Der Kopf des Orpheus im Halensee Von Josef Rabl Nicht nur von Ovid (met. 10,1–105), sondern aus jedem Lateinbuch wissen wir, dass Orpheus unter den mythischen Sängern als der beste von allen galt; er bewies das dadurch, dass er Götter, Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine betörte. Die Bäume neigten sich ihm zu, wenn er spielte, und die wilden Tiere scharten sich friedlich um ihn, und selbst die Felsen weinten angesichts seines schönen Gesangs. Während seiner Fahrt mit den Argonauten soll er mit seinem Gesang sogar die Sirenen übertönt haben. Seine Kunst war so groß, dass auf dem Weg in die Unterwelt selbst der Höllenhund Kerberos nicht mehr bellte und Hades und Persephone seinen Wunsch, Eurydike zurückzubekommen, positiv beschieden. In seiner Heimat wurde Orpheus später allerdings von Mänaden, berauschten Anhängerinnen des Dionysos, zerrissen. Als Motiv für den Mord wird angeführt, Orpheus habe sich von der Liebe zu Frauen losgesagt und zum Weiberfeind entwickelt oder sich gar der Knabenliebe zugewandt, die er, wie Ovid behauptet, die Thraker als erster gelehrt haben soll. Sein Kopf jedoch wurde mitsamt seiner Lyra in den Fluss Hebros geworfen, sie schwammen hinab in das Ägäische Meer und wurden auf der Insel Lesbos an Land gespült. Der Kopf sang immer weiter, bis Apollon ihm gebot zu schweigen. Dieses ungewöhnliche Ende hat in Berlin-Charlottenburg ein Künstler, Philip Topolovac, geb. 1979, aufgegriffen (Ausstellungsdauer: Montag den 15.11. – Samstag, den 11.12.<strong>2021</strong>); er sieht darin „ein drastisches Symbol für die Dauerhaftigkeit künstlerischer Ausdruckskraft. Wie beim sagenumwobenen Sänger scheint es derzeit auch um die Künste im Lockdown bestellt: Trotz Aufführungs- und Ausstellungsverboten wirkt das kreative Potenzial unerschöpflich weiter – besonders in Berlin. Die Kunst erscheint symbolisch enthauptet und trotzdem präsent. Der singende Kopf kann auch heute stellvertretend für den Mut und die Durchhaltekraft der Künste in Corona-Zeiten gelesen werden”. (vgl. https://www.stadtfindetkunst.de/projekte-aus-<strong>2021</strong>/). Mittels eines wasserdichten Lautsprechers wird die Skulptur zum Singen gebracht und gibt zu jeder vollen Stunde eine vom Tenor Kevin Traugott eingesungene, teils verfremdete Arie aus der Barockoper „Orpheus“ (C.W. Gluck, 1774) wieder. Interessanterweise gibt es noch einen zweiten konkreten Bezug. Der im Halensee schwimmende Kopf des Orpheus ist einer 1902 vom Berliner Bildhauer Ernst Herter (1846–1917) geschaffenen Skulptur des Sängers nachempfunden, die an der Fassade der damaligen Hochschule der Künste als Teil des Wandbrunnens am Kunsthochschulgebäude Am Steinplatz in Charlottenburg aufgestellt war. Von mitfühlenden Arbeitern einst für erhaltenswert erachtet liegt der kriegszerstörte Orpheus mit Tieren ohne den Kopf mit einem Löwen ohne Füße am Eckernförder Platz in einem Waldstück am Westhafen. Von dem Bildhauer Ernst Herter stammen z.B. die Statue von Hermann von Helmholtz am Haupteingang der Humboldt-Universität, das Heinrich- Heine-Denkmal im New Yorker Bezirk Bronx, ein Sterbender Achill für Kaiserin Elisabeth von Österreich zur Aufstellung im Achilleion (Korfu) oder ein Alexander der Große, beim nächtlichen Studium den Schlaf bekämpfend (1876), Bronzeausführung in der Nationalgalerie Berlin und zahlreiche weitere Skulpturen mit speziell antiker Provenienz. 258 JAHRGANG LXV · LGBB <strong>04</strong> / <strong>2021</strong>
LGBB <strong>04</strong> / <strong>2021</strong> · JAHRGANG LXV 259