AkteurInnen von Schweizer Institutionen wichtig ist zu wissen, dass dies unter<br />
anderem in diesen sozio-psychologischen Faktoren begründet sein könnte.<br />
Sozialisation und historische Prägung<br />
Unter diesem Punkt sollen vor allem zwei Aspekte interpretiert werden, die nicht eigentlich<br />
Gegenstand der Befragung waren, die aber in Bezug auf das Projekt <strong>MIGRALTO</strong> dennoch eine<br />
gewisse Relevanz haben könnten.<br />
Zwei Drittel der Befragten verfügen über ein tiefes Bildungsniveau, das heisst, sie haben weder eine<br />
Lehre noch eine andere Ausbildung genossen und sind meist in der Schweiz für jene Beschäftigung<br />
angelernt worden, für welche sie angestellt wurden. Selbst die VertreterInnen der<br />
Migrantenorganisationen, die an der Fokusgruppe teilgenommen hatten, wiesen auf die Problematik<br />
des Bildungsniveaus vieler älterer MigrantInnen hin (Kapitel 5.3.2.1 – Absatz Erreichbarkeit) und dass<br />
deshalb selbst Informationen in italienischer Sprache zum Teil nicht gelesen würden. Dieser Tatsache<br />
muss bei der Planung und der Umsetzung von Partizipationsprozessen Rechnung getragen werden.<br />
Es ist ja nicht nur die unterschiedliche Muttersprache, die eine gewisse Verständigungshürde darstellt,<br />
sondern auch die verwendete Sprache in Bezug auf spezifische Themen. Dies wurde unter anderem<br />
in den Interviews deutlich, in welchen immer wieder Begriffe in anderen, einfacheren Worten erklärt<br />
werden mussten, weil die Befragten sich einfach nicht gewohnt waren, in diesen Termini zu denken<br />
(z.B. Forderung an die Gemeinde für Partizipationsprozesse). Ähnlich wird es sich möglicherweise mit<br />
spezifischen Vorgehensweisen in Partizipationsprozessen verhalten. So werden zum Beispiel in<br />
Projekten Modelle, Prozesse, Abläufe, Schnittstellen und weitere Begrifflichkeiten genutzt werden, von<br />
denen nicht ausgegangen werden kann, dass ältere MigrantInnen diese per se verstehen und damit<br />
umzugehen wissen. Adäquater Gebrauch von Sprache und Instrumenten bei der Beteiligung von<br />
älteren MigrantInnen bei Partizipationsprozessen stellt deshalb möglicherweise einen nicht zu<br />
unterschätzenden Aspekt dar.<br />
5.3.2 Ergebnisse aus der Fokusgruppe<br />
5.3.2.1 Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen aus dem transkribierten<br />
Protokoll der Fokusgruppe<br />
Die gesamte Diskussion der Fokusgruppe (5 Stunden) wurde ab Tonband wörtlich transkribiert. Die<br />
Auswertung des transkribierten Protokolls fand in verschiedenen Schritten statt: Zuerst wurde das<br />
ganze Protokoll durchgearbeitet, und es wurden alle wichtigen und inhaltsrelevanten Passagen und<br />
121
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Aussagen markiert. Die markierten Stellen wurden in einem nächsten Schritt in einer Tabelle<br />
zusammengefasst.<br />
Der Schritt der zusammengefassten Aussagen ist hier nachvollziehbar. In der untenstehenden Tabelle<br />
sind die italienischen Wortäusserungen in eine deutsche Übersetzung übertragen worden (übersetzte<br />
Aussage). Danach wurden die übersetzten Aussagen zu gekürzten Aussagen und<br />
Themenschwerpunkten verdichtet, die sich an den für die Arbeit definierten Hauptbegriffen (Kapitel<br />
4.4) orientieren.<br />
Tabelle 30: Übersetzte Aussagen Protokoll Fokusgruppe VertreterInnen ital. Migrantenorganisationen<br />
Übersetzte Aussage Gekürzte Aussage / Thematik<br />
Problem der Erreichbarkeit der älteren MigrantInnen Erreichbarkeit<br />
Ältere MigrantInnen haben Angst im Falle von Krankheit, in Bezug auf<br />
ein Altersheim nicht zu wissen wohin oder ihre Rechte nicht zu kennen<br />
Die Stadt Bern hat nie ihren Dank für unsere Arbeit und unser<br />
Engagement gezeigt<br />
Das Modell in Köniz funktioniert gut, ein Jahresprogramm mit Zielen, die<br />
überprüft werden<br />
122<br />
Ängste im Alter (Krankheit, Finanzen)<br />
Fehlende Wertschätzung<br />
Jemand muss die Initiative übernehmen Initiative ergreifen<br />
Es braucht nicht grosse Anstrengungen, guter politischer Wille,<br />
einbeziehen von lokalen Repräsentanten, Strukturen, Ziele<br />
Die Gemeinden Bern und Köniz verfügen über finanzielle Möglichkeiten,<br />
um die <strong>Integration</strong>spolitik zu unterstützen<br />
Die politische Ausrichtung einer Gemeinde entscheidet über die<br />
Unterstützung von Projekten<br />
Verschiedene Positionen und unterschiedliche Vorschläge zu<br />
integrieren sind gute Beispiele<br />
Für kleine Gemeinden ist es schwieriger, solche Projekte zu machen,<br />
d.h. Einwohner von kleinen Gemeinden kommen nicht in deren Genuss<br />
Erfolgreiche Modelle mehr einsetzen<br />
Politischer Wille ist gefragt<br />
Finanzielle Unterstützung ist notwendig<br />
Politische Ausrichtung der Gemeinde ist<br />
entscheidend<br />
Integrieren der Positionen und Vorschläge auf<br />
Migrantenseite<br />
Partizipation heisst: Partnerschaft, Zusammenarbeit,<br />
Strukturen, Finanzen<br />
Zugänglichkeit<br />
- bei kleineren Gemeinden schwierig<br />
Es braucht regionale Lösungen Zugänglichkeit: regional gestalten<br />
Wir (MigrantInnen) sind immer dieselben, die sich engagieren, heute<br />
einfach etwas älter. Deshalb ist das wichtigste Ziel, wie man andere<br />
ältere Menschen erreichen kann. Wer als jüngerer Mensch nicht<br />
partizipiert hat, wird es wahrscheinlich auch mit 60, 70 oder 80 nicht<br />
mehr tun<br />
Wer soll erreicht werden? Alle oder nur jene, die Probleme haben, um<br />
sie zu unterstützen, Rat zu geben.<br />
Wir müssen wissen, was wir wollen, um zu wissen wo wir was und wen<br />
erreichen können<br />
Die, die nicht partizipieren, spüren keine Notwendigkeit. Man muss also<br />
überlegen, wen wir in diese Art Partizipation integrieren wollen, weil man<br />
niemanden dazu drängen kann. Die Sensibleren fühlen sich am Rande.<br />
Diese brauchen mehr Unterstützung<br />
Die Partizipation der SchweizerInnen (im Sinne von Stimmrechte<br />
wahrnehmen) ist heute gleich 0. Partizipation betrifft also nicht nur die<br />
Population der MigrantInnen<br />
Teilnahme / -habe<br />
Es partizipieren immer dieselben Personen<br />
Erreichen der restlichen schwierig<br />
Wer soll erreicht werden? Zielgruppen?<br />
Es braucht Ziele und Vorgaben<br />
Ohne Freiwillige wird es nicht weitergehen Es braucht Freiwillige<br />
Es gibt viele verschiedene Gruppen della “terza età”, man muss alle<br />
informieren<br />
Das Problem ist nicht mehr das Entwickeln von Strukturen, aber die<br />
Erreichbarkeit einer möglichst grossen Zahl<br />
Partizipation ist freiwillig, wer soll einbezogen<br />
werden? Zielgruppe Partizipation? Zielgruppe<br />
Nutzniesser?<br />
Geringe Partizipation auch in der Schweizer<br />
Bevölkerung<br />
Information und Erreichbarkeit sicherstellen<br />
Strukturen bestehen – die Erreichbarkeit ist nicht<br />
sichergestellt
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Oft nehmen 10% teil, von 90% wissen wir nichts. Wir müssen den<br />
älteren MigrantInnen mehr Verantwortung übertragen, aber wie?<br />
SchweizerInnen sind mehr individualistisch, aber auch wir werden das<br />
mehr und mehr. Kollektivität zählte früher auch unter uns mehr<br />
In den Quartieren Sentinellen (soziale Wachposten) bilden, die<br />
erlauben, Verantwortung zu übernehmen, eine Weiterbildung zu<br />
machen. Die Person dann im Quartier bekannt machen. Bei Bedarf ist<br />
diese Person dann eine Vertrauensperson. Wir können nicht auf die<br />
Menschen warten, wir müssen zu ihnen gehen<br />
123<br />
90% sind inaktiv, diese müssen mobilisiert werden<br />
Den alten Menschen mehr Verantwortung<br />
übertragen<br />
Sozialer Wachposten (Sentinellen) einrichten<br />
Mehr Verantwortung auf Quartierebene<br />
Ohne Mittel ist es nicht einfach, solche Sachen zu organisieren Es braucht Mittel (Finanzen, Material)<br />
Es braucht einen Repräsentanten der MigrantInnen, der auf<br />
kommunaler Ebene Vorschläge machen muss<br />
Wir haben keine Mittel. Es geht nicht darum, einfach zu konsumieren,<br />
aber wenigstens Material sollte bezahlt werden können<br />
Eine frühere Umfrage bei unseren älteren MigrantInnen hat gezeigt,<br />
dass sie zur Zusammenarbeit mit den SchweizerInnen absolut bereit<br />
sind<br />
Das Problem ist nicht das Zusammensein mit den Schweizern, sondern<br />
die kommunikativen Probleme, die auf allen Ebenen bremsen<br />
Das SPI wurde gegründet, weil immer mehr ältere ItalienerInnen Fragen<br />
zur Pension hatten. Es braucht Orte, Vereinigungen, wo man sich<br />
treffen und austauschen kann<br />
Wenn du niemanden kennst oder keine Vereinigung, partizipiert man<br />
nicht<br />
Heute wird allen neu ankommenden MigrantInnen ein Sprachkurs<br />
angeboten. Wir hatten diese Möglichkeit nicht<br />
Es gibt ältere Menschen, die nichts tun wollen, auch wenn es Gruppen<br />
für Ältere gibt<br />
Unsere Sprachkurse werden zu 99% von Frauen besucht. Entweder ist<br />
die Frau mehr an sozialen Aktivitäten interessiert, oder vielleicht, weil es<br />
meistens Witwen sind (Alter ist weiblich). Viele Frauen sind freiwillig<br />
tätig<br />
Es braucht unbedingt Treffpunkte. Andere als bereits vorhandene.<br />
Solche für alte Menschen<br />
Wenn der alte Mensch morgens aufsteht, wo soll er hingehen? Die<br />
vorhandenen Möglichkeiten sind eingeschränkt zugänglich. In die Casa<br />
d‟Italia kommen nicht alle, es ist auch eine finanzielle Frage<br />
(Konsumation)<br />
In Bern gibt es alle Strukturen. Turnhallen, Sportflächen,<br />
Schwimmbäder, etc. Aber wo geht der alte Mensch hin? Ein Treffpunkt<br />
würde vor allem soziales Zusammensein ermöglichen<br />
Die Gesellschaft ist nicht darauf ausgerichtet. Was wird einem 70jährigen<br />
Menschen geboten? Wozu braucht es in diesem Alter Bildung?<br />
Ein Treffpunkt ist das, was es braucht<br />
Es braucht kommunale RepräsentantInnen der<br />
MigrantInnen<br />
Mittel fehlen<br />
MigrantInnen sind bereit für die Zusammenarbeit mit<br />
den SchweizerInnen<br />
Sprachliche Hürden sind das Problem<br />
Es braucht einen niederschwelligen Treffpunkt<br />
Motiv für Partizipation sind auch Beziehungen<br />
Unmut / Frustration über Schweizer Haltung<br />
Auch das Nicht-Partizipieren-Wollen akzeptieren<br />
Frauen sind aktiver und sozial interessierter<br />
Viele Frauen in der Freiwilligentätigkeit<br />
Es braucht Treffpunkte für alte Menschen<br />
Es braucht leicht zugängliche Treffpunkte<br />
(regelmässig geöffnet zu Tageszeiten)<br />
Es braucht einen Treffpunkt für soziales<br />
Zusammensein<br />
Es braucht einen Treffpunkt für Austausch und<br />
Soziales<br />
Diese Art von Partizipation muss unterstützt werden und braucht es Partizipation ist notwendig<br />
Was schon funktioniert, muss weiter unterstützt werden. Diese Art Arbeit<br />
muss in Gemeinden unterstützt werden<br />
Es braucht einen Ort, wo man sich einfach treffen kann, ohne<br />
Einschränkung von fixen Angeboten<br />
Gute Modelle multiplizieren und unterstützen<br />
Es braucht leicht zugängliche Treffpunkte<br />
Es braucht einen Ort, der jeden Tag zugänglich ist Es braucht einen täglich zugänglichen Treffpunkt<br />
Wir haben kein Geld, um auch nur kleine Notwendigkeiten zu kaufen.<br />
Aber das ist eine wichtige Frage. Ohne Unterstützung oder Subvention<br />
ist ein zur Verfügung gestellter Ort wenig hilfreich. Die Freiwilligenarbeit<br />
ist nicht das Problem, die gibt es<br />
Heute besteht diese Mauer nicht mehr, es ist deshalb mehr eine Frage<br />
der Kultur. Wir haben dafür „bezahlt“, auch heute noch, wo man von<br />
Es fehlen finanzielle Mittel<br />
Ohne Subvention ist ein zur Verfügung gestelltes<br />
Lokal wenig hilfreich<br />
-
<strong>Integration</strong> spricht<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Einmal die Schweiz verlassen, erhält man bei einer Rückkehr nur den<br />
Ausweis B, obwohl man das ganze Leben hier verbracht hat<br />
Es gibt viele ältere MigrantInnen, die weder lesen noch schreiben<br />
können<br />
124<br />
Erschwerende Bedingungen für MigrantInnen in der<br />
Schweiz auch im Alter<br />
Tiefes Bildungsniveau der MigrantInnen<br />
Aus meiner Sicht hängt sehr viel vom Bildungsniveau ab Bildungsniveau ist ausschlaggebend<br />
Der ältere Migrant ist ein Reichtum und eine Bibliothek Der ältere Migrant hat Ressourcen<br />
Die Geschichte aufarbeiten. Die MigrantInnen sind TrägerInnen von<br />
Erfahrung<br />
Wir haben die gemeinsame Erfahrung von mindestens 30 Jahren in der<br />
Schweiz, diese Erfahrung ist ein Vorteil, die Verbindungen, die sozialen<br />
Netzwerke, die Familie<br />
Was die Gemeinden tun sollen? Empowerment. Mehr Kontakte, sich<br />
öffnen, den Dialog suchen, verschiedene lokale Initiative unterstützen,<br />
Schlüsselpersonen integrieren<br />
Was fehlt ist, diverse Repräsentanten in einem spezifizischen Projekt in<br />
einem eigenen Diskurs zur politischen <strong>Integration</strong> einzubeziehen<br />
Die Gemeinde müsste einen Schritt, eine Anstrengung mehr tun. Es<br />
braucht den politischen Willen ohne zu viele Fragezeichen<br />
Der ältere Migrant hat Ressourcen<br />
Die Erfahrung der MigrantInnen als Ressource<br />
(Verbindungen, soziale Netzwerke, Familie, etc.)<br />
Empowerment<br />
Dialog suchen<br />
Schlüsselpersonen integrieren<br />
Repräsentanten müssen in Projekte miteinbezogen<br />
werden<br />
Die Gemeinde muss initiativ werden<br />
Es braucht den politischen Willen<br />
Wir sind alle hier alt geworden. Das ist Teil der italienischen Immigration Das Alter ist Teil der italienischen Immigration<br />
So ein Vorhaben hätte vor 20 Jahren initiiert werden müssen Partizipation hätte früher angegangen werden<br />
müssen/sollen<br />
Die echte italienische Immigration hat mit der Ankunft der Frauen<br />
begonnen. Die Frauen haben die Familie gebracht, die Kinder<br />
Wenn die Gemeinden wirklich an der Zusammenarbeit mit den<br />
ausländischen Organisationen interessiert sind, dann müssen sie<br />
zuallererst die Schlüsselpersonen angehen. Schauen, welcher Weg<br />
möglich ist, um die <strong>Integration</strong> zu verbessern. Dem stehen gesetzliche<br />
und rechtliche Fragen gegenüber, die einen Ausschluss ausländischer<br />
Organisationen begünstigen<br />
Es gibt viele Projekte in Gemeinden, die aber von A bis Z schon<br />
entwickelt und geplant sind, das stört mich. Gemeinsam entwickelt,<br />
entsteht daraus eine andere Motivation für Partizipation<br />
Die Antworten der Schweizer VertreterInnen sind etwas sehr einfach.<br />
Wir wurden nie gefragt, auch nach keiner politischen Meinung.<br />
Freiwilligenarbeit wird gerne angenommen. Sie sagen, wir können alles<br />
machen, aber Geld kann uns niemand geben (für Projekte)<br />
Für mich ist wenig verständlich, dass sich diese Gemeinden (aus der<br />
Befragung) nie für die Themen der alten MigrantInnen interessiert<br />
haben. Wir haben einige kontaktiert, aber sie waren eigentlich<br />
abwesend (nicht zugänglich)<br />
Die Gemeinden müssten solche Initiativen starten. Aber wer sind die<br />
Gruppen in den Gemeinden, die das tun? In kleinen Gemeinden ist das<br />
aber schwierig<br />
Sie sagen uns, “kommt, wir organisieren uns”, dabei haben die<br />
Gemeinden oft keine zuständige Person<br />
Diese <strong>Integration</strong>spolitik gab es nicht und gibt es immer noch nicht.<br />
Solange diese Barrieren bestehen…<br />
Hier kann man nicht integriert sein. Es scheint zwar heute einfacher zu<br />
sein, aber sie werfen einem immer noch Steine zwischen die Beine<br />
Mir fehlt, mich auch auf politischem Niveau ausdrücken zu können.<br />
Wenn ich 56 Jahre Steuern in dieser Gemeinde zahle, sollte ich etwas<br />
sagen dürfen, wenn es um eine neue Strasse, um eine Schule oder<br />
anderes geht<br />
Die Immigration hat mit Ankunft der Frauen<br />
begonnen<br />
Schlüsselpersonen müssen angegangen werden<br />
Wege zu besserer <strong>Integration</strong> suchen und fördern<br />
Gesetzliche Regelungen erschweren das Entstehen<br />
und Wirken ausländischer Organisationen<br />
Motivation zur Partizipation entsteht durch Einbezug<br />
von Beginn an, nicht erst, wenn das Projekt schon<br />
steht<br />
Die Schweizer sehen das zu einfach<br />
Wir wurden nie nach einer politischen Meinung<br />
gefragt<br />
Wir werden nicht finanziell unterstützt<br />
Die Schweizer Gemeinden zeigen auch dann kein<br />
Interesse, wenn man auf sie zugeht<br />
Die Gemeinde muss die Initiative ergreifen, das ist in<br />
kleinen Gemeinden schwierig<br />
Kleine Gemeinden haben oft die Ressourcen nicht<br />
(personell)<br />
<strong>Integration</strong> ist mit den Barrieren, die es immer noch<br />
gibt, nicht möglich<br />
<strong>Integration</strong> wird einem schwer gemacht<br />
Sprachliche Hürden erschweren eine (politische)<br />
Mitsprache<br />
Trotz Pflichten habe ich keine Rechte
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Aufgrund des grossen Aufwandes wurde darauf verzichtet, das gesamte Protokoll zu übersetzen. Im<br />
Folgenden werden auch nicht alle diskutierten Fragen einzeln kommentiert Stattdessen werden<br />
aufgrund der zusammengefassten inhaltsrelevanten Aussagen aus der Tabelle oben, Schwerpunkte<br />
abgeleitet. Diese Bereiche werden nun kommentiert und es wird zum Teil Bezug genommen auf<br />
zusätzliche und allgemeine Äusserungen in der Fokusgruppe.<br />
Für einen besseren Überblick hier nochmals die in der Fokusgruppe diskutierten Fragen:<br />
1. Was gilt es aus Sicht der Mitglieder von Migrantenorganisationen zu berücksichtigen, wenn in<br />
Zukunft die Partizipation von älteren MigrantInnen erfolgreich sein soll? Welche Strukturen und<br />
Formen der Partizipation sind geeignet, um die älteren MigrantInnen zu erreichen?<br />
2. Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ressourcen älterer MigrantInnen und wie können<br />
diese konkret für Partizipation in der Wohngemeinde genutzt werden? Wie können die MigrantInnen<br />
gewonnen werden und was müssen die Gemeinden dabei beachten? Welche Erfahrungen im Sinne<br />
von Good practice haben Sie in der Vergangenheit gemacht?<br />
3. Wie stehen die Migrationsorganisationen zur Haltung der Gemeinden bezüglich Erwartungen/<br />
Forderungen an die MigrantInnen? Welche Erwartungen / Forderungen stellen die<br />
Migrationsorganisationen umgekehrt an die Gemeinden?<br />
4. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass die älteren MigrantInnen bereit sind, sich aktiv (i.S.<br />
von Partizipation) einzubringen? Mit welchen konkreten Mitteln können die Hürden genommen oder<br />
abgebaut werden?<br />
5. Welche Fragen, Anliegen und Vorschläge haben Sie an die VertreterInnen der städtischen Gruppe<br />
neben den diskutierten Aspekten?<br />
Die Schwerpunkte aus dem Protokoll der Fokusgruppe<br />
der VertreterInnen der italienischen Migrantenorganisationen:<br />
Erreichbarkeit<br />
In der Fokusgruppe wurde mehrfach diskutiert, wer für den Partizipationsprozess erreicht werden<br />
sollte und wie das zu bewerkstelligen sei. Dabei wurde immer wieder auf bisherige Erfahrungen<br />
aufmerksam gemacht, die entweder gut oder schlecht oder nicht wirklich funktioniert hatten.<br />
Tendenziell stellt die Erreichbarkeit der älteren MigrantInnen eine Schwierigkeit mit verschiedenen<br />
Hürden dar. Dabei wird einerseits darauf hingewiesen, dass schriftliche Informationen in deutscher<br />
Sprache kaum gelesen würden. Andererseits dürfe man nicht vergessen, dass es gerade unter älteren<br />
MigrantInnen viele gäbe, die ein geringes Bildungsniveau hätten und deshalb weder schreiben noch<br />
lesen könnten. Als Folge davon, werden selbst Informationen in italienischer Sprache von dieser<br />
Gruppe nicht gelesen. Es wird ausserdem festgestellt, dass auch bei den eigenen Angeboten – sei<br />
das nur als Teilnehmende oder aber auch als Teilhabende (im Sinne von aktiver Partizipation) immer<br />
wieder dieselben Personen dabei seien. Explizit wird darauf verwiesen, dass es wohl nicht anders als<br />
bei der Schweizer Bevölkerung wahrscheinlich etwa 10% seien, die immer (wieder) aktiv seien, und<br />
dass es darum gehen müsse, die restlichen 90% zu erreichen und für die Teilnahme an Aktivitäten<br />
125
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
und für Partizipation zu gewinnen. Die Sicherstellung der Information und Erreichbarkeit sei somit ein<br />
zentrales Element für mehr Partizipation. Die Strukturen würden bestehen (im Sinne von Institutionen,<br />
Vereinigungen, Gruppen, etc.), aber die Erreichbarkeit der älteren Migrantenbevölkerung sei nicht<br />
gewährleistet. Hier gelte es, Lösungen zu finden.<br />
Hürden / Schranken<br />
Als grösste Hürde für eine erfolgreiche Partizipation wurden wiederholt die sprachlichen Aspekte<br />
genannt. Dies betrifft einerseits die bereits genannte Schwierigkeit, dass ältere MigrantInnen<br />
tendenziell schriftliche Information in deutscher Sprache gar nicht lesen und dass ein Teil der älteren<br />
Migrationsbevölkerung nach wie vor als (funktionale) Analphabeten zu betrachten sind. Andererseits<br />
führe ein geringes Bildungsniveau auch dazu, dass komplexe Sachverhalte nicht gut verstanden<br />
würden. Ein weiteres Votum wies auf den Punkt hin, dass man sich als (ältere/r) MigrantIn selbst im<br />
Falle von Partizipation, also beim Mitmachen bei Projekten oder Anliegen z.B. im Wohnquartier oder in<br />
Bezug auf politische Themen, vielleicht aufgrund der eingeschränkten sprachlichen Kompetenzen nur<br />
ungenügend für die eigenen Anliegen einzusetzen vermöge.<br />
Das tiefe Bildungsniveau wurde nicht nur in Zusammenhang mit sprachlichen Verständigungsschwie-<br />
rigkeiten genannt, sondern auch in Bezug zu fehlendem oder mangelndem Wissen über Strukturen<br />
und Institutionen, die ein aktives Partizipieren an der Gesellschaft eventuell voraussetzen. Gleichzeitig<br />
wurde erwähnt, dass sich die Frage des Bildungsniveaus auf das Selbstbewusstsein auswirken<br />
könne, und dass dies, gepaart mit den Sprachbarrieren wesentlich dazu beitragen könne, dass ältere<br />
MigrantInnen für Partizipationsprozesse nicht oder kaum zugänglich seien.<br />
Die Seite der Schweizer Gemeinden als Akteur bei Partizipationsprozessen wurde aus verschiedenen<br />
Blickwinkeln betrachtet. So würden die Schweizer die Idee der Partizipation grundsätzlich etwas zu<br />
einfach sehen, der Wille, jetzt Partizipation zu fördern und zu fordern reiche keinesfalls aus.<br />
Angefangen bei fehlenden Strukturen, sei die fehlende finanzielle Unterstützung eine grosse Hürde.<br />
Es genüge nicht, Aktivitäten von MigrantInnen und Migrantenorganisationen in Gemeinden und<br />
Quartieren als sinnvoll zu befinden und einen moralischen Rückhalt zu bieten. Fehlendes Geld macht<br />
sich ja bereits beim Kauf von Material wie Papier, Marken und so weiter bemerkbar. Dazu kommt,<br />
dass kleinere Gemeinden nicht nur keine finanziellen, sondern auch keine personellen Ressourcen<br />
hätten, um Partizipationsprozesse von MigrantInnen und Migrantenorganisationen zu unterstützen.<br />
Ein Teilnehmer der Fokusgruppe brachte auch die Erfahrung in die Diskussion ein, dass Gemeinden<br />
in der Vergangenheit selbst dann kein Interesse an Aktivitäten von Migrantenseite gezeigt hätten,<br />
wenn man mit konkreten Ideen und Vorschlägen auf sie zugegangen sei. Ein Konsens bei den<br />
TeilnehmerInnen der Fokusgruppe besteht beim Punkt, dass die Schweizer Gemeinden die Initiative<br />
für Partizipationsprozesse in der Gemeinde oder in Quartieren ergreifen und sie aktiv auf die<br />
MigrantInnen und Migrantenorganisationen zugehen müssten. Genau diese Notwendigkeit sei gerade<br />
für kleinere Gemeinden eine schwierige Anforderung aufgrund der bereits genannten fehlenden<br />
Ressourcen.<br />
Als weiterer einschränkender Aspekt lassen sich einige Voten unter dem Begriff Motivation<br />
zusammenfassen: Es braucht niederschwellige Angebote und Treffpunkte, damit Sprache und<br />
126
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Bildungsniveau kein Hinderungsgrund zur Teilnahme und Teilhabe sind. Die Auffassung, dass<br />
<strong>Integration</strong> mit den immer noch bestehenden Barrieren (politische wie gesellschaftliche) nicht möglich<br />
sei, wirkt sich klar demotivierend aus und wird einfach ausgedrückt im Satz: „<strong>Integration</strong> wird einem<br />
schwer gemacht.“ Ein mehrfach geteiltes Votum liesse sich ausserdem wie folgt auf den Punkt<br />
bringen: Motivation zur Partizipation entsteht durch Einbezug der Betroffenen von Beginn an und<br />
nicht, nachdem ein Projekt bereits entschieden und geplant ist.<br />
Gesellschaftliche Zeiterscheinungen<br />
Unter diesem Punkt werden einige Äusserungen der Fokusgruppen-Teilnehmenden zusammenge-<br />
fasst, die im weitesten Sinne Ausdruck einer gesellschaftlichen Zeiterscheinung sind. So wurde von<br />
eine/r Teilnehmenden gesagt, dass sie (die MigrantInnen) alle hier in der Schweiz alt geworden seien<br />
und dass das ein Teil der italienischen Immigration sei. Und als unabänderlicher Teil der Migration in<br />
der Schweiz gilt es nun, auch diesen Aspekt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu<br />
betrachten und bei der <strong>Integration</strong> von MigrantInnen miteinzubeziehen.<br />
Als Zeiterscheinung wird auch darauf hingewiesen, dass immer dieselben Personen aktiv sind und<br />
sich an Aktivitäten und Prozessen beteiligen und dass sich dies weder bei der Migrations- noch bei<br />
der Schweizer Bevölkerung unterscheide. Geringe Partizipation – auch gemessen an der politischen<br />
Teilnahme an Abstimmungen – sei in der Schweizer Bevölkerung genauso eine Realität.<br />
Eher als eine gesellschaftliche denn als eine politische Erscheinung lässt sich beschreiben, dass die<br />
älteren italienischen MigrantInnen nach wie vor von einer fehlenden Wertschätzung ihres jahrzehnte-<br />
langen Wirkens für den Schweizer Staat sprechen. In diesem Zusammenhang wurde auch gefragt,<br />
warum die Schweizer nun diese Art Partizipation fördern wollten. Wenn die gesellschaftliche Teilhabe<br />
tatsächlich das Ziel sei, dann sei das am einfachsten zu realisieren, indem man ihnen – den<br />
MigrantInnen – einfach das lokale Stimmrecht zugestehen würde.<br />
Ressourcen<br />
Den Ressourcen lassen sich zahlreiche unterschiedliche Aspekte, die in der Fokusgruppe genannt<br />
wurden, zuordnen. Hier werden sie in zwei Gruppen aufgeteilt: zum einen werden Mittel als<br />
Ressourcen gesehen, zum anderen sind es Kompetenzen und Fähigkeiten, die für den<br />
Partizipationsprozess von Bedeutung sind.<br />
Ressourcen als Mittel<br />
Um Partizipationsprozesse zu planen und umzusetzen, benötigt es nach Auffassung der Mehrheit der<br />
Fokusgruppen-Teilnehmenden Mittel. Zum einen sind dies finanzielle Mittel, um Massnahmen<br />
durchführen zu können. Als Beispiel wurde genannt, dass es nicht reicht, von der Gemeinde einen<br />
Raum zur Verfügung gestellt zu bekommen für Treffen. Partizipation als Prozess und Massnahme<br />
benötigt ein Minimum an Geld, zum Beispiel für Information (Briefe, Flyer) oder für Material (je nach<br />
Aktion und Vorhaben). Auch in diesem Zusammenhang wurde erwähnt, dass selbst kleine Beiträge für<br />
Aktivitäten für ältere MigrantInnen eine Ausgabe darstellen, die ihr zum Teil eingeschränktes Budget<br />
nicht zulassen würde. Die unter Hürden und Schranken bereits erwähnten personellen Ressourcen in<br />
den Gemeinden sind ein weiterer Punkt, der aus Sicht der VertreterInnen von<br />
Migrantenorganisationen über Erfolg oder Misserfolg von Partizipationsprozessen entscheiden kann.<br />
127
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Kompetenzen und Fähigkeiten als Ressourcen für Partizipation<br />
Aus Sicht der Fokusgruppen-Teilnehmenden verfügen ältere MigrantInnen über zahlreiche<br />
Ressourcen, die man im Partizipationsprozess nutzbar machen kann:<br />
- Der ältere Mensch hat Ressourcen, man kann ihm mehr Verantwortung übertragen<br />
- MigrantInnen sind offen und bereit für die Zusammenarbeit mit Schweizer VertreterInnen und<br />
Gemeinden<br />
- Beziehungen aufbauen und pflegen ist eine Ressource im Sinne von Motivation für Partizipation<br />
- ältere weibliche Migranten sind sehr aktiv und sozial interessiert<br />
- viele ältere MigrantInnen sind bereits oder würden gerne in der Freiwilligentätigkeit aktiv sein<br />
- die (Lebens-) Erfahrung des/r älteren MigrantIn ist Ressource (Verbindungen, soziale Netzwerke,<br />
Familie, etc.)<br />
- Empowerment als Ressource für Partizipationsprozesse<br />
Erwartungen / Forderungen / Bedarf<br />
Der in der Fokusgruppe weitaus am häufigsten genannte Aspekt unter diesem Schwerpunkt ist das<br />
Thema eines Treffpunktes für ältere MigrantInnen. Ein solcher Treffpunkt müsste und würde<br />
verschiedene Punkte erfüllen. Er müsste soziales Zusammensein und Austausch nicht nur<br />
ermöglichen, sondern auch fördern. Ausserdem brauche es Treffpunkte für alte Menschen und nicht<br />
(nur) für alte MigrantInnen. Diese müssten leicht zugänglich und niederschwellig sein. Das bedeutet<br />
beispielsweise, dass der Treffpunkt generelle Öffnungszeiten bietet, der dem/r BesucherIn eine<br />
Aufsuchflexibilität ermöglicht. Im Gegensatz dazu wurden typische Angebote und Einrichtungen für<br />
ältere Menschen genannt, die z.B. einmal wöchentlich am Mittwochnachmittag für 2 Stunden<br />
angeboten würden, was dem Wunsch und oft dem Bedarf des alten Menschen nach Sozialkontakt<br />
nicht gerecht und ihn zu sehr einschränken würde. Der Wunsch nach einem Treffpunkt wurde klar als<br />
Bedarf geäussert.<br />
In Bezug auf die Erwartungen und Forderung an eine erfolgreiche Partizipation und an die Gemeinde<br />
wurde unter anderem genannt, dass die Gemeinden die Initiative ergreifen müssten, um die<br />
gewünschten Prozesse anzustossen. Die Positionen, Meinungen und Vorschläge von den<br />
MigrantInnen und Migrantenorganisationen müssten integriert werden. „Wir wurden nie nach einer<br />
politischen Meinung gefragt.“ Partizipation - wie bspw. von der EKM vorgeschlagen - wird als<br />
notwendig erachtet. Der Einbezug der älteren Migrationsbevölkerung muss aber von Beginn eines<br />
Vorhabens an gewährleistet sein, wenn es Partizipation im Sinne der hier zugrunde liegenden<br />
Definition sein soll. Und Partizipation in diesem Sinne hätte früher angegangen werden müssen. Um<br />
Partizipation zu initiieren und umzusetzen, muss man den Dialog suchen. Es gilt, Wege zu besserer<br />
<strong>Integration</strong> zu suchen und zu fördern. In drei Worten auf den Punkt gebracht: „Partizipation heisst<br />
Partnerschaft.“ Als Forderung wurde ausserdem genannt, dass es auf Gemeindeebene mehr<br />
Verantwortung braucht, um Partizipationsprozesse zu initiieren und durchzuführen.<br />
Unter Bedarf wurden weiter folgende Aspekte genannt: Es benötigt Freiwillige für einen so definierten<br />
Partizipationsprozess. 90% der älteren Migrationsbevölkerung seien inaktiv, diese müssten mobilisiert<br />
werden. Viele ältere MigrantInnen hätten Ängste in Bezug auf ihr Alter, weil sie zum Beispiel nicht<br />
128
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
wüssten, wie das mit den Altersheimen geregelt sei, und wie sie bei Bedarf zu einem Platz dort<br />
kommen würden. Sie haben Befürchtungen, dass sie im Krankheitsfall oder in anderen Fragen ihre<br />
Rechte nicht kennen würden.<br />
Politik<br />
Unter diesem Stichwort werden Äusserungen dargestellt, welche direkt einen politischen oder aber<br />
indirekt einen politischen Aspekt ansprechen. In erster Linie sei ein politischer Wille notwendig, wenn<br />
Partizipation im Sinne dieser Arbeit und im Sinne der Definition der EKM erfolgreich sein solle. Als<br />
weiterer Aspekt wird als entscheidend genannt, welche politische Ausrichtung (im Sinne von<br />
parteipolitisch) eine Gemeinde vertrete.<br />
In der Gruppe wurde ebenfalls diskutiert, dass selbst ältere MigrantInnen, die mehrere Jahrzehnte in<br />
der Schweiz gearbeitet und Steuern gezahlt hätten, erschwerenden Bedingungen ausgesetzt seien.<br />
Die politischen Vorgaben sehen vor, dass bei einer Rückkehr in die Schweiz nach einem längeren<br />
Aufenthalt im Ursprungsland oder einfach ausserhalb der Schweiz, den „Rückkehrern“ nicht der<br />
vorherige Status (Ausweis C), sondern nur noch der Status B zuerkannt würde, „obwohl man das<br />
ganze Leben hier verbracht hat.“ Dazu komme die Forderung, dass die in der Schweiz lebenden<br />
Familienangehörigen dafür garantieren müssten, im Falle von Pflegebedürftigkeit für die Kosten<br />
aufzukommen.<br />
Bedingungen / Strukturen<br />
In der Fokusgruppe mit den italienischen VertreterInnen wurden folgende Aspekte besprochen, die<br />
dem Schwerpunkt Bedingungen / Strukturen zuzuordnen sind:<br />
Es wurde darauf hingewiesen, dass es in verschiedenen Gemeinden in der Schweiz bereits<br />
erfolgreich umgesetzte Modelle von Partizipation gäbe (namentlich erwähnt wurde das Modell von<br />
Köniz in Soom Ammann und Salis Gross, 2011). Es sei ganz wichtig, dass diese bestehenden<br />
Modelle im Sinne der Good Practice vermehrt eingesetzt und in anderen Gemeinden multipliziert<br />
werden müssten. Zu einer Multiplikation guter Modelle gehöre aber auch eine entsprechende<br />
Unterstützung von Seiten der Gemeinde. Ein zweiter Punkt, der mehrfach diskutiert wurde, ist die<br />
<strong>Integration</strong> von Schlüsselpersonen und/oder von MultiplikatorInnen. Diese müssten aktiv gesucht und<br />
entsprechend auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Es braucht ebenfalls RepräsentantInnen, welche<br />
in die Projekte von Beginn an integriert werden müssten. Einerseits sind hier RepräsentantInnen von<br />
Migrationsorganisationen und –institutionen gemeint, andererseits sind es die diejenigen von<br />
Gemeinden und öffentlichen Institutionen.<br />
Die Themen Finanzen und Subventionen wurden auch im Sinne von Rahmenbedingungen genannt.<br />
Hier anzufügen sind ebenfalls die besprochene notwendige Zusammenarbeit sowie die Schaffung von<br />
Strukturen, wo nötig. Im konkreteren Sinne wurde gesagt, dass es klare Ziele und Vorgaben braucht,<br />
dass definiert werden muss, welche Personen als Zielgruppe für Partizipation einbezogen werden<br />
müssen (gemeint ist hier, die eine Funktion im Partizipationsprozess übernehmen), und welche<br />
Personen die Zielgruppe im Sinne von Nutzniessern sind. Danach richten sich unter anderem die<br />
Machbarkeit und das bedarfsgerechte Angebot.<br />
129
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Bezüglich Zugänglichkeit zu den Partizipationsprozessen und -bestrebungen gilt es zu<br />
berücksichtigen, dass kleinere Gemeinden mit wenigen Ressourcen (Mitteln) den Partizipations-<br />
prozess mit älteren MigrantInnen zum Beispiel regional gestalten sollen. Als Bedingungen werden in<br />
diesem Zusammenhang erneut die Information und die Erreichbarkeit erwähnt, da dies bei einer<br />
regionalen Lösung grössere Anforderungen an ein Gelingen stellt. Konkret wurde auch diskutiert, dass<br />
in den Gemeinden oder in Quartieren sogenannte Sentinellen eingerichtet werden könnten. Gemeint<br />
sind damit eine Art „sozialer Wachposten“, wo eine Person verantwortlich ist, im entsprechenden<br />
Quartier Augen und Ohren offenzuhalten, um Bedarf und Bedürfnisse der älteren MigrantInnen<br />
wahrzunehmen und aktiv nach Lösungen zu suchen.<br />
5.3.2.2 Ideensammlung und Massnahmenvorschläge aus der Fokusgruppe<br />
Am Ende der Fokusgruppe wurden die Teilnehmenden gebeten, ihre Gedanken im Sinne von Ideen<br />
und konkreten Massnahmen oder Vorschlägen auf einzelnen Moderationskarten festzuhalten. Dabei<br />
sollten sie sich bei ihren Antworten von folgenden Begriffen leiten lassen: Partizipation(-sprozess) /<br />
Ressourcen, Potenziale / Erwartungen, Forderungen / Bedingungen, Strukturen.<br />
Alle Texte auf den Moderationskarten wurden im Anschluss in einem Dokument zusammengefasst. In<br />
der untenstehenden Tabelle wurden die Nennungen (originale Fassung) bereits den oben genannten<br />
Begriffen zugeordnet.<br />
Tabelle 31: Ideensammlung und Massnahmenvorschläge - Originalfassung<br />
a) Partizipation(sprozess)<br />
I comuni devono pubblicare e mettere a conoscenza degli emipret e non le loro offerte, tratte in collaborazione<br />
con gli interessati.<br />
Sostenere e promuovere le diverse identità culturali ma in un quadro d‟integrazione e al rispetto delle regole.<br />
Sistemi con porte aperti.<br />
Empowerment come metodo di partecipazione.<br />
Proseguire il dialogo con le altre culture ( ci si deve conoscere meglio).<br />
Combattere pregiudizi e forme di razzismo, con incontri aperti a tutto il pubblico e sostenuti con progetti concreti.<br />
Trovare nelle comunità delle persone che fanno da sentinelle (punti di riferimento).<br />
Strutture reali locali, partecipare a iniziative culturali insieme agli indigeni per una migliore integrazione.<br />
Creare una persona di fiducia/ responsabile con i rappresentanti dell‟emigrazione per conoscere le<br />
problematiche e proposte! Spiegare la politica di integrazione del comune.<br />
Partecipazione a livello di quartieri ... Tipo aggregazioni.<br />
Nei quartieri... Fare in modo che le istituzioni presenti (chiese ...) aprano le porte ad accogliere.<br />
Incontri per raccontarsi...Per conoscersi...<br />
b) Ressourcen / Potenziale<br />
Incontri di tipo femminile.<br />
Per non dimenticare... Noi emigrati siamo la memoria storica...<br />
c) Erwartungen / Forderungen<br />
Favorire l‟integrazione con il diritto di partecipazione al voto locale.<br />
Diritto di voto agli stranieri a livello comunale.<br />
130
Progetti integrazione tutti insieme e finanziati.<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Una parte del Budget comunale deve essere per la politica d‟integrazione.<br />
Mettere le persone al primo posto.<br />
Non avere paura del diverso!<br />
Partire sul stesso livello � Diritti e doveri.<br />
Le persone vanno accolte per quello che sono.<br />
Vogliamo una più ampice informazione su programmi del comune quanto riguarda assistenza e volonariato<br />
quanto riguarda gli anziani.<br />
Deve in qualche modo dimostrare la volontà del comune all‟integrazione dei suoi cittadini! Per migliorare le<br />
condizioni di vita / sociali.<br />
Diritto di voto cittadino.<br />
Riconoscimento organizzativo.<br />
Più rispetto dell`anziani.<br />
Occuparsi degli anziani che vivono da soli ( quartieri).<br />
Organizzare momenti di convivialità ( potale).<br />
Contatti con gruppi femminili.<br />
Sostituire gruppi anziani da VOI gestiti.<br />
d) Bedingungen / Strukturen<br />
Finanziare i diversi corsi di apprendimento socio-sportivo culturale: teatro, computer, sport, tempo libero in<br />
genere.<br />
Finanziare le associazioni e gruppi promotori che realizzano e propongono idee al sostegno degli anziani.<br />
Creazione di centri d‟incontro polivalenti nei quartieri.<br />
Più informazione a livello locale.<br />
Aiuti finanziari ai piccoli progetti.<br />
Mettere a disposizione più facilmente le strutture locali per le diverse attività culturali e altre.<br />
La politica comunale deve offrire più spazi partecipativi e mettere a disposizione le strutture.<br />
Più informazione al pubblico locale sui vantaggi sociali ed economici dell‟integrazione.<br />
Centro di ascolto e di ritrovo.<br />
Unire le forze in campo (tra le varie strutture italiane).<br />
Informazioni più semplici e chiare.<br />
Strutture reali locali, partecipare a iniziative culturali insieme agli indigeni per una meglio integrazione.<br />
Comune deve avere un programma d‟integrazione / offerte da proporre per facilitare l‟integrazione.<br />
Creare reti di informazione.<br />
Creare centri di ritrovo per anziani dove poter svolgere attività culturali ricreative e “sportive”.<br />
Un centro di incontro<br />
Più informazioni generali.<br />
Progetti con finanziamenti.<br />
Creare una rete di volontariato italiano e bernese.<br />
Contatti con organismi e centri italiani.<br />
Nachfolgend werden die Ergebnisse aus der Ideensammlung, gemäss der vollständigen italienischen<br />
Zusammenstellung oben, in die deutsche Sprache übersetzt (alle Nennungen, deshalb zum Teil<br />
131
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Doppelnennungen). Zur besseren Nachvollziehbarkeit der mündlichen Beiträge auf Basis des<br />
zugrundeliegenden transkribierten Protokolls werden die Vorschläge mit Aussagen der<br />
Teilnehmenden ergänzt oder es wird – wo nötig und sinnvoll - erklärend Bezug darauf genommen.<br />
Eine gewisse Redundanz mit den Äusserungen aus der Diskussion, die in Kapitel 5.3.2.1 dargestellt<br />
sind, wird hier bewusst in Kauf genommen.<br />
a) Partizipation(sprozess)<br />
- Die Gemeinden sollen Partizipationsideen und –massnahmen zur Kenntnis publizieren und<br />
gemeinsam mit den Interessierten und Betroffenen erarbeiten, und nicht einfach ihre fertigen<br />
Angebote machen.<br />
- Die verschiedenen kulturellen Identitäten unterstützen und fördern in einem<br />
<strong>Integration</strong>srahmen mit entsprechenden Regeln.<br />
- Systeme mit offenen Türen schaffen.<br />
- Empowerment als Methode der Partizipation nutzen.<br />
- Den Dialog mit anderen Kulturen fortsetzen (man muss sich besser kennen lernen).<br />
- Vorurteile und Formen von Rassismus bekämpfen mit offenen Treffen, die für alle zugänglich<br />
sind und die mit konkreten Projekten unterstützt werden.<br />
- Personen suchen, die in der Gemeinde als „Sentinellen“ funktionieren (im Sinne von<br />
Anlaufstelle oder sozialem Wachposten).<br />
- Lokale Strukturen schaffen und zusammen mit den Bedürftigen an gemeinsamen kulturellen<br />
Initiativen partizipieren für eine bessere <strong>Integration</strong>.<br />
- Eine Vertrauensperson oder Verantwortliche/n benennen, um zusammen mit den<br />
RepräsentantInnen für <strong>Integration</strong> die Problematiken und Vorschläge der Betroffenen in<br />
Erfahrung zu bringen. Die <strong>Integration</strong>spolitik der Gemeinde muss erklärt werden.<br />
- Partizipation auf Quartierebene umsetzen, im Sinne von Treffpunkten.<br />
- Die Institutionen, die im Quartier ansässig sind (z.B. Kirchen) sollten ihre Türen öffnen und die<br />
(älteren) MigrantInnen empfangen.<br />
- Treffen veranstalten, an denen man erzählen und sich kennen lernen kann.<br />
Als wichtige Schwerpunkte können hier zusammengefasst der gemeinsame Dialog, das gemeinsame<br />
Angehen der Thematik, das Schaffen von lokalen niederschwelligen Strukturen sowie die<br />
Zusammenarbeit mit Schlüsselpersonen und RepräsentantInnen auf Seite der MigrantInnen und der<br />
Schweizer Institutionen genannt werden. Ein Aspekt, der hier zum Ausdruck kommt, ist jener der<br />
verschiedenen Kulturen, die in einem Gemeindekontext aufeinandertreffen und der Einbezug des<br />
Aspektes der <strong>Integration</strong> (der in der Fokusgruppe nicht diskutiert wurde).<br />
b) Ressourcen / Potenziale<br />
Im Sinne eindeutiger Ressourcen und Potenziale wurden keine Massnahmen oder Vorschläge notiert.<br />
Einzig die beiden Punkte „Incontri di tipo femminile“ und „Per non dimenticare…. noi emigrati siamo la<br />
memoria storica…..” weisen auf mögliche Ressourcen hin. Im ersten Punkt wird die Aktivität und<br />
132
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Beteiligung von Frauen am gesellschaftlichen Leben (vom Zeitpunkt an des Familiennachzugs) im<br />
Sinne einer Ressource genannt, die es zu nutzen gilt. Im zweiten Punkt werden die älteren<br />
MigrantInnen als „Gedächtnis der Geschichte“ gesehen. Dies wird verstanden als Quelle von Wissen<br />
und Erfahrung und kann somit als Ressource betrachtet und im Partizipationsprozess nutzbar<br />
gemacht werden.<br />
In Kapitel 5.3.2.1 „Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen aus dem transkribierten Protokoll der<br />
Fokusgruppe“ finden sich mehr Hinweise für den Begriff Ressourcen.<br />
c) Erwartungen / Forderungen<br />
- Die <strong>Integration</strong> mittels Partizipationsrecht im Sinne von lokalem Stimmrecht fördern.<br />
- Den Ausländern auf lokaler Ebene das Stimmrecht geben.<br />
- <strong>Integration</strong>sprojekte gemeinsam gestalten, mit finanzieller Unterstützung.<br />
- Ein Teil des Gemeindebudgets müsste für die <strong>Integration</strong>spolitik aufgewendet werden.<br />
- Der Mensch kommt zuerst.<br />
- Keine Angst vor der Diversität haben!<br />
- Menschen sollten als das anerkannt werden, was sie sind.<br />
- Auf gleicher Ebene beginnen � Rechte und Pflichten<br />
- Wir möchten eine breitere Information über Gemeindeprogramme bezüglich Unterstützung und<br />
Freiwilligenarbeit für und mit alten Menschen.<br />
- Die Gemeinde müsste in irgendeiner Weise ihren <strong>Integration</strong>swillen für seine Bewohner<br />
(cittadini = Bewohner einer Gemeinde oder eines Landes) demonstrieren mit dem Ziel, die<br />
sozialen und Lebens-Bedingungen zu verbessern.<br />
- Stimmrecht<br />
- Anerkennung für (geleistete Selbst-) Organisation.<br />
- Mehr Respekt für den alten Menschen.<br />
- Sich um die alten Menschen in den Quartieren kümmern, die alleine wohnen.<br />
- Momente des Zusammenlebens organisieren.<br />
- Kontakte mit Frauengruppen.<br />
- Austausch mit den von EUCH geführten Altersgruppen.<br />
Die deutlichsten und meist genannten Erwartungen und Forderungen sind jene betreffend Rechten<br />
von MigrantInnen, namentlich das lokale Stimmrecht sowie jene nach Anerkennung, Respekt und<br />
Wertschätzung. Implizit schwingt das Thema „Fremdes“ und Haltung der Schweizer gegenüber dem<br />
Fremden als Ungewohntem und dem Fremden als Mensch eines anderen Kulturkreises mit. Auch in<br />
diesem Abschnitt wird mehrmals von <strong>Integration</strong> gesprochen, obwohl dies ausdrücklich nicht Thema<br />
der Diskussion war.<br />
133
d) Bedingungen / Strukturen<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
- Kurse und Wissensvermittlung finanzieren: sozio-sportive Angebote, kulturelle (Theater),<br />
Computer, Freizeit im Allgemeinen.<br />
- Vereinigungen und Fördergruppen finanzieren, die Ideen für die Unterstützung der Alten<br />
vorschlagen und realisieren.<br />
- Polyvalente Treffpunkte in den Quartieren gründen.<br />
- Mehr Information auf lokalem Niveau.<br />
- Finanzielle Unterstützung für kleinere Projekte.<br />
- Auf unkomplizierte Weise lokale Strukturen für verschiedene kulturelle und andere Aktivitäten<br />
zur Verfügung stellen.<br />
- Die Kommunalpolitik muss mehr Raum für soziale Beteiligung anbieten und Strukturen zur<br />
Verfügung stellen.<br />
- Mehr Informationen für das lokale Publikum über die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile von<br />
<strong>Integration</strong>.<br />
- Ein Zentrum, wo man empfangen wird und sich treffen kann.<br />
- Die vorhandenen Kräfte vereinen (innerhalb der verschiedenen italienischen Strukturen).<br />
- Einfachere und klare Informationen.<br />
- Lokale Strukturen schaffen und zusammen mit den Bedürftigen an gemeinsamen kulturellen<br />
Initiativen partizipieren für eine bessere <strong>Integration</strong>.<br />
- Die Gemeinde müsste ein <strong>Integration</strong>sprogramm haben / Angebote vorschlagen, die die<br />
<strong>Integration</strong> vereinfachen.<br />
- Informationsnetzwerke kreieren.<br />
- Alterstreffpunkte (Zentrum) gründen, wo man kulturelle, sportliche und Freizeitaktivitäten<br />
gestalten kann.<br />
- Ein Treffpunkt.<br />
- Mehr allgemeine Informationen.<br />
- Finanziell unterstützte Projekte.<br />
- Ein italienisches oder bernisches Freiwilligennetzwerk gründen.<br />
- Kontakte mit italienischen Zentren und Organisationen<br />
Als wichtigste Bedingungen werden genannt die finanzielle Unterstützung, das Schaffen von<br />
Strukturen, vor allem in Form eines Treffpunktes. Ausserdem werden mehr, klarere und lokale<br />
Informationen als wichtige Bedingung im Partizipationsprozess gesehen. Daneben werden konkrete<br />
Vorschläge gemacht wie das Schaffen eines Freiwilligennetzwerkes, das Erarbeiten eines<br />
<strong>Integration</strong>sprogrammes auf Gemeindeebene und das Anbieten von verschiedenen Dienstleistungen<br />
und Aktivitäten, respektive das zur Verfügung stellen der Infrastruktur für deren Durchführung.<br />
5.3.2.3 Interpretation und Erkenntnisse aus der Fokusgruppe<br />
Diskussionsprozess der Fokusgruppe<br />
Die Teilnehmenden der Fokusgruppe zeigten eine grosse Wertschätzung für die Einladung zur<br />
134
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Mitarbeit an dieser Masterarbeit. Nicht nur, weil es dabei um ein interessantes Thema und eine direkte<br />
Betroffenheit gehen würde, sondern in erster Linie deshalb, weil ihre Meinung in der Entwicklung eines<br />
Modells oder Projektes gefragt war. Die Beteiligung an diesem Prozess zeigte sich während der<br />
Fokusgruppe in einem hohen Engagement, in einem disziplinierten Berücksichtigen der vor Beginn<br />
der Diskussion eingeführten „Spielregeln“ (z.B.: es spricht nur jeweils eine Person nach der anderen,<br />
um eine gute Qualität der Tonbandaufnahme zu gewährleisten) und im Einbringen auch emotionaler<br />
Betroffenheit zur diskutierten Thematik.<br />
Dem hohen Engagement stand eine etwas wenig strukturierte Beantwortung der Fragestellung<br />
gegenüber. Es gab zum Teil sehr lange Voten, die wiederholt den eigentlichen Rahmen der<br />
Fragestellungen verliessen. Gerade dieser Aspekt ermöglichte aber auch das Erfassen wichtiger<br />
Informationen, die zwar nicht ganz direkt in Zusammenhang mit der Fragestellung standen, dafür aber<br />
Einsichten lieferten, die allgemein für das Modell <strong>MIGRALTO</strong> nutzbar sind (siehe zum Beispiel das<br />
Thema Frauen und <strong>Integration</strong>/Partizipation im Abschnitt ‚Ressourcen„ unten).<br />
Am Schluss der Fokusgruppe war es den meisten Anwesenden ein grosses Anliegen und Bedürfnis,<br />
sich erneut in dieser Zusammensetzung zu treffen. Die Weiterverfolgung des Projektes <strong>MIGRALTO</strong><br />
stellte dabei nur einen Teil des Bedürfnisses dar. Der wichtigere Teil betraf den Wunsch des erneuten<br />
gegenseitigen Austausches. Es kann hier nur vermutet werden, dass neben der gewünschten<br />
Gemeinschaftlichkeit ein weiterer Punkt vielleicht sogar noch wichtiger war: Als Person und Mensch<br />
mit Kompetenzen und (Erfahrungs-) Wissen gefragt zu sein und sich beteiligen zu dürfen.<br />
Definitionsverständnis von Partizipation und <strong>Integration</strong><br />
Ähnlich wie in Kapitel 5.3.3.1 beschrieben, fiel es den Teilnehmenden VertreterInnen der<br />
Migrantenorganisationen an der Fokusgruppe nicht leicht, den Begriff „Partizipation“ so zu verstehen,<br />
wie in dieser Arbeit vorgegeben und diese Definition während der gesamten Diskussion auch so zu<br />
verwenden. Auch in der Fokusgruppe wurde der Partizipationsbegriff allen schriftlich abgegeben und<br />
das Blatt war während des ganzen Prozesses auf den Tischen sicht- und greifbar. Im Unterschied zu<br />
den Interviewten zeigte sich bei den Teilnehmenden der Fokusgruppe zusätzlich zum ungewohnten<br />
Gebrauch des Begriffes Partizipation auch eine Vermischung mit dem Begriff der <strong>Integration</strong>.<br />
Wiederholt wurden diese Termini synonym gebraucht. Es ist davon auszugehen, dass diese<br />
Vermischung durch jenen Fokus gefiltert ist, welche die VertreterInnen der Migrationsorganisationen in<br />
ihrer Funktion als OrganisationsvertreterInnen jeweils gewohnt sind und es in der Vergangenheit um<br />
<strong>Integration</strong>, nicht aber um Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft ging, da dies ja eine neue<br />
Form von Teilnahme darstellt. Gerade auch in Zusammenarbeit mit Schlüsselpersonen und<br />
VertreterInnen aus Migrantenorganisationen wird es entscheidend sein, darauf zu achten, dass bei<br />
Projekten zur Partizipation von Beginn an bei allen Beteiligten ein gemeinsames Verständnis und ein<br />
Konsens über den verwendeten Begriff gegeben sind.<br />
Der Fokus der VertreterInnen der Migrantenorganisationen<br />
In Bezug auf die Erwartungen und den Bedarf fällt auf, dass ein Treffpunkt für ältere MigrantInnen als<br />
ein sehr wichtiger Punkt betrachtet wird. Es werden auch Gründe für diese Wichtigkeit angeführt.<br />
Allerdings ist klar, dass selbst ein nachgewiesener Bedarf für einen solchen Treffpunkt nichts mit<br />
135
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft zu tun hat. In erster Linie wäre dies ja ein Ort, an<br />
welchem man sich aufhalten kann, wo man Kunde/Kundin oder allenfalls Teilnehmende/r ist. Hier<br />
zeigt sich erneut der Fokus der VertreterInnen der Migrationsorganisationen, der ja in ihrer täglichen<br />
Arbeit vor allem auf die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe gerichtet ist. Dieselbe Beobachtung lässt sich in<br />
Bezug auf die Bedingungen und Strukturen machen. Auch hier stehen vielfach bedürfnis- und<br />
bedarfsorientierte Aspekte der Zielgruppe der MigrantenvertreterInnen im Vordergrund.<br />
Diese Beobachtungen zeigen deutlich, dass beim Planen und Durchführen von Partizipationspro-<br />
zessen dem Vermitteln einer spezifischen Partizipationskultur auch an die VertreterInnen von<br />
Migrationsorganisationen und weitere Schlüsselpersonen aus dem Migrationsbereich im Sinne von<br />
Kompetenzerweiterung ein grosser Stellenwert beigemessen werden muss. Ein gemeinsames<br />
Verständnis und ein Konsens über den Partizipationsbegriff erweist sich immer deutlicher als wichtige<br />
Grundvoraussetzung für gelingende Projekte in diese Richtung.<br />
Ressourcen<br />
Anders als die befragten älteren MigrantInnen in den Interviews haben die VertreterInnen der<br />
Migrantenorganisationen ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, welche Kompetenzen und Fähigkeiten<br />
ältere MigrantInnen für eine aktive Bürgerschaft mitbringen.<br />
Beiden Gruppen gemeinsam ist aber die Nennung von Freiwilligentätigkeit. Obwohl dieser Begriff nicht<br />
immer explizit unter dem Aspekt der Ressourcen genannt wurde, gebührt der Freiwilligentätigkeit als<br />
Ressource besondere Aufmerksamkeit. Implizit ist klar, dass Partizipationsvorhaben ohne die<br />
Unterstützung von Freiwilligen kaum oder nur eingeschränkt umsetzbar sein werden. Ob dabei<br />
mögliche MultiplikatorInnen gemeint sind oder andere Personen – seien dies Schweizer BürgerInnen<br />
oder MigrantInnen – bleibe dahin gestellt: Partizipationsprozesse als bürgerliches Engagement<br />
braucht Menschen, die territorial und thematisch betroffen sind und sich mit Unterstützung von<br />
staatlicher Seite in Bezug auf gesellschaftliche Belange einbringen wollen. Positiv lässt sich<br />
erwähnen, dass sowohl in den Interviews als auch in der Fokusgruppe wiederholt darauf hingewiesen<br />
wurde, dass viele ältere MigrantInnen sehr gerne freiwillig tätig sein würden, resp. viele von ihnen es<br />
bereits seit langem seien.<br />
Ein weiterer Punkt unter Ressourcen, der hier speziell erwähnt werden soll, ist ein spezifischer Teil der<br />
älteren Migrationsbevölkerung, nämlich die Frauen. Eine Teilnehmende der Fokusgruppe legte Wert<br />
darauf, dass nicht vergessen werden dürfe, dass die Migration (der Italiener) mit dem Nachzug der<br />
Frauen begonnen hätte. Erst da seien ja Lebensbereiche wie Familiengründung und –organisation,<br />
Schulbildung, gesellschaftliche Vernetzung der eigenen Migrationsgemeinschaft relevant geworden.<br />
Ausserdem sei Alter weiblich und viele ältere Migrantinnen seien aufgrund des Todes ihres Mannes<br />
alleine hier zurückgeblieben und würden sich gerne in die Gesellschaft einbringen.<br />
Diese weibliche Sicht gilt es, in Partizipationsvorhaben miteinzubeziehen. Nicht nur, weil Frauen<br />
aufgrund eines möglichen Engagements eine Ressource darstellen, sondern auch, weil sie unter<br />
Umständen und je nach ethnischer Herkunft anders zu erreichen und in Partizipationsprozesse zu<br />
integrieren sind. Das muss allerdings jeweils spezifisch überprüft werden.<br />
136
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Massnahmen und Vorschläge für Partizipationsprozesse<br />
Bei den in Kapitel 5.3.2.2 zusammengefassten Massnahmen und Vorschlägen, die am Ende der<br />
Fokusgruppe von den Teilnehmenden auf Moderationskarten geschrieben wurden, fällt eine<br />
Vermischung der Ebenen auf. Das Thema der Fokusgruppe war ausschliesslich jenes der<br />
Partizipation im Sinne der EKM und auch die gestellten Fragen, konzentrierten sich nur auf die<br />
Thematik.<br />
Dennoch erkennt man in den Massnahmen und Vorschlägen erneut den Fokus der VertreterInnen der<br />
Migrantenoriganisationen für die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe. Gleichzeitig wurden viele Beiträge<br />
eingebracht, welche das Gedankengut der Partizipation erkennen lassen und welche wichtigen<br />
Hinweise für die VertreterInnen der Schweizer Institutionen und Gemeinden enthalten.<br />
5.4 Gegenüberstellung und Vergleich der Ergebnisse der<br />
Perspektive der GemeindevertreterInnen und der<br />
Migrantenperspektive (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
In diesem Kapitel wird eine Gegenüberstellung der verschiedenen Perspektiven vorgenommen und in<br />
einer Drei-Schritt-Struktur kommentiert. Aufgrund der Resultate werden folgende Bereiche in der<br />
Gegenüberstellung besprochen:<br />
1 - Definition ‚Alter & Partizipation„<br />
2 - Ressourcen<br />
3 - Rahmenbedingungen/Strukturen<br />
4 - Mittel/Instrumente<br />
5 - Schranken/Hürden<br />
6 - Erwartungen/Forderungen/Wünsche<br />
7 - (Handlungs-)Bedarf<br />
8 - Bereiche der Partizipation<br />
Dabei wird verglichen, inwieweit sich die Perspektiven auf die Partizipation von älteren MigrantInnen<br />
zwischen den VertreterInnen der Gemeinden und den VertreterInnen der Migrationsorganisationen,<br />
resp. den interviewten MigrantInnen decken, und wo sie voneinander abweichen. Aufgrund dieser<br />
Gegenüberstellung werden anschliessend in Kapitel 6 Schlussfolgerungen für die Entwicklung des<br />
Modells <strong>MIGRALTO</strong> gezogen.<br />
Im Folgenden werden die verschiedenen Befragungsgruppen wie folgt abgekürzt: Fokusgruppe CH,<br />
Fokusgruppe IT, Gemeinden, MigrantInnen.<br />
137
1a – DEFINITION „ALTER“:<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Konsens: Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT, Gemeinden<br />
Alle drei Gruppen orientieren sich explizit oder implizit an einem modernen gerontologischen<br />
Verständnis von Alter als einer aktiven Lebensphase, die auch Entwicklungschancen bietet.<br />
Dissens: MigrantInnen<br />
Das Altersbild der älteren MigrantInnen ist mehrheitlich von einem defizitorientierten Verständnis<br />
geprägt. Der Fokus ist auf einen passiven „Lebensabend“ gerichtet, der nach einem beschwerlichen<br />
Arbeitsleben verdient ist. Die aktive Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft wird von ihnen in<br />
Bezug auf Machbarkeit und Sinn in Frage gestellt.<br />
Interpretation: Während die Fokusgruppen und GemeindevertreterInnen aufgrund ihrer beruflichen<br />
Tätigkeit mit dem aktuellen gerontologischen Diskurs vertraut sind, der Alter als ressourcenorientierte<br />
Lebensphase konzipiert, sind dies die älteren MigrantInnen vermutlich nicht. Bei den VertreterInnen<br />
der Migrationsorganisationen basiert der Diskurs ausserdem vor allem auf ihrer Rolle als<br />
Interessenvertretung älterer MigrantInnen, weniger aber auf einem wissenschaftlichen oder<br />
gesellschaftlichen Fokus. Zudem belegen statistische Fakten über ältere MigrantInnen deren im<br />
Vergleich zur schweizerischen Bevölkerung schlechtere ökonomische und gesundheitliche Situation<br />
im Alter. Das wiederum ist die Folge ihrer langjährigen Arbeit in gesundheitsschädigenden<br />
Tieflohnbranchen und entsprechend kleinen Renten (BAG, 2007; BSV, 2010). Unter diesen<br />
Umständen kann angenommen werden, dass MigrantInnen ihr eigenes Alter tendenziell als eher<br />
defizitär erleben.<br />
1b – DEFINITION „PARTIZIPATION“:<br />
Konsens: Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT, Gemeinden<br />
Alle drei Gruppen teilen grundsätzlich die Definition von Partizipation im Sinne der aktiven<br />
Bürgerschaft (Citoyenneté), wie sie von den Autorinnen in dieser Arbeit vorgelegt wird. Sie sind sich<br />
einig, dass gelebte Partizipation als anzustrebende Zielvorstellung auf der Grundlage eines solchen<br />
Verständnisses stattfinden sollte. Ebenfalls beide Gruppen wechseln dann jedoch im konkreten<br />
Diskurs immer wieder zu einem Partizipationsverständnis, das eher auf Teilnahme und nicht auf<br />
Partizipation im aktiven Sinne von Mitsprechen, Mitgestalten und Mitentscheiden basiert. Bei der<br />
Fokusgruppe IT fällt zudem auf, dass sie Partizipation im Sinne von <strong>Integration</strong> als ein<br />
assimilatorisches Konzept versteht (vgl. Kapitel 2.5). Partizipation als aktive Bürgerschaft scheint für<br />
sie hingegen ein ungewohnter Begriff zu sein.<br />
Die Fokusgruppe CH sowie vor allem die schriftlich befragten GemeindevertreterInnen teilen die<br />
Einschätzung, dass die tatsächliche Partizipation der älteren MigrantInnen auf Gemeindeebene<br />
mehrheitlich kaum oder nur zum Teil gelinge, auch wenn seitens der InstitutionsvertreterInnen<br />
zielgruppenspezifische Bemühungen unternommen würden.<br />
138
Dissens: MigrantInnen<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die älteren MigrantInnen verstehen Partizipation mehrheitlich als „Teilnahme“ in einem passiv-<br />
konsumierenden Sinn. Die Idee einer aktiven Partizipation begrüssen sie hingegen grundsätzlich als<br />
notwendig und zeitgemäss. Die Umsetzung und Machbarkeit derselben sei jedoch an die<br />
Voraussetzung geknüpft, dass sie über ein Mitentscheidungsrecht verfügen müssten. Darüber hinaus<br />
besteht bezüglich Gelingen von Partizipation seitens älterer MigrantInnen ein gewisses Misstrauen<br />
aufgrund einer wahrgenommen „Barriere“ zwischen SchweizerInnen und MigrantInnen. Die älteren<br />
MigrantInnen machen ihre Partizipation auf Gemeindeebene auch davon abhängig, ob sie ein Thema<br />
betreffe und interessiere. Zudem erwarten sie, dass InstitutionsvertreterInnen ihr Interesse an ihnen<br />
signalisieren und sie in ihren Netzwerken (Vereinen, etc.) aufsuchen, und nicht nur schriftlich und<br />
anonym einladen.<br />
Interpretation: Es zeigt sich, dass der Begriff der aktiven Bürgerschaft (Citoyenneté), wie ihn die<br />
Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen in ihrem Diskurs über die Partizipation der<br />
Migrationsbevölkerung aufgreift und postuliert, bei sämtlichen befragten Gruppen nicht<br />
selbstverständlich und geläufig ist. Auch wenn die Definition im Grundsatz begrüsst wird – und dies<br />
auch von den MigrantInnen – kann kein bereits gefestigter Perspektivenwechsel festgestellt werden,<br />
wenn die Befragten über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen mit und Erwartungen an Partizipation sprechen.<br />
Vielmehr scheint sich letztlich – trotz guten Ansätzen und bewussten Bemühungen – das Verständnis<br />
von Partizipation als (passive) Teilnahme an einem bereits bestehenden Prozess oder an bereits fertig<br />
entwickelten Projekten oder Angeboten, immer wieder hartnäckig aufrechtzuerhalten.<br />
2 – RESSOURCEN:<br />
Konsens: Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT, Gemeinden<br />
Eine Migrationsbiografie und die damit verbundene Lebenserfahrung, starke soziale Netzwerke,<br />
familiäre Solidarität, Freiwilligenengagement in italienischen Organisationen (Vereinen) werden von<br />
allen - wenn auch unterschiedlich gewichtet - als Partizipationsressourcen bezeichnet.<br />
Alle drei befragten Gruppen sind sich einig, dass das Freiwilligenengagement älterer MigrantInnen<br />
eine wichtige Ressource darstelle. Dieses finde bisher vor allem in den eigenen sozialen Netzen der<br />
MigrantInnenorganisationen statt. Eine Vernetzung mit schweizerischen Organisationen und deren<br />
Freiwilligen scheine hingegen schwieriger zu sein.<br />
Die gute Selbstorganisation älterer MigrantInnen in Vereinen und in der eigenen Familie wird zwar von<br />
beiden Fokusgruppen sowie den Gemeinden als Ressource für die Lebensgestaltung im Alter<br />
gewertet. Zugleich wird sie aber auch als ein Grund für die fehlende oder mangelnde Partizipation an<br />
der Mehrheitsgesellschaft interpretiert.<br />
Dissens: Fokusgruppe IT, MigrantInnen<br />
Im Gegensatz zu den VertreterInnen von Schweizer Institutionen wird seitens der MigrantInnen und<br />
ihrer Organisationen den Ressourcen (im Sinne von finanziellen Mitteln) ein grösseres Gewicht<br />
beigemessen. Es herrscht die Auffassung, dass „die Schweizer Seite“ sich zu wenig bewusst sei, dass<br />
139
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Partizipationsprozesse und -massnahmen auch bei geringen Kosten für MigrantInnen eine finanzielle<br />
Hürde bedeute und dass es hier von Schweizer Seite mehr brauche als nur das zur Verfügung Stellen<br />
von Infrastruktur. Diese beiden Gruppen weisen zudem daraufhin, dass es für eine gelingende<br />
Umsetzung auch personelle Ressourcen benötige, was gerade in kleinen Gemeinden oft nicht<br />
gegeben sei. Dies könne jedoch für den Erfolg oder Misserfolg von Partizipationsprozessen<br />
entscheidend sein. (Diese Meinung teilen auch die telefonisch nachbefragten<br />
GemeindevertreterInnen.)<br />
Die eigenen Aussagen zu ihren Ressourcen beschränken sich bei den älteren MigrantInnen auf<br />
„typisch“ italienische Charaktereigenschaften und Aspekte der italienischen Mentalität (vergleiche<br />
Kapitel 5.3.2.1). Nach Ressourcen im Sinne von Fähigkeiten und Kompetenzen in Bezug auf ihre<br />
Selbstorganisation befragt, zeigt sich, dass sie darüber nicht bewusst reflektiert haben. Somit handelt<br />
es sich eher um ein unbewusstes Potenzial an Ressourcen.<br />
Interpretation: Während die Fokusgruppen und VertreterInnen der Gemeinden soziale Merkmale, die<br />
sie bei der Gruppe der älteren MigrantInnen aus Italien wahrnehmen, als Ressourcen für die Lebens-<br />
gestaltung im Alter interpretieren, fassen die älteren MigrantInnen selber diese in eine essentialisti-<br />
sche Begrifflichkeit von „Nationalkultur“ und nehmen in diesem Sinne eine kollektive und Identität<br />
stiftende Selbstethnisierung vor, in Abgrenzung zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld der<br />
Mehrheitsgesellschaft. Diese Selbstethnisierung steht in enger Wechselwirkung zur<br />
Fremdethnisierung durch die VertreterInnen der Schweizer Institutionen/Organisationen, welche zwar<br />
von Ressourcen sprechen, diese aber ebenfalls immer wieder einer mit eigenen Bildern besetzten<br />
„italienischen Mentalität“ oder „Kultur“ zuschreiben (vgl. dazu die Ausführungen zu<br />
Ethnisierungsprozessen in Kapitel 2.2.3).<br />
Ob die gute Selbstorganisation und die familiäre Solidarität die Partizipation am gesellschaftlichen<br />
Umfeld fördere oder nicht, wird ambivalent eingeschätzt, d.h. als Ressource und Schranke zugleich<br />
(vgl. Kapitel 5.2.3 u. 5.2.4).<br />
3 – RAHMENBEDINGUNGEN/STRUKTUREN:<br />
Konsens: MigrantInnen, Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT<br />
Konsens besteht bezüglich der Frage von Partizipation in Form der Ausübung politischer Rechte. Alle<br />
drei Gruppen erachten es als störend und ungerechtfertigt, dass ältere MigrantInnen - mit wenigen<br />
kantonalen und kommunalen Ausnahmen vor allem in der Romandie - immer noch nicht über direkte<br />
demokratische Mitbestimmungsmittel (Stimm- und Wahlrecht) verfügen, es sei denn, sie seien<br />
eingebürgert. Dies, obwohl sie ihr Leben in der Schweiz verbracht, Steuern bezahlt haben und voll im<br />
Arbeitsmarkt integriert waren. Der Weg zur gesellschaftlichen Partizipation müsste demnach<br />
zumindest auf kommunaler Ebene grundsätzlich über politische Rechte führen. Bei den älteren<br />
MigrantInnen habe der lebenslange Ausschluss von diesen Rechten - gemäss ihrer eigenen<br />
Aussagen sowie derjenigen ihrer Organisationen – einen Rückzug von der Mehrheitsgesellschaft und<br />
140
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
eine Fokussierung auf die eigenen Strukturen und Netzwerke bewirkt. Die Motivation zur Partizipation<br />
ausserhalb derselben habe sich entsprechend verringert.<br />
Konsens: Fokusgruppe IT, Fokusgruppe CH, Gemeinden<br />
Einig sind sich die beiden Fokusgruppen und die Gemeinden auch darüber, dass es als<br />
Rahmenbedingungen für eine zu gelingende Partizipation entsprechende politische Vorgaben, eine<br />
Strategie und ein Leitbild sowie personelle und fachliche Ressourcen benötige. Dabei wird darauf<br />
hingewiesen, dass solche Rahmenbedingungen gerade für kleinere Gemeinden öfters fehlen.<br />
Ebenfalls einig sind sich die drei Gruppen über die Voraussetzungen für eine gleichwertige<br />
Partizipation. Dazu gehöre, dass ältere MigrantInnen gleich von Beginn an bei der Gründung von<br />
Partizipationsstrukturen und -formen gleichberechtigt mitbeteiligt seien. In einer idealen Struktur<br />
müssten MigrantInnen analog zu SchweizerInnen gleichwertig in Entscheidungspositionen vertreten<br />
sein, was beispielsweise bei Projekten eine Co-Leitung bedeuten könne.<br />
Beide Fokusgruppen teilen die Einschätzung darüber, dass für die Zielgruppe ältere MigrantInnen die<br />
Strukturen zur Partizipation sehr niederschwellig angelegt sein sollten. Zudem weisen beide darauf<br />
hin, wie wichtig der Einbezug von Schlüsselpersonen aus den Migrationsgemeinschaften für<br />
gelingende Partizipationsprozesse sei.<br />
Dissens: MigrantInnen<br />
Die interviewten älteren MigrantInnen sprechen, ähnlich wie die VertreterInnen der<br />
Migrantenorganisationen, die für sie häufig nicht erschwinglichen Kosten von Partizipation an (in Form<br />
von Tagungsgebühren oder mit anderen Partizipationsangeboten verknüpfte Kosten). Partizipation<br />
müsse auch für Menschen mit bescheidenen ökonomischen Mitteln erschwinglich sein, wenn sie nicht<br />
zur Hürde werden soll. Die Idee der Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft stösst bei den<br />
MigrantInnen auf gemischte Gefühle: Wäre das lokale Stimmrecht für MigrantInnen in der Schweiz als<br />
Voraussetzung und Rahmenbedingung gegeben, würden sich die Bestrebungen für eine aktive<br />
Bürgerschaft als Konstrukt erübrigen.<br />
Interpretation: Die Aussagen der MigrantInnen und ihrer Organisationen zeigen deutlich, wie wichtig<br />
ihnen politische Rechte sind, wie entschieden sie gesellschaftliche Partizipation an diese Rechte<br />
binden und wie enttäuscht und verletzt sie über ihre Nichtanerkennung als gleichberechtigte<br />
BürgerInnen des Landes sind, zu dessen Wohlstand sie mir ihrer Arbeit beigetragen haben. Dies wirft<br />
ein neues Licht auf das ihnen im politischen Diskurs häufig vorgeworfene, angebliche Desinteresse an<br />
der Partizipation in der Mehrheitsgesellschaft, die sich ihrerseits die Frage stellen müsste, ob<br />
überhaupt noch und wie die Motivation zur gesellschaftlichen Partizipation bei Menschen im Alter<br />
geweckt werden könnte, wenn man sie vorher während Jahrzehnten davon ausgeschlossen hat. Noch<br />
pointierter könnte man aufgrund dieser Erkenntnisse fragen, ob die Idee der Partizipation der älteren<br />
Migrationsbevölkerung nicht der falsche Weg für das Anliegen ist, und ob man nicht den Diskurs<br />
anders führen müsste. Zum Beispiel, indem man einerseits die Bedürfnisse der heutigen älteren<br />
MigrantInnen besser erfasst und ihnen gerecht zu werden versucht, und dass man ihnen – die ihr<br />
141
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Leben hier verbracht und hier alt geworden sind – anderseits bei der Pensionierung das lokale Stimm-<br />
und Wahlrecht oder sogar das Schweizer Bürgerrecht gibt.<br />
Es fällt im Weiteren auf, wie die unterschiedliche Lebensrealität älterer MigrantInnen (häufig an der<br />
Grenze zur Armutsbetroffenheit) nicht im Blick der Schweizer Institutionen/Organisationen ist, die<br />
diese Zielgruppe für Partizipation zu gewinnen suchen. So scheint diesen z. B. nicht oder nur wenig<br />
bewusst zu sein, dass sich viele ältere MigrantInnen Partizipation, sobald sie mit Kosten verbunden<br />
ist, nicht leisten können.<br />
4 – MITTEL/INSTRUMENTE (im Sinne erfolgreicher Faktoren einer good practice):<br />
Konsens: MigrantInnen, Fokusgruppe IT, Fokusgruppe CH und Gemeinden (aus der<br />
telefonischen Nachfassung)<br />
Alle sind überzeugt, dass am Anfang einer gelingenden Partizipation eine niederschwellige und<br />
adressatengerecht aufbereitete Information und Kommunikation stehen müsse (d.h. muttersprachlich<br />
übersetzte und in den eigenen sozialen Milieus/Netzwerken der MigrantInnen durch<br />
MultiplikatorInnen/Schlüsselpersonen aus der Migrationscommunity mündlich übermittelt). Nur auf<br />
diesem Weg sei die Zielgruppe überhaupt zu erreichen, was der erste Schritt zur Partizipation<br />
bedeute. In einem zweiten Schritt müssten ältere MigantInnen über konkrete<br />
Partizipationsmöglichkeiten in ihrer Wohngemeinde informiert werden.<br />
Ebenfalls von allen wird die Meinung geteilt, dass der anfängliche Einbezug der zweiten Generation<br />
ein gutes Mittel/Instrument sei, um die ältere Generation zu erreichen und allenfalls für Partizipation zu<br />
gewinnen.<br />
Beide Fokusgruppen sind sich zudem einig, wie wichtig es sei, lokal, regional und auch überregional<br />
erprobte good practice Ansätze zu identifizieren und multiplizieren. Good practice bedeute<br />
Partizipation auf der Grundlage von ressourcenorientierten Ansätzen anzustreben. Voraussetzung<br />
dafür sei der Wille seitens der Institutionen und Organisationen im Altersbereich, ältere MigrantInnen<br />
und ihre Organisationen kennen zu lernen, sich für deren Lebenserfahrungen zu interessieren und<br />
regelmässigen Kontakt zu pflegen. Grosse Übereinstimmung findet sich in den konkreten<br />
Mitteln/Instrumenten zur Partizipationsförderung wie dem niederschwelligen Zurverfügungstellen von<br />
Infrastruktur, der finanziellen und administrativen Unterstützung von Aktivitäten und Projekten älterer<br />
MigrantInnen sowie der Anerkennung derselben, welche sich wiederum motivationsfördernd auf ihre<br />
weitere Partizipation auswirke.<br />
Als ein weiteres geeignetes Mittel der Partizipationsförderung sehen die beiden Fokusgruppen (ohne<br />
ältere MigrantInnen und Gemeinden) die Schulung älterer MigrantInnen als MultplikatorInnen, die in<br />
ihren eigenen Netzwerken Informationen über Möglichkeiten der Partizipation in den Gemeinden<br />
kommunizieren sollten.<br />
Dissens: MigrantInnen, Gemeinden, Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT<br />
Bezüglich des Einsatzes adressatengerechter Informationsinstrumente als ersten Schritt zur<br />
142
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ermöglichung von Partizipation herrscht eine unterschiedliche Einschätzung. Während die Gemeinden<br />
mehrheitlich bestätigen, bemüht zu sein, übersetzte und muttersprachlich über MultiplikatorInnen aus<br />
den Migrationscommunities vermittelte Kommunikation bzw. Einladung zur Partizipation zu leisten,<br />
berichten ältere MigrantInnen Gegenteiliges. So würden sie immer wieder schriftliche Informationen in<br />
deutscher Sprache erhalten, die sie nicht verstehen, und sich in der Folge auch nicht beteiligen. Oder<br />
aber sie berichten von zum Teil schlechten Erfahrungen, wenn sie z.B. selbst aktiv geworden und bei<br />
der Gemeinde für ein Anliegen vorgesprochen hätten. Oder, dass trotz guter Absicht bei der<br />
Organisation von gemeinsamen Veranstaltungen MigrantInnen und SchweizerInnen getrennt<br />
geblieben seien. Im Gegensatz zu den anderen Gruppen sehen die älteren MigrantInnen den<br />
Einbezug der zweiten Generation entweder als unnötig oder als etwas problematisch an. Die junge<br />
Generation sei voll integriert und interessiere sich nicht spezifisch für Partizipation, da viele ja über<br />
das Schweizer Bürgerrecht und damit über das politisches Partizipationsrecht verfügten. Im Übrigen<br />
seien sie einfach hilfsbereit bei Fragen der Elterngeneration, ohne sich darüber hinaus aber selber für<br />
diese erste Generation oder in deren Organisationsstrukturen zu engagieren.<br />
Die VertreterInnen der italienischen Migrationsorganisationen verweisen auch auf ihre Erfahrungen,<br />
dass sie teilweise zu Partizipationsprozessen eingeladen würden, dies aber zu einem Zeitpunkt, wo es<br />
nicht mehr um eine gemeinsame Mitbestimmung und Mitgestaltung gehe, sondern lediglich noch um<br />
die Teilnahme an einem ausgearbeiteten Projekt oder einer organisierten Veranstaltung.<br />
Interpretation: In der Tendenz weisen sich die VertreterInnen der Gemeinden bzw. ihre<br />
Altersinstitutionen/-organisationen und die älteren MigrantInnen bzw. ihre Organisationen die<br />
Verantwortung für die nicht gelingende Zielgruppenerreichung und Partizipation gegenseitig zu.<br />
Möglicherweise haben ältere MigrantInnen teilweise eine Abwehrhaltung entwickelt oder sind frustriert<br />
als Folge einer wiederkehrenden Erfahrung und somit eines mittlerweile tief sitzenden Lebensgefühls<br />
von „in dieser Gesellschaft trotz allem nicht dazu zu gehören“. In Kapitel 5.2.3 wurde zudem bereits<br />
darauf hingewiesen, dass es auch ein Recht gebe, nicht erreichbar zu sein und nicht zu partizipieren.<br />
Ältere MigrantInnen, die seit ihrer frühen Jugend ein mit Erwerbs- und Familienarbeit angefülltes<br />
Leben hatten, das nicht viel Freiraum für andere Aktivitäten liess, wollen allenfalls die mit der<br />
Pensionierung entstehende neue individuelle Freiheit vermehrt für sich selbst nutzen, und nicht einer<br />
erneuten gesellschaftlichen Verantwortung verpflichtet sein. Der heute aktuelle Diskurs über die<br />
Mittel/Instrumente zur Gewinnung der Partizipationsbereitschaft von schwer erreichbaren Zielgruppen<br />
- im Sinne einer Kooperation mit den Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens - und in<br />
diesem Fall der Altersarbeit und –politik, läuft immer wieder Gefahr, das Prinzip der Freiwilligkeit aus<br />
den Augen zu verlieren. Dieses ist jedoch die Voraussetzung, um die Chancen auf eine nachhaltigere<br />
Partizipation zu erhöhen.<br />
Es bestehen ausserdem erst im Ansatz Vorstellungen und Ideen über Mittel und Instrumente für<br />
Massnahmen zu Partizipationsmodellen oder –prozessen. Die Hinweise auf Schlüsselpersonen,<br />
MultipliaktorInnen und Erreichbarkeit stellen ja nur einzelne Bausteine dar, für die es zuerst eine<br />
übergeordnete Struktur im Sinne von Zielsetzungen, Modellen und konkreten Massnahmen zu<br />
erarbeiten gilt.<br />
143
5 – SCHRANKEN / HÜRDEN:<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Konsens: MigrantInnen, Fokusgruppe IT, Fokusgruppe CH, Gemeinden<br />
In deutlicher Übereinstimmung werden sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zwischen den<br />
älteren MigrantInnen und den Fachpersonen des Altersbereichs als Partizipationshürde bezeichnet.<br />
Die VertreterInnen der Fokusgruppe IT unterscheiden hier aber deutlich zwischen der rein<br />
fremdsprachlichen Hürde (Deutsch/Italienisch) zum einen und den Schwierigkeiten in Bezug auf das<br />
Verstehen einer Fachsprache und des dadurch erschwerten Zugangs zu den wenig bekannten<br />
Strukturen zum andern. Die Einschätzung, dass es sich bei älteren MigrantInnen um eine schwer<br />
erreichbare Zielgruppe handle, wird von beiden Fokusgruppen und den Gemeinden geteilt. Ebenfalls<br />
Konsens besteht in der Annahme, dass sich der Ausschluss der Migrationsbevölkerung von der<br />
politischen Mitbestimmung auf die Motivation der älteren Menschen für anderweitige gesellschaftliche<br />
Mitgestaltung negativ auswirke. Die VertreterInnen beider Fokusgruppen weisen auf einen<br />
niederschwelligen Zugang zu Partizipationsprozessen hin. Von den VertreterInnen der italienischen<br />
Migrantenorganisationen sowie den interviewten MigrantInnen werden im Gegensatz zu den<br />
VertreterInnen der schweizerischen Fokusgruppe neben der sprachlichen und finanziellen Schwelle<br />
keine weiteren konkreten Ausführungen dazu gemacht.<br />
Dissens: MigrantInnen<br />
Ältere MigrantInnen verfügen zum Thema „ihrer Erreichbarkeit“ über eine andere Perspektive. So<br />
sehen sie sich selber sehr wohl als erreichbar für Belange, die sie interessieren, weil sie für ihre<br />
alltägliche Lebenswelt von unmittelbarer Bedeutung sind (Gesundheit, Wohnen, Versorgung im Alter,<br />
Beziehung zur zweiten Generation etc.). Erreichbar sind sie ebenfalls für ihre familiären und eigenen<br />
sozialen Netzwerken, in denen sie Freiwilligenarbeit leisten, sei es in Form von Enkelbetreuung oder<br />
sozialer Aktivitäten in den eigenen Vereinen. Nicht zu unterschätzen ist dabei aber wohl der Anteil der<br />
älteren Migrationsbevölkerung, der – auch von den eigenen Migrationsorganisationen – für<br />
gemeinsame Teilnahme oder Teilhabe gar nicht erreicht werden will.<br />
Interpretation: Die Verantwortung für die sprachliche Verständigungsproblematik wird nicht nur den<br />
älteren MigrantInnen zugewiesen. Vielmehr ist ein gewisses Verständnis vorhanden, dass sie<br />
aufgrund ihrer Biografie als ArbeitsmigrantInnen im Alter oft über geringe oder mangelhafte<br />
Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen. Als wirksamer Hürdenabbau wird von den Institutionen<br />
und Organisationen im Altersbereich der Einsatz von mehrsprachigem Fachpersonal als institutionelle<br />
Ressource gesehen.<br />
Die VertreterInnen der Institutionen und Organisationen des Altersbereichs können die<br />
Enttäuschung/Verletztheit älterer MigrantInnen über ihren lebenslänglichen Ausschluss von den<br />
demokratischen Rechten verstehen und erklären sich daher auch deren Rückzug in Aktivitäten<br />
innerhalb der eigenen Community bzw. die eher distanzierte Haltung gegenüber<br />
Partizipationsangeboten der Mehrheitsgesellschaft vor diesem Hintergrund. Allerdings ist zu<br />
befürchten, dass die Höhe dieser Hürde, die unter den Begriffen ‚Desillusionierung„, ‚Unmut und<br />
Unverständnis über die Schweizer Haltung„ erklärt wurde, unterschätzt wird. Es wird nicht genügen,<br />
144
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
jetzt mit gutem Willen auf die ältere Migrationsbevölkerung zuzugehen und zu sagen „jetzt lassen wir<br />
Euch partizipieren“. Dazu wird ein entsprechendes Engagement für Überzeugungsarbeit gehören und<br />
der Beweis, dass die Partizipationseinladung ernst gemeint ist und nach den inhärenten Prinzipien<br />
(mitreden – mitentscheiden – mitgestalten) umgesetzt wird.<br />
Von den VertreterInnen der Fokusgruppe IT wurde auf eine mögliche Hürde hingewiesen, die sonst<br />
keine der anderen befragten Gruppen geäussert hat. Und zwar sei einerseits ein deutlicher politischer<br />
Wille auf Gemeindeebene notwendig, soll diese Form der Partizipation möglich und erfolgreich sein.<br />
Andererseits dürfe nicht unterschätzt werden, welche parteipolitische Ausrichtung eine Gemeinde<br />
vertrete, resp. wie das Kräfteverhältnis der Parteien in einer Gemeinde verteilt sei. Damit ist implizit<br />
gemeint, dass sich z.B. ein politisch rechts orientiertes Kräfteverhältnis ungünstig auf<br />
Partizipationsbestrebungen von MigrantInnen in einer Gemeinde auswirken würde.<br />
6 – ERWARTUNGEN / FORDERUNGEN / WÜNSCHE:<br />
Konsens: Fokusgruppe CH, Fokusgruppe IT, MigrantInnen<br />
Sowohl die älteren MigrantInnen als auch beide Fokusgruppen teilen die Erwartung, dass die<br />
Schweizer Institutionen die Initiative zum Abbau von Partizipationshürden ergreifen sollen, wenn es<br />
ihnen mit der Partizipation von MigrantInnen in der Gemeinde ernst sei. In diesem Sinne hätten sie<br />
eine Bring-Schuld bezüglich aufsuchender und niederschwelliger Ansätze zur Partizipationsgewinnung<br />
der Zielgruppe, mehr noch: die Schweizer Institutionen müssten die gewünschten<br />
Partizipationsprozesse mit konkreten Massnahmen anstossen.<br />
Konsens: Fokusgruppe CH, Gemeinden<br />
Sowohl die Fokusgruppe CH als auch die schriftlich befragten GemeindevertreterInnen sind sich<br />
bewusst, dass sich ältere MigrantInnen Anerkennung und Wertschätzung wünschen für ihre<br />
Leistungen für die Schweiz.<br />
Dissens: Fokusgruppe CH, MigrantInnen<br />
Zwar nicht als eigentlicher Dissens, aber als unterschiedliche Erwartungshaltung zeigt sich Folgendes:<br />
Die Fokusgruppe CH erwartet oder wünscht zumindest, dass ältere MigrantInnen an ihren Angeboten<br />
zur Partizipation teilnehmen. Zudem wünscht sie sich eine offenere Haltung der Schlüsselpersonen<br />
aus den Migrationscommunities, um auch Neues und Unkonventionelles auszuprobieren. Im Weiteren<br />
erwartet sie Verständnis dafür, dass nicht immer alle Forderungen oder Wünsche seitens der<br />
Migrationsorganisationen oder der MigrantInnen realpolitisch und rasch umgesetzt werden können.<br />
Und nicht zuletzt erwartet sie – trotz Verständnis bezüglich der Sprachhürde – dass ältere<br />
MigrantInnen Interesse für die deutsche Sprache und die Verbesserung ihrer Verständigungskompe-<br />
tenzen zeigen.<br />
Neben einer sonst auffallend bescheidenen Forderungshaltung, erwarten die älteren MigrantInnen<br />
wiederum von VertreterInnen der Schweizer Institutionen Lernbereitschaft und eine Haltungsände-<br />
rung. Sie wünschen sich mehr Offenheit für und weniger Angst vor Diversität sowie auf der<br />
Beziehungsebene mehr Kontakt und weniger Distanz.<br />
145
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Interpretation: Die Tatsache, dass die erste Einwanderungsgeneration der ItalienerInnen nach dem<br />
zweiten Weltkrieg von der Schweiz nur als Arbeitskräfte und nicht als gesellschaftliche MitbürgerInnen<br />
willkommen war, löst heute bei den VertreterInnen der Institutionen und Organisationen im<br />
Altersbereich eine gewisse Betroffenheit aus und beschäftigt sie zunehmend. So ist ein gewisses<br />
moralisches Bedürfnis nach „Wiedergutmachung“ festzustellen und in diesem Zusammenhang die<br />
Bereitschaft, Initiative zu ergreifen, um älteren MigrantInnen wenigsten im Alter gesellschaftliche<br />
Partizipation zu ermöglichen, in Haltung und Ausrichtung ihrer Tätigkeiten spürbar. Als Folge davon<br />
fällt es ihnen auf der andern Seite aber auch nicht leicht zu akzeptieren, wenn ältere MigrantInnen<br />
dieses verspätete und manchmal auch „fremdbestimmte Partizipationsangebot“ nicht annehmen. Ein<br />
gewisses Frustrationspotenzial könnte sich auch darin bemerkbar machen, dass die Schweizer<br />
VertreterInnen mit gutem Willen und konkreten Ideen auf die ältere Migrationsbevölkerung zugehen,<br />
dass diese aber weder darauf gewartet hat, noch damit gerechnet werden kann, dass solche<br />
Bestrebungen nun vorbehaltlos unterstützt werden.<br />
Bezüglich Forderungen und Erwartungen bei den VertreterInnen der italienischen<br />
Migrationsorganisationen fällt auf, dass ihr Fokus bei diesem Thema stark auf den Bedürfnissen der<br />
eigenen älteren Migrationsgemeinschaft liegt und der Wechsel zum Fokus für Forderungen und<br />
Erwartungen im Partizipationsdiskurs noch ungewohnt ist.<br />
7 – (HANDLUNGS) BEDARF:<br />
Konsens: Fokusgruppe IT, Fokusgruppe CH und Gemeinden<br />
Diese Gruppen sind sich bezüglich des Informations- und Kommunikationsbedarfs älterer<br />
MigrantInnen zu folgenden Fragen einig: Situation und Rechte nach der Pensionierung (auch<br />
aufenthaltsrechtliche Fragen), Altersversicherung (AHV, Pensionskasse, EL), Gesundheits- bzw.<br />
Altersversorgung, im Speziellen stationäre und ambulante Dienstleistungen im Falle von<br />
Pflegebedürftigkeit. Das bedeutet auf der anderen Seite konkreten Handlungsbedarf der ambulanten<br />
und stationären Dienstleister sowie der Gemeindebehörden, die überlegen müssen, wie sie diese<br />
Informationen an die Zielgruppe bringen und sie dadurch auch partizipationsfähig machen (z.B. durch<br />
den aktiven Einbezug bei der Entwicklung neuer Modelle der Altersbetreuung und –pflege, durch den<br />
aktiven Einbezug bei der Organisation von Anlässen zu Pensionierungsfragen in den Gemeinden<br />
etc.).<br />
Dissens: MigrantInnen/ Gemeinden, Fokusgruppe CH<br />
Die älteren MigrantInnen orten keinen spezifischen Handlungsbedarf, weil für sie das Thema der<br />
Partizipation im Sinne aktiver Bürgerschaft neu und daher in seiner genauen Bedeutung schwer<br />
verständlich ist. Handlungsbedarf machen sie hingegen deutlich geltend beim Erhalt politischer<br />
Rechte auf Lokalebene für eine direkte demokratische Partizipation. Zum Thema Altersversorgung<br />
und Gesundheit im Alter sehen sie implizit Informationsbedarf.<br />
Die Gemeinden (Ergebnis aus der telefonischen Nachfassung) sowie die Fokusgruppe CH teilen<br />
aufgrund ihrer gemeinsamen Perspektive die Ansicht, dass die Kenntnisse über die demografischen<br />
146
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Verhältnisse bezüglich älterer MigrantInnen in den Gemeinden verbessert werden müssten, damit<br />
Partizipationsbedürfnisse im lokalen Kontext zielgruppenspezifisch erhoben werden könnten.<br />
Idealerweise möchten sie auf einen Adresspool von MigrantInnen als Schlüsselpersonen /<br />
MultiplikatorInnen und interkulturelle VermittlerInnen zurückgreifen können.<br />
Im Weiteren machen die Fokusgruppe CH sowie die Gemeinden (aus der telefonischen Nachfassung)<br />
einen Eigenbedarf an Weiterbildung zu Fragen älterer MigrantInnen geltend, da sie sich häufig in<br />
ihrem eigenen Handeln gegenüber dieser Zielgruppe unsicher fühlten.<br />
Interpretation: Der Wunsch nach einem Pool von MultiplikatorInnen / Schlüsselpersonen oder<br />
interkulturellen VermittlerInnen aus den Migrationscommunities bestätigt die Kritik aus der<br />
Forschungsliteratur (vgl. Kapitel 2) an der Praxis der Schweizer Behörden und Institutionen, auf<br />
MigrantInnen weniger als gleichberechtigte PartnerInnen direkt zuzugehen, sondern diese vielmehr<br />
über den Einbezug dieser Mittelspersonen für die eigenen Zwecke der Informationsvermittlung oder<br />
der Umsetzung eigener Ziele zu brauchen. Auf der andern Seite sind sich Behörden und Institutionen<br />
zunehmend ihrer Abhängigkeit von genau diesen Vermittlungspersonen bewusst, was sich hinderlich<br />
auswirken kann, wenn sie ihrem Auftrag, die Migrationsbevölkerung im Sinne von Partizipation zu<br />
integrieren, nachkommen wollen.<br />
Die Tatsache, dass die älteren MigrantInnen selbst keinen Handlungsbedarf sehen, ist dem Umstand<br />
geschuldet, dass sie durch ihre <strong>Integration</strong>serfahrungen gelernt haben, sich auf sich selbst zu<br />
verlassen und ihre Bedürfnisse und den Bedarf nach Informationen und Dienstleistungen mit und<br />
durch ihre eigenen Netzwerke zu decken. Wo kein Handlungsbedarf gesehen wird, muss von der<br />
„fordernden“ Partei zuerst ein Verständnis und eine Einsicht für einen möglichen Bedarf geschaffen<br />
werden, bevor ein Beitrag im Sinne von Partizipationsinteresse überhaupt erwartet werden kann.<br />
8 – BEREICHE DER PARTIZIPATION:<br />
Konsens: Gemeinden, MigrantInnen<br />
Der Gesundheitsbereich (Gesundheitsthemen, Gesundheitsförderung, Prävention) wird sowohl von<br />
GemeindevertreterInnen als auch von den älteren MigrantInnen als wichtiges Partizipationsfeld<br />
bezeichnet. Hier ist deutlich ein gemeinsames thematisches Interesse festzustellen.<br />
Dissens:<br />
Es kann hier nicht von einem eigentlichen Dissens gesprochen werden, sondern eher von unter-<br />
schiedlichen Gewichtungen. So priorisieren MigrantInnen wiederum die politische Mitbestimmung<br />
(Stimm- und Wahlrecht), gefolgt vom Mitwirken bei der Angebotsgestaltung auf Gemeindeebene, bei<br />
der Beratung/Begleitung in Altersfragen sowie bei der Quartiergestaltung, während die VertreterInnen<br />
der Gemeinden zwar einerseits sagen, Partizipation der Zielgruppe sei in sämtlichen Bereichen des<br />
Gemeindelebens erwünscht, um dann jedoch vor allem die Freiwilligenarbeit, die Bildung, Kultur sowie<br />
die thematische politische Mitwirkung in den Bereichen Altersfragen, Quartiergestaltung, Wohnen und<br />
Verkehr zu gewichten. Zudem geben die befragten Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten an,<br />
147
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
dass ihre Gemeinden in diesen Bereichen die Partizipation älterer MigrantInnen bereits am ehesten<br />
ermöglichen.<br />
Interpretation: Unabhängig vom aktuellen öffentlichen Diskurs über die Wichtigkeit von<br />
Gesundheitsförderung zwecks Optimierung der eigenen Gesundheitskompetenz im Alter, beschäftigt<br />
sich auch die Zielgruppe der älteren MigrantInnen mit dieser Thematik. Nicht zuletzt, weil das Alter<br />
eben auch Einschränkungen und Gesundheitsrisiken mit sich bringt. Dies zeigt sich im prioritären<br />
Konsens zwischen Gemeinden und MigrantInnen zu „Gesundheit“ als wichtigem Partizipationsfeld.<br />
Bezüglich der anderen Partizipationsfelder – mit Ausnahme der Freiwilligenarbeit, über die auch<br />
weitgehend Konsens herrscht – scheint in zweifacher Hinsicht ein Graben zu bestehen: Zum einen<br />
zwischen der geltend gemachten Wünschbarkeit und der realen Umsetzung von Partizipation. Die<br />
Kluft bei der Einschätzung von Wünschbarkeit und Umsetzung eröffnet einen breiten Interpre-<br />
tationsspielraum: Partizipation ist vor allem ein Diskursthema, bedeutet aber nicht zugleich Umsetzung<br />
in die Praxis, der „gute Wille“ ist gegeben, aber die finanziellen und personellen Ressourcen sowie<br />
das fachlich-methodische Know-How fehlen, die Hürden/Schranken zur Umsetzung der gewünschten<br />
Partizipation sind hoch, etc.. Zum andern besteht ein Dissens zwischen den Wahrnehmungen der<br />
älteren MigrantInnen und der schriftlich befragten GemeindevertreterInnen. Während sich die ältere<br />
Migrationsbevölkerung beispielsweise im politischen Partizipationsfeld deutlich ausgeschlossen fühlt,<br />
gibt zwar nicht die Mehrheit, aber immerhin kein unwesentlicher Teil der Altersbeauftragten und<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten an (vgl. Kapitel 5.2.1), ihre Gemeinden würden älteren MigrantInnen u.a.<br />
gerade auch in diesem Feld Partizipation ermöglichen. Zugrunde liegt dieser diskrepanten<br />
Wahrnehmung vermutlich eine unterschiedliche Definition von „Ermöglichung der Partizipation“.<br />
Während ältere MigrantInnen darunter die aktive Initiative sowie gezielte Bemühungen seitens der<br />
Schweizer Institutionen und Organisationen verstehen, scheinen die letzteren – dies geht auch aus<br />
der telefonischen Nachbefragung hervor – „Ermöglichung“ gleichzusetzen mit „keinem aktiven<br />
Ausschluss“. Das heisst, sie gehen davon aus, dass älteren MigrantInnen im Prinzip der Zugang zu<br />
den Regelstrukturen offen stehe und sie selber aktiv davon Gebrauch machen könnten, wenn sie<br />
wollten.<br />
Bei den VertreterInnen der Fokusgruppe IT kristallisiert sich keine klare Haltung bezüglich<br />
Partizipationsbereichen heraus, dafür umso deutlicher die Bereitschaft, sich grundsätzlich als aktive<br />
BürgerInnen zu engagieren. Die Idee des Konzepts der aktiven Bürgerschaft scheint bei den<br />
VertreterInnen der MigrantInnenorgansiationen konkrete Erwartungen zu wecken.<br />
Zusammenfassende generelle Interpretation von Konsens und Dissens<br />
� Zwischen den VertreterInnen aus der Fokusgruppe der italienischen MigrantInnenorganisationen<br />
und den interviewten älteren MigrantInnen zeigen sich Unterschiede nach Bildung und<br />
Berufsstand, die sich auf ihre Meinungsbildung bzw. ihre konkreten Aussagen auswirken dürften.<br />
(Bsp. Abstraktionsvermögen im Verständnis und in der Verwendung von Begriffen;<br />
Gesprächskompetenz in Interviewsituationen; Fähigkeit, eigene Wahrnehmung in grössere<br />
Zusammenhänge zu stellen und zu interpretieren; Erfahrung, sich im Rahmen einer Zielsetzung für<br />
eine Gruppe einzubringen etc.)<br />
148
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
� Zwischen den Teilnehmenden beider Fokusgruppen zeigt sich zwar in mancher Hinsicht ein<br />
sachbezogener Konsens. Bei beiden sind jedoch Prozesse der Selbst- und Fremdethnisierung zu<br />
beobachten, sobald sie die Haltungs- und Beziehungsebene transkultureller Partizipation<br />
ansprechen. In diesem Rahmen weisen sich beide Gruppen selbst und gegenseitig sogenannte<br />
kulturelle Gruppenmerkmale zu, die sie als Erklärung für die Schwierigkeiten einer transkulturellen<br />
Partizipation herbeiziehen. Dabei besteht das Risiko, dass die von den VertreterInnen der<br />
Institutionen und Organisationen aus dem Altersbereich durchaus selbstkritisch thematisierten<br />
strukturellen Partizipationshürden als ursächliche Faktoren für mangende Chancengleichheit von<br />
älteren MigrantInnen wieder aus dem Blick geraten.<br />
� Auffallend ist, dass die VertreterInnen von MigrantInnenorganisationen eher auf einer operativen<br />
Ebene konkrete Mittel und Instrumente zur Partizipationsförderung vorschlagen – im Sinne von<br />
Erwartungen an „die Schweiz“ – so etwa finanzielle Mittel zur Förderung der Vereinsaktivitäten<br />
älterer MigrantInnen, zur Verfügungstellen von Infrastruktur, auch eines eigenen Treffpunkts,<br />
finanzielle und ideelle Unterstützung von Initiativen älterer MigrantInnen, die Organisation<br />
unentgeltlicher oder günstiger altersgerechter und alltagsbezogener Deutschkurse etc.. Dieser<br />
Fokus auf der operativen Ebene ist nachvollziehbar, weil für die VertreterInnen der<br />
MigrantInnenorganisationen einerseits Partizipation im Sinne aktiver Bürgerschaft ein neues<br />
Konstrukt darstellt, und weil andererseits ihr Hauptfokus aufgrund ihrer Funktion auf den<br />
Bedürfnissen der eigenen Bevölkerungsgruppe liegt.<br />
Demgegenüber schlagen die VertreterInnen der Gemeinden und ihrer Altersinstitutionen und –<br />
organisationen (vor allem aus der Fokusgruppe CH und der tel. Nachbefragten) eher Massnahmen<br />
auf einer politisch-strategischen sowie symbolischen Ebene vor (Strategien und Leitbilder sowie<br />
deren konsequente Umsetzung, Diversity-Management und Mainstreaming von Migrationsfragen,<br />
Lancierung eines politischen Partizipationsdiskurses auf Gemeindeebene und Kultivierung einer<br />
Politik der Anerkennung von Vielfalt, etc.).<br />
� Übereinstimmende Vorschläge werden auf der Bewusstseins- und der Handlungsebene gemacht.<br />
So sind beide der Ansicht, dass es einen Perspektivenwechsel brauche und ältere MigrantInnen<br />
als Subjekte statt Objekte der Altersarbeit und –politik zu beteiligen seien. Zudem benötige es eine<br />
gegenseitige Offenheit für und Akzeptanz von unterschiedlichen Sicht- und Handlungsweisen in<br />
Partizipationsprozessen. Dabei ist zu beobachten, dass die VertreterInnen der Gemeinden<br />
(Fokusgrupp CH und befragte Fachpersonen aus dem Altersbereich) tendenziell selbstkritischer<br />
sind als die MigrantInnen und ihre Organisationen. Letztere lassen aufgrund ihrer Geschichte der<br />
„Nichtanerkennung als BürgerInnen der Schweiz und der Verweigerung von politischen Rechten“<br />
sowie des dadurch erlebten Ausgeschlossenseins einen impliziten Vorwurf erkennen, der auch als<br />
moralischer Anspruch auf gewisse „Nachhol- bzw. Kompensationsleistungen im Alter“ verstanden<br />
werden könnte. („Wir haben so viel gegeben und wurden doch immer schlecht behandelt (…) Wir<br />
haben hier viel geleistet, ohne dafür Anerkennung als gleichberechtigte BürgerInnen zu erhalten.“)<br />
� Interessant ist zudem ein gewisser Dissens in der Einschätzung von bereits existierenden<br />
Partizipationsmöglichkeiten für ältere MigrantInnen. Während die VertreterInnen der Schweizer<br />
149
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Institutionen – nebst einer selbstkritischen Haltung – auch die Meinung vertreten, dass ältere<br />
MigrantInnen aufgrund der bestehenden Angebote sehr wohl die Möglichkeit zur Partizipation<br />
hätten, wenn sie nur wollten, fühlen sich die älteren MigrantInnen ihrerseits nach wie vor häufig<br />
nicht eingeladen bzw. nicht wirklich angesprochen. Hier zeigt sich einmal mehr ein Wechsel der<br />
Ebenen im Verständnis von Partizipation bei den Schweizer VertreterInnen: Die bisherigen<br />
Partizipationsmöglichkeiten zielten tendenziell auf eine (konsumierende) Teilnahme bei Angeboten<br />
oder bei bereits konzipierten und entschiedenen Partizipationsaktivitäten ab. Von einer<br />
Partizipation mit Mitsprache-, Mitentscheidungs- und Mitgestaltungsrecht kann in der Regel nicht<br />
gesprochen werden.<br />
Diese unterschiedliche Wahrnehmung der aktuellen Partizipationsverhältnisse in den Gemeinden<br />
beinhaltet ein gewisses Konfliktpotenzial. So war vor allem in der CH Fokusgruppe und in den<br />
Telefoninterviews mit den Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten spürbar, dass sich diese<br />
in ihrem professionellen Engagement, ältere MigrantInnen auch mit kreativen Mitteln zu erreichen<br />
und ihre Partizipation zu ermöglichen, von der Zielgruppe häufig nicht anerkannt fühlen (im Sinne:<br />
„Wir geben uns doch so Mühe und sie partizipieren trotzdem nicht.“).<br />
Die älteren MigrantInnen ihrerseits verfügen vor dem Hintergrund ihres jahrzehntelangen<br />
gesellschaftlichen Ausschlusses von Mitbestimmung über eine erhöhte Sensibilität in diesem<br />
Bereich und erleben die Bemühungen seitens behördlicher Stellen teilweise nach wie vor als<br />
ungenügend oder sie fühlen sich nicht wirklich angesprochen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die<br />
Wirkung einer unbewusst erfolgten Konditionierung der Migrationsbevölkerung (wir dürfen nicht<br />
partizipieren, wir sind nicht gefragt). Es benötigt viel Geduld und stetes Engagement, ein einmal<br />
sozial-kognitiv Erlerntes aufzulösen und durch neue Lernprozesse zu ersetzen (Berger und<br />
Luckmann, 1969). Dazu gehört auch, konstruktiv mit dem Verdacht umzugehen, dieses<br />
Partizipationsangebot sei lediglich eine Alibiübung, weil man nach wie vor nicht bereit sei, den<br />
langjährig hier ansässigen MigrantInnen das Bürgerrecht zuzugestehen.<br />
� Ob das Konzept der gesellschaftlichen Mitverantwortung (vgl. Kruse, 2010) für sozioökonomisch<br />
und gesundheitlich benachteiligte Bevölkerungsgruppen, darunter beispielsweise ältere<br />
MigrantInnen, dieselbe Gültigkeit hat wie für die Generation der aktiven, gesunden und<br />
wohlhabenden SeniorInnen in der Schweiz, die nach der Pensionierung über ein<br />
bürgerschaftliches Engagement (vgl. Kricheldorff, 2008) weiterhin einen Dienst an der Gesellschaft<br />
leisten wollen, der zudem auch ihre individuelle Sinnfindung im Alter unterstützt, ist fraglich.<br />
Entsprechende Zurückhaltung und Akzeptanz sind somit geboten, wenn ältere MigrantInnen sich<br />
nach ihrer Pensionierung nicht freiwillig für gesellschaftliche Aufgaben engagieren möchten. Zum<br />
einen haben sie mit ihrer häufig die Gesundheit stark belastenden Arbeit während Jahrzehnten<br />
bereits zum gesellschaftlichen Wohlstand der Schweiz beigetragen und verfügen mit der<br />
Pensionierung erstmals in ihrem Leben über etwas mehr „private Zeit“. Zum andern hiesse dies<br />
auch, weiterhin für eine Gesellschaft Aufgaben zu übernehmen, die sie über eine weite Spanne<br />
ihres Lebens nicht als MitbürgerInnen anerkannt hat.<br />
Für diejenigen älteren MigrantInnen – und das scheinen gemäss der durchgeführten Interviews<br />
sowie der Aussagen der Fokusgruppe IT nicht wenige zu sein – die sich trotzdem gerne in der<br />
150
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Freiwilligentätigkeit einbringen oder engagieren möchten, müssen daher möglicherweise andere<br />
Kriterien in Abgrenzung zum oben genannten Konzept der gesellschaftlichen Mitverantwortung<br />
herangezogen werden. Die Haltung „der Schweiz“ „Wenn wir euch Partizipation bieten, tragt ihr<br />
damit auch eine gesellschaftliche Mitverantwortung.“ „Dass ihr keine Rechte habt und trotz eurer<br />
Leistung für die Schweiz im Alter benachteiligt seid, lassen wir dabei ausser Acht.“ schafft auf der<br />
Gegenseite verständlicherweise wenig Verständnis und Akzeptanz.<br />
6. Diskussion<br />
6.1 Einleitung<br />
In diesem Kapitel werden aufgrund der Ergebnisse der empirischen Datenerhebung in Kapitel 5 und<br />
der Gegenüberstellung der entsprechenden Perspektiven der verschiedenen Akteure zum Thema<br />
Partizipation (Kapitel 5.4) Schlussfolgerungen gezogen und mit Rückbezug auf die Kapitel 2<br />
Theoretischer Hintergrund (inkl. Forschungsliteratur) und Kapitel 3 Fragestellung (inkl.<br />
Forschungsannahmen) kritisch diskutiert (Kapitel 6.2). Ausgehend von diesen Schlussfolgerungen<br />
werden in Kapitel 6.3 Massnahmen für <strong>MIGRALTO</strong>, das partizipative Modell für die aktive<br />
Bürgerschaft älterer MigrantInnen entwickelt und definiert. Dabei werden in einem ersten Schritt<br />
(Kapitel 6.3.1) Grundbedingungen in Form einer Handlungsanleitung (Teil 1) dargelegt, um in einem<br />
zweiten Schritt (Kapitel 6.3.2) die konkreten Massnahmen innerhalb der verschiedenen Modell-<br />
Komponenten auszuführen (Teil 2). Anschliessend werden erste Vorstellungen skizziert für den<br />
Einsatz des Modells <strong>MIGRALTO</strong> in der Praxis und seine Weiterentwicklung (Kapitel 6.4). Mit einer<br />
Reflexion des Arbeitsprozesses zur Entstehung der vorliegenden Masterarbeit mit Fokus auf mögliche<br />
Kritikpunkte, schliessen die Autorinnen die vorliegende Masterarbeit ab (Kapitel 6.5).<br />
6.2 Schlussfolgerungen (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
Ausgehend von den Ergebnissen aus dem Vergleich der in Kapitel 5.4 einander gegenübergestellten<br />
Perspektiven werden in diesem Kapitel Schlussfolgerungen für vier Bereiche abgeleitet. Dabei lassen<br />
sich die Autorinnen von der Frage leiten, welche Bedeutung die Ergebnisse für diese jeweiligen<br />
Bereiche haben.<br />
a. Politik<br />
b. Abgrenzung zu anderen Projekten und Modellen mit partizipativem Vogehen<br />
c. Umsetzung von Partizipation unter Berücksichtigung sämtlicher AkteurInnen<br />
(GemeindevertreterInnen, Nichtstaatliche Organisationen im Altersbereich,<br />
MigrantInnenorganisationen und ältere MigrantInnen als Teil der Zivilgesellschaft)<br />
d. Vergleich Erhebungsergebnisse mit Forschungsliteratur (Kapitel 2) und<br />
Forschungsannahmen (Kapitel 3) dieser Masterarbeit<br />
151
a. Politik<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
� Die Politik muss sich als erstes bewusst machen, dass der politische und gesellschaftliche<br />
Ausschluss, den die hier interessierende erste Einwanderungsgeneration nach dem zweiten<br />
Weltkrieg in der Schweiz erfahren hat, bei dieser eine nachhaltige Verletzung hinterlassen hat. Das<br />
scheint sich auch in ihrem Alter negativ auf ihre Partizipationsbereitschaft in der<br />
Mehrheitsgesellschaft ausgewirkt und den Rückzug in ihre eigenen sozialen Netzwerke gefördert<br />
zu haben. Die Politik muss sich somit die Frage stellen, mit welchen Mitteln sie im Sinne einer<br />
Kompensationsleistung oder „Wiedergutmachung“, MigrantInnen wenigsten im Alter als wichtige<br />
Gruppe politischer und insbesondere alterspolitischer Bemühungen explizit berücksichtigt und ihre<br />
Situation zu verbessern sucht.<br />
� Die Politik und deren AkteurInnen müssen sich bewusst sein, dass die auf ihrem Gemeindeterrito-<br />
rium angesiedelte Wohnbevölkerung vielfältig ist. Die nationale Herkunft ist eines der Merkmale<br />
dieser Vielfalt, die es mit einer entsprechenden Politik anzuerkennen gilt. Aufgabe der Politik ist es,<br />
das Bewusstsein für eine plurale Gesellschaft in der Bevölkerung zu wecken und die Sensibilität<br />
dafür, dass nicht alle Menschen dieselben Chancen haben. Daraus leitet sie die Notwendigkeit ab,<br />
konkret zu zeigen, dass sie durch den Abbau von strukturellen <strong>Integration</strong>s- bzw.<br />
Partizipationshindernissen Chancengleichheit in der gesellschaftlichen Teilhabe für alle<br />
GemeindeeinwohnerInnen - unabhängig von ihrer Herkunft - schaffen will. Damit soll der<br />
Bevölkerung erklärt werden, dass die Gemeinde von einem egalitären Gemeinschaftsverständnis<br />
ausgeht.<br />
� Ausgehend von einem demokratischen Gesellschaftsbegriff muss das politische Ziel die Förderung<br />
der gesellschaftlichen Beteiligung aller EinwohnerInnen an der Gestaltung des Gemeindelebens<br />
sein, wo immer sich diese davon betroffen sehen. Die Politik hat die Aufgabe,<br />
Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Partizipation in diesem Sinne möglich machen. Dabei<br />
hat sie insbesondere die aufgrund sozioökonomischer Fakten benachteiligten Menschen und<br />
Bevölkerungsgruppen im Blick zu behalten.<br />
� Bezogen auf die Zielgruppe dieser Masterarbeit, die „älteren MigrantInnen“, bedeutet das:<br />
� Die Politik muss ältere MigrantInnen – auch wenn diese über keine politischen Bürgerrechte<br />
verfügen - sowohl als AkteurInnen als auch als Zielgruppe ihrer Strategie und ihres Handelns<br />
verstehen.<br />
� Die Politik muss sich mögliche Mittel zur Umsetzung von Partizipationsrechten für diese<br />
Zielgruppe überlegen und dadurch bestehende Hürden abbauen: z.B. Verleihung des lokalen<br />
Stimm- und Wahlrechts, automatische oder erleichterte Einbürgerung ab Pensionierung etc.<br />
(vgl. dazu mögliche Massnahmen in Kapitel 6.3).<br />
� Die Politik sollte sich überlegen, ob sie im Sinne des Konzepts der „aktiven Bürgerschaft“<br />
(Citoyenneté) die Prinzipien der „Territorial- und Betroffenendemokratie“ zum Ausgangspunkt<br />
152
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
ihrer Überlegungen für die Rahmenbedingungen der Partizipation dieser Zielgruppe machen<br />
will.<br />
� Die Politik muss sich einem konsequenten Diskurs sowie einer entsprechenden Haltung zur<br />
Partizipationsförderung älterer MigrantInnen verschreiben. Das bedeutet, dass sie von den<br />
zuständigen AkteurInnen (vgl. Pt. c) fordert, die drei Prinzipien der aktiven Bürgerschaft<br />
„Mitsprechen, Mitwirken, Mitentscheiden“ in allen Bereichen ihrer Gemeinde aktiv umzusetzen.<br />
� Insbesondere hat sich die Politik damit auseinanderzusetzen, wie in ihrer Gemeinde eine<br />
diversitätsgerechte Alterspolitik und –arbeit lanciert, umgesetzt und evaluiert werden kann, in<br />
der MigrantInnen gleichberechtigt partizipieren. Dabei muss sie insbesondere berücksichtigen,<br />
dass sie, um das Interesse und die Mitwirkung dieser Zielgruppe zu erreichen, spezifische<br />
Bemühungen zu unternehmen und allenfalls hierfür konkrete Anreize zu schaffen hat.<br />
� Im Weiteren benötigt es seitens der Politik die nötige Sensibilität dafür, dass politische<br />
Zielvorgaben, die in Strategien, Leitbildern, etc. ihren Ausdruck finden, zwar entscheidende<br />
Rahmenbedingungen sind, dass es aber ebenfalls Aufgabe der Politik ist, für eine konsequente<br />
Umsetzung derselben in die Praxis besorgt zu sein.<br />
b. Abgrenzung zu anderen Projekten und Modellen mit partizipativem Vorgehen<br />
Nicht ganz unbegründet stellt sich hier die Frage, wozu es ein spezielles Modell für Partizipation von<br />
älteren MigrantInnen braucht. Letzteres, also warum speziell für ältere MigrantInnen wird in Kapitel 6.4<br />
erörtert werden. An dieser Stelle soll auf den ersten Teil der Frage, also wozu es ein spezielles Modell<br />
für Partizipation braucht, eingegangen werden.<br />
In der aktuellen Literatur findet man heute sehr oft die Forderung, dass Projekte und Massnahmen<br />
partizipativ gestaltet und umgesetzt werden müssten. Als Beispiel sei hier auf das Teilprojekt „Schwer<br />
erreichbare und benachteiligte Zielgruppen“ (Soom Ammann & Salis Gross, 2011) hingewiesen. Darin<br />
wird unter anderem der partizipative Ansatz für die Vorgehensweise und die Umsetzung von<br />
Massnahmen in der Präventionsarbeit im Bereich Gesundheit beschrieben. „Um Massnahmen nicht<br />
nur bedarfs-, sondern auch bedürfnisgerecht zu konzipieren, braucht es vertieftes Wissen über die<br />
Lebenswelten und über die Sinn- und Handlungssysteme der anvisierten Zielgruppen. Dazu muss auf<br />
die Sichtweisen und Meinungen der Zielgruppe selber zurückgegriffen werden. Dies erfordert<br />
partizipative Vorgehensweisen, d.h. den Einbezug von Mitgliedern der Zielgruppe oder von deren<br />
Vertreter/innen in die Projektplanung und Umsetzung.“, Soom Ammann & Salis Gross, 2011<br />
(Checkliste, Seite 2).<br />
Vereinfacht könnte man sagen, dass hier der partizipative Ansatz – im positiven Sinne – Mittel zum<br />
Zweck ist. Bei der Bedürfniserhebung und der Angebotsgestaltung soll die betroffene Zielgruppe<br />
partizipativ eingebunden werden. Es wird also von einer Partei (ein/e AnbieterIn, eine Institution, etc.)<br />
ein Thema und Projekt initiiert, bei deren Ausgestaltung sozusagen eine korrigierende und<br />
ergänzende Mitsprachemöglichkeit durch die MigrantInnen gegeben ist. Diese themenspezifische<br />
Beteiligung am Projekt wird damit zu einer „reaktiven“ Funktion der partizipativen Vorgehensweise.<br />
153
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Was unterscheidet nun diesen oben beschriebenen partizipativen Ansatz von der Partizipation wie sie<br />
in der vorliegenden Arbeit definiert ist? Das Modell <strong>MIGRALTO</strong> geht hier gewollt von einem Fokus<br />
aus, bei dem die Partizipation der älteren MigrantInnen selbst der Zweck ist. Es wird also nicht von<br />
einem spezifischen Thema oder Projekt ausgegangen, sondern es wird gefragt, wie Partizipation im<br />
Sinne der aktiven Bürgerschaft gestaltet sein muss und gelingen kann. Am Anfang steht somit der<br />
Einbezug der Betroffenen, um Partizipation zu bewirken, zu fördern und zu gestalten. Erst in der Folge<br />
fragt das Modell danach, was innerhalb des Partizipationsprozesses an möglichen Themen<br />
angegangen oder an möglichen Bedürfnissen bearbeitet werden soll. Die Auswahl von Themen und<br />
Projekten ist also Teil des Aushandlungsprozesses, der als Grundlage für Partizipation gilt und der die<br />
betroffenen Zielgruppen vorab als MitentscheidungsträgerInnen an den Tisch holt und danach festlegt,<br />
wo, wie und in Bezug auf welche Themen Partizipation stattfinden wird. Auch das Ziel bei <strong>MIGRALTO</strong><br />
ist nicht in erster Linie das erfolgreiche Umsetzen einer Massnahme oder eines Projektes, sondern die<br />
erfolgreiche Partizipation älterer MigrantInnen im lokalen Kontext. Das Erreichen eines weiteren Zieles<br />
im Sinne einer erfolgreichen Umsetzung von Massnahmen, Aktivitäten oder Projekten ist dabei ein<br />
erwünschter Folgeeffekt.<br />
c. Umsetzung von Partizipation<br />
Bei der Umsetzung von Partizipation ist immer zweierlei zu bedenken. Zum ersten müssen für eine<br />
gelingende Partizipation entsprechende politische Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen (vgl.<br />
dazu Punkt a). Zum zweiten braucht es das Bewusstsein, dass es sich bei „älteren MigrantInnen“ aus<br />
all den erwähnten Gründen mehrheitlich um eine schwer erreichbare Zielgruppe handelt. Das<br />
verlangt, nebst der Berücksichtigung grundsätzlicher Prinzipien der Partizipation, teilweise auch nach<br />
einem spezifischen Vorgehen (vgl. dazu auch Soom Ammann & Salis Gross 2011, Pro Senectute,<br />
2010 sowie Bisegger & Hungerbühler, 2008). Die Ergebnisse aus Kapitel 5 weisen darauf hin, dass für<br />
die Implementierung von Partizipationsvorhaben mit älteren MigrantInnen folgende Aspekte relevant<br />
sind:<br />
� Die Initiative und das Interesse für gemeinsame Partizipationsvorhaben haben von der<br />
Gemeinde und ihren VertreterInnen auszugehen. Gleichzeitig benötigt es seitens der älteren<br />
MigrantInnen auch eine gewisse Offenheit sowie die Bereitschaft, Misstrauen und eine<br />
aufgrund negativer Erfahrungen in der Schweiz erworbene „Abwehrhaltung“ gegenüber<br />
Partizipationsangeboten zu überwinden. Die Gemeinde ihrerseits soll aktiv kommunizieren,<br />
dass Partizipationsinitiativen seitens der älteren MigrantInnen und ihrer Organisationen<br />
explizit erwünscht sind, unterstützt und gefördert werden. Zu diesem Zweck ist seitens der<br />
Gemeinde eine Anlaufstelle/Ansprechperson (möglichst mit Migrationshintergrund) zu<br />
bezeichnen und ältere MigrantInnen und ihre Organisationen sind gezielt darüber zu<br />
informieren, wie sie eine Partizipationsinitiative an die Gemeinde herantragen können<br />
(Empowerment).<br />
154
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
� Kenntnisse über die soziodemografischen Verhältnisse sowie die Lebensbedingungen der<br />
älteren Migrationsbevölkerung in der Gemeinde: Um einen Partizipationsprozess erfolgreich in<br />
die Wege zu leiten, benötigt es zunächst ein differenzierteres Wissen über den<br />
Partizipationspartner. Wer sind die älteren MigrantInnen? Welche Gruppen gibt es nach<br />
Migrationsmotiv, nationaler Herkunft, Schichtzugehörigkeit, Bildung, Geschlecht? Wie<br />
gestalten sie ihr Leben im Alter? Haben sie sich in eigenen Strukturen und Netzwerken<br />
organisiert? Kennen wir diese und ihre Aktivitäten? etc.<br />
� Kritische Reflexion zur Zielgruppendefinition „ältere MigrantInnen“: In der Regel – das haben<br />
auch die Befragungsergebnisse gezeigt – besteht seitens schweizerischer Institutionen und<br />
Fachpersonen der Alterspolitik und –arbeit die Tendenz, „MigrantInnen“ in ethnische<br />
Zielgruppen zu unterteilen, die sie als in sich homogen wahrnehmen. Aus dieser Perspektive<br />
erfolgt dann meist auch die Zusammenarbeit mit MigrantInnen nach ethnischen Kriterien und<br />
derselbe ethnische Hintergrund wird unhinterfragt als das dominante Kriterium für<br />
Repräsentativität herangezogen. (Bsp. ein Italiener steht stellvertretend für „die Italiener“, eine<br />
Tamilin vertritt „die Tamilinnen“, ein Bosnier repräsentiert „die BosnierInnen“etc.) Bei der Wahl<br />
von Einzelpersonen sowie Gruppen von MigrantInnen, die aktiv an Partizipationsprozessen zu<br />
beteiligen sind, ist gleich zu Beginn die kritische Frage nach der Repräsentativität zu stellen.<br />
Es ist auf die innerethnische Heterogenität von MigrantInnengruppen nach Geschlecht,<br />
Bildung, Schichtzugehörigkeit, religiöser oder politischer Überzeugung, etc. zu achten, welche<br />
gleichwertige Repräsentativitätskriterien bilden. Das heisst auch, dass nicht einfach eine<br />
gemeinsame Betroffenheit aufgrund ethnischer Gruppenzugehörigkeit angenommen werden<br />
kann, sondern dass vielmehr bei der „gemeinsamen Themenbetroffenheit als Menschen in der<br />
Lebensphase Alter“ als Ausgangspunkt für gemeinsame Partizipation anzusetzen ist.<br />
� Bewusstsein über und sensibler Umgang mit dem Machtgefälle zwischen staatlichen und<br />
nichtstaatlichen Schweizer AkteurInnen und AkteurInnen der Migrationsbevölkerung: Die<br />
Gemeinden sollten über das Bewusstsein verfügen, dass sie sich gegenüber den<br />
PartizipationspartnerInnen „ältere MigrantInnen“ immer in einer Machtposition befinden. So<br />
verfügen diese über keine politischen Rechte und sind bezüglich ihres Zugangs zu Partizipa-<br />
tionsmöglichkeiten meist vom guten Willen der Schweizer Institutionen/Organisationen und<br />
Fachpersonen abhängig. Mit der dadurch entstehenden Asymmetrie im Partizipations-<br />
verhältnis ist sensibel und transparent umzugehen.<br />
� Sensibilität für Partizipationshürden: Eine Gemeinde, welche die Partizipation von älteren<br />
MigrantInnen im Sinne aktiver Bürgerschaft fördern will, muss zunächst eine Sensibilität für<br />
allfällige Partizipationshürden entwickeln (ökonomisch und gesundheitlich benachteiligte<br />
Situation der Zielgruppe, sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, Misstrauen aufgrund<br />
bisherigen Desinteressens der Schweiz für ihre Partizipation oder aber Befürchtung, dass<br />
Partizipation nicht gewollt sei, fehlende politische Rechte, Informationsdefizit über<br />
Partizipationsmöglichkeiten, strukturelle Zugangsschranken zur Partizipation, etc.)<br />
155
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
� Ressourcenorientierte Perspektive auf die Zielgruppe: Interesse an deren Lebenserfahrungen,<br />
ihren Ressourcen und sozialen Zusammenhängen haben und zeigen. Sie als Subjekte und<br />
nicht Objekte von Partizipation wahrnehmen und behandeln.<br />
� Niederschwelligen Zugang anstreben: Das Gelingen von Partizipation steht und fällt mit dem<br />
Gelingen eines niederschwelligen Zugangs. Dazu gehören die folgenden vier methodischen<br />
Punkte.<br />
1. Aufsuchender Ansatz zur Kontaktherstellung: Ältere MigrantInnen in ihren eigenen<br />
sozialen Milieus und Netzwerken (z.B. in ihren Vereinen, bei den Ausländermissionen,<br />
etc.), d.h. in ihnen vertrauten und lebensweltbezogenen Settings aufsuchen.<br />
2. Zusammenarbeit mit sogenannten Schlüsselpersonen aus den Migrationscommunities,<br />
die als „Türöffner“ wirken: Die Erkenntnis (vgl. Kapitel 5.4), dass ältere MigrantInnen<br />
VertreterInnen schweizerischer Institutionen/Organisationen gegenüber häufig Misstrauen<br />
oder Distanz entgegen bringen, legt nahe, Personen als KontaktvermittlerInnen<br />
einzubeziehen, die bereits das Vertrauen der Gruppe geniessen bzw. auf diese Weise<br />
einen beziehungsgeleiteten Zugang ermöglichen.<br />
3. Mündliche Information und Kommunikation zu Partizipationsmöglichkeiten in der<br />
Muttersprache der Zielgruppen: Die erste Generation der älteren MigrantInnen muss in<br />
ihrer Muttersprache „abgeholt“ werden. Dadurch erhöht sich die Chance, dass sie<br />
partizipationsbereit und –fähig ist.<br />
4. Hohe Zeitinvestition: Das Schaffen einer Grundlage für die gemeinsame Partizipation<br />
benötigt einen zeitlich intensiven Prozess mit dem Ziel des gegenseitigen Kennenlernens<br />
und der gegenseitigen Vertrauensbildung.<br />
� Partizipationsinteresse/-bedürfnisse und Themenbetroffenheit erkennen: Um Partizipation<br />
nicht an den Interessen und Bedürfnissen der älteren MigrantInnen vorbei zu planen und zu<br />
initiieren, sondern gegenteilig, gerade bei diesen anzusetzen, muss sich eine Gemeinde<br />
konkret für die Anliegen, Themen, Erwartungen, Wünsche oder gar Forderungen dieser<br />
Zielgruppe interessieren und sie konkret in Erfahrung bringen.<br />
� Respekt und Anerkennung der bisherigen Kompetenzen und Erfahrungen mit Partizipation:<br />
Gemeinden müssen sich bewusst sein, dass nicht nur sie, sondern auch ältere MigrantInnen<br />
und ihre Organisationen Kompetenzen und Erfahrungen in der Partizipation mitbringen und es<br />
somit um einen gegenseitigen Lernprozess geht.<br />
� Gleichwertige Partizipation als Einbezug in mitentscheidende Positionen gleich von Beginn<br />
an: Ältere MigrantInnen sind von Beginn an am Partizipationsprozess zu beteiligen. D.h. sie<br />
sprechen, wirken und entscheiden mit über Ziele, Bedarf, Rahmenbedingungen, Form, Mittel<br />
und Themen der Partizipation. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie – ausser<br />
sie sind eingebürgert – keine gleichberechtigten BürgerInnen sind, da sie – mit wenigen<br />
Ausnahmen vorab in der Romandie - nicht über dieselben politischen Rechte verfügen. (vgl.<br />
der Pt. zum Machtgefälle in der Partizipationsbeziehung).<br />
� Aushandlung einer gemeinsamen Partizipationskultur als gegenseitige<br />
Kompetenzerweiterung: Da davon auszugehen ist, dass nebst Gemeinsamkeiten auch<br />
156
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Unterschiede zwischen den verschiedenen AkteurInnen im Verständnis und in der Praxis von<br />
Partizipationsprozessen existieren, benötigt es die Aushandlung der Prinzipien einer<br />
gemeinsamen Partizipationskultur.<br />
� Auseinandersetzung über zentrale Begriffe und Themen im Alter: Auch hier gilt, dass nebst<br />
gemeinsamer Themenbetroffenheit auch unterschiedliche und vielfältige Ressourcen und<br />
Erfahrungen bzw. Kompetenzen im Umgang damit vorhanden sind. Diese gilt es für die<br />
gemeinsame Partizipation nutzbar zu machen. Für einen solchen Austausch auf<br />
Gemeindeebene müssen geeignete organisationale Rahmenbedingungen, Mittel und Formen<br />
überlegt werden.<br />
d. Vergleich Erhebungsergebnisse mit Forschungsliteratur (Kapitel 2) und<br />
Forschungsannahmen (Kapitel 3):<br />
Die Ergebnisse der verschiedenen Erhebungsteile dieser Arbeit bestätigen in mancher Hinsicht, die in<br />
Kapitel 2 vorgestellten Erkenntnisse aus der Forschungsliteratur sowie die in Kapitel 3 vorgelegten<br />
Annahmen, die unser Forschungs- bzw. Erkenntnisinteresse sowie die Frageperspektive<br />
beeinflussten. Im Folgenden wird kurz zusammengefasst, welche unserer Befunde sich damit decken,<br />
und wo es Abweichungen oder Widersprüche gibt.<br />
Migration als biografische Ressource<br />
Die Annahme, dass eine Migrationsgeschichte zu einer Ressource der Lebensgestaltung – gerade<br />
auch im Alter – werden kann, vorausgesetzt es ist gelungen, sie erfolgreich in die eigene Biografie zu<br />
integrieren, bestätigen die Befunde dieser Arbeit nur bedingt. Ob das eigene Migrationsprojekt letztlich<br />
als Erfolg erlebt und bewertet wird, hängt von vielfältigen Faktoren ab, und nicht nur von objektiv<br />
gesellschaftlichen, sondern ebenso von subjektiv individuellen Persönlichkeitsfaktoren (vgl.<br />
Aeschlimann, 2007). Es benötigt nicht zwingend eine positive Bilanzierung des Migrationsentscheids<br />
und seiner Folgen. Entscheidender ist, ob sich MigrantInnen im Alter mit ihrer Biografie als<br />
ArbeitsmigrantInnen versöhnt haben oder nicht (vgl. dazu Erikson, 1966). Ein weiterer wichtiger Faktor<br />
ist die Anerkennung durch das gesellschaftliche Umfeld sowie die Rahmenbedingungen, welche eine<br />
Aufnahmegesellschaft MigrantInnen zur Verfügung stellt. Gerade Anerkennung haben die<br />
MigrantInnen der in dieser Arbeit interessierenden Einwanderungsgeneration während Jahrzehnten<br />
vermisst. Sie erhielten sie bestenfalls als Arbeitskräfte, nicht jedoch als zu dieser Gesellschaft<br />
gehörende Mitglieder mit Bürgerrechten. Diese Kränkung - das zeigen die Interviews mit den älteren<br />
ItalienierInnen – sitzt auch im Alter noch tief und ist längst nicht bei allen verarbeitet. Die<br />
InterviewteilnehmerInnen wurden gefragt, wie sie ihre gelungene Selbstorganisation erklären und was<br />
„die Schweiz“ von ItalienerInnen lernen kann, um Partizipation erfolgreich zu gestalten. Diese Fragen<br />
richteten sich implizit auf das Erkennen von Ressourcen. Es zeigte sich, dass sie ihre Ressourcen<br />
eher in „ethnischen Kategorien“ („Wir sind so“. „Das ist die italienische Mentalität“) erklären, als dass<br />
sie diese als Kompetenzen interpretieren, welche sie sich durch die Bewältigung von<br />
Herausforderungen und Krisen im Migrationskontext erworben haben. Auf der andern Seite haben die<br />
157
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
befragten Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten eine „Migrationsbiografie“ sowie<br />
„Erfahrungswissen (zu <strong>Integration</strong>sprozessen)“ deutlich als eine Ressource für die Partizipation<br />
gewertet.<br />
Ethnizität als Organisationspotenzial und Identitätsstiftung im Alter<br />
Zur Annahme, Ethnizität sei auch im Alter noch ein Potenzial für eine wirksame Selbstorganisation,<br />
um kollektive Interessen der eigenen Gruppe zu vertreten, muss eine zwiespältige Bilanz gezogen<br />
werden. So zeigt die Erhebung der Autorinnen dieser Arbeit, dass die ethnische Vergemeinschaftung<br />
der italienischen ArbeitsmigrantInnen eher in Reaktion auf die sie ausschliessende gesellschaftliche<br />
Umgebung erfolgte. Sie diente zwar der <strong>Integration</strong> in eigene soziale Strukturen und stärkte somit den<br />
Zusammenhalt bzw. fing den gesellschaftlichen Ausschluss durch eine Solidarisierung nach innen auf.<br />
Sie verfolgte jedoch nicht in erster Linie gezielt die Mobilisierung von Kräften im Sinne einer<br />
kollektiven Interessenvertretung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft oder als politische pressure<br />
group (vgl. Sancar, 1993). Trotzdem, und das hat insbesondere auch die Diskussion in der<br />
Fokusgruppe mit den VertreterInnen aus den italienischen MigrantInnenorganisationen ergeben, wirkt<br />
die starke Bezugnahme auf die ethnische Herkunft seit je und gerade auch im Alter als eine<br />
Organisationsressource. Das zeigt die italienische Organisationsgeschichte der ersten<br />
Einwanderungsgeneration in Bern, die bis heute eine beachtliche Vielfalt an eigenen Strukturen, heute<br />
auch Strukturen für die Altersarbeit - getragen von der röm.-kath. Kirche in Bern und ihrer Fachstelle<br />
für Sozialarbeit FASA - hervorgebracht hat. Allerdings weist die jüngste Entwicklung auch darauf hin,<br />
dass diese Strukturen von der nachfolgenden, zweiten Generation künftig nicht aufrechterhalten<br />
werden. Für die heute ältere Generation gilt aber: Die eigenen sozialen Netzwerke spielen auch im<br />
Alter eine bedeutsame Rolle für die soziale Sicherung. Und darüber hinaus kann Ethnizität auch im<br />
Alter noch als Mobilisierungspotenzial eingesetzt werden, wenn es darum geht, ein kollektives<br />
Interesse einzufordern. Als Beispiel kann hier der mittlerweile auch von den Institutionen der<br />
stationären Alterspflege und von den Medien aufgenommene Diskurs über ethnospezifische<br />
Wohngruppen in Altersheimen, den sogenannten „mediterranen“ oder „italienischen“ Abteilungen<br />
angeführt werden. Ältere italienische MigrantInnen haben sich unter Berufung auf ihre Ethnizität bzw.<br />
auf spezifische, an ihre ethnische Zugehörigkeit geknüpfte Bedürfnisse, erfolgreich ein eigenes<br />
Betreuungsmodell in stationären Alterseinrichtungen erwirkt.<br />
Der zweite Teil der Annahme, dass Ethnizität als Identitätsstiftung gerade auch im Alter dient, lässt<br />
sich nicht nur durch die in Kapitel 2 behandelte Forschungsliteratur zu diesem Thema (Dietzel-<br />
Papakyriakou, 1993 und 2005; Kondratowitz, 1999), sondern auch durch unsere eigene Erhebung<br />
bestätigen (vgl. dazu Kapitel 5). Ältere MigrantInnen werden am Beispiel der ItalienierInnen in Bern<br />
von den Fokusgruppenmitgliedern aus Stadt und Kanton Bern als sehr stark mit ihrer Ethnizität<br />
identifiziert erlebt. Diese Identifikation erwecke bisweilen den Eindruck der „Selbstgenügsamkeit“ oder<br />
„Autarkie“ und werfe die Frage auf, ob diese Zielgruppe überhaupt eine Partizipation über die eigene<br />
Gruppe hinaus wünsche und brauche. Auch aus den Interviews mit den älteren MigrantInnen geht<br />
deutlich hervor, dass sie sich in erster Linie als „ItalienerInnen“ verstehen. Diese Selbstehnisierung<br />
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«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
lässt sich als Reaktion auf die Fremdethnisierung durch die SchweizerInnen verstehen (vgl. dazu auch<br />
Lück, 2001).<br />
Ethnizität im Alter: Ressource oder Kumulierung der Benachteiligung<br />
Dass wir auch mit der Erhebung zum Schluss gekommen sind, dass Ethnizität für ältere MigrantInnen<br />
eine Ressource ist, wurde weiter oben bestätigt. Dem zweiten Teil dieser Annahme, ob Ethnizität im<br />
Alter auch zu einer doppelten Diskriminierung aufgrund nationaler Herkunft und Alter führe, im Sinne<br />
der ethnogerontologischen „Double-Jeopardy-These“ (vgl. dazu Kapitel 2.6.2), wurde im Verlaufe<br />
dieser Arbeit hingegen nicht mehr gezielt nachgegangen. Mit Sicherheit kann jedoch bestätigt werden,<br />
dass Ethnizität für die sozialgerontologische Arbeit mit MigrantInnen ein wichtiger Faktor ist. Die mit<br />
unserer Erhebung Befragten (Fokusgruppe CH und tel. Nachbefragung der Altersbeauftragten und<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten) messen ihr auch einen zu diskutierenden Stellenwert bei der Entwicklung und<br />
Umsetzung von Partizipationsmodellen zu. Die Autorinnen kommen in ihrer abschliessenden Bilanz<br />
(Kapitel 5.4 und 6.2) jedoch zum Schluss, dass Ethnizität in der Zusammenarbeit mit MigrantInnen<br />
nicht überbetont werden darf, weil dies die Gefahr in sich birgt, strukturelle und soziale Problemlagen<br />
im Alter zu „ethnisieren“ bzw. „kulturalisieren.“ Sie vertreten daher mit ihrer Arbeit den Ansatz der<br />
gemeinsamen Themen-Betroffenheit im Alter als Ausgangspunkt für die gemeinsame Partizipation,<br />
welche ethnische Gruppengrenzen aufzulösen vermag.<br />
Lebensraum, Sozialraum und Sozialisation<br />
In den Kapiteln 2 und 3 wurde bezüglich dieser drei Begriffe oder Konzepte keine spezifische<br />
Annahme getroffen. Diese wurden aber im Verständnis der Autorinnen als richtungweisende<br />
theoretische Fundierung für das Konstrukt der Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft<br />
gewählt. Die zentralen Aspekte, die das Konstrukt der Partizipation unterstützen, lassen sich wie folgt<br />
zusammenfassen: Jeder Mensch ist ein Produkt seiner Erfahrungen und seiner gelebten Umwelt.<br />
Dabei ist er nie ein fertiges „Produkt“, sondern wird durch jede neue Lebenserfahrung beeinflusst,<br />
geformt und bleibt ein Leben lang als Person oder Persönlichkeit veränderbar. Ein weiterer Aspekt ist<br />
die Interaktion mit der materiellen und sozialen Umwelt. Der Mensch wird geformt und verändert sich<br />
immer auch im Austausch mit diesen. Das heisst, ein/ MigrantIn wird immer auch vom Aufnahmeland<br />
und von der Bevölkerung des Aufnahmelandes, respektive von deren Haltung zu MigrantInnen<br />
beeinflusst, das alles ist Teil seiner Biografie. Dieser Punkt ist besonders wichtig in Bezug auf die<br />
weiter unten diskutierte Frage der Binnenintegration und der Ethnizität im Alter. Die Vermutung von<br />
Schweizer Institutionen, dass MigrantInnen entweder nicht an <strong>Integration</strong>/Partizipation interessiert<br />
seien oder dass sie in erster Linie innerethnisch orientiert seien, zeigt eine Vernachlässigung oder ein<br />
Ausblenden der Prinzipien von Lebensraum, Sozialraum und Sozialisation durch erstere.<br />
Zusammengefasst könnte man es so formulieren, dass die Orientierung der MigrantInnen im<br />
Aufnahmeland auf die Zivilgesellschaft oder auf die eigene Ethnie resp. das Interesse an <strong>Integration</strong>s-<br />
oder Partizipationsprozessen das Resultat der sozialen Erfahrungen ist, die sie aufgrund der<br />
Interaktion mit der und durch die Schweizer Bevölkerung gemacht haben. Die Frage ist also, wie die<br />
159
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Schweizer Bevölkerung die eigene Haltung und das eigene Verhalten verändern müssten, um bei den<br />
MigrantInnen ein anderes resp. das gewünschte Resultat zu erzielen. Der Vorschlag der Autorinnen<br />
liegt auf der Hand: Gemeinsames entsteht durch gemeinsame Erfahrung, durch das Schaffen eines<br />
gemeinsam gestalteten Lebensraumes. Damit rückt die Frage nach der Ethnisierung oder nach<br />
ethnischen Faktoren in den Hintergrund. Zielgerichteter ist es, danach zu fragen, wie die gemeinsame<br />
Zukunft gestaltet werden soll und wie bisherige Lebenserfahrungen und –prägungen genutzt werden<br />
können oder wie mit hinderlichen Sozialisationsprozessen umgegangen werden soll. Eine mögliche<br />
Antwort darauf gibt das Konzept der Partizipation im Sinne der aktiven Bürgerschaft, welche im Modell<br />
<strong>MIGRALTO</strong> eine potenzielle Anwendungspraxis findet.<br />
Forschungsstand Partizipation im Alter – Das Konzept der gesellschaftlichen Mitverantwortung<br />
In Kapitel 2.6.1 wurde das einer Verantwortungsethik verpflichtete gerontologische Konzept der<br />
gesellschaftlichen Mitverantwortung im Alter (Kruse, 2010) vorgestellt. Wenn Alter als Lebensphase<br />
konzipiert wird, in der die Menschen nach wie vor aktiv Mitverantwortung für die gesellschaftliche<br />
Entwicklung tragen, bedeutet das, dass ihre Partizipation zwingend ist. Aus einer rein moralethischen<br />
Perspektive können die Autorinnen diesem Konzept zustimmen. Sie kritisieren jedoch, dass es sich<br />
dabei tendenziell um ein „klassisches Mittelstandskonzept“ handelt, das nur einen Teil der älteren<br />
Bevölkerung im Blick hat: die wirtschaftlich und gesundheitlich gut situierten sowie sozial vernetzten<br />
„neuen Alten“ oder „aktiven SeniorInnen“, die sogenannten „golden ager“, die auch für ihre persönliche<br />
Sinnstiftung nach der Pensionierung weiterhin gesellschaftliche Verantwortung tragen möchten. Ob<br />
sich das Modell im Sinne einer Verpflichtung auch auf sozioökonomisch benachteiligte Gruppen, wie<br />
beispielsweise ältere MigrantInnen, die häufig an der Armutsgrenze leben, übertragen lässt, ist<br />
fraglich. Die Autorinnen sind vielmehr der Ansicht, dass das Konzept mit dem Prinzip der<br />
„Freiwilligkeit“ zu ergänzen ist. Die Erhebungsergebnisse in der vorliegenden Masterarbeit zeigen<br />
denn auch deutlich, dass ältere MigrantInnen auf freiwilliger Basis durchaus bereit sind,<br />
Freiwilligenarbeit zu leisten.<br />
Migrantinnen und Migranten als Subjekte im Forschungsprozess<br />
Der Annahme, dass sich MigrantInnen als Subjekte mit ihrem spezifischen Erfahrungswissen und<br />
ihren kulturellen Lebenspraxen am Aushandlungsprozess der Definition und Umsetzung von<br />
Partizipation beteiligen sollten, haben die Autorinnen mit ihrem Forschungsansatz in dieser<br />
Masterarbeit Nachdruck verliehen. So waren MigrantInnen nicht nur als „Forschungsobjekte“, sondern<br />
auch als Subjekte im Rahmen der Fokusgruppendiskussion vertreten, in der sie als ExpertInnen aus<br />
italienischen Migrationsorganisationen ihre Einschätzung sowie ihre Kompetenzen zum Thema<br />
Partizipation vertraten. Geplant ist, dass über diese Migrationsorganisationen die Ergebnisse der<br />
Masterarbeit auch in die italienischen Migrationskreise zurück fliessen.<br />
Partizipation als transkultureller Aushandlungsprozess<br />
Dass es sich bei der Definition von Partizipation um einen transkulturellen Aushandlungsprozess<br />
handelt, konnte aufgrund der Erfahrungen aus den verschiedenen Erhebungsteilen dieser<br />
160
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Masterarbeit bestätigt werden. Dieser Prozess wird für die konkrete Umsetzung in einem Modell<br />
<strong>MIGRALTO</strong> (vgl. Kapitel 6.3 und 6.4) anspruchsvoll sein, da unterschiedliche Verständnisse von sowie<br />
Erfahrungen und Praxen mit Partizipation aufeinander treffen werden. Wichtig ist hier der Ansatz, dass<br />
die jeweiligen Kompetenzen zum Thema Partizipation von den verschiedenen AkteurInnen<br />
gleichberechtigt eingebracht werden können, und zwar unabhängig vom real existierenden<br />
Machtgefälle zwischen den schweizerischen Institutionen/Organisationen des Altersbereichs und den<br />
älteren MigrantInnen und ihren Organisationen. Insgesamt bestätigt die Erhebung dieser Masterarbeit<br />
die Kritik aus der Forschungsliteratur (z.B. Gamboa, 2009, S. 176; Matthey & Steiner, 2009, S. 15),<br />
wonach (ältere) MigrantInnen mehrheitlich nicht als Subjekte in gleichberechtigten Positionen und mit<br />
Entscheidkompetenz an Partizipationsprozessen beteiligt sind. Zum einen tendieren schweizerische<br />
Institutionen dazu – sie innerhalb der bestehenden Machtasymmetrie in die Rolle „passiv“<br />
Teilnehmender zu verweisen oder sie allenfalls in der Phase der Umsetzung als VermittlerInnen/<br />
Schlüsselpersonen oder MultiplikatorInnen zu beteiligen. Dies jedoch häufig auf ehrenamtlicher Basis<br />
oder gegen eine vergleichsweise tiefere Entlöhnung. Zum andern zeigt aber vor allem die telefonische<br />
Nachbefragung der Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten, dass durchaus auch vereinzelte<br />
Bemühungen bestehen, ältere MigrantInnen von Beginn an in Partizipationsprozesse einzubinden. Als<br />
good practice kann hier die Handhabung in einer Region der Schweiz angeführt werden, in der die<br />
Vergabe von Projektgeldern an die Bedingung gebunden ist, ältere MigrantInnen von Beginn an<br />
gleichberechtigt und mitentscheidend in den Partizipationsprozess zu integrieren. Zudem weist der<br />
Wunsch der interviewten älteren MigrantInnen und auch der FokusgruppenvertreterInnen der<br />
italienischen Migrationsorganisationen, die SchweizerInnen mögen sich auch für ihre Netzwerke,<br />
Kompetenzen und Aktivitäten interessieren und zu ihnen kommen, in die Richtung des von Prodolliet<br />
(2009, S.59) geforderten notwendigen Paradigmenwechsels: eine <strong>Integration</strong>s- bzw. Partizipations-<br />
politik muss alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermassen zur Zielgruppe haben. D.h. die<br />
politische Aufforderung zur Beteiligung an gesellschaftlichen <strong>Integration</strong>s- bzw. Partizipations-<br />
prozessen darf sich nicht einseitig an die Adresse der MigrantInnen richten, sondern hat die<br />
Bevölkerung generell anzusprechen, d.h. auch die staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen und<br />
Organisationen selbst sowie alle SchweizerInnen. Sie ist kein „Einweg-Prozess“, sondern muss<br />
wechselseitig und unter Beteiligung aller AkteurInnen gestaltetet werden. (vgl. dazu das Modell<br />
<strong>MIGRALTO</strong> in Kapitel 6.3 und 6.4)<br />
Insgesamt weisen die Ergebnisse - vor allem aus der schriftlichen Befragung der Altersbeauftragten<br />
und <strong>Integration</strong>sdelegierten und der Fokusgruppe CH - auf eine Diskrepanz hin zwischen dem<br />
Bewusstsein auf einer diskursiven Ebene, dass Partizipation ein transkultureller Aushandlungsprozess<br />
ist, und der Umsetzung dieser Erkenntnis in die Praxis.<br />
Gendergerechte Partizipation<br />
Die Annahme, dass ein Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen genderspezifische<br />
Aspekte berücksichtigen sollte, kann in mehrfacher Hinsicht bestätigt werden. Der von Perrig-Chiello<br />
(2008) oft verwendete Satz „Alter ist weiblich“, trifft auch auf die Gruppe der älteren Migrantinnen zu.<br />
In der Fokusgruppe der VertreterInnen italienischer Migrantenorganisationen wurde darauf<br />
161
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
hingewiesen, dass es oftmals die Frauen sind, die nach dem Tod des Mannes alleine in der Schweiz<br />
zurückbleiben. Das kann einerseits bedeuten, dass sich Vereinsamung oder finanzielle Problematiken<br />
für die älteren Migrantinnen deutlich akzentuieren, auf der anderen Seite kann dies auch als Potenzial<br />
gesehen werden, da diese Frauen durch die Verwitwung eine neue oder verstärkte Aussenorien-<br />
tierung in Bezug auf das soziale Leben entwickeln. Damit ist gemeint, dass sie einen Teil ihrer Zeit<br />
und ihre Ressourcen im Sinne von Freiwilligenarbeit oder von aktiver Bürgerschaft für die<br />
Gemeinschaft oder die Gesellschaft einbringen können und oft auch wollen.<br />
Für den Partizipationsprozess durch den Einsatz des Modells <strong>MIGRALTO</strong> wird es bezüglich der<br />
Genderfrage wichtig sein, dass eine ausgewogene Vertretung von Männern und Frauen gewährleistet<br />
wird. In Bezug auf die italienische Gruppe kann gesagt werden, dass ein Teilnahmeverhältnis von 2<br />
Frauen und 6 Männern in der Fokusgruppe symptomatisch ist, wenn es um „offizielle“ Rollen wie z.B.<br />
die eines Vertreters in einer Migrantenorganisation geht. Diesem Umstand kann auf verschiedene<br />
Weise begegnet werden. Man kann einerseits grundsätzlich dafür sorgen, dass Männer und Frauen<br />
zu gleichen Teilen in den Partizipationsprojekten vertreten sind (unter Berücksichtigung des<br />
Freiwilligenprinzips, also keine reinen Quotenteilnahme ohne persönliche Motivation der Frau). Da<br />
aber bereits die Zusammensetzung einer Gruppe für Partizipationsprozesse nach dem partizipativen<br />
Prinzip der Mitsprache, Mitentscheidung und Mitgestaltung geschieht, kann es die jeweilige<br />
Migrantengruppe selbst entscheiden, wie die Genderfrage gestaltet werden soll. Es ist somit auch<br />
möglich, dass sich die Teilhabenden eines Partizipationsprojektes dafür entscheiden, dass sie eine<br />
reine Frauen- und eine reine Männergruppe zusammenstellen. Dies könnte allenfalls bei ethnischen<br />
Gruppen der Fall sein, in deren soziokulturellem Kontext üblicherweise eine Geschlechtersegregation<br />
besteht. Ein weiterer Grund für getrennte Gruppen könnte aber auch rein pragmatischer Natur sein:<br />
Vielleicht gibt es Themen oder Bedürfnisse, die Männer gerne im Sinne eines Partizipationsprozesses<br />
angehen möchten, die aber für Frauen einfach nicht interessant sind, und umgekehrt. Respekt und<br />
Vertrauen gegenüber den älteren MigrantInnen in der Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> wird sich<br />
auch darin zeigen, dass diese auf Anregung der ProjektleiterInnen die für sie richtige Wahl treffen<br />
werden.<br />
Vom Defizit- zum Ressourcenorientierten Ansatz<br />
Was in Kapitel 2 bezüglich des erfolgten Paradigmenwechsels vom defizit- zum ressourcenorientierten<br />
Ansatz anhand der gerontologischen und migrations- bzw. integrationstheoretischen<br />
Forschungsliteratur aufgezeigt wurde, konnte durch die Aussagen und die Haltung der befragten<br />
VertreterInnen aus dem institutionellen Alters- und <strong>Integration</strong>sbereich der Schweiz teilweise bestätigt<br />
werden. Fachpersonen bemühen sich zwar grundsätzlich, ältere Migrantinnen ressourcen- und nicht<br />
defizitorientiert wahrzunehmen, gleichzeitig sind es aber häufig doch die sogenannten Defizite, wie<br />
z.B. die mangelnde Kompetenz in der deutschen Sprache, welche den Diskurs dominieren. Ältere<br />
MigrantInnen ihrerseits haben auf ihr eigenes Alter eher einen defizitären als ressourcenorientierten<br />
Blick. Dies hat aus Sicht der Autorinnen mit ihrer im Vergleich zu den gleichaltrigen SchweizerInnen<br />
insgesamt schlechteren gesundheitlichen und ökonomischen Situation zu tun (BAG, 2006). Anders<br />
162
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
verhält es sich bei den VertreterInnen der italienischen Migrationsorganisationen, die ihre<br />
Organisationsgeschichte sehr wohl als Erfolg ihrer eigenen Ressourcen einschätzen.<br />
Diversität als Innovationspotenzial für die Alterspolitik und –arbeit<br />
Die Annahme der Autorinnen, dass in einer Einwanderungsgesellschaft wie der Schweiz eine Vielfalt<br />
von Modellen existiere, wie Alter gelebt und wie mit älteren Menschen umgegangen werde, und der<br />
Schluss daraus, dass diese Diversität für die Alterspolitik und –arbeit zum Innovationspotenzial<br />
werden könne, wenn über die damit einhergehenden Herausforderungen eine konstruktive<br />
Auseinandersetzung geführt werde, wurde im Verlauf der Arbeit nicht vertieft untersucht. Sowohl die<br />
befragten Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten als auch die Fokusgruppe CH geben jedoch<br />
an, dass die zunehmende Diversität der älteren Migrationsbevölkerung nach nationaler Herkunft,<br />
nebst Herausforderung, auch eine Chance für die Alterspolitik und –arbeit sei. Zudem erwarten sie<br />
von dieser wachsenden Vielfalt neue Impulse, eine Bereicherung sowie eine vielseitigere<br />
Partizipationskultur. Die älteren MigrantInnen und ihre Organisationen wünschen sich ihrerseits, dass<br />
ihre Beiträge, beispielsweise bei der Entwicklung von neuen Modellen und Projekten im Bereich des<br />
Alterswohnens und der Alterspflege, vermehrt nachgefragt werden.<br />
Wirkungen von Partizipation<br />
Bezüglich der Wirkung von Partizipation trafen die Autorinnen folgende Annahmen:<br />
Partizipation ist die wirksamste Form der <strong>Integration</strong>.<br />
Partizipation fördert die Wahrnehmung der Gesellschaft in Bezug auf ältere Menschen, baut<br />
Vorurteile ab und wirkt Altersdiskriminierungen entgegen.<br />
Diese Annahmen lassen sich sowohl aufgrund der Forschungsliteratur als auch der vorliegenden<br />
Erhebung bestätigen. So vertritt z.B. Wicker (2007, S. 65), dass <strong>Integration</strong> dann erfolgreich ist, wenn<br />
die Partizipation der Migrationsbevölkerung auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene stetig<br />
zunimmt und sich ihre Chancen denjenigen der schweizerischen Bevölkerung angleichen.<br />
Entsprechend verhindern die Einschränkung von Partizipation und die Diskriminierung<br />
<strong>Integration</strong>sprozesse. Die Autorinnen vermuten aufgrund der Befragung der älteren MigrantInnen und<br />
ihrer Organisationen, und gestützt auf die Einschätzung der schweizerischen Institutionen, dass sich<br />
in der gesellschaftlichen Realität jedoch folgende negative Wechselwirkung abgespielt hat: Von der<br />
Schweiz über Jahrzehnte als MitbürgerInnen mit vollen Partizipationsrechten (fehlende politischen<br />
Rechte) ausgeschlossen, zog sich die hier diskutierte Einwanderungsgeneration zu einem grossen<br />
Teil in ihre eigenen Partizipationsstrukturen zurück und distanzierte sich von der<br />
Mehrheitsgesellschaft. Sie konstituierte sich in deutlicher Abgrenzung zur restlichen Bevölkerung als<br />
ethnische Gruppe. Dies bestätigt das Konzept der ethnischen Grenzziehung von Barth (1969), wie es<br />
in Kapitel 2 dieser Arbeit erläutert wurde. Der Prozess der ethnischen Gruppenkonstitution in<br />
Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft sowie die starke Binnenintegration (vgl. Elwert, 1982 in Kapitel<br />
2), förderte beim Schweizer Staat und seiner Bevölkerung die Wahrnehmung, dass diese Generation<br />
von MigrantInnen „integrationsresistent“ und Partizipation in der schweizerischen Gesellschaft nicht ihr<br />
Ziel sei. Eine solche Interpretation ist wiederum ein Mittel, um erneuten Ausschluss zu legitimieren,<br />
163
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
gerade auch im Alter, was dann von den Betroffenen ihrerseits diskriminierend erlebt werden kann:<br />
„Wir werden nicht oder zu spät eingeladen, zu partizipieren.“ Oder anders formuliert: Die von der<br />
Mehrheitsgesellschaft nicht ermöglichte Partizipation dieser Einwanderungsgeneration förderte ihre<br />
Selbstorganisation in eigenen Netzwerken, was vom gesellschaftlichen Umfeld wiederum als<br />
Selbstausschluss und „<strong>Integration</strong>sunwilligkeit“ gedeutet wurde. (vgl. hierzu auch den Abschnitt<br />
„Ungeprüfte Annahme“ im Kapitel 6.5)<br />
6.3 Definition von Massnahmen für das Modell <strong>MIGRALTO</strong> –<br />
Handlungsanleitung (V. Abati)<br />
6.3.1 Grundbedingungen – Handlungsanleitung Teil 1<br />
Wenn eine Gemeinde, eine Institution oder ein/e andere/r AkteurIn im Bereich Alter oder Migration/<br />
<strong>Integration</strong> das Modell <strong>MIGRALTO</strong> für das Einführen und Umsetzen von Partizipationsprozessen mit<br />
älteren MigrantInnen nutzen möchte, gilt es vor dem eigentlichen Projekt einige Grundbedingungen zu<br />
überprüfen.<br />
Je nach bestehenden Vorgaben oder Voraussetzungen in Bezug auf die Grundbedingungen, wird sich<br />
das auf das Gesamtkonzept oder auf einzelne Massnahmen resp. Umsetzungsschritte auswirken. Es<br />
kann zu Einschränkungen oder möglichen Entscheidungs- und Umsetzungsschwierigkeiten kommen,<br />
deren frühzeitige Erkenntnis manche Frustration oder manchen Rückschlag vermeiden oder<br />
zumindest abfedern könnte. Es lohnt sich deshalb, zu Beginn einige Zeit in die Klärung dieser<br />
Vorgaben und Voraussetzungen zu investieren. Hier werden die wichtigsten Grundbedingungen im<br />
Sinne einer Handlungsanleitung für EntscheidungsträgerInnen oder ProjektleiterInnen kurz skizziert.<br />
Politische Grundbedingungen<br />
� Es braucht ein Bewusstsein und Verständnis bei den politischen EntscheidungsträgerInnen<br />
bezüglich Notwendigkeit oder zumindest bezüglich Nutzen der Partizipation von älteren<br />
MigrantInnen im Sinne aktiver Bürgerschaft (vergleiche dazu auch Kapitel 6.2, Punkt a.).<br />
� Wenn ein solches (noch) nicht vorhanden ist, ist es wichtig, dass die ProjektleiterInnen für<br />
die Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> auf politischer Ebene den Bedarf und Nutzen der<br />
Partizipation älterer MigrantInnen aufzeigen. Es ist von Vorteil, wenn man politische<br />
Schlüsselpersonen einbezieht, die sich dafür stark machen.<br />
� Es braucht eine definierte Alterspolitik, die Migrationsbevölkerung und im Speziellen die<br />
älteren MigrantInnen explizit einschliesst.<br />
� Ist eine solche (noch) nicht vorhanden, ist es sinnvoll, eine solche in der eigenen<br />
Gemeinde anzuregen. Für die Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> ohne bestehende<br />
Vorgaben zur Alterspolitik ist es von Nutzen, vorgängig die wissenschaftlichen Grundlagen zur<br />
Partizipation älterer MigrantInnen zusammenzustellen, damit man bei Bedarf ein<br />
164
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Legitimationsargumentarium zur Hand hat.<br />
� Optimal ist eine politisch geforderte Interdisziplinarität der eigenen AkteurInnen bei der<br />
Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong>. Die Vernetzung der AkteurInnen aus dem Bereich Alter<br />
sowie aus dem Bereich Migration/<strong>Integration</strong> fördert und sichert die Synergien und die<br />
Nachhaltigkeit des Projektes und führt zu einem gegenseitigen fachlichen Kompetenz-<br />
zuwachs. Ausserdem hilft die Vernetzung mögliche Doppelspurigkeiten zu verhindern, die<br />
Ressourcen besser auszuschöpfen und den Zugang zu Regelstrukturen auf verschiedenen<br />
Ebenen zu verbessern.<br />
� Wird die Interdisziplinarität nicht politisch gefordert oder vorgegeben, sollte sie auf jeden<br />
Fall von den ProjektleiterInnen initiiert und konsequent umgesetzt werden (siehe auch Punkt<br />
AkteurInnen unten).<br />
� Damit die Unterstützung für die Umsetzung des Modells von politischer Seite her kein<br />
Lippenbekenntnis ist resp. bleibt, muss das zur Verfügung Stellen von Mitteln und Ressourcen<br />
geklärt und zugesichert sein.<br />
� Dieser Punkt sollte von den Verantwortlichen für die Umsetzung von <strong>MIGRALTO</strong> unbedingt<br />
vorgängig geklärt werden (siehe hierzu auch Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen<br />
unten).<br />
AkteurInnen<br />
� Die möglichen InitiantInnen für das Projekt <strong>MIGRALTO</strong> müssen vor der eigentlich inhaltlichen<br />
Diskussion den „politischen Boden“ ebnen. Dazu gehört in erster Linie das Klären der unter<br />
„Politische Grundbedingungen“ beschriebenen Punkte.<br />
� Zusammensetzung des Projektteams: Hier muss einerseits die Interdisziplinarität von<br />
Fachleuten aus dem Bereich Alter und dem Bereich Migration/<strong>Integration</strong> sicher gestellt sein.<br />
Andererseits müssen bereits in dieser Vorphase AkteurInnen auf der Seite der<br />
Migrationsorganisationen und auch MigrantInnen selbst als feste Mitglieder ins Projektteam<br />
involviert werden, um dem Anspruch der Partizipation im Sinne aktiver Bürgerschaft gerecht<br />
zu werden. Die gilt auch für die Projektleitung, die entsprechend als Co-Leitung zu besetzen<br />
ist.<br />
Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen<br />
� Bei den Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen benötigt es Folgendes:<br />
- (Selbst) Definieren oder Einfordern einer klaren politischen Zielvorgabe<br />
- Klar definierter Projektauftrag von den politischen Instanzen<br />
- Definition und Übertragen von Verantwortungs- und Entscheidungskompetenz<br />
- verbindliche Zusage für Mittel und Ressourcen (siehe unten)<br />
- Klare Projektbeschreibung und –planung (siehe unten)<br />
� Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen innerhalb des Projektes selbst (Themenwahl,<br />
165
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
inhaltliche Ausgestaltung, Form und Ablauf, etc.) werden gemeinsam im Projektteam (siehe<br />
oben) und mit VertreterInnen der betroffenen Zielgruppe ausgehandelt. Dies ist eine<br />
zwingende Voraussetzung für die gelingende und glaubwürdige Partizipation älterer<br />
MigranInnen als Teil der Zivilgesellschaft. Erst das Einhalten dieses Punktes legitimiert<br />
<strong>MIGRALTO</strong> als das Modell der partizipativen Bürgerschaft älterer MigrantInnen.<br />
Mittel und Ressourcen<br />
� Partizipationsprozesse benötigen Ressourcen. Zum Beispiel personeller Aufwand auf Seite<br />
der staatlichen und nicht-staatlichen AkteurInnen, auf Seite der VerterterInnen von<br />
Migrantenorganisationen und auf Seite der mitagierenden MigrantInnen selbst. Auch wenn die<br />
staatlichen und nicht-staatlichen AkteurInnen meist im Rahmen ihrer Arbeit oder ihres<br />
Auftrages bezahlt sind, ist dies wahrscheinlich bei den VertreterInnen der<br />
Migrantenorganisationen eher nicht, bei den MigrantInnen selbst mit Sicherheit nicht der Fall.<br />
� Es gilt zu klären, wie und in welcher Form der Einsatz und das Engagement der Migran-<br />
tenorganisationen und der MigrantInnen wert geschätzt werden kann und muss. Hier darf<br />
nicht vergessen werden, dass MigrantInnen (und deren Organisationen) nicht um Partizipation<br />
im Sinne der aktiven Bürgerschaft gebeten haben, sondern dass sie von ihrer Gemeinde oder<br />
von Schweizer Institutionen dazu eingeladen werden. Ihren Anteil an Einsatz und<br />
Engagement einfach selbstredend unter dem Label der unentgoltenen Freiwilligenarbeit<br />
abzuhaken, wäre einerseits nicht fair und könnte verständlicherweise zu einem<br />
Motivationsverlust führen. Im Sinne eines Anreizes, vor allem aber als adäquate Anerkennung<br />
gilt es unbedingt, den Einsatz der Partizipierenden in Zukunft monetär oder auf andere Weise<br />
zu „vergüten“. Dies muss in einem Budget für Projekte aktiver Bürgerschaft mit älteren<br />
MigrantInnen jeweils eingeplant werden.<br />
� Im Rahmen des Konzeptes zum Projekt <strong>MIGRALTO</strong> müssen benötigte Mittel und Ressourcen<br />
vorgängig geplant und kalkuliert werden. Siehe hierzu den Punkt Vorgehen unten.<br />
Definition von Partizipation<br />
� Eine wichtige Grundvoraussetzung für das Gelingen des Projektes <strong>MIGRALTO</strong> ist die klare<br />
Definition des Begriffes „Partizipation“, wie sie im Modell vertreten wird. Da es sich<br />
mehrheitlich um eine noch ungewohnte Definition handelt, kann sie rasch zu<br />
Missverständnissen, Unklarheiten und falscher Anwendung der dem Modell <strong>MIGRALTO</strong><br />
zugrunde liegenden Partizipationsprinzipien führen.<br />
� Es ist sicherzustellen, dass der hier zugrunde liegende Begriff Partizipation im Sinne<br />
aktiver Bürgerschaft auf der Seite der staatlichen und nicht-staatlichen AkteurInnen eindeutig<br />
verstanden, vertreten und angewendet wird. Dies ist zentral, da sich sonst ein Abgleiten in das<br />
Muster der Partizipation im Sinne von teilnehmender, konsumierender Partizipation<br />
schleichend vollziehen könnte, was das eigentliche Ziel der Partizipation als aktive<br />
Bürgerschaft verfehlen würde.<br />
166
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
� Genauso zentral ist es, zu Beginn des Projektes die Definition von Partizipation, wie sie in<br />
Vorgehen<br />
dieser Arbeit eingeführt wurde, den VertreterInnen der Migrantenorganisationen und den<br />
älteren MigrantInnen im Sinne der Kompetenz-Erweiterung (siehe unten Modell, Punkt 4)<br />
vorzustellen und sie als handlungsweisendes Prinzip einzuführen.<br />
� Neben den in „Handlungsanleitung Teil 1“ beschriebenen Grundbedingungen und den in<br />
„Handlungsanleitung Teil 2“ vorgestellten, konkreten Handlungsschritten, ist für die<br />
Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> in der Praxis ein strukturiertes Vorgehen im Sinne der<br />
klassischen Projektorganisation unerlässlich. Es wird deshalb empfohlen, das gesamte<br />
Projekt in folgenden Schritten anzugehen:<br />
- Definition Projektrahmen<br />
- Definition Projektziele<br />
- Ressourcen- und Budget-Kalkulation<br />
- Projektplanung<br />
- Projekt-Controlling<br />
� Die in „Handlungsanleitung Teil 2 beschriebenen Massnahmen (siehe unten) beziehen sich<br />
auf die konkrete Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> unter Berücksichtigung der<br />
Erkenntnisse aus dieser Forschungsarbeit.<br />
6.3.2 Die Massnahmen innerhalb der Modell-Komponenten –<br />
Handlungsanleitung Teil 2<br />
Im Teil 2 Handlungsanleitung werden in knapper Form<br />
und anhand von Stichworten die konkreten<br />
Vorgehensschritte bei der Anwendung des Modells<br />
<strong>MIGRALTO</strong> aufgezeigt.<br />
Die Massnahmen oder Vorgehensschritte sind nach den<br />
unterschiedlichen Perspektiven der einzubeziehenden<br />
AkteurInnen in die Felder 1 bis 5 unterteilt. Dies erlaubt<br />
dem/r interessierten LeserIn ein perspektivenbezogenes<br />
Nachschlagen und den interessierten AkteurInnen eine<br />
klare Unterscheidung der Massnahmen nach dem<br />
Zuordnungsprinzip der jeweiligen AkteurInnen-<br />
Perspektive.<br />
Vorgängig werden die grundlegenden oder zwingenden Erstschritte und Massnahmen in<br />
chronologischer Abfolge aufgeführt und erläutert. Diese chronologische Auflistung zeigt damit die<br />
Prioritäten der zeitlichen Reihenfolge, die es nacheinander umzusetzen gilt. In der rechten Spalte<br />
167<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
Gemeinde / Region / Staat<br />
�<br />
�<br />
�<br />
Information / /<br />
Kommunikation<br />
Kompetenzerweiterung<br />
Partizipation<br />
� �<br />
Zielgruppe / Bevölkerung<br />
Zielgruppe / Bevölkerung
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
erscheinen die in einem Kreis dargestellten Ziffern 1 bis 5, damit die Schritte dem jeweiligen Feld<br />
zugeordnet werden können. Die aufgeführte Feldziffer zeigt an, wer für diesen Schritt verantwortlich<br />
ist oder wer dafür die Initiative ergreifen muss.<br />
Nach der chronologischen Vorgehenstabelle folgen pro Feld 1 -5 weitere Massnahmen, die bedarfs-<br />
oder projektbezogen ermittelt werden müssen und jene, die es je nach Zielsetzung zu definieren und<br />
umzusetzen gilt.<br />
Es können somit je nach Thema, Aktivität oder Projekt Kombinationen von Schritten und Massnahmen<br />
festgelegt werden. Zuerst sind jeweils die in der chronologischen Tabelle aufgeführten Massnahmen<br />
zu wählen und anschliessend die bedarfs- und projektbezogenen, die in die Gesamtplanung<br />
miteinbezogen werden.<br />
Choronologische Auflistung der Schritte/Massnahmen bei der Umsetzung und Anwendung des<br />
Modells <strong>MIGRALTO</strong> mit Zuordnung zum entsprechenden Feld (1-5)<br />
Reihenfolge<br />
Schritt<br />
1 Klären der Grundbedingungen<br />
(siehe Handlungsanleitung Teil 1 oben)<br />
2 Lancierung von Partizipation im lokalen Kontext: Die<br />
Gemeinde setzt sich zunächst ins Bild über die<br />
soziodemografischen Fakten zu „ihrer<br />
Migrationsbevölkerung“. Wer sind die älteren MigrantInnen<br />
auf dem Gemeindeterritorium? Welche Gruppen gibt es?<br />
Sind sie in eigenen Strukturen organisiert? etc. Nach<br />
Aneignung dieser Kenntnisse geht die Gemeinde auf die<br />
MigrantInnen zu und lädt sie aktiv zum Partizipationsprojekt<br />
ein. Umgekehrt ist sie offen und steht mit einer klar<br />
kommunizierten Anlaufstelle/-person (mit eigenem<br />
Migrationshintergrund) für allfällige Partizipationsinitiativen<br />
älterer MigrantInnen niederschwellig zur Verfügung.<br />
3 Suche und Vernetzung von ProjektpartnerInnen auf der<br />
staatlichen und/oder nicht-staatlichen schweizerischen<br />
Ebene:<br />
Welche Fach- oder anderen Stellen und AkteurInnen sind<br />
an diesem Projekt interessiert, können einen wichtigen<br />
Beitrag leisten (z.B. Türöffner bei Migrantengruppen oder<br />
Fachwissen, etc.) oder können das Projekt durch ihre<br />
Teilnahme erfolgreicher machen?<br />
4 Suche und Einbezug von Schlüsselpersonen und /<br />
oder MultiplikatorInnen der für das Projekt vorgesehenen<br />
Migrantengruppe:<br />
Wer möchte sich einbringen? Wer ist geeignet, um einen<br />
möglichst grossen Kreis der eigenen Migrantengruppe zu<br />
repräsentieren? Welche Rolle und Eigenschaften muss<br />
er/sie haben, um in der eigenen Gruppe möglichst breit<br />
168<br />
AkteurInnen<br />
InitiantInnen �<br />
Felderzuordnung<br />
InitiantInnen �.�<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen<br />
AkteurInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen und<br />
Kontaktpersonen zur<br />
Zielgruppe<br />
�<br />
� �<br />
�
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
akzeptiert zu werden? Sind Kriterien wie Gender und<br />
Diversität auch bei der Wahl der RepräsentantInnen der<br />
Migrantengruppe definiert und berücksichtigt?<br />
5 Gründung einer Arbeitsgruppe Partizipation:<br />
Die Gruppe konstituiert sich selbst und bestimmt eigene<br />
Spielregeln der Zusammenarbeit wie Rollen- und<br />
Aufgabenteilung, Verantwortungsbereiche, Strukturen, etc.<br />
6 Rahmen und Inhalt des Projektes: Gemeinsame,<br />
gleichberechtigte Aushandlung über folgende Themen:<br />
- Definition der Zielgruppe für das oder die Projekte<br />
- Definition und sorgfältige Ausarbeitung der Wege für eine<br />
möglichst breites Erreichen der Zielgruppe<br />
- Information zum Projekt vorbereiten und Informations-<br />
kanäle definieren und vorbereiten<br />
7 Kontaktaufnahme zur spezifischen Migrantengruppe:<br />
In Sprache und Form an die Zielgruppe angepasste<br />
Informationsveranstaltungen planen und durchführen. Die<br />
Zusammenkünfte sollen bereits nach den Prinzipien von<br />
Ressourcen-Aktivierung und partizipativem Vorgehen<br />
gestaltet sein.<br />
8 Initiierung und Kick-off des Projektes oder der<br />
Aktivitäten mit den dafür gewonnen MigrantInnen:<br />
- Geeignete Einführungsveranstaltung partizipativ<br />
definieren,<br />
gestalten und durchführen.<br />
- Aushandlungsprozess über die Definition von<br />
Partizipation<br />
9 Das eigene Alter als Thema:<br />
Gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Thema Alter<br />
und den damit verbundenen Vorstellungen, Ressourcen,<br />
Kompetenzen,. Bedürfnissen, Ängsten, Erwartungen,<br />
Potenzialen und Forderungen<br />
10 Handlungsbedarf und Themen:<br />
Aushandlungsprozess über die gewünschten Themen, die<br />
partizipativ erarbeitet oder angegangen werden sollen<br />
- gemeinsames Erheben von Bedürfnissen und von<br />
Interessengebieten und Erkennen von gemeinsamer<br />
Themen- oder Territorialbetroffenheit<br />
- partizipatives Erarbeiten des Projektplanes<br />
11 Rahmenbedingungen und Strukturen:<br />
Gemeinsames Erarbeiten und Festlegen der<br />
Rahmenbedingungen, Strukturen und Arbeitsweise für das<br />
Partizipationsprojekt<br />
12 Kennen lernen und Vertrauen schaffen:<br />
Sich gegenseitig Kennen lernen und für einander<br />
interessieren, Beziehungen aufbauen, Einbringen eigener<br />
Ressourcen als gemeinsamer Prozess, gegenseitige<br />
Anerkennung der jeweiligen Kompetenzen und<br />
Erfahrungen, gegenseitige Lernbereitschaft zeigen.<br />
169<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen,<br />
MittlerInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
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13 Durchführung des Projektes: Beauftragte � �
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Den gemeinsam erarbeiteten Projektplan in die Realität<br />
umsetzen. Entscheidungen gemeinsam treffen,<br />
Meilensteine setzen, Zwischenziele evaluieren. Sich<br />
gegenseitig Feedbacken und Coachen. Gemeinsames<br />
Lernen. Kreative Projektdokumentation einführen, die nicht<br />
von schriftlichen und sprachlichen Kompetenzen abhängt.<br />
Bei allen Gestaltungsaspekten des Projekts<br />
berücksichtigen, dass ältere MigrantInnen der ersten<br />
Einwanderungsgeneration häufig bildungsfern sind und es<br />
daher angepasste Formen und Mittel braucht.<br />
14 Evaluation und Würdigung:<br />
Vor Abschluss des Projektes Evaluationsvorgehen<br />
definieren und anschliessend Evaluation durchführen. Den<br />
Einsatz, das Mittragen (ideell) und die gemeinsamen<br />
Erfolge würdigen und feiern.<br />
15 Nachhaltigkeit und Regelstrukturen:<br />
Das Projekt in eine Regelstruktur überführen. Partizipativ<br />
entscheiden, durch wen und wie es weitergeführt werden<br />
soll. Welche Rahmenbedingungen braucht es dafür (z.B.<br />
weitere Finanzierung oder weiteres Bereitstellen von<br />
Infrastruktur), Regeln der weiteren Zusammenarbeit mit<br />
den staatlichen Akteuren und/oder den Akteuren der<br />
Altersarbeit.<br />
170<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
Beauftragte<br />
Fachpersonen,<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe,<br />
MigrantInnen<br />
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� �<br />
� �<br />
Auflistung weiterer Schritte/Massnahmen (nach Umsetzung der zwingenden Erstschritte oder<br />
in Kombination dazu) bei der Umsetzung und Anwendung des Modells <strong>MIGRALTO</strong><br />
� Staatliche und Nicht-staatliche AkteurInnen: Gemeinde / Region / Staat / AnbieterInnen<br />
Schritt / Thema Beschreibung AkteurInnen<br />
Kontrolle<br />
Partizipationsprinzip<br />
Regelmässige Überprüfung über die Einhaltung<br />
der gemeinsam definierten partizipativen<br />
Prinzipien<br />
Steuerungsmechanismen Steuerungsmöglichkeiten der Partizipation nutzen,<br />
(partizipative) Projekte fördern, d.h. Unterstützung<br />
vom Einbezug älterer MigrantInnen abhängig<br />
machen: Prüfen, dass die Bestrebungen zur<br />
Partizipation älterer MigrantInnen an der<br />
Zivilgesellschaft mit den Leitlinien übereinstimmen<br />
und dass z.B. die politische Unterstützung<br />
gewährleistet ist.<br />
Netze Rückgriff auf bewährte Vereinsstrukturen der<br />
MigrantInnen als festes Arbeitsprinzip:<br />
Die Selbstorganisation der MigrantInnen dadurch<br />
würdigen, dass deren Netzwerke und Strukturen<br />
konsequent und partizipativ einbezogen werden.<br />
Schlüsselstellen In der Gemeinde kompetente Personen mit dem<br />
Projekt betrauen, die entweder einen<br />
entsprechenden Migrationshintergrund,<br />
ProjektleiterInnen und<br />
Einbezug der<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Migrantengruppe<br />
EntscheidungsträgerInnen<br />
und AB und ID<br />
ProjektleiterInnen, AB und<br />
ID<br />
Geeignete MitarbeiterInnen<br />
der staatlichen Institutionen<br />
oder ProjektpartnerInnen
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Sprachkenntnisse oder eine sonstige Affinität zur<br />
Zielgruppe haben. Diese Schlüsselpersonen<br />
müssen dafür besorgt sein, dass „die<br />
Migrantenperspektive“ konsequent in die<br />
Überlegungen der staatlichen EntscheidungsträgerInnen<br />
oder AuftraggeberInnen einfliesst.<br />
Lobbying Alle Projektteilnehmenden betreiben bewusst und<br />
gezielt Öffentlichkeitsarbeit, indem sie intern und<br />
extern für das Anliegen einstehen, dafür<br />
sensibilisieren und es bekannt machen.<br />
Gender- und andere<br />
Diversitätsaspekte<br />
Sensibilität und Berücksichtigung von gender- und<br />
anderen Diversitätsaspekten innerhalb der<br />
Zielgruppe:<br />
Weg vom ethnien-zentrierten Teilnehmen hin zum<br />
ressourcen-orientierten Partizipieren.<br />
Das bedingt eine vertiefte Auseinandersetzung mit<br />
der Geschichte der Partizipierenden und eine<br />
konsequente diversitätsgerechte Haltung.<br />
Legende: AB = Altersbeauftragte / ID = <strong>Integration</strong>sdelegierte<br />
� Zielgruppe / Bevölkerung: MigrantInnen und Migrationsorganisationen<br />
171<br />
EntscheidungsträgerInnen,<br />
ProjektleiterInnen und AB<br />
und ID<br />
ProjektleiterInnen<br />
Schritt / Thema Beschreibung AkteurInnen<br />
Zugang Zugang zu eigenen Strukturen (Vereinigungen,<br />
Netzwerke) ermöglichen und begleiten.<br />
Die Zusammenarbeit mit den staatlichen<br />
Akteurinnen muss sorgfältig eingeführt werden.<br />
Beziehungsaufbau mittels der ausgewählten<br />
VertreterInnnen der Zielgruppe aktiv und<br />
niederschwellig gestalten. Das Kennenlernen<br />
fördern und Ängste oder Widerstände abbauen.<br />
Generationenfrage Einbezug von 2. Generation prüfen / begünstigen /<br />
begleiten. Die Zielgruppe selbst entscheidet, ob<br />
und in welcher Form resp. für welche Themen<br />
oder Aktivitäten sie die 2. Generation<br />
miteinbeziehen möchte.<br />
Bei Teilnahme der 2. Generation muss diese<br />
ebenfalls in die Prinzipien der Partizipation<br />
eingeführt werden.<br />
Bereitschaft Bereitschaft, sich auf Partizipations-Prozesse<br />
einzulassen. Diese muss in einem frühen Stadium<br />
des Projektes geprüft werden. Allenfalls müssen<br />
zu Beginn hürdensenkende Aktivitäten<br />
durchgeführt werden. Dazu gehört bspw. auch, die<br />
Gründe für eine fehlende Bereitschaft zu<br />
erkennen, sich damit auseinanderzusetzen, sie zu<br />
akzeptieren oder zu überwinden.<br />
Gender- und andere<br />
Diversitätsaspekte<br />
Sensibilität und Berücksichtigung von gender- und<br />
anderen Diversitätsaspekten innerhalb der<br />
Zielgruppe.<br />
Weg vom ethnien-zentrierten Teilnehmen hin zum<br />
ressourcen-orientierten Partizipieren.<br />
Migranten-VertreterInnen<br />
und MigrantInnen<br />
Migranten-VertreterInnen,<br />
MigrantInnen und<br />
ProjektleiterInnen<br />
Migranten-VertreterInnen<br />
und MigrantInnen<br />
Migranten-VertreterInnen<br />
und ProjektleiterInnen
� Information / Kommunikation<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Das bedingt eine vertiefte Auseinandersetzung mit<br />
der Geschichte der Partizipierenden und eine<br />
konsequente diversitätsgerechte Haltung.<br />
Schritt Beschreibung AkteurInnen<br />
Politische Bedingungen Informieren, wieso Partizipationsbestrebungen<br />
von staatlicher Seite unternommen werden, ohne<br />
dass dies Anrecht auf die verfassungsmässigen<br />
Bürgerrechte bedeuten würde.<br />
� Verständnis schaffen<br />
Information über:<br />
- Stand und Entwicklung von Partizipation<br />
- Stand und Vorhaben bezüglich <strong>Integration</strong><br />
- Bedeutung und Entwicklung von Altersleitbildern<br />
- Bedeutung und Möglichkeiten in Bezug auf<br />
das Vertreten-Sein in Seniorenräten, etc.<br />
Vermittlung Information über die Rechte von MigrantInnen<br />
ausserhalb der politischen Rechte.<br />
Information über und Kennenlernen von<br />
Institutionen im Altersbereich.<br />
Information über Unterstützungs- und<br />
Beratungsmöglichkeiten für behördliche Anliegen<br />
Partizipationswissen Vermitteln von Information über Strukturen und<br />
Möglichkeiten der Partizipation (z.B. über<br />
<strong>MIGRALTO</strong> und weitere Teilhabemöglichkeiten<br />
wie zum Beispiel Quartier- oder Freiwilligenarbeit<br />
Datenbasis Informationen und Entscheidungen basieren auf<br />
lokalen demografischen Daten.<br />
Kommunikationswege<br />
und -kanäle<br />
Für Partizipationsprojekte benötigt es konkrete<br />
Anhaltspunkte und eine informierte Ausgangslage<br />
� Argumentationsbasis für politische<br />
EntscheidungsträgerInnen, aber auch legitimierte<br />
Entscheidungsgrundlage für staatliche<br />
AkteurInnen<br />
Diese müssen sehr sorgfältig eruiert, festgelegt<br />
und gezielt genutzt werden. Eine permanente<br />
Optimierung ist anzustreben. Siehe dazu auch die<br />
Empfehlungen in „Schwer erreichbare<br />
Zielgruppen“ von Soom Ammann und Salis Gross<br />
(2011).<br />
Öffentlichkeitsarbeit Wenn mit <strong>MIGRALTO</strong> oder anderen Projekten mit<br />
ähnlicher Zielsetzung ein neues Verständnis von<br />
Partizipation im Sinne aktiver Bürgerschaft<br />
geschaffen werden soll, braucht es dafür<br />
konsequente Öffentlichkeitsarbeit. Wo kann und<br />
soll über das Projekt informiert werden? Wer sind<br />
wichtige Zielpersonen, die „BotschafterInnen“ für<br />
das Projekt sein können? Bei welchen<br />
Gelegenheiten und an welchen Veranstaltungen<br />
172<br />
ProjektleiterInnen<br />
Fachpersonen<br />
Fachpersonen<br />
EntscheidungsträgerInnen,<br />
ProjektleiterInnen<br />
Bidirektional / gegenseitig<br />
Alle Beteiligten
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
kann und soll das Projekt präsentiert werden?<br />
Austausch / Vernetzung Es soll ein regelmässiger Austausch stattfinden<br />
zwischen Altersbeauftragten,<br />
<strong>Integration</strong>sdelegierten, Fachpersonen aus dem<br />
Altersbereich, Migrantenorganisationen und<br />
MigrantInnen.<br />
Aufsuchendes Prinzip Partizipation bedingt den Perspektivenwechsel:<br />
Eintreten in die und Kennenlernen der<br />
„Lebenswelt“ der Partizipierenden.<br />
� Kompetenzerweiterung<br />
Auch Aktivitäten, Angebote und Dienstleistungen,<br />
die von der Gruppe des Partizipationsprojektes<br />
selbst geplant sind, sollen dem Grundsatz gerecht<br />
werden, Partizipation aufsuchend in den<br />
Strukturen der Zielgruppe zu gestalten.<br />
173<br />
Bidirektional / gegenseitig<br />
Bidirektional / gegenseitig<br />
Schritt / Thema Beschreibung AkteurInnen<br />
Partizipations-Kompetenzen Die gemeinsam erarbeitete Definition von<br />
Partizipation muss erprobt und geübt werden.<br />
Welche konkreten Kompetenzen braucht es für<br />
aktive Bürgerschaft? Über welche verfügen die am<br />
Projekt teilhabenden MigrantInnen bereits? Wie<br />
können sie diese konkret einbringen? Welche<br />
Kompetenzen bringen die VertreterInnen der<br />
Gemeinde mit und wie können sie diese<br />
vermitteln?<br />
Aber auch: Information über Partizipationsstrukturen,<br />
-formen und –möglichkeiten, Zugang<br />
zu Regelstrukturen fördern.<br />
Lernen / Empowerment Partizipation bedeutet lernen und lernen bedeutet<br />
Partizipation.<br />
Welche Kompetenzen können von MigrantInnen<br />
eingebracht werden? Welche möchten sie<br />
erwerben? Wie kann der Lernprozess gestaltet<br />
werden? Was können die Gemeinde und ihre<br />
VertreterInnen umgekehrt von den MigrantInnen<br />
lernen?<br />
Selbstverantwortung Fördern der Selbstverantwortung durch den<br />
gemeinsamen Partizipations-Prozess:<br />
Entscheidungen treffen, Verantwortung<br />
übernehmen, proaktiv sein. Mit welchen Formen<br />
der Partizipation und mit welchen Aktivitäten lässt<br />
sich Selbstverantwortung bei den MigrantInnen<br />
fördern? � partizipativ erarbeiten!<br />
Eigeninitiative Partizipation kann und soll auch von den<br />
MigrantInnen oder von Migrantenorganisationen<br />
ausgehen.<br />
Fördern der Eigeninitiative durch den<br />
gemeinsamen Partizipations-Prozess: Mit welchen<br />
Formen der Partizipation und mit welchen<br />
Aktivitäten oder Entwicklungsprozessen (der<br />
Persönlichkeit) lässt sich Eigeninitiative bei den<br />
Bidirektional / gegenseitig<br />
MigrantInnen und<br />
Schweizer VertreterInnen<br />
MigrantInnen und<br />
Schweizer VertreterInnen<br />
MigrantInnen und<br />
Schweizer VertreterInnen
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
MigrantInnen fördern? � partizipativ erarbeiten!<br />
Biografiearbeit � Biografiearbeit als wichtiger Prozess in der<br />
Partizipationsgestaltung:<br />
Erkennen, Wertschätzen und Einbringen der<br />
(lebensgeschichtlichen) Ressourcen,<br />
Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Für die ProjektleiterInnen auf der Seite der<br />
Schweizerischen VertreterInnen ist dies ein<br />
wichtiger Lernschritt, mit dem ein ethnienzentrierter<br />
Ansatz vermieden und dafür ein<br />
ressourcen- und lebensgeschichtlich orientierter<br />
Prozess ermöglicht und gefördert wird.<br />
MultiplikatorInnen Weiterbildung von geeigneten<br />
MultiplikatorInnen für den Einsatz in<br />
Partizipationsprojekten.<br />
Zugang ermöglichen Kennenlernen und Zugang ermöglichen zu<br />
Strukturen und Möglichkeiten für fachlichen oder<br />
persönlichen Kompetenz-Zuwachs. Zum Beispiel:<br />
Welche Weiterbildungsmöglichkeiten stehen den<br />
am Projekt teilhabenden MigrantInnen offen? Wie<br />
lässt sich der Zugang zu bisher „versperrten“<br />
Möglichkeiten öffnen?<br />
Weiterbildung der<br />
Fachpersonen<br />
� Partizipation<br />
Zu welchen Veranstaltungen wäre umgekehrt den<br />
Schweizer VertreterInnen der Zugang zu<br />
ermöglichen?<br />
Weiterbildung der Fachpersonen: Welches<br />
Wissen und welche praxisrelevanten<br />
Kompetenzen brauchen Fachpersonen, die<br />
Partizipationsprojekte durchführen, damit sie<br />
Fehler oder uneffektive Vorgehensweisen<br />
vermeiden? Welche Kompetenzen brauchen sie<br />
im Umgang mit der Zielgruppe?<br />
174<br />
MigrantInnen,<br />
Unterstützung durch<br />
Fachperson und<br />
Projektmitglieder<br />
Schlüsselpersonen der<br />
Zielgruppe<br />
Bidirektional / gegenseitig<br />
Fachpersonen und AB und<br />
ID<br />
Schritt Beschreibung Akteur/Richtung<br />
Vom Moment an, wo die staatlichen AkteurInnen mit den MigrantInnen und VertreterInnen von Migrantenorganisationen<br />
Kontakt aufnehmen oder umgekehrt, werden alle Schritte in einem gemeinsamen<br />
Aushandlungsprozess definiert, angegangen und umgesetzt.<br />
Prinzipien:<br />
Partizipation IST <strong>Integration</strong> – <strong>Integration</strong> IST Partizipation<br />
Partizipation ist Lernen – Lernen ist Partizipation<br />
Partizipation bedeutet Aushandlung unterschiedlicher Perspektiven<br />
Partizipation heisst Teilnahmebereitschaft und Teilnahmeermöglichung zugleich<br />
Partizipation erfordert Chancengleichheit<br />
Partizipation fördert die gegenseitige Wahrnehmung und baut Vorurteile ab<br />
Partizipation vermag ethnische Grenzen zu überwinden und gemeinsame Interessen und Betroffenheit zu<br />
erkennen<br />
PARTIZIPATION IST PARTNERSCHAFT – PARTNERSCHAFT IST PARTIZIPATION
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die Auflistung der Massnahmen resp. Vorgehensschritte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />
Ausserdem wird deren Anwendung und Umsetzung in der Praxis zu überprüfen und allenfalls<br />
anzupassen und zu ergänzen sein.<br />
Eine detaillierte Beschreibung und Darstellung des hier aufgeführten Vorgehens und der einzelnen<br />
Schritte wird im Sinne eines weiteren Zieles realisiert werden: Erstellen eines Leitfadens zu Handen<br />
von EntscheidungsträgerInnen und ProjektleiterInnen in Gemeinden für die konkrete Umsetzung des<br />
Modells <strong>MIGRALTO</strong> im lokalen Kontext (vgl. Kapitel 6.4).<br />
6.4 Das Modell <strong>MIGRALTO</strong>:<br />
Einsatz in der Praxis und Weiterentwicklung (V. Abati)<br />
Die Entwicklung eines Modells für die Partizipation älterer MigrantInnen auf Gemeindeebene– hier<br />
aufgrund empirischer Daten aus der Befragung der VertreterInnen von Schweizer Institutionen und<br />
von italienischen VertreterInnen aus Migrantenorganisationen und MigrantInnen selbst – ist der erste<br />
Schritt, bevor das Modell selbst in die Umsetzungsphase überführt und in der Praxis implementiert<br />
werden kann.<br />
Die vorliegende Masterarbeit schliesst den Schritt der Modellentwicklung ab im Wissen, dass die<br />
Bewährungsprobe in der Praxis ein nächster wichtiger Schritt ist. Das Modell wurde mit dem Ziel<br />
entwickelt, es anschliessend in einem kommunalen Kontext einzuführen und erste Erfahrungen damit<br />
zu sammeln. Dass es dabei zu neuen Erkenntnissen und zu Anpassungen des noch unerprobten<br />
Modells kommen wird, liegt in der Natur der Sache. Neben der angedachten Umsetzung sind noch<br />
weitere Aktivitäten vorgesehen, die hier kurz skizziert werden.<br />
Umsetzung von <strong>MIGRALTO</strong> in der Stadt Bern<br />
Das Alters- und Versicherungsamt (AVA) der Stadt Bern war bereits für die Analysephase der<br />
Forschungsarbeit Partnerin. Bei einer allfälligen Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> innerhalb eines<br />
Quartiers der Stadt Bern wird noch zu klären sein, wie eine eventuelle Zusammenarbeit zwischen<br />
Stadt als Auftraggeberin und Autorinnen zu gestalten wäre.<br />
<strong>MIGRALTO</strong> als Grundlage für die Alterspolitik<br />
Neben seiner Anwendung im Praxiskontext im Sinne eines Projektes auf kommunaler und lokaler<br />
Ebene, kann es als Grundlage für eine Alterspolitik und -arbeit, die der wachsenden Heterogenität der<br />
Altersbevölkerung Rechnung trägt und diese repräsentiert, genutzt werden.<br />
<strong>MIGRALTO</strong> als Grundlage für Fachpersonen und ExpertInnen<br />
Die erarbeiteten Grundlagen und das entwickelte Modell bieten einen Nutzen für Fachpersonen und<br />
ExpertInnen in der Altersarbeit, sei dies in der Verwaltung, wie für Gemeindemitarbeitende, die<br />
Themen der Alterspolitik bearbeiten und Massnahmen oder Projekte in diesem Bereich durchführen,<br />
sei dies für AkteurInnen in der Altersarbeit selbst, die Massnahmen für und mit älteren MigrantInnen<br />
175
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
durchführen möchten, aber auch für die Altersbeauftragten und die <strong>Integration</strong>sdelegierten, die ihre<br />
Kompetenzen im sich überschneidenden Themenbereich der älteren MigrantInnen erweitern und sich<br />
für zukünftige Projekte vernetzen möchten.<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
Mit den Ergebnissen soll Öffentlichkeitsarbeit in verschiedener Form gemacht werden. Die Master-<br />
arbeit wird gezielt in Fachkreisen bekannt gemacht und es wird darauf hingewiesen, dass die<br />
Autorinnen bereit sind, die Arbeit und das Modell in Form einer Präsentation oder von Vorträgen bei<br />
internen Gremien oder bei öffentlichen Anlässen vorzustellen. An verschiedenen Veranstaltungen mit<br />
AkteurInnen aus den Bereichen Alter und Migration/<strong>Integration</strong> soll auf das Modell <strong>MIGRALTO</strong><br />
aufmerksam gemacht werden (siehe unten Broschüre) und nach einem erfolgreich durchgeführten<br />
Pilotprojekt soll die Durchführung einer nationalen oder regionalen Tagung ins Auge gefasst werden.<br />
Broschüre und Handbuch <strong>MIGRALTO</strong><br />
Um das Modell bekannt zu machen und Öffentlichkeitsarbeit betreiben zu können, ist die Erarbeitung<br />
einer kurzen Informationsbroschüre vorgesehen, die auf den Grundlagen der vorliegenden Master-<br />
arbeit basiert und die den Fachpersonen und ExpertInnen zur Verfügung gestellt werden soll. Später –<br />
im Sinne eines Folgeprojektes mit noch nicht geklärtem/r TrägerIn und Finanzierung – ist die<br />
Erarbeitung eines Handbuches vorgesehen. Das Handbuch wird zwei Teile beinhalten. Teil 1 ist ein<br />
praxisorientierter Leitfaden, welcher die Umsetzung des Modells <strong>MIGRALTO</strong> in einem kommunalen<br />
Kontext anleiten und unterstützen soll (siehe Kapitel 6.2). Teil 2 sieht ein Schulungsmodul vor. Siehe<br />
dazu den nächsten Abschnitt.<br />
Schulungsmodul <strong>MIGRALTO</strong><br />
Im Teil 2 des oben erwähnten Handbuches ist ein Schulungsmodul für Fachpersonen aus dem Alters-<br />
und <strong>Integration</strong>sbereich vorgesehen. Das Modul soll die Teilnehmenden auf die Einführung eines<br />
Projektes zur aktiven Partizipation von älteren MigrantInnen in der Gemeinde oder im Quartier<br />
vorbereiten und ihnen die Kenntnisse und die Vorgehensweise für die Umsetzung von <strong>MIGRALTO</strong><br />
liefern. Dabei soll das Modul so gestaltet und durchgeführt werden, dass das Gelernte im Sinne eines<br />
Multiplikationseffektes unter Fachpersonen weitergegeben werden kann.<br />
Zu einem späteren Zeitpunkt werden für die Weiterentwicklung und die Verbesserung des Modells<br />
<strong>MIGRALTO</strong> ausserdem weitere Schritte nötig sein:<br />
- Qualitätsmanagement: Heute verlangen richtigerweise auch Verwaltung, NGO‟s und NPO‟s<br />
vermehrt einen Qualitätsnachweis für Massnahmen und Projekte, die sie durchführen. Für das<br />
Modell <strong>MIGRALTO</strong> müssen Kriterien und Indikatoren gemäss Qualitätsmanagements definiert und<br />
getestet werden, um der Forderung der Qualitätsprüfung und –sicherung zu genügen.<br />
- Evaluation und Nachhaltigkeit: Nach der Durchführung eines Pilotprojektes müsste das Modell<br />
und die umgesetzten Massnahmen einer wissenschaftlichen Evaluation unterzogen werden, um<br />
der bereits erwähnten Forderung nach Qualität zu entsprechen und um im wissenschaftlichen<br />
Diskurs bestehen zu können. Durch eine Projektevaluation wäre die Grundlage für eine nach-<br />
176
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
haltige Einführung in regionalem oder vielleicht sogar nationalem Rahmen geschaffen. Nach-<br />
haltigkeit wird ja nicht nur als Qualitätskriterium für ein Modell gefordert, sondern ist in vielen<br />
Fällen Voraussetzung für eine finanzielle Unterstützung durch politische EntscheidungsträgerInnen.<br />
6.5 Reflexion zum Arbeitsprozess (Kritik) (H. Hungerbühler und V. Abati)<br />
In diesem Kapitel reflektieren die Autorinnen abschliessend den Arbeitsprozess zur Entstehung der<br />
vorliegenden Masterarbeit mit Fokus auf mögliche Kritikpunkte.<br />
Zu den Zielgruppen der Erhebung<br />
� Ausschluss Zielgruppe Schweizer Bevölkerung: Die Zielgruppe ältere SchweizerInnen wurde nicht<br />
analog zu den älteren MigrantInnen in die Erhebung einbezogen. Grund dafür ist das<br />
Erkenntnisinteresse der Autorinnen, die den Fokus explizit auf den staatlichen <strong>Integration</strong>sauftrag<br />
gegenüber der Zielgruppe ‚ältere MigrantInnen„ richteten. Als Ausgangspunkt dieser Masterarbeit<br />
diente denn auch die Ausschreibung des Modellvorhabens der Eidgenössischen Kommission für<br />
Migrationsfragen EKM zum Thema „Aktive Bürgerschaft von MigrantInnen, Citoyenneté“ (vgl.<br />
Kapitel 1), die ausschliesslich die ältere Migrationsbevölkerung als Zielgruppe vorsieht.<br />
Die Autorinnen vermuten jedoch, dass sich einige der Befunde zu Partizipationsprozessen auch<br />
auf vergleichbare Segmente der älteren Schweizer Bevölkerung übertragen liessen. Im Weiteren<br />
vertreten sie die Ansicht, dass eine staatliche <strong>Integration</strong>spolitik nicht nur eine gesonderte<br />
Zielgruppe wie die MigrantInnen, sondern sämtliche Bevölkerungsgruppen - auch die<br />
SchweizerInnen - ansprechen und in die Pflicht nehmen sollte. Entsprechend interessant wäre<br />
eine Forschung, die sich diesem Thema annehmen würde.<br />
� Definition Zielgruppe „ältere italienische MigrantInnen“: Die Definition der Zielgruppe „Ältere<br />
MigrantInnen = Personen ab Pensionierung 62/65+“ ist zu generell gehalten und steht im<br />
Gegensatz zum mehrmaligen Hinweis der Autorinnen zur inneren Heterogenität/Diversität dieser<br />
Zielgruppe. Auf diese von den schriftlich befragten GemeindevertreterInnen geäusserte Kritik<br />
wurde bereits in Kapitel 5.2.1 eingegangen. Sie wird hier nochmals zusammengefasst: Die<br />
Autorinnen haben sich in dieser Arbeit bewusst auf die italienischen ArbeitsmigrantInnen<br />
konzentriert, die nach dem zweiten Weltkrieg in die Schweiz eingewandert sind. Es ist diese<br />
Gruppe, die den grössten Anteil der heute bereits pensionierten MigrantInnen ausmacht, die<br />
schon am längsten in der Schweiz lebt und entsprechend über die grösste Erfahrung mit<br />
<strong>Integration</strong>/Partizipation und Selbstorganisation verfügt. Somit handelt es sich auch um diejenige<br />
Zielgruppe, von der sich die Autorinnen den grössten Erkenntnisgewinn versprachen.<br />
� Kriterium Ethnizität: Als Fortführung des oben Gesagten, kann angefügt werden, dass für einen<br />
umfassenderen Erkenntnisgewinn die ältere Migrationsbevölkerung idealerweise in ihrer ganzen<br />
Diversität untersucht werden müsste. Der vorgegebene und begrenzte Umfang einer Masterarbeit<br />
setzt jedoch auch inhaltliche Grenzen. Der Aufwand einer mehrsprachigen qualitativen<br />
Untersuchung wäre sehr hoch und im vorgegebenen Zeitrahmen kaum zu bewältigen. Zudem<br />
177
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
gingen die Autorinnen bereits in ihrer Untersuchungsanlage von der Vermutung aus, dass die<br />
Ethnizität der älteren MigrantInnen für die Entwicklung eines Modells <strong>MIGRALTO</strong> und für die<br />
gemeinsame Partizipation mit dieser Zielgruppe zwar berücksichtigt werden muss, jedoch nicht im<br />
Vordergrund stehen soll. Diese Annahme bestätigte sich im Verlaufe der Arbeit deutlich und<br />
mehrfach.<br />
Zur Methodik<br />
Vorweg gilt es, Folgendes zu beachten: Die Masterarbeit wurde als explorative Untersuchung<br />
konzipiert, in der keine Erstellung und Überprüfung von wissenschaftlichen Hypothesen vorgenommen<br />
wurde.<br />
� Abstimmung Befragungsinstrumente: Die Fragen der schriftlichen Erhebung bei den<br />
GemeindevertreterInnen (Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte) zum einen und der<br />
mündlichen Erhebung bei den älteren MigrantInnen zum andern hätten noch besser aufeinander<br />
abgestimmt werden können, um eine direktere Vergleichbarkeit zu erzielen. Es ist aber auch<br />
darauf hinzuweisen, dass die beiden Gruppen nicht auf derselben Ebene angesiedelt sind:<br />
Während es sich bei der ersten Gruppe um VertreterInnen des Staates handelt, sind es bei der<br />
zweiten Gruppe Individuen der Zivilgesellschaft. Beide haben aufgrund ihrer Rolle unterschied-<br />
liche Perspektiven auf Partizipation, die auch mit unterschiedlichen Fragen zu erheben sind.<br />
Selbstkritisch muss jedoch festgehalten werden, dass der Prozess der Fragenerarbeitung mehr<br />
Zeit gebraucht hätte, um eine höhere methodische Kongruenz zwischen den einzelnen<br />
Erhebungsteilen zu erreichen.<br />
� Unterschiedliche Ebenen der Befragten: Die Zielgruppen der schriftlichen Befragung sind auf zwei<br />
verschiedenen Ebenen der staatlichen Alters- und <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit angesiedelt: auf der<br />
kommunalen und der kantonalen. Das ist darauf zurückzuführen, dass die <strong>Integration</strong>sdelegierten<br />
über die Adressen der in der KID, der Konferenz der kantonalen und kommunalen <strong>Integration</strong>s-<br />
delegierten der Schweiz zusammengeschlossenen Fachpersonen, angeschrieben wurden. Somit<br />
waren in dieser Gruppe, im Unterschied zu den kommunalen Altersbeauftragten, auch<br />
RepräsentantInnen der kantonalen Ebene vertreten. Bei der Auswertung der Antworten wurde<br />
dann jedoch nicht nach kantonaler und kommunaler Ebene unterschieden. Dieses Vorgehen<br />
erscheint den Autorinnen gerechtfertigt, da sie bezüglich der zwei verschiedenen<br />
Repräsentationsebenen keine Annahmen trafen. Vielmehr versprachen sie sich vom Einbezug der<br />
kantonalen Ebene (ein Teil der <strong>Integration</strong>sdelegierten) einen Mehrwert für den Erkenntnisgewinn,<br />
der nachweislich auch generiert werden konnte (vgl. Kapitel 5.2.2 Telefonische Nachbefragung).<br />
� Komplexität Frageinstrument: Der Fragebogen der schriftlichen Erhebung ist sehr umfassend und<br />
komplex. Er hätte noch gekürzt werden können. Das gewählte Vorgehen führte zu einer grossen<br />
Datenmenge, die im Rahmen des begrenzten Umfangs der Masterarbeit nur nach absoluten<br />
Häufigkeiten (N) und prozentualer Verteilung der Antworten ausgewertet wurde. Auf das Auswei-<br />
sen von Korrelationen wurde verzichtet, da die teilweise geringe Anzahl (N) der Antworten<br />
178
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
tendenziell zu Scheinkorrelationen geführt hätte. Korrelationen wären in diesem Zusammenhang<br />
auch nur dann interessant gewesen, wenn sich Kausalitäten hätten aufzeigen lassen.<br />
� Ungeprüfte Annahme: Folgende in Kapitel 3 getroffene Annahme wurde nicht konkret überprüft:<br />
„Ältere MigrantInnen müssen aufgrund ihres Alters und ihres Migrationshintergrunds mit einem<br />
doppelten Benachteiligungs- oder gar Diskriminierungsrisiko rechnen.“ Jedoch auch ohne<br />
Überprüfung der Annahme gelangen die Autorinnen zu folgendem Schluss: Dass ältere<br />
MigrantInnen als „Fremde“ wahrgenommen und als solche auch immer wieder gesellschaftlich<br />
ausgeschlossen werden, hat nicht eigentlich mit ihrer Ethnizität zu tun. Es ist vielmehr das<br />
Resultat eines Zirkelschlusses. Die „Schweizer“ haben die MigrantInnen als Fremde behandelt<br />
und nicht als gleichwertigen Teil der Zivilgesellschaft partizipieren lassen. Dieser Ausschluss hat<br />
zum Rückzug der MigrantInnen in die eigenen Strukturen und Organisationen geführt, was bei der<br />
Schweizer Bevölkerung dann zur Schlussfolgerung führte, dass ihre Annahme eines<br />
Desinteresses für die Teilnahme an der Schweizer Zivilgesellschaft korrekt war. Dies wiederum<br />
hatte zur Folge, dass bis heute davon ausgegangen wird, dass die MigrantInnen eben auch im<br />
Alter nicht interessiert seien. Es ist also nicht die Kombination Alter und Migrationshintergrund, die<br />
in erster Linie zur Benachteiligung führt, sondern diese ist auf die beschriebenen Annahmen und<br />
Reaktionen zurückzuführen.<br />
Zum Modell <strong>MIGRALTO</strong><br />
� Unspezifität des Modells: Die Autorinnen sind sich bewusst, dass man das Modell <strong>MIGRALTO</strong> als<br />
ein zu allgemein gehaltenes Modell kritisieren kann, das zu wenig altersspezifisch ausgerichtet<br />
sei. Sie stimmen zu, dass das Modell mit seinen Strukturebenen als generelles Partizipations-<br />
modell gelten kann. Dies lässt sich aber in zweifacher Hinsicht als seine Stärke interpretieren: Das<br />
Modell kann durch seine allgemeine Grundstruktur für unterschiedliche Projekte zum Thema<br />
Partizipation angewendet werden und ermöglicht dadurch eine zielgruppenunspezifische<br />
Multiplizierbarkeit. Der zweite Punkt betrifft die ethnien-unspezifische Anwendbarkeit. Das Modell<br />
selbst hat eine – man könnte sagen - neutrale Grundstruktur. Es erlaubt aber, sich innerhalb der<br />
einzelnen Felder (vergleiche Kapitel 6.3.3) flexibel an ethnien-, gender, schicht- , bildungs- oder<br />
kohortenspezifische Eigenheiten und Bedürfnisse anzupassen.<br />
� Generationenbeschränkung: Die Autorinnen sind der Ansicht, dass das Modell jeweils nur auf die<br />
erste Generation einer ethnischen Gruppe angewendet werden kann.<br />
Die zweite Generation gilt in der Regel als gut integriert und hat auch ohne politische Rechte<br />
Möglichkeiten zur aktiven Bürgerschaft, die sie nach Bedarf und Interesse wahrnehmen kann.<br />
Ausserdem kennt sie die Regelstrukturen in der Schweiz und hat somit generell leichteren Zugang<br />
zu Informationen oder Dienstleistungen im Zusammenhang mit Partizipation.<br />
Demgegenüber sind MigrantInnen der ersten Einwanderungsgeneration häufig „Fremde“ im<br />
Aufnahmeland geblieben, in welchem sie zwar - im Falle ihres Verbleibens - alt werden, aber<br />
eigentlich auch im Alter „Ausgeschlossene“ sind. Dies weist auf den bereits diskutierten<br />
179
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ausschluss aus der Zivilgesellschaft und dessen Ursachen hin. Deshalb ist es in mehrfacher<br />
Hinsicht diese erste Generation, die von der angestrebten Partizipation im Sinne der aktiven<br />
Bürgerschaft profitieren kann und soll.<br />
180
7. Literaturverzeichnis<br />
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185
Selbständigkeitserklärung<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Die beiden Autorinnen, Viviana Abati und Hildegard Hungerbühler, erklären hiermit, dass sie die<br />
vorliegende Arbeit bei keiner anderen Hochschule eingereicht haben und diese Arbeit selbständig,<br />
ohne andere als die angegebene fremde Hilfe und ohne Verwendung anderer als der angegebenen<br />
Quellen und Hilfsmittel verfasst haben.<br />
Alle Stellen, Abbildungen und Grafiken, die wörtlich oder sinngemäss aus Quellen entnommen<br />
wurden, haben sie als solche gekennzeichnet und mit dem genauen Verweis auf ihre Herkunft<br />
versehen.<br />
Bern, 15. Juli 2011<br />
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Zeitungsartikel (H. Hungerbühler)<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Ältere Migrantinnen und Migranten wollen mitsprechen<br />
Immer mehr ältere MigrantInnen kehren nach der Pensionierung nicht in ihr Herkunftsland<br />
zurück. Sie bleiben auch im Alter hier, wo sie die Mehrheit ihres Lebens verbracht haben und<br />
ihre Kinder und Enkelkinder leben. Die Wohngemeinde als Ort des unmittelbaren<br />
Lebensumfelds wird wichtiger. Wie sieht es mit ihren Chancen auf Partizipation aus?<br />
Ob und wie ältere MigrantInnen auf Gemeindeebene partizipieren wollen, und ob ihnen die Gemeinde<br />
diese Partizipation ermöglicht, haben die beiden Gerontologinnen Viviana Abati und Hildegard<br />
Hungerbühler für ihre Masterarbeit an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit in Erfahrung<br />
gebracht. Sie gingen dabei in enger Anlehnung an die Definition der Eidgenössischen Kommission für<br />
Migrationsfragen zur „Aktiven Bürgerschaft“ von folgendem Partizipationsverständnis aus:<br />
Partizipation heisst mitsprechen, mitwirken und mitentscheiden im eigenen Lebensumfeld und<br />
aufgrund der Betroffenheit von einer Fragestellung oder einem Thema. Ob diese Prinzipien der<br />
Territorial- und Betroffenendemokratie eine echte Alternative sind für die fehlenden politischen<br />
Rechte, bleibt fraglich. Ältere MigrantInnen verfügen über keine politischen Mitbestimmungsrechte in<br />
der Schweiz, obwohl sie ihr Leben lang hier gearbeitet und Steuern bezahlt haben, es sei denn, sie<br />
sind eingebürgert. Das – so haben die Gespräche mit älteren MigrantInnen aus Italien als Teil der<br />
Erhebung der beiden Autorinnen gezeigt – hat diese erste Einwanderungsgeneration nach dem<br />
zweiten Weltkrieg, welche die Schweiz als Arbeitskräfte während ihrer damaligen wirtschaftlichen<br />
Hochkonjunktur brauchte, nachhaltig verletzt und wirkt sich heute noch auf ihr Partizipationsverhalten<br />
aus.<br />
Mehrteilige Erhebung ermöglicht Perspektivenvergleich<br />
Hildegard Hungerbühler und Viviana Abati definieren in ihrer explorativen Untersuchung Partizipation<br />
als einen bidirektionalen und wechselseitigen Aushandlungsprozess. Aus diesem Grund wählten sie<br />
auch einen Forschungsansatz, der beide Perspektiven, sowohl diejenige der Gemeinden und ihrer<br />
Institutionen und Organisationen im Alters- und <strong>Integration</strong>sbereich als auch diejenige der älteren<br />
Migrationsbevölkerung und ihrer Organisationen erkundet. In einer umfassenden Erhebung mit einem<br />
kombinierten quantitativen und qualitativen Ansatz befragten sie zum einen die in schweizweiten<br />
Netzwerken organisierten über 100 kommunalen Altersbeauftragten und <strong>Integration</strong>sdelegierten. Zum<br />
anderen führten sie mit 22 älteren italienischen MigrantInnen der ersten Einwanderungsgeneration<br />
nach dem zweiten Weltkrieg Interviews durch. Zusätzlich zu diesen beiden Befragungsteilen fanden<br />
zwei getrennte ExpertInnen-Diskussionen mit VertreterInnen aus Altersinstitutionen und<br />
-organisationen von Stadt und Kanton Bern sowie mit Vertreterinnen aus italienischen<br />
Migrationsorganisationen der Region Bern statt. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen folgende<br />
Tendenzen.<br />
Ältere MigrantInnen als Zielgruppe der Alters- und <strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit: Bewusstsein<br />
vorhanden – Umsetzung erst in Anfängen<br />
Ältere MigrantInnen sind – zur Zeit und mehrheitlich – weder in der Alterspolitik und -arbeit, noch in<br />
der <strong>Integration</strong>spolitik und -arbeit eine explizite Zielgruppe. Damit sind sie einem gewissen<br />
Marginalisierungsrisiko ausgesetzt, insbesondere wenn sich die Zuständigen der Alters- und der<br />
<strong>Integration</strong>spolitik/-arbeit die Verantwortung für die <strong>Integration</strong> im Sinne von Partizipation älterer<br />
MigrantInnen gegenseitig zuweisen. Auf der anderen Seite sind sich die Fachpersonen aber einig und<br />
sensibilisiert dafür, dass ältere MigrantInnen aufgrund der demografischen Entwicklung künftig zu<br />
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«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
einer Zielgruppe der Alterspolitik und -arbeit werden. Das Bewusstsein, dass man sich für die damit<br />
verbundenen Herausforderungen und Aufgaben vorbereiten muss, nimmt zu, ebenso wie die Einsicht,<br />
dass dafür eine gute Vernetzung zwischen dem Alters- und <strong>Integration</strong>sbereich notwendig ist. So kann<br />
zwar in der Schweiz noch bei weitem nicht von erfolgreichem Mainstreaming einer<br />
diversitätsgerechten Alterspolitik und-arbeit gesprochen werden, die MigrantInnen als gleichwertige<br />
Akteure und Zielgruppe einbeziehen. Positive und konkrete Ansätze und Bemühungen sowie erste<br />
good practice Beispiele sind jedoch durchaus festzustellen. Zudem scheint die grundsätzliche<br />
Bereitschaft zu bestehen, sich mit dieser Thematik vermehrt auseinander zu setzen.<br />
Selbstorganisation – Weg in den gesellschaftlichen Ausschluss oder Empowerment zur<br />
gesellschaftlichen Partizipation?<br />
Die ehemaligen „GastarbeiterInnen“ fühlten sich als gesellschaftliche MitbürgerInnen nicht<br />
willkommen. Die Schweiz unterliess es, ihre <strong>Integration</strong> zu fördern. In der Folge bauten sie sich ihre<br />
eigenen Strukturen der Selbstorganisation und sozialen Netzwerke auf. Diese tragen auch heute im<br />
Alter noch zu ihrer sozialen Sicherung bei und werden tendenziell mehr beansprucht als staatliche<br />
Dienstleistungen. Die sogenannte Binnenintegration in die eigene ethnische Migrationsgemeinschaft<br />
vermochte die Identität und Solidarität nach innen in Abgrenzung zu einem ablehnenden<br />
Gesellschaftsumfeld zu stärken. Bot die Vergemeinschaftung im Kreise der eigenen Landsleute nun<br />
auch eine gute Ausgangslage für die Partizipation in der Mehrheitsgesellschaft oder war dies vielmehr<br />
der Anfang eines stetigen Rückzugs? Die Bilanz zur italienischen Organisationsgeschichte dieser<br />
Einwanderungsgeneration in Bern ist zwiespältig. Zum einen hatte die italienische Diaspora eine<br />
wichtige Funktion für ihre Landsleute, indem sie gerade neu Zugewanderte mit nützlichen<br />
Informationen und mit Wissen über die Schweizer Gesellschaft versorgte und so zur Orientierung und<br />
Unterstützung in einer fremden Umgebung diente. In diesem Sinn erbrachte die italienische<br />
Selbstorganisation eine für MigrantInnen wichtige <strong>Integration</strong>sleistung. Zum anderen führte jedoch die<br />
gesellschaftliche Organisation in eigenen Strukturen nicht zugleich zur Verbesserung der<br />
Partizipationschancen in der Mehrheitsgesellschaft. Dies hauptsächlich aus folgenden zwei Gründen:<br />
zum einen als Folge der fehlenden <strong>Integration</strong>spolitik sowie verschlossenen Haltung der<br />
schweizerischen Gesellschaft gegenüber den italienischen MigrantInnen, zum anderen aufgrund des<br />
temporären Charakters, den die MitgrantInnen selber ihrem Aufenthalt in der Schweiz zumassen<br />
(geplant war ursprünglich eine baldige Rückkehr in die Heimat). Beides förderte weder die aktive<br />
Auseinandersetzung, noch die tatsächliche Teilhabe an der Schweizer Gesellschaft, was nun auch im<br />
Alter spürbar wird. So sind ältere MigrantInnen dieser Generation schlecht informiert über ihre Rechte<br />
und Möglichkeiten im Alter, sei dies bezogen auf aufenthalts- und altersversicherungsrechtliche<br />
Fragen (AHV, Pensionskasse, EL) nach der Pensionierung oder aber zum Funktionieren und den<br />
Dienstleistungen der stationären und ambulanten Altersversorgung. Sprachliche Verständigungsprobleme<br />
erhöhen die Zugangshürden zu Angeboten des Altersbereichs zusätzlich und erschweren auch<br />
die Partizipation auf Gemeindeebene.<br />
Politische Partizipation, Gesundheitsfragen im Alter und Engagement als Freiwillige<br />
Mit der politischen Partizipation, dem Interesse für Gesundheitsfragen und der Freiwilligenarbeit (im<br />
Quartier und der Gemeinde) zeichnen sich deutlich drei Bereiche ab, in welchen ältere MigrantInnen<br />
partizipieren möchten. Auch Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte der Gemeinden begrüssen<br />
ein Engagement in diesen Partizipationsfeldern. Sowohl die befragten MigrantInnen als auch die<br />
VertreterInnen der italienischen Migrationsorganisationen erwarten vom Land, für das sie viel geleistet<br />
haben, politische Rechte der Mitbestimmung. Dass sie über solche nicht verfügen, wirkt sich<br />
demotivierend auf ihr Partizipationsverhalten aus. Dennoch geben sie an, dass sie als ein mögliches<br />
Partizipationsfeld, der Bereich der Gesundheitsfragen im Alter interessiere. Beispielsweise wünschen<br />
sie sich Mitsprache zu künftigen Modellen der Alterspflege und des Alterswohnens (vgl. dazu die<br />
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«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
Diskussion um die sogenannten mediterranen Wohngruppen in Alters- und Pflegeeinrichtungen). Und<br />
Freiwilligenarbeit leisten sie bereits in ihren eigenen Vereinen und Strukturen. Sie können es sich aber<br />
auch vorstellen, vermehrt in intergenerationellen und interkulturellen Projekten mitzumachen. Erwartet<br />
wird allerdings deutlich, dass die Initiative für eine Zusammenarbeit von den schweizerischen<br />
GemeindevertreterInnen und ihren Institutionen zu ergreifen sei. Diese hätten zunächst den Beweis<br />
anzutreten, dass sie sich für ältere MigrantInnen, deren Geschichte und Erfahrungen tatsächlich<br />
interessieren und es ihnen „mit unserer Partizipation nun endlich doch noch ernst ist.“<br />
<strong>MIGRALTO</strong> – ein partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen<br />
Die Erhebung der Autorinnen hat gezeigt, dass die gleichwertige Partizipation auf Gemeindeebene<br />
unter aktiver Beteiligung älterer MigrantInnen ein anspruchsvoller Prozess ist, der sowohl seitens der<br />
Gemeinden und ihrer Institutionen und Organisationen im Altersbereich als auch seitens der älteren<br />
MigrantInnen und ihrer Organisationen den Willen zum gegenseitigen Kennenlernen und<br />
Respektieren der jeweiligen Erfahrungen und Kompetenzen sowie eine gegenseitige Lernbereitschaft<br />
voraussetzt. Gemeinden, welche die Partizipation älterer MigrantInnen fördern möchten, müssen sich<br />
über Folgendes bewusst sein: Es benötigt einen Perspektivenwechsel von der Defizit- zur<br />
Ressourcenorientierung auf diese Zielgruppe. Die ältere Migrationsbevölkerung ist nicht einfach als<br />
neue Gruppe von DienstleistungsempfängerInnen zu verstehen. Vielmehr sind ältere MigrantInnen<br />
eigenständige Akteure, die über spezifische Ressourcen und Kompetenzen verfügen, welche sie sich<br />
im Laufe ihres Lebens als ArbeitsmigrantInnen in der Schweiz erworben haben. Nicht zuletzt bringen<br />
sie reiche Erfahrungen im Bereich der Selbstorganisation mit. All dies ist ein Potenzial, das sich für die<br />
Alterspolitik und -arbeit nutzen liesse. Im Weiteren sollten sich Gemeinden bewusst sein, dass für<br />
ältere MigrantInnen nebst sprachlicher vor allem auch strukturelle und teilweise materielle Hürden<br />
bestehen, die sie an der Partizipation hindern. Hier benötigt es vermehrte Sensibilität und den<br />
politischen Willen zum Abbau bestehender Schranken und zum aktiven und konsequenten Einbezug<br />
von MigrantInnen mit Mitsprache-, Mitwirkungs- und Mitentscheidbefugnis gleich von Beginn an, d.h.<br />
bereits bei der Definition und Entwicklung von Zielen, Formen und Themen von<br />
Partizipationsvorhaben, und nicht erst bei der Umsetzung als VermittlerInnen oder gar „passiv“<br />
Teilnehmende. Auch hier benötigt es einen deutlichen Paradigmenwechsel. Um Gemeinden, welche<br />
die Partizipation von älteren MigrantInnen fördern wollen, eine konkrete Handlungshilfe zu geben,<br />
haben Viviana Abati und Hildegard Hungerbühler <strong>MIGRALTO</strong>, ein partizipatives Modell für die aktive<br />
Bürgerschaft von älteren Migrantinnen entwickelt. Der erste Teil beschreibt die Grundbedingungen,<br />
die in einer Gemeinde zur Verfügung stehen oder gegeben sein müssen, um das Modell erfolgreich<br />
umzusetzen. Dabei handelt es sich um politische Grundbedingungen, zu beteiligende AkteurInnen,<br />
Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen, Mittel und Ressourcen, eine geteilte Definition von<br />
„Partizipation“ sowie einen klaren Vorgehensplan. In einem zweiten Teil werden die konkreten<br />
Massnahmen, die innerhalb der einzelnen Modell-Komponenten zu ergreifen sind, vorgestellt. Das<br />
Modell sieht einen bidirektionalen und wechselseitigen Prozess auf folgenden drei Ebenen vor: 1.<br />
Information/Kommunikation, 2. Kompetenzerweiterung und 3. Partizipation. Die Autorinnen schliessen<br />
ihre Masterarbeit mit einem Ausblick auf den Einsatz des Modells <strong>MIGRALTO</strong> in der Praxis und<br />
skizzieren dessen mögliche Weiterentwicklung im Rahmen einer allfälligen nationalen Multiplikation.<br />
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Anhänge<br />
«<strong>MIGRALTO</strong> – Partizipatives Modell für die aktive Bürgerschaft von älteren MigrantInnen»<br />
A) Ausschreibungstext EKM: Citoyenneté – aktive Bürgerschaft<br />
B) Einverständniserklärung VertreterInnen Schweizer Institutionen<br />
C) Präsentation Diskussionsvorlage Fokusgruppe Schweizer Institutionen<br />
D) Dichiarazione di approvazione VertreterInnen italienischer Migrationsorganisationen<br />
E) Präsentation Diskussionsvorlage Fokusgruppe italienischer Migrationsorganisationen<br />
F) Fragen und Auswertungstabelle Befragung Altersbeauftragte und <strong>Integration</strong>sdelegierte<br />
G) Interviewleitfaden Einzelinterviews MigrantInnen<br />
H) Rohdaten der quantitativen Resultate aus den Einzelinterviews<br />
I) Auswertung der qualitativen Daten der Einzelinterviews (Teil 1)<br />
J) Auswertung der qualitativen Daten der Einzelinterviews (Teil 2)<br />
K) Kategorisierung der qualitativen Daten<br />
L) Liste der Kategorien und Unterkategorien aus der qualitativen Auswertung<br />
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