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Wina Mai 2021

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<strong>Mai</strong> <strong>2021</strong><br />

Iyar/Siwan 5781<br />

#4, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

wina-magazin.at<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

9 120001 135738<br />

04<br />

RAKETEN, SOCIAL<br />

MEDIA UND<br />

APFELSTRUDEL<br />

Israel unter Beschuss:<br />

Berichte und Analysen<br />

NORMALES LEBEN<br />

NACH DER IMPFUNG<br />

Pfizer: Ein jüdischer und ein<br />

muslimischer Migrant in den USA<br />

wollen gemeinsam die Welt retten.<br />

ISRAELS<br />

WUNDERFRAUEN<br />

Ein eigenes Museum rückt Heldinnen<br />

und Gründerinnen des Staates<br />

ins Ramenpenlicht<br />

SHTISEL-MANIA<br />

Eine orthodoxe Familie erobert die<br />

Streaming-Welt – mit Charme, Tam<br />

und Suchtfaktor<br />

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Arbeitnehmerveranlagung<br />

zahlt sich aus<br />

Ihr Gehalt kann über ein Jahr gesehen<br />

aufgrund von Jobwechsel<br />

oder Reduzierung der Stundenzahl<br />

variieren. Die Lohnsteuer wird aber<br />

monatlich berechnet – so, als würden<br />

Sie das ganze Jahr über gleich viel<br />

verdienen.<br />

Zählt man jedoch die unterschiedlichen<br />

Löhne bzw. Gehälter<br />

zusammen und berechnet dann die<br />

Steuer, kommt oftmals ein Guthaben<br />

heraus.<br />

Außerdem können Sie in der<br />

Arbeitnehmerveranlagung Folgendes<br />

geltend machen:<br />

• Werbungskosten: z. B. Ausund<br />

Fortbildungsmaßnahmen,<br />

Arbeitsmittel<br />

• Sonderausgaben: z. B.<br />

Wohnraumschaffung und<br />

Wohnraumsanierung<br />

• Außergewöhnliche Belastungen:<br />

z. B. Krankheitskosten<br />

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ausgefüllt an das Finanzamt<br />

schicken. Am einfachsten geht es<br />

allerdings mit einem Zugang bei<br />

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und seit letztem Jahr verbessert<br />

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reduzieren, sind die Infocenter des<br />

Finanzamts Österreich nur eingeschränkt<br />

geöffnet. Nicht nur die<br />

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meisten Anliegen lassen sich ohnehin<br />

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Not in my Name – lo be shmi<br />

schrieben sich unzählige Frauen<br />

in Israel in ihre Handflächen und<br />

protestieren so gegen Gewalt<br />

und Hass im eigenen Land.<br />

Editorial<br />

Der Atemzug zwischen der Euphorie über fallende<br />

Masken und einen Hauch an Normalität und Freiheit<br />

und dem Sirenengeheul des Krieges war zu<br />

kurz, um richtig durchatmen zu können. Kaum<br />

haben die Israelis die Quarantäne verlassen, müssen sie<br />

auch schon zurück in die Enge ihrer Sicherheitsräume und<br />

Bunker. Erneut bringt ein bewaffneter Konflikt zwischen<br />

der Terrororganisation Hamas und Israel Angst und Trauer<br />

über die Region. Das ist nichts Neues, könnte man denken.<br />

Doch dieser Konflikt birgt einige neue Momente in sich, die<br />

einen mit Sorge erfüllen.<br />

Anfang April tauchte das erste Video über den Social-Media-Kanal<br />

TikTok auf, in dem ein muslimischer Israeli einen<br />

orthodoxen Juden in einer Jerusalemer Straßenbahn ohrfeigt.<br />

Seither tauchen immer wieder Videos mit ähnlichem<br />

Inhalt auf und erinnern erschreckend an Aufnahmen aus<br />

dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Eine Ohrfeige ist erniedrigend, das wird jeder<br />

Psychologe bestätigen. Geohrfeigte Menschen<br />

sind keine kriegerischen Auseinandersetzungen,<br />

brennende Synagogen nicht<br />

der legitime Ausdruck politischer Kritik. Das<br />

sind eindeutig rassistisch, antisemitisch motivierte<br />

Gewaltakte. Und Gewalt schürt Gewalt<br />

– vermutlich ist das reines Kalkül – und<br />

stärkt damit die Extreme auf beiden Seiten.<br />

Zugleich werden aber auch die sozialen Medien<br />

genutzt, um zu angeblich israelkritischen<br />

Veranstaltungen aufzurufen, die derzeit europaweit<br />

vielerorts stattfinden. Die jüdische<br />

Bevölkerung des Kontinents zeigt sich besorgt<br />

über den on- und offline erfahrenen Hass und<br />

die rasch ansteigende Bedrohung: Flaggenverbrennungen<br />

vor Synagogen in Deutschland,<br />

Skandieren antisemitischer und rassistischer<br />

Propaganda in Wien, Amsterdam, London – es sind Reminiszenzen<br />

an die dunkelsten Jahre unserer Geschichte.<br />

Der Konflikt in Israel ist bedrohlich und komplex – Emotionalität,<br />

Unwissenheit und Fake News machen ihn nur<br />

noch gefährlicher. Und mittlerweile haben nicht nur die<br />

Menschen der Region Angst. Doch Angst ist kein guter Ratgeber.<br />

Das haben wir spätestens durch die Pandemie begriffen.<br />

Sie hat in den letzten Monaten zu falschen Entscheidungen,<br />

Verschwörungstheorien und Aggression geführt,<br />

anstatt jede vorhandene Energie in die Lösung einer weltweit<br />

bedrohlichen Situation zu investieren. Sie hat dazu geführt,<br />

dass sich das Virus explosionsartig verbreiten konnte.<br />

Nach vielen Monaten unermüdlicher internationaler Forschung<br />

hoffen wir derzeit alle, dass die Impfungen nun das<br />

Ende der Pandemie bedeuten werden.<br />

Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien<br />

ähneln in ihrem Verhalten Viren: Sie mutieren schnell, damit<br />

wir sie nicht erwischen können. Doch nach Jahrhunderten<br />

rassistischer und antisemitischer Gewaltäußerungen und<br />

dem Versuch, diese zu analysieren, zu verstehen und zu verhindern,<br />

stehen wir im <strong>Mai</strong> <strong>2021</strong> erneut vor der Situation, dass<br />

wir keine wirklichen Gegenmittel gegen dieses Virus haben,<br />

das sich ebenso pandemisch wieder zu verbreiten versucht.<br />

Quarantäne hilft da wohl nichts. Wissen, ausgewogene Berichterstattung<br />

und Dialog auf allen Seiten könnten vermutlich<br />

zumindest maskenähnlich vor der Verbreitung schützen.<br />

Doch die Impfung, die uns alle einmal ein friedliches Miteinander<br />

erleben lässt, muss noch gefunden werden.<br />

Julia Kaldori<br />

„Unsere Zweifel<br />

sind Verräter und<br />

häufig die Ursache<br />

für den Verlust<br />

von Dingen,<br />

die wir gewinnen<br />

könnten, scheuten<br />

wir nicht den<br />

Versuch.“<br />

William Shakespeare<br />

© Ariella Bernstein<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

sommer_doppel1.indb 1 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:37


S.20<br />

Marianne Kohn arbeitete für Federico Fellini<br />

und Pier Paolo Pasolini als Cutterin, leitete danach<br />

in Wien den Klub U4 und das Café Europa,<br />

und führt seit 1995 die von Adolf Loos gestaltete<br />

American Bar.<br />

„Meine Bar hat zwei<br />

Weltkriege überlebt.<br />

Corona wird<br />

sie auch<br />

überleben.“<br />

Marianne Kohn<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Web & Social Media: Agnieszka Madany<br />

a.madany@jmv-wien.at<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Die „unmögliche Regierung“<br />

Israels Regierung basiert auf einem<br />

gebrochenen Wahlkampfversprechen<br />

und besteht aus acht Parteien – spannende<br />

Voraussetzungen.<br />

11 „Jüdisch, aber sehr nett“<br />

Auf hunderten Karteikarten klassifizierten<br />

die Concierges eines Schweizer<br />

Luxushotels über Jahrzehnte die<br />

Gäste.<br />

14 „Interreligiöses Denken“<br />

Ihre Arbeit sieht Ruth Lauppert-<br />

Scholz als einen Beitrag zu mehr Akzeptanz<br />

und Toleranz von Diversität.<br />

16 „Benennen und besprechen“<br />

Patrick Siegele, bisher Direktor des<br />

Anne Frank Zentrums in Berlin, übernimmt<br />

die Leitung von _erinnern.at_.<br />

18 Schäm dich, Europa!<br />

Susanne Scholl hat in den Corona-bedingten<br />

Lockdowns Ernüchterndes<br />

zur Verfasstheit Europas zusammengetragen.<br />

20 MenTschen<br />

Marianne Kohn – eine Institution des<br />

Wiener Nachtlebens – leitet seit 1995<br />

die von Adolf Loos gestaltete American<br />

Bar in der Wiener Innenstadt.<br />

24 Ein Mord, der nachwirkt<br />

Der Vater seiner Großmutter wurde in<br />

der NS-Zeit eines Tages abgeholt und<br />

kam nicht mehr wieder – eine Erzählung,<br />

die Axel Magnus Leben prägte.<br />

28 Auf Dauer beschädigt<br />

In seinem Band Der Semmering. Eine<br />

exzentrische Landschaft legt Wolfgang<br />

Kos Schichten und Geschichte des legendären<br />

Luftkurorts frei.<br />

INHALT<br />

30 In Nostalgie hineinwachsen<br />

Seit 2015 wird der Kultur.Sommer.<br />

Semmering in der Intendanz von<br />

Florian Krumpöck zunehmend<br />

erfolgreicher.<br />

32 Beton und Poesie<br />

In Tel Aviv starb 90-jährig der begnadete<br />

Bildhauer Dani Karavan, bekannt<br />

vor allem für seine begehbaren Kunstwerke<br />

und Erinnerungsdenkmäler.<br />

34 Cherchez la femme<br />

Auf den Spuren der vergessenen<br />

Architektinnen, die einen unverzichtbaren<br />

Beitrag zur modernen architektonischen<br />

Planung in Palästina<br />

geleistet haben.<br />

36 Heikelste Sachen angehen<br />

Mit Freitagnacht Jews gelingt es Schauspieler<br />

Daniel Donskoy, auch junge<br />

Menschen für jüdische Themen zu<br />

interessieren.<br />

„Antisemitismus<br />

ist viel zu lange<br />

als<br />

abstraktes<br />

Phänomen<br />

begriffen<br />

worden.“<br />

Patrick Siegele<br />

S.16<br />

S.38<br />

Hava nagila!<br />

Wenn es wieder einmal einer Extraportion guter Laune bedarf:<br />

Dinge, die den Dopamin-Spiegel steigen lassen ...<br />

2 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 2 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:45


KULTUR<br />

42 Zwei Künstlerleben<br />

Die wiederentdeckte Marta Karlweis<br />

und der fast vergessene einstige „Weltstar<br />

des Romans“ Jakob Wassermann.<br />

46 Zwei Brüder mit Swing<br />

George und Ira Gershwin wurden Anfang<br />

der 1920er-Jahre zu einem der erfolgreichsten<br />

Paare der amerikanischen<br />

Musical-Branche.<br />

50 Ein Budapester Ritter<br />

Adolf von Sonnenthal war einer der<br />

populärsten Schauspieler seiner Zeit<br />

– und spielte am Wiener Burgtheater<br />

nicht weniger als 400 Rollen.<br />

52 Und kein bisschen leise<br />

Vom Wiener Rudolfsplatz schaffte<br />

es der heute 99-jährige begnadete<br />

Interviewer und Dokumentarfilmer<br />

Georg Stefan Troller in die weite Welt.<br />

54 Wittgensteins Familie<br />

Vor 70 Jahren starb der große Philosoph<br />

Ludwig Wittgenstein. Sein Wiener<br />

Vater war einer der reichsten Menschen<br />

Europas.<br />

56 Zeit voller Umbrüche<br />

Alexander Emanuely zeichnet in seinem<br />

jüngsten Buch Das Beispiel Colbert<br />

ein vielschichtiges Panorama des gesellschaftlichen<br />

Aufbruchs um 1900.<br />

58 Kein Vorher und Nachher<br />

Liebesleben, Mann und Frau, Späte Familie,<br />

Schmerz: Zeruya Shalevs Romantitel<br />

führen durch ein Lebenswerk im<br />

wahrsten Sinn.<br />

59 Stresstest für Bobos<br />

In dem Gesellschaftsroman Leute wie<br />

wir porträtiert die israelische Autorin<br />

Noa Yedlin klug, witzig und ein<br />

bisschen boshaft ihre Generation<br />

der Forty-Somethings.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

05 WINA_Kommentar<br />

Ein neues Institut für die Implementierung<br />

des Abraham-Abkommens.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

08 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Die neue Regierung steht jetzt für einen<br />

zivileren Umgang miteinander.<br />

Von Gisela Dachs<br />

10 WINA_Kommentar<br />

Itamar Gross über die Freude, zu<br />

zwei Mannschaften halten zu können.<br />

38 WINA_Lebensart<br />

Dinge, die den Dopamin-Spiegel<br />

steigen lassen ...<br />

38 WINA_Yoga<br />

Um zu lieben, benötigen wir vor allem<br />

bedingungslose Selbstliebe.<br />

39 WINA_kocht<br />

Ist alles in Butter mit der Butter,<br />

und wie ist das mit der Teebutter?<br />

60 WINA_Werkstädte<br />

Tina Blaus Frühling im Prater ist im<br />

Wiener Belvedere zu bewundern.<br />

61 Urban Legends<br />

Alexia Weiss über die Gräben des<br />

Nahostkonfliktes, die auch tausende<br />

Kilometer entfernt aufbrechen.<br />

62 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den Juli<br />

Coverfoto: DalaiFood / Photocase<br />

64 Das letzte Mal<br />

Autorin Nadine Kegele berichtet aus<br />

der Baby-Nachtschicht.<br />

„Fast alle<br />

namhaften Künstler<br />

der österreichischen<br />

Belle<br />

Époque waren<br />

jüdischer<br />

Herkunft.“<br />

Florian Krumpöck<br />

S.30<br />

Florian Krumpöck ist seit<br />

2015 Intendant des Kultur.<br />

Sommer.Semmering, dem<br />

erfolgreichen und aktuell einzigen<br />

Festival in der Region.<br />

WINA ONLINE:<br />

wina-magazin.at<br />

facebook.com/winamagazin<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

Auf Dauer beschädigt<br />

In seinem neuen<br />

Band Der Semmering.<br />

Eine exzentri-<br />

sommer_doppel1.indb 3 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:46


HIGHLIGHTS | 01<br />

1900Titel-hier<br />

Die JvorspannDie Jvorspann text.<br />

Die Jvorspann text. text.<br />

Guttmann studiert Medizin und sagt,<br />

Aktivismus und ihre jüdische Identität<br />

zwei Dinge, die ihr wichtig sind. „Die JÖH<br />

ist mir für mich ein Ort, wo ich diese zwei<br />

Sachen kombinieren kann.“ Sie war bereits<br />

in den vergangenen beiden Jahren Teil des<br />

Boards und ist stolz darauf, dass nun zwei<br />

Frauen die JÖH als Präsidentinnen repräsentieren.<br />

„Ich möchte, dass die JÖH ein sicherer<br />

Ort für alle Juden und Jüdinnen Österreichs<br />

ist, wo jedem geholfen wird, eine<br />

Stimme zu haben, und diese auch ausdrücken<br />

zu können, ein Ort, wo jede kreative<br />

Idee ihren Platz hat, aber auch ein<br />

Ort, wo man neue Menschen kennenlernen<br />

kann und sich gleichzeitig immer zu<br />

Hause fühlt.“<br />

Turkof studiert Bildungswissenschaften<br />

und Kultur- und Sozialanthropologie.<br />

In der jüdischen Gemeinde sowohl<br />

nach außen politisch und kulturell aktiv zu<br />

sein, sei ihr aus vielen Gründen schon immer<br />

wichtig gewesen, betont sie. „Beginnen<br />

mit dem Shomer habe ich gemerkt,<br />

dass, wenn ich etwas neuen kreieren oder<br />

verändern möchte, ich eine Gruppe von<br />

Menschen hinter mir habe, die mich unterstützt.<br />

Die JÖH ist für mich ein Ort, wo<br />

ich gemeinsam mit anderen jungen Jüdinnen<br />

und Juden eine Stimme haben kann.<br />

Besonders ist es mir wichtig, weiblichen<br />

Stimmen einen Raum zu gebeenschen<br />

kennenlernen kann und sich gleichzeitig<br />

immer zu Hause fühlt.“<br />

Turkof studiert Bildungswissenschaften<br />

und Kultur- und Sozialanthropologie.<br />

In der jüdischen Gemeinde sowohl<br />

nach außen politisch und kulturell aktiv zu<br />

sein, sei ihr aus vielen Gründen schon immer<br />

wichtig gewesen, betont sie. „Beginnen<br />

mit dem Shomer habe ich gemerkt,<br />

dass, wenn ich etwas neuen kreieren oder<br />

verändern möchte, ich eine Gruppe von<br />

Menschen hinter mir habe, die mich unterstützt.<br />

Die JÖH ist für mich ein Ort, wo<br />

ich gemeinsam mit anderen jungen Jüdin-<br />

Zitat text hier<br />

Xxxxxx<br />

00<br />

Xxxx Dollar<br />

für den Kampf gegen den Coronavirus<br />

hat Popstar P!nk gespendet,<br />

nachdem sie und ihr Sohn Covid-<br />

19-positiv getestet wurde. 500.000<br />

Dollar hat Alecia Beth Moore, wie<br />

P!nk mit bürgerlichem Namen<br />

heißt, dem Temple University<br />

Hospital in Philadelphia überwiesen,<br />

wo ihre deutsch-jüdische<br />

Mutter Judith Kugel 18 Jahre lang<br />

gearbeitet hat. None plaut quibea<br />

volorepudion eate quiaectatur,<br />

Lebensmittelexport,<br />

koscher<br />

Die WKO will österreichische Produzenten<br />

für Ausfuhren nach Israel<br />

und in die USA motivieren.<br />

Ich habe mir gedacht, für österreichische<br />

Lebensmittelproduzenten gibt es<br />

hier noch ein großes Potential“, erzählt<br />

Markus Haas, Wirtschaftsdelegierter der<br />

WKO in Tel Aviv. „Und koschere Lebensmittel<br />

können darüber hinaus nicht nur<br />

nach Israel geliefert werden, sondern<br />

auch in andere Länder mit jüdischen<br />

Konsumenten, etwa in die USA.“<br />

Aus diesem Grund organisierte die<br />

WKO im Frühjahr ein Webinar für die<br />

heimische Lebensmittelbranche, gemeinsam<br />

mit der Wirtschaftsdelegierten<br />

in Amerika. „50 Unternehmen haben<br />

aktiv teilgenommen, etwa 100<br />

weitere haben sich noch die YouTube-<br />

Präsentation heruntergeladen“, so<br />

Haas. Für praktische Fragen stand dabei<br />

der Wiener Gemeinderabbiner Shlomo<br />

Hofmeister zur Verfügung. Er erklärte<br />

die Zertifizierungs-Prozesse für unterschiedliche<br />

Lebensmittel, und er überraschte<br />

die Teilnehmer auch damit,<br />

dass die Kosten dafür dann niedriger<br />

werden, wenn die Produkte nicht nur<br />

exportiert, sondern auch den Konsumenten<br />

in österreichischen jüdischen<br />

Gemeinden angeboten werden.<br />

Derzeit liefern etwa 50 heimische Unternehmen<br />

Lebensmittel nach Israel. RE<br />

BU neu nagoflkjgkfjgkljgkgfjgkjglkgjlfkjOssimolum<br />

fugiat. Debisciis sinum aut occus<br />

dolorepe dell<br />

© Xxx<br />

4 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 4 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47


WINA KOMMENTAR<br />

Das Abraham-Abkommen hält<br />

Eine neues Institut soll die Implementierung<br />

vorwärtstreiben.<br />

ie Unterzeichner des historischen Abraham-<br />

Abkommens verhielten sich während und<br />

nach den jüngsten elftägigen Hamas-Bombenangriffen<br />

auf Israel und dessen militärischer<br />

Reaktion in Gaza darauf ziemlich leise.<br />

Es ist nicht nur ein einzigartiges Novum, dass sich muslimische<br />

Staaten mit scharfer<br />

Von Marta S. Halpert öffentlicher Kritik an Israel zurückhalten,<br />

sondern es bedeutet<br />

viel mehr, dass dieser wichtige Vertrag die Praxisprobe<br />

vorerst bestanden hat.<br />

Es war eine Sensation, als am 15. September 2020 vor<br />

dem Weißen Haus in Washington der Vertrag über diplomatischen<br />

Beziehungen und der vollständigen Normalisierung<br />

zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten<br />

(VAE), Bahrain und dem Staat Israel unterzeichnet<br />

wurde. Der Außenminister der Emirate, Abdullah bin<br />

Zayid Al Nahyan, erklärte dabei: „Wir erleben bereits<br />

heute einen Wandel im Herzen des Nahen Ostens, der<br />

weltweit Hoffnung schenken wird. Ich stehe heute hier,<br />

um eine Hand zum Frieden auszustrecken und eine<br />

Hand zum Frieden zu erhalten.“<br />

Ein Monat später trafen die Delegationen aus beiden<br />

Ländern zu einem historischen Besuch in Israel ein, um<br />

an der Unterzeichnung von vier Abkommen über Investitionen,<br />

wissenschaftliche Zusammenarbeit, Zivilluftfahrt<br />

und Visumbefreiungen im Rahmen des Abraham-<br />

Abkommens, das einem Friedensvertrag ebenbürtig ist,<br />

teilzunehmen. In der gelebten Realität bestätigt das Abkommen<br />

hauptsächlich die bereits seit Längerem bestehende<br />

Kooperation in Sicherheitspolitik, Technologie<br />

und Wirtschaft.<br />

Das wahrhaft Neue ist die Aufnahme von offiziellen<br />

diplomatischen Beziehungen: Dieses „öffentlich Machen“<br />

war möglich geworden, weil die palästinensische<br />

Frage nicht mehr ganz oben auf der Agenda stand und<br />

die arabischen Unterzeichner die Explosionsgefahr des<br />

Nahostkonfliktes nicht mehr so hoch einschätzten, dass<br />

es für sie problematisch werden könnte. Außerdem<br />

waren die VAE weder je in einen Krieg mit Israel<br />

involviert, noch genießt die Hamas im Gazastreifen,<br />

als Ableger der Muslimbruderschaft<br />

und Verbündeter des Iran, in den<br />

VAE irgendwelche Sympathien.<br />

Daher kamen zu Beginn der Kämpfe nur zögerliche<br />

Reaktionen aus den VAE, die sowohl an Israel wie<br />

auch an die Palästinenser appellierten. Erst die andauernde<br />

Auseinandersetzung um Jerusalem, die drittheiligste<br />

Stadt für Muslime nach Mekka und Medina, erzürnte<br />

die „arabische Straße“ so sehr, dass die VAE sich<br />

gezwungen sahen, den Schaden für ihr Image in der Region<br />

zu begrenzen: Erst bei der Entscheidung des Regionalgerichts<br />

von Jerusalem zur Zwangsräumung mehrerer<br />

palästinensischer Häuser im Stadtteil Sheikh Jarrah<br />

verwiesen die VAE auf das Völkerrecht, wonach die Räumung<br />

als illegal und als Menschenrechtsverletzung interpretiert<br />

würde und somit dem israelischen Narrativ<br />

eines Rechtsdisputs um Immobilien entgegenstehe.<br />

Daher kamen zu Beginn der Kämpfe<br />

nur zögerliche Reaktionen aus den<br />

Vereinigten Arabischen Emiraten,<br />

die sowohl an Israel wie auch an die<br />

Palästinenser appellierten.<br />

Abraham Accords Institute. Um diese positive Entwicklung<br />

in den Beziehungen zwischen Israel, Bahrain, Marokko,<br />

Sudan und den VAE zu vertiefen und auszubauen<br />

sowie diese Grundlage für weitere Abkommen dieser<br />

Art zwischen dem jüdischen Staat und muslimischen<br />

Ländern zu propagieren, hat Jared Kushner eine private<br />

Stiftung gegründet. Für das Abraham Accords Institute<br />

gelang es dem Trump-Schwiegersohn, eine Reihe<br />

von finanzstarken Unterstützern zu gewinnen. Dazu zählt<br />

u. a. Haim Saban, ein ägyptisch-amerikanischer Jude,<br />

der auf der Liste der größten Medienunternehmern der<br />

Welt steht. Die Botschafter der VAE und Bahrains gehören<br />

ebenso zu den Gründern wie Avi Berkowitz, ein 32-jähriger<br />

Absolvent der Harvard Law School, der bis zu seinem<br />

Wechsel in das Weiße Haus in der Kushner-Immobilienfirma<br />

beschäftigt und dort an den Verhandlungen zum<br />

Abraham-Abkommen beteiligt war.<br />

Kushner und Berkowitz haben jedenfalls den<br />

Segen der Biden-Regierung erhalten, die<br />

derartige Normalisierungsverträge begrüßt.<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

sommer_doppel1.indb 5 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47


Peinliche Wortbüche<br />

DER GEORDNETE WECHSEL<br />

Die neue Regierung basiert auf einem gebrochenen Wahlkampfversprechen. Sie<br />

besteht aus nicht weniger als acht Parteien, die ideologisch keinen gemeinsamen<br />

Nenner haben – inklusive einer islamistisch-arabischen Partei.<br />

zu einer „unmöglichen“<br />

Regierung<br />

Von Ben Segenreich<br />

Vier Parlamentswahlen von<br />

April 2019 bis März <strong>2021</strong><br />

haben jeweils Ergebnisse<br />

gebracht, die eine Regierungsbildung<br />

unmöglich<br />

machten, und deshalb hat Israel jetzt wieder<br />

eine unmögliche Regierung. Schon die<br />

zuletzt amtierende, im <strong>Mai</strong> 2020 gebildete<br />

Regierung war unmöglich gewesen:<br />

ein komplizierter Organismus mit zwei<br />

Köpfen, von denen der eine, der liberale<br />

Benny Gantz, im Wahlkampf geschworen<br />

hatte, er würde nie und nimmer mit<br />

dem anderen, dem rechtskonservativen<br />

Premier Benjamin Netanjahu, koalieren.<br />

Nach nur sieben Monaten, in denen über<br />

fast alles gestritten und fast nichts weitergebracht<br />

wurde, hauchte die gelähmte politische<br />

Missgeburt ihr Leben aus.<br />

Die 13. Juni angelobte Regierung hat<br />

mit ihrer Vorgängerin gemein, dass auch<br />

sie in einem gebrochenen Wahlkampfversprechen<br />

wurzelt. Naftali Bennett von der<br />

nationalreligiösen Yamina-Partei hatte<br />

vor laufender Kamera eine Erklärung unterschrieben,<br />

wonach er Yair Lapid von<br />

der Zentrumspartei Jesch Atid auf gar keinen<br />

Fall zum Premier machen würde. Jetzt<br />

haben die beiden einander gegenseitig zu<br />

Premiers gemacht, mit einer vereinbar-<br />

ten „Job-Rotation“ im August 2023. Und<br />

dabei hat Bennett sogar noch den Vortritt<br />

bekommen – mithin ist der Chef einer<br />

Sechs-Prozent-Partei nunmehr Israels<br />

mächtigster Mann! Noch „unmöglicher“<br />

als dieses Arrangement ist aber das Gespann,<br />

das Bennett und Lapid kutschieren<br />

wollen. Es besteht aus nicht weniger<br />

als acht Parteien, die ideologisch keinen<br />

gemeinsamen Nenner haben – mit dabei<br />

sind Tauben und Falken, militant Progressive<br />

und Erzkonservative, Antireligiöse<br />

und Religionsnahe und sogar eine islamistisch-arabische<br />

Partei.<br />

Kein gemeinsamer Nenner. Dementsprechend<br />

widersprüchlich sind die<br />

kreuzweise geschlossenen Koalitionsabkommen.<br />

Wichtige Bereiche wird diese<br />

Regierung nicht einvernehmlich bearbeiten,<br />

sondern nur ausklammern können:<br />

Justizreform, Homo- und Genderangelegenheiten,<br />

Beduinen, Migranten<br />

oder komplexe Fragen von Staat und Religion<br />

wie die Zivilehe oder Subventio-<br />

nen für religiöse Schulen. Insbesondere<br />

bei der Palästinenserpolitik vertreten die<br />

ganz „linken“ und die ganz „rechten“ Partner<br />

konträre Positionen. Nun gut, der israelisch-palästinensische<br />

Konflikt war in<br />

den vier Wahlkämpfen kein Thema, und<br />

von einem „Friedensprozess“, bei dem<br />

konkret über die Schaffung eines Palästinenserstaates<br />

entschieden werden<br />

müsste, wird auf absehbare Zeit ohnehin<br />

keine Rede sein. Aber wie soll man sich<br />

auch nur darüber einigen, ob eine Flaggenparade<br />

in Ost-Jerusalem erlaubt oder<br />

verboten wird, oder ob Budgetmittel für<br />

den Ausbau einer Siedlung bewilligt oder<br />

blockiert werden? Richtig heikel kann<br />

das werden, wenn es um die nationale Sicherheit<br />

geht, etwa bei einer Konfrontation<br />

mit dem Iran oder der Hamas. Hätte<br />

die jetzt angetretene Regierung angesichts<br />

der Raketensalven, die erst vor einem Monat<br />

in israelischen Städten einschlugen,<br />

eine gemeinsame Linie gefunden?<br />

Natürlich, es gäbe schon auch ein paar<br />

ideologiefreie Ziele, auf die alle zum Wohle<br />

aller hinarbeiten könnten, etwa billigere<br />

Wohnungen und weniger Verkehrsstaus.<br />

Aber was die Koalitionsfragmente kittet,<br />

ist nur ein einziges politisches Motiv: der<br />

beinahe schon obsessive Wunsch, Netan-<br />

© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />

6 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 6 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47


Geordneter Wechsel<br />

© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />

Legislaturperiode von<br />

vier Jahren nicht durchstehen<br />

kann. Wenn sie<br />

schon nach wenigen Monaten<br />

zerbricht, dann<br />

kommt eben doch gleich<br />

wieder die Wahl Nummer<br />

fünf und womöglich ein<br />

großes Comeback von Netanjahu. Wenn<br />

die Koalition ihr Ziel, Netanjahu endgültig<br />

aus der Politik zu drängen, erreichen<br />

will, muss sie so lange Zeit schinden, bis<br />

die Likud-Partei in der Opposition vielleicht<br />

die Geduld verliert und ihren Vorsitzenden<br />

austauscht. Auf eine eventuelle<br />

rechtskräftige Verurteilung Netanjahus<br />

braucht man vorläufig nicht zu schielen,<br />

denn der Weg durch die Instanzen wird<br />

einige Jahre dauern.<br />

Wie auch immer – wenn in manchen<br />

Kommentaren die Schwierigkeit der Regierungsbildung<br />

als Anfang vom „Ende<br />

der Demokratie“ in Israel gedeutet wurde,<br />

so ist das ein grober Denkfehler. Parteijahu<br />

loszuwerden. Und weil dieses Motiv<br />

so stark ist, liegt darin wiederum das Potenzial<br />

zu einem Aufbruch. Nein, Israels<br />

Politik wird sich nicht fundamental ändern,<br />

bloß weil Bennett statt Netanjahu an<br />

der Spitze steht. Alle israelischen Premiers<br />

haben, innerhalb einer gewissen Bandbreite,<br />

ungefähr dasselbe gemacht, weil<br />

sie denselben nahostpolitischen und gesellschaftlichen<br />

Sachzwängen unterworfen<br />

waren. Und Netanjahu kann auf eine<br />

blendende Wirtschaftsentwicklung, beachtliche<br />

außenpolitische Erfolge, die relativ<br />

gute Bewältigung von<br />

Sicherheitskrisen und zuletzt<br />

den Sieg über die Corona-Pandemie<br />

hinweisen.<br />

Aber nach zwölf Jahren Netanjahu<br />

in einem Stück (und<br />

obwohl Kreisky und Merkel<br />

demonstriert haben, dass<br />

man auch 13 und 16 Jahre in<br />

einem Stück regieren kann)<br />

war es einfach Zeit für neue<br />

Gesichter und einen anderen<br />

Ton. Die da und dort<br />

überbordende Gehässigkeit<br />

der Netanjahu-Gegner<br />

ist fehl am Platz, aber wegen<br />

seines kantigen, manipulativen<br />

Stils und der Überheblichkeit<br />

seiner Entourage<br />

hatte sich so viel Ärger<br />

aufgebaut, dass der Premier<br />

zu einer Belastung für sein Land geworden<br />

war. Letztlich liegt es an der Person<br />

Netanjahus, dass Israel in eine innenpolitische<br />

Dauerkrise geschlittert ist. Wäre<br />

Netanjahu nach der ersten Wahl oder spätestens<br />

nach seiner Korruptionsanklage<br />

im November 2019 zurückgetreten, dann<br />

hätte Israel schon längst eine „normale“<br />

Regierung.<br />

Bloß nicht wieder wählen. Für die Bildung<br />

der „unmöglichen“ Regierungen<br />

Netanjahu-Gantz und nunmehr Bennett-Lapid<br />

und die damit verbundenen<br />

peinlichen Wortbrüche gibt es natürlich<br />

eine plausible Rechtfertigung: Man wollte<br />

„Parteienvielfalt<br />

und häufige<br />

Wahlen,<br />

nach denen<br />

man nicht<br />

immer sofort<br />

weiß, wer gewonnen<br />

hat,<br />

sind kein Zeichen<br />

von zu<br />

wenig, sondern<br />

eher von zu viel<br />

Demokratie.“<br />

dem Land einen weiteren<br />

Wahlgang ersparen. Ob<br />

das diesmal gelingt, ist<br />

völlig offen. Die neue Regierung<br />

ist derartig heterogen,<br />

dass sie eine volle<br />

Israels neuer Premier, Naftali Bennett, wendet sich<br />

nach der Sondersitzung zur Abstimmung über die<br />

neue Regierung an den scheidenden Langzeit Premier<br />

Benjamin Netanjahu.<br />

envielfalt und häufige Wahlen, nach denen<br />

man nicht immer sofort weiß, wer<br />

gewonnen hat, sind kein Zeichen von zu<br />

wenig, sondern eher von zu viel Demokratie.<br />

In Diktaturen gibt es entweder überhaupt<br />

keine Wahlen, oder man weiß schon<br />

vorher, wer gewinnt. Wenn der angeblich<br />

allmächtige, ja von manchen schon zum<br />

„Diktator“* gestempelte Netanjahu zwei<br />

Jahre lang um die Macht rangeln musste<br />

und sie am Ende verloren hat, dürften<br />

die demokratischen Institutionen in Israel<br />

doch ganz gut funktionieren. Auch<br />

der Umstand, dass der Regierungschef<br />

vor Gericht gestellt wurde, sollte eigentlich<br />

jene beruhigen, die sich um Israels<br />

Demokratie sorgen. Trotz all der Komplikationen<br />

und Emotionen ist nun im<br />

israelischen Parlament ein geordneter<br />

Machtwechsel nach allen Regeln des<br />

Grundgesetzes abgewickelt worden. Das<br />

wird nichts daran ändern, dass Israel wegen<br />

seiner äußeren Bedrohung, seiner inneren<br />

Segmentierung und seines Wahlsystems<br />

schwer regierbar ist.<br />

* haaretz.com/israel-news/elections/.premium-with-netanyahu-victory-it-s-time-we-admit-israel-has-become-a-dictatorship-1.7107324;<br />

israeltoday.co.il/read/netanyahu-is-a-dictatorsay-israelis-in-black-flag-protest/<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

sommer_doppel1.indb 7 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:48


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Neue Regierung,<br />

neues Glück?<br />

Die heterogene Koalition wird vielleicht nicht<br />

lange halten, aber sie steht schon jetzt für einen<br />

zivileren Umgang miteinander.<br />

ie Namen der neuen Amtsträger<br />

sind noch gewöhnungsbedürftig.<br />

Regierungschef Naftali Bennett,<br />

Gesundheitsminister Nitzan Horovitz,<br />

Transportministerin Merav<br />

Michaeli, um nur einige zu<br />

nennen. Gemeinsam waren die<br />

drei am Flughafen Ben Gurion<br />

aufgetaucht, um die vermeintliche Bruchstelle eines<br />

erneuten Corona-Ausbruchs im Land zu begutachten.<br />

Mit der indischen Delta-Variante hatten<br />

sich vor allem Schulkinder infiziert. Angesteckt<br />

wurden sie offenbar von geimpften Erwachsenen,<br />

die sich nicht als immun erwiesen und das Virus<br />

von einer Reise mitgebracht hatten. Man soll am<br />

besten gar nicht fliegen, falls es sich vermeiden<br />

lässt, lautete das Fazit.<br />

Ansteigende Covid-19-Zahlen gehören möglicherweise<br />

aber noch zu den leichteren Übungen<br />

der neuen Regierung. Acht Partner, die<br />

in ihrer politischen Ausrichtung kaum unterschiedlicher<br />

sein könnten, haben sich<br />

dafür zusammengetan. Dass diese Koalition<br />

überhaupt zustande kam, ist<br />

eine Leistung für sich. Dazu waren<br />

Werte, die man schon aus dem kollektiven<br />

Vokabular verschwunden<br />

Von Gisela Dachs<br />

Acht Partner, die in ihrer politischen Ausrichtung<br />

kaum unterschiedlicher sein könnten,<br />

haben sich dafür zusammengetan. Dass diese<br />

Koalition überhaupt zustande kam, ist eine<br />

Leistung für sich.<br />

geglaubt hatte, wie Teamgeist, Kompromissbereitschaft<br />

und Konsensfindung zum Prinzip erhoben<br />

worden. Kitt war der gemeinsame Wunsch, Benjamin<br />

Netanjahu nach zwölf Jahren an der Macht abzulösen<br />

und fünfte Neuwahlen zu vermeiden.<br />

Es war kein respektvoller Übergang, wie man das<br />

bisher eigentlich trotz aller Divergenzen kannte.<br />

Gerade einmal eine halbe Stunde Zeit nahm sich<br />

Netanjahu für die Geschäftsübergabe an seinen<br />

Nachfolger Zeit, zuvor soll er Dokumente geschreddert<br />

haben. Vor der Vereidigung in der Knesset ließ<br />

man Bennett keinen Satz zu Ende reden. Er nahm<br />

das stoisch hin, ließ sich nicht hinabziehen in die<br />

schlammigen Tiefen der Zwischenrufer. Einer der<br />

haredischen Abgeordneten, die neuerdings ja auf<br />

der Oppositionsbank sitzen, hat ihn im Plenum<br />

seither als „eine Null“ beschimpft. Dass Bennett,<br />

der erste Regierungschef mit Kippa, wenn auch einer<br />

nur sehr kleinen, jetzt zu den anderen gehört,<br />

verzeiht man ihm nicht.<br />

Auch konnte seine Yamina-Partei nur gerade<br />

einmal sechs Mandate hinter sich scharen. Das<br />

macht ihn zusätzlich angreifbar. Deshalb soll Bennett<br />

auch nur eine halbe Kadenz regieren und in<br />

der zweiten Hälfte das Ruder an den „alternierenden<br />

Ministerpräsidenten“, Yair Lapid, übergeben.<br />

Beide verfügen über ein Vetorecht. Damit ist dieses<br />

Arrangement mehr als ein Rotationsabkommen.<br />

Erfunden wurde es von der vorausgegangenen Regierung,<br />

weil Benny Gantz sicherstellen wollte, dass<br />

ihn Netanjahu nicht austricksen würde. Am Ende<br />

ist es dann, wie man weiß, tatsächlich nicht so weit<br />

gekommen. Es fehlte aber von Anfang an das Vertrauen.<br />

Das Gespann Bennett-Lapid beginnt unter<br />

einem viel besseren Stern. Die beiden könnten gut<br />

miteinander. Erstmal in der Geschichte des Landes<br />

aber sollen im neuen Kabinett auch die Minis-<br />

© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />

8 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 8 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:48


© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />

ter rotieren dürfen. Machtteilung wurde zum Prinzip<br />

erhoben.<br />

Krasser könnte der Gegensatz zu Bibi wahrscheinlich<br />

nicht sein. In Netanjahus Welt gab es nur<br />

schwarz oder weiß, man war entweder für oder gegen<br />

ihn. Dieses binäre System ist durch ein multipolares<br />

ersetzt worden. In der Einheitsregierung<br />

gehe es „nicht um mich, sondern um uns“, versprach<br />

Bennett. Netanjahu war ein Einzelkämpfer,<br />

zutiefst misstrauisch selbst seinen engsten Mitarbeitern<br />

gegenüber, alle Karten immer nah bei<br />

sich haltend. In der One-Man-Show gab es allenfalls<br />

Platz für Statisten. Seine Anhänger, und davon<br />

gibt es immer noch viele, sehen darin Führungsqualitäten,<br />

die ein Staatsmann besonders im Nahen<br />

Osten brauchen würde.<br />

Bennett,49, steht hingegen für Teamgeist. Er ist<br />

22 Jahre jünger als Bibi, hat eine erfolgreiche Karriere<br />

als Start-up-Unternehmer hinter sich, dort<br />

zählen flache Hierarchien. Bennett müsse jetzt seinen<br />

eigenen Führungsstil ausformen und für sich<br />

beanspruchen, riet ein Kommentator, „als ein professioneller<br />

Premier und Technokrat, jung, zeitgemäß,<br />

zugänglich und sehr hightech“.<br />

Offen aber ist, wie lange die neue heterogene Regierung<br />

überhaupt halten kann. Was kontroverse<br />

Fragen angeht, wird man sich darauf einigen müssen,<br />

sie – soweit das möglich ist – zu umgehen. Angesagt<br />

ist konstruktive Politik. Man will sich auf das<br />

Machbare und Notwendige konzentrieren, vor allem<br />

die Wirtschaft, es geht darum, Posten zu besetzen,<br />

die vakant geblieben waren, Infrastrukturprojekte<br />

auf den Weg zu bringen. Zunächst aber muss<br />

erst einmal ein Haushaltsetat für <strong>2021</strong>–2022 verabschiedet<br />

werden.<br />

Viele Beobachter geben der neuen Koalition<br />

keine lange Lebensdauer. Politische Landminen<br />

Israels Präsident<br />

Reuvin Rivlin (M.),<br />

flankiert von Ministerpräsident<br />

Naftali<br />

Bennett (l.) und dem<br />

stellvertretenden<br />

Ministerpräsidenten<br />

und Außenminister<br />

Yair Lapid (r.) beim Fotoshooting<br />

der neuen<br />

Koalitionsregierung in<br />

der Residenz des Präsidenten<br />

in Jerusalem<br />

am 14. Juni <strong>2021</strong>.<br />

und Sicherheitsfragen, die schnell zu Zerreißproben<br />

werden könnten, gibt es genug. Und Netanjahu<br />

hat versprochen, auf der Oppositionsbank alles zu<br />

tun, um seine(n) Nachfolger zu stürzen. Seine fortdauernde<br />

Präsenz könnte aber auch weiterhin für<br />

den nötigen Zusammenhalt halten.<br />

Man darf gespannt sein, wie und wie lange sich<br />

die Kooperation gestalten wird zwischen einem religiösen<br />

Ministerpräsidenten, seinem säkularen Co-<br />

Premier, einer überzeugten Feministin an der Spitze<br />

der Arbeitspartei, einem bekennenden Homosexuellen<br />

als Vorsitzenden der Meretz-Partei und einem<br />

konservativen Muslim an der Spitze der Raam-Partei.<br />

Der Kreis ließe sich um eine äthiopischstämmige<br />

Ministerin und eine gehörlose Abgeordnete<br />

erweitern. So viel Diversität war noch nie.<br />

Dazu waren Werte, die man schon aus dem<br />

kollektiven Vokabular verschwunden geglaubt<br />

hatte, wie Teamgeist, Kompromissbereitschaft<br />

und Konsensfindung zum Prinzip<br />

erhoben worden.<br />

In jedem Fall aber hat mit dem Bennett-Team<br />

schon jetzt eine neue Art von Politik Einzug gehalten,<br />

die eine Zäsur signalisiert. Es könnte sein,<br />

dass es genau das ist, was das Land für einen Reset<br />

braucht, um nicht wieder an einem toten Punkt<br />

anzugelangen. Und neben einem anderen Tonfall<br />

ist noch etwas an der neuen Koalition anders – die<br />

geografische Verortung ihrer Mitglieder. Denn bis<br />

auf Mansour Abbas, der in Galiläa wohnt, und Avigdor<br />

Lieberman mit seinem Haus in einer Siedlung<br />

jenseits der Grünen Linie, leben alle anderen im<br />

Großraum Tel Aviv.<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

sommer_doppel1.indb 9 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:53


WINA KOMMENTAR<br />

Wien – Tel Aviv<br />

Als israelischer Österreicher – oder mittlerweile österreichischer Israeli in<br />

Tel Aviv – freue ich mich, dass ich zu zwei Mannschaften halten kann, mit<br />

denen ich Vertrautes assoziiere.<br />

Ich bin in Wien aufgewachsen und fühle mich in<br />

der Stadt daheim. Ich höre gerne Falco und STS,<br />

gehe Schifahren und noch lieber ins Apres-Ski,<br />

würde einen „Spritzer“ niemals „Schorle“ nennen,<br />

kenne The Sound of Music nur aus Erzählungen,<br />

und ja, das Wort Oida macht in jedem Zusammenhang<br />

Sinn.<br />

Von Itamar Gross Genau so bin ich auch meiner<br />

israelischen Seite sehr verbunden.<br />

Meine halbe Familie ist israelisch, ich wohne<br />

seit knapp zwei Jahren in Tel Aviv, stelle die Klimaanlage<br />

grundsätzlich auf -4 Grad ein, meine Pita reißt traditionell<br />

aufgrund einer Überdosis Tchina, und Prozesse, die<br />

meines Erachtens zu langsam fortschreiten, werden mit<br />

einem ungeduldigen „nu“ kommentiert.<br />

Ich bin sehr gerne israelischer Österreicher (oder<br />

mittlerweile in Tel Aviv österreichischer Israeli?) und erlebe<br />

Endrunden von Fußball-Welt- und Europameisterschaften<br />

mit einem Hauch von Ernüchterung. In dieser<br />

Zeit sind nämlich die Straßen mit Personen überfüllt,<br />

die in ihren Landesfarben geschminkt Spiele verfolgen.<br />

Bunte Fahnen wehen durch die Mengen, und jeder kleiner<br />

Pfiff des Schiris provoziert einen Aufschrei der Fans.<br />

Währenddessen musste ich in den letzten 20 Jahre zur<br />

Kenntnis nehmen, dass weder Israel noch Österreich<br />

sich in den meisten Fällen qualifiziert.<br />

Auch heuer hat sich Israel nicht qualifiziert, dafür erfreulicherweise<br />

Österreich. Mein erstes EM-Highlight<br />

hatte ich allerdings bereits in der Qualifikationsrunde,<br />

als nämlich im Ernst-Happel-Stadion Israel auf Österreich<br />

traf. Der Moment, als die israelische Hymne in<br />

Wien zu hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />

sehr gut für mich zusammengefasst. Es war<br />

ein schöner Moment des Innehaltens, für den ich sehr<br />

dankbar bin. Back to reality war ich abermals mit der<br />

Frage konfrontiert, ob ich beim Match eher zu Österreich<br />

oder Israel halte.<br />

Sobald diese Frage im Raum steht, erinnere ich mich<br />

unweigerlich an den Moment zurück, als Andi Herzog<br />

2002 ein Tor in der 92. Minute gegen Israel erzielte. Dadurch<br />

hat es Österreich auf dem letzten Drücker in die<br />

Der Moment, als die israelische<br />

Hymne im Ernst-Happel-Stadion zu<br />

hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />

sehr gut für<br />

mich zusammengefasst!<br />

Play-offs geschafft, Israel flog aus dem Turiner. Ich war<br />

damals zehn und furchtbar enttäuscht, habe ich mir<br />

doch damals das Weiterkommen Israels sehr erhofft.<br />

Bei diesem Spiel war es anders. Da rechnerisch gesehen<br />

Österreich größere Chancen hatte, bei einem Sieg<br />

an der Endrunde teilzunehmen, habe ich mich über<br />

deren Sieg gefreut. Ist das opportunistisch? Möglicherweise.<br />

Jedoch ist es auch schön, wenn man zu zwei<br />

Mannschaften halten kann, mit denen man Vertrautes<br />

assoziiert. Und wenn man nach dem Motto „Besser mit<br />

einer Mannschaft bei der EM dabei als mit keiner“ gehen<br />

möchte, dann darf man auch ein Auge zudrücken.<br />

Wenn ich mich also der eigentlichen Beantwortung<br />

des Ausgangsfrage widmen will, kann ich alles in allem<br />

sagen, dass ich sehr froh bin, mich gleichermaßen am<br />

Strand von Tel Aviv und in einem Wiener Kaffeehaus mit<br />

Melange und Kipferl zu Hause zu fühlen.<br />

Wohlgefühl<br />

mit Melange und Kipferl ebenso wie<br />

mit einer Pita, die gern mal aufgrund<br />

einer Überdosis Tchina reißt.<br />

© 123RF<br />

10 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 10 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:53


Vergessene Welt<br />

„Très juif mais gentil“<br />

In hunderten Karteikarten klassifizierten über Jahrzehnte<br />

„Sehr jüdisch, aber nett“<br />

die Concierges eines Schweizer Luxushotels ihre Gäste. Die<br />

Beschreibungen reichten dabei von gönnerisch-freundlich<br />

bis zu brutal antisemitisch. Gesammelt in einem Bildband,<br />

zeichnen diese ein gruseliges Sittengemälde vom alpinen<br />

Tourismus.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Das Grandhotel<br />

Waldhaus<br />

im<br />

Schweizerischen<br />

Vulpera<br />

versinnbildlicht<br />

eine<br />

verschwundene<br />

Welt. Es<br />

brannte 1989<br />

bis auf die<br />

Grundmauern<br />

nieder.<br />

Empfang. Die Gäste<br />

wurden genau taxiert<br />

und ihre Vorlieben,<br />

Macken etc. über<br />

Jahrzehnte notiert.<br />

Lois Hechenblaikner,<br />

Andrea Kühbacher<br />

und Rolf Zollinger (Hg.):<br />

Keine Ostergrüsse mehr!<br />

Die geheime Gästekartei<br />

des Grandhotel Waldhaus<br />

in Vulpera.<br />

Edition Patrick Frey <strong>2021</strong>,<br />

388 S., € 52<br />

© Grandhotel/ Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger, „Keine Ostergrüsse mehr!“, Edition Patrick Frey<br />

11 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 11 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:55


Kurzprosa auf Karteikarten<br />

Leicht vergilbt: die Karteikarten,<br />

auf denen Concierges und<br />

Rezeptionisten Eintragungen zu<br />

den Gästen gemacht haben.<br />

© Grandhotel/ Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger, „Keine Ostergrüsse mehr!“, Edition Patrick Frey<br />

Doch ab 1932<br />

nahmen die Einträge<br />

zu: „Ostergruß<br />

zurück“, es<br />

gab die Adressaten<br />

und ehemaligen<br />

Gäste nicht<br />

mehr an diesen<br />

Wohnorten.<br />

Die großformatigen Fotos<br />

verweisen auf eine<br />

traumhafte, luxuriöse,<br />

verschwundene Welt.<br />

Da schwimmen mehrere Großhotels<br />

zwischen Berggipfeln wie Kreuzfahrtdampfer<br />

auf hoher See. Da sitzen<br />

im Innenhof des Hotels elegante<br />

Kurgäste zwischen südlichen Pflanzen<br />

beim Tee. Da liest ein vornehmer<br />

Herr in einer mächtigen Halle<br />

mit Kassettendecke die Zeitung.<br />

Und da wiegen sich gut gekleidete<br />

Damen und Herren sinnlich beim<br />

Nachmittagstanz. Und auch die<br />

Kurpromenade entlang des reißenden<br />

Alpenflusses erinnert mit ihren<br />

wohlhabenden Flaneuren an Bad<br />

Ischl und Abbazia, Nizza und Triest.<br />

Keine Ostergrüsse mehr! heißt der<br />

Bildband aus dem Zürcher Verlag<br />

Edition Patrick Frey, herausgegeben<br />

von Lois Hechenblaikner, Andrea<br />

Kühbacher und Rolf Zollinger. Er dokumentiert<br />

den Alltag in einem feinen<br />

Berghotel im Schweizerischen Vulpera,<br />

dem Grandhotel Waldhaus. Vulpera<br />

liegt etwa in der Mitte zwischen dem Tiroler<br />

Serfaus und der bekannten Tourismusdestination<br />

St. Moritz. Das Grandhotel<br />

gibt es nicht mehr, es brannte 1989 bis<br />

auf die Grundmauern nieder und wurde<br />

nicht mehr wieder aufgebaut.<br />

Den Kern des Buches bilden freilich<br />

nicht die romantischen Schwarzweißfotos<br />

aus der Welt der Reichen und Schönen<br />

nach den beiden Weltkriegen. Es sind<br />

leicht vergilbte Karteikarten, auf denen<br />

Concierges und Rezeptionisten Eintragungen<br />

zu ihren Gästen gemacht<br />

haben, über deren Vorlieben, Macken<br />

und über die Jahre immer krasser<br />

auch über deren Herkunft oder<br />

„Rasse“. Gerettet hat dieses fast einzigartige<br />

Dokument des bösen Blicks<br />

der Dienenden auf „die da oben“ ein<br />

ehemaliger Direktor des Hotels. Der<br />

Zeitraum umspannt dabei die Zwischenkriegszeit<br />

und einige Jahre<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg, die<br />

jüngeren Exemplare fielen wohl<br />

dem Brand zum Opfer.<br />

Die Herausgeber gehen dabei<br />

systematisch vor, ziehen Leserinnen<br />

und Leser recht geschickt in<br />

ihren Sog der Angestellten-Kurzprosa.<br />

Es beginnt ganz harmlos, mit<br />

vorwiegend positiven Qualifizierungen:<br />

„Glanzgast, konsumiert gut“,<br />

liest man da und „nice and happy“,<br />

„sehr nette Gäste, finanzkräftig“.<br />

Doch langsam mischen sich bereits<br />

andere Töne in die Beschreibungen:<br />

„großer Protz à la Neureich“, heißt<br />

es, oder „ordinaire, aber ganz guter Vorsaison-Gast“,<br />

„als Lückenbüßer genommen“,<br />

„ekelhafter Nörgler aus Ungarn“.<br />

Lange Prominentenliste. Die Gäste, die<br />

meist mehrere Wochen blieben, konsumierten<br />

einen Mix aus Gesundheits- und<br />

Wellnessurlaub. Wirklich Kranke gab es<br />

nicht, diese buchten gleich die Kurhäuser<br />

in Davos. Man spazierte hier zur Quelle<br />

mit dem Mineralwasser, spielte Golf und<br />

Tennis, genoss die feine Küche. Die hohen<br />

Preise des Luxushotels sorgten für<br />

eine soziale Auslese, meist wohnten hier<br />

wına-magazin.at<br />

12<br />

sommer_doppel1.indb 12 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:57


Keine Läuterung<br />

ALPINE AUFDECKER<br />

Wer sind die Herausgeber des Bandes?<br />

Lois Hechenblaikner ist ein bekannter<br />

Tiroler Fotograf, der sich vor allem mit<br />

den Auswüchsen des alpinen Tourismus<br />

in qualitätsvollen Reportagen einen<br />

Namen gemacht hat, nicht zuletzt<br />

über Ischgl. Er bemühte sich lange Zeit,<br />

von Rolf Zollinger, einem ehemaligen<br />

Direktor des Grandhotels Waldhaus,<br />

die von diesem noch vor dem Brand<br />

geretteten Karteikarten einsehen und<br />

veröffentlichen zu dürfen, auf deren<br />

Spur er zufällig gestoßen war. Andrea<br />

Kühbacher ist eine Kulturwissenschaftlerin<br />

und Autorin aus Innsbruck.<br />

Sie war etwa Pressesprecherin des Tiroler<br />

Landesmuseums Ferdinandeum<br />

und hat gastrosophische Bücher herausgegeben.<br />

Großbürger, Adelige, Unternehmer und<br />

erfolgreiche Künstler. Die Promiliste war<br />

lang, von Theodor Heuss, dem deutschen<br />

Bundespräsidenten, über den Sänger Richard<br />

Tauber, vom israelischen Staatschef<br />

Chaim Weizmann bis zum Schriftsteller<br />

Friedrich Dürrenmatt (der übrigens einmal<br />

einen Hotel-Großbrand beschrieb,<br />

recht kurz vor jenem in Vulpera).<br />

heit gewesen sein dürften,<br />

war das Handeln um die<br />

Zimmer- und Pensionspreise<br />

wohl eher die Regel<br />

denn die Ausnahme: „Findet<br />

Zimmerpreis zu hoch“,<br />

liest man da, und immer<br />

wieder die Worte „Preisdrücker“<br />

oder „Schinder“.<br />

Das wird allerdings nie mit<br />

der Tatsache in Zusammenhang<br />

gebracht, dass es<br />

keine Fixpreise gab, sondern<br />

eine Fülle an Nachlässen,<br />

Abschlägen und<br />

Sonderkonditionen. Jene,<br />

die das wussten und danach<br />

ökonomisch rational<br />

handelten, wurden dann<br />

vom Personal verachtet.<br />

Über die Konditionen-Verhandlungen<br />

pirschen sich die Herausgeber dann an<br />

den harten Kern des Buches heran, den<br />

Judenhass. Erst beginnt es mit versteckten<br />

Qualifizierungen, immer wieder ist<br />

von „Tirolern“ zu lesen, oder „großen Tirolern“.<br />

„Gemeint waren nicht reale Nord-,<br />

Ost- oder Südtiroler, sondern es waren<br />

verklausulierte Hinweise darauf, dass es<br />

sich um jüdische Gäste handelte.“ Die Autoren<br />

vermuten, es ging dabei um eine<br />

Anspielung auf die damals sprichwörtliche<br />

Geschäftstüchtigkeit der Tiroler Wanderhändler<br />

vor allem aus dem Zillertal.<br />

Und tatsächlich klingt es seltsam, wenn<br />

von einem Dr. med. Friedlich Fischl aus<br />

der Rothausstraße (wohl der Rathausstraße)<br />

in Wien I zu lesen ist, „wollte alle<br />

Platten des Menu wechseln/Tiroler“, oder<br />

zu Paul Hecht aus Berlin, „großer Tiroler“.<br />

Ab 1929 wird dann der Ton klarer,<br />

schärfer, das Umschreiben scheint nicht<br />

mehr nötig. Da taucht dann schon wiederholt<br />

der „Stinkjude“ auf, es heißt:<br />

„Jude, zahlt nicht“, „großer Jud“ oder<br />

„ziemlich frech, Juden“. Man muss auch<br />

nicht mehr jeden Gast umwerben. Während<br />

die Deutschen wohlgelitten sind,<br />

schreibt jemand auf eine Karte: „Geht<br />

ins Kurhaus, was wir nicht bedauern, da<br />

Gemeint waren<br />

nicht reale<br />

Nord -, Ost- oder<br />

Südtiroler, sondern<br />

es waren<br />

verklausulierte<br />

Hinweise darauf,<br />

dass es<br />

sich um jüdische<br />

Gäste handelte.<br />

„Problemgäste“. Auch Wiener Namen finden<br />

sich immer wieder in den Karteikarten,<br />

etwa jene der Brauerei-Kuffners. Da<br />

sind Herr und Frau Professor Moritz Rosenthal,<br />

„ein bekannter Pianist“ oder der<br />

„Minister a. d.“ Univ. Prof. Dr. Joseph Redlich,<br />

„Herr Generaldirektor“, Frau und<br />

Tochter Bánó-Gabor aus dem vierten Bezirk<br />

oder Herr Heinrich von Boschan und<br />

Mutter aus dem dritten, und bei Richard<br />

Tauber steht als Adresse Wien-Staatsoper.<br />

Der Dramaturgie der Herausgeber folgend,<br />

wird es aber schnell härter, nun<br />

tauchen zunehmend Problemgäste auf:<br />

„er Snob, sie nett“, „spinnt auf Hochtouren“,<br />

„frech, schimpft beständig über<br />

die Küche, Preisdrücker“, „liebt nächtliche<br />

Besuche und billige Zimmer“, „Hochstapler!<br />

Wurde von einem Hotel in Meran<br />

wegen Zechprellerei gesucht“. Während<br />

die wirklichen Gauner eher die Seltenschönstes<br />

Exemplar seiner<br />

Rasse.“<br />

Diese Sorgen brauchten<br />

sich die Rassisten<br />

an der Rezeption auch<br />

nicht mehr lange machen,<br />

immer wieder<br />

trugen sie in den Jahren<br />

ab 1933 ein nüchternes<br />

„parti“ ein, verreist oder<br />

einfach weg. Manchen<br />

dieser Gäste mag wohl<br />

die Flucht nach Übersee<br />

gelungen sein, aber<br />

bei einem Großteil handelte<br />

es sich doch um<br />

die endgültig Fahrt in<br />

die Vernichtungslager<br />

des NS-Regimes. Ähnliche<br />

Schlüsse konnte man auch aus dem<br />

titelgebenden Marketinginstrument „Ostergrüße“<br />

ziehen. Zunächst hatte auf<br />

manchen Karteikarten gestanden, „keinen<br />

Ostergruß mehr“, man sollte unangenehme<br />

Gäste nicht dazu animieren<br />

wiederzukommen. Doch ab 1932 nahmen<br />

die Einträge zu: „Ostergruß zurück“. Es<br />

gab die Adressaten und ehemaligen Gäste<br />

nicht mehr an diesen Wohnorten.<br />

Wer nun denkt, nach dem Zusammenbruch<br />

Großdeutschlands habe sich<br />

bei den Schweizer Hotelangestellten eine<br />

Läuterung gezeigt, der irrt. Nun trauen<br />

sie sich nicht mehr, von „Saujuden“ zu<br />

schreiben, es gibt einen neuen Code: P,<br />

PP oder PPP. Das war schon vor Kriegsende<br />

in den Schriftgebrauch hereingesickert:<br />

„Prachtvolles Palestina-Exemplar<br />

[!] und benimmt sich danach.“<br />

Später hieß es etwa: „Hat ziemlich viele<br />

Bekannte, alles Palestina-Schweizer.“ Die<br />

Anzahl der großen Ps „gibt Aufschluss<br />

darüber, wie ‚jüdisch‘ die Gäste wahrgenommen<br />

wurden. Nur eben umgekehrt:<br />

Je mehr P, umso negativer die dabeistehenden<br />

Bemerkungen.“ Aber es<br />

ging auch bald wieder deutlicher. 1951<br />

schrieb ein Concierge auf seine Karteikarte:<br />

„Schießt den Vogel aller Juden ab<br />

… kein Ostergruß.“<br />

13 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 13 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:57


INTERVIEW MIT RUTH KATRIN LAUPPERT-SCHOLZ<br />

„Interreligöses und<br />

interkulturelles Denken“<br />

Ihre Vortragsarbeit sieht Ruth Katrin Lauppert-Scholz als einen<br />

Beitrag zu mehr Akzeptanz und Toleranz von Diversität. Wissen macht das<br />

andere besser verständlich und verringert Barrieren. Interview: Viola Heilman<br />

WINA: Du bist Soziologin und arbeitest als vortragende<br />

Referentin zu interreligiösen Themen. Worüber handeln<br />

deine Vorträge, Seminare und Workshops?<br />

Ruth Lauppert-Scholz: Grundsätzlich habe ich unterschiedliche<br />

Schwerpunkte. Einerseits die Vermittlung<br />

des lebendigen, aktiven jüdischen Lebens,<br />

dieser Vortrag heißt Judentum erLeben. Andererseits<br />

arbeite ich an der Shoah Education, also Gedenkarbeit,<br />

was unter anderem Gedenkstättenpädagogik<br />

im weitesten Sinne beinhaltet. Da gehören etwa die<br />

Führungen Stolpersteine erzählen Geschichten dazu, aber<br />

auch Führungen zu den jüdischen Gedenkstätten in<br />

der Südoststeiermark. Ein dritter Schwerpunkt ist<br />

meine Arbeit mit Lehrern und Schüler*innen über<br />

Antisemitismus und interreligiöses Lernen. Hier<br />

hilft mir mein zusätzliches Studium der Religionswissenschaft<br />

sehr.<br />

Du leitest einen Verein, der Granatapfel heißt?<br />

I Eigentlich ist das kein Verein, sondern ein Ein-Personen-Unternehmen.<br />

Ich führe dieses Unternehmen<br />

und organisiere hier meine Arbeit.<br />

An wen richten sich deine Bildungsangebote?<br />

I Es sind ganz unterschiedliche Zielgruppen, die vorwiegend<br />

aus Multiplikator*innen, Pädagog*innen,<br />

Vermittler*innen und Lehrbeauftragten der Pädagogischen<br />

Hochschule Steiermark bestehen. Ich bin<br />

dort auch Mitglied der Ethiklehrerausbildung und<br />

Vortragende für Erwachsenengruppen zu speziellen<br />

Themen. Es gab zum Beispiel eine Vortragsreihe über<br />

Unorthodox, das Buch und die Netflix-Serie. Solche<br />

vorgegebenen Themen sind keine leichte Entscheidung,<br />

da es viel Pro und Kontra dazu gibt. Von diesen<br />

„Dabei kommt<br />

es auch darauf<br />

an zu zeigen,<br />

wie viel der<br />

Islam und<br />

das Judentum<br />

gemeinsam<br />

haben.“<br />

Ruth Lauppert-<br />

Scholz<br />

Gruppen kommen viele Fragen zum Judentum im<br />

Allgemeinen, weil darüber in der Öffentlichkeit viel<br />

zu wenig bekannt ist. Es werden Fragen zu Festen,<br />

Feiertagen, Kashrut und Traditionen gestellt. Andere<br />

Zielgruppen meiner Arbeit sind Schüler*innen<br />

ab der dritten Klasse Volksschule. Manchmal kommen<br />

sogar erste Klassen zu mir. Um die Thematik näherzubringen,<br />

wende ich für ganz kleine Kinder altersgerechte<br />

Möglichkeiten an. Wenn sie sich dann<br />

merken, dass der Davidstern sechs Zacken hat und<br />

nicht fünf oder acht, dann ist das schon ein pädagogischer<br />

Erfolg für mich.<br />

Wie vermittelst du dein Wissen?<br />

I Das Spezielle an meinem Ansatz ist das interreligiöse<br />

und interkulturelle Denken. Wenn man beispielsweise<br />

ein konfessionell gebundenes Angebot bucht,<br />

wie etwa eine Kirchen-Synagogen-Moschee-Führung,<br />

dann beleuchte ich die Themen aus der Innenseite der<br />

jeweiligen Religion und nicht vom Rand. Aus meiner<br />

Perspektive bleiben sonst zu viele Fragen offen. Wie<br />

zum Beispiel die Figur des Jesus: Die Frage ist hier,<br />

welche Rolle diese Figur in der jüdischen, christlichen<br />

und muslimischen Religion spielt. Auf diese Weise ergeben<br />

sich dann auf einer übergeordneten Ebene unterschiedliche<br />

Zugänge.<br />

Siehst du durch die zunehmende Diversität in der Gesellschaft<br />

eine Abflachung der kulturellen Unterschiede?<br />

I Ja, in meinem speziellen Umfeld und dem meiner<br />

Kinder ist das so. Aber das geht nicht automatisch<br />

überall. Es bedarf viel Arbeit, die Akzeptanz herzustellen.<br />

Es sollte daher viel mehr Angebote im Bereich<br />

des interkulturellen Lernens geben.<br />

© privat<br />

14 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 14 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:02


Kulturelle Verbindungen<br />

Ruth Lauppert-Scholz fragt unter<br />

anderem danach, welche Rolle<br />

Jesus in der jüdischen, christlichen<br />

und muslimischen Religion spielt.<br />

© privat<br />

Wer sind die Teilnehmer*innen an deinen Vorträgen?<br />

I Das ist ganz unterschiedlich. Es sind Menschen, die<br />

an interreligiösen und interkulturellen Themen interessiert<br />

sind. Es kommen unter anderem muslimische<br />

Jugendgruppen. Hier arbeite ich vor allem<br />

mit männlichen Jugendlichen. Man weiß heute, dass<br />

die zugewanderten Muslime einen starken muslimisch<br />

geprägten Antisemitismus mitbringen. Hier<br />

ist die Überlegung, wie man diesen Menschen begegnet.<br />

Das ausgewogene und offene Begegnen ist dabei<br />

das Wichtigste, um einen Lernprozess zu beginnen.<br />

Für diese jungen Männer möchte ich das Judentum<br />

belegbar und lebendig zu machen. Dabei kommt es<br />

auch darauf an zu zeigen, wie viel der Islam und das<br />

Judentum gemeinsam haben.<br />

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit<br />

gegen den muslimischen Antisemitismus sehr erfolgversprechend<br />

sein kann. Wichtig ist dabei, dass<br />

man psychologisch gefestigt sein muss, um mit dieser<br />

Zielgruppe zu arbeiten. Wichtig sind auch außerschulische<br />

Aktivitäten, zum Beispiel, die Gedenkstätten<br />

zu besuchen.<br />

Darüber hinaus veranstalte ich Gespräche, die Tea<br />

and Talk heißen, bei denen Vertreter*innen aller<br />

Weltreligionen und Politiker*innen miteinander<br />

über Themen sprechen, die alle betreffen, wie Leben,<br />

Sterben oder Jenseitsvorstellungen. Es geht mir<br />

um Diversität und interkulturelles Zusammenleben.<br />

Welche Rolle spielt die Jüdische Gemeinde Graz bei deiner<br />

Arbeit?<br />

I Sie ist ein Kunde von mir, und ich bin Leiterin des<br />

Bildungszentrums der Gemeinde. Wir sind in sehr<br />

enger Kooperation und Abstimmung miteinander.<br />

RUTH LAUPPERT-<br />

SCHOLZ<br />

Nach dem Studium der<br />

Soziologie folgt eine<br />

zehnjährige Lehr- und<br />

Forschungstätigkeit am<br />

Institut für Soziologie der<br />

Karl-Franzens-Universität<br />

Graz mit dem Schwerpunkt<br />

Religionssoziologie. Ausarbeitung<br />

verschiedener altersgerechter<br />

Bildungsprogramme<br />

für Schulen und<br />

Erwachsenenbildungseinrichtungen<br />

im Bereich des<br />

Judentums; Konzeption<br />

und Betreuung von Workshops<br />

und Gedenkspaziergängen,<br />

u. a. Stolpersteine<br />

erzählen Geschichte zu den<br />

Grazer Stolpersteinen für<br />

den Verein für Gedenkkultur<br />

in Graz; Konzeption und<br />

Projektleitung Judentum<br />

erLeben. Seit 2017 ist Ruth<br />

Lauppert-Scholz als Pädagogin<br />

für das Kinderprogramm<br />

Synagoge erleben<br />

der Jüdischen Gemeinde<br />

Graz tätig.<br />

Was wird in deinen Workshops gemacht?<br />

I Hier werden Religion, Kultur und Tradition anhand<br />

von Artefakten dargestellt. Das sind Judaika, wie Menora,<br />

Chanukkia oder eine Chamsa, und geht bis zu<br />

koscheren Gummibärchen. Das haptische Erleben,<br />

Riechen und Schmecken sind die langlebigsten Erinnerungen<br />

für Kinder und Erwachsene. Oft sprechen<br />

mich ehemalige Schüler*innen noch Jahre später an,<br />

dass sie von mir koschere Gummibärchen bekommen<br />

haben. Bei den Erwachsenengruppen ist es der<br />

koschere Wein. Diese sensorischen Erlebnisse der<br />

Teilnehmer*innen stellen den Zusammenhang mit<br />

der jüdischen Kultur und Tradition her.<br />

Über die Schoah mache ich einen eigenen Workshop.<br />

Während der Corona-Zeit konnte ich den Schul-<br />

Workshop Shalom-Salaam-Grüß Gott über die monotheistischen<br />

Weltreligionen auch online machen.<br />

Die Führungen durch Graz zu Stolpersteinen und<br />

den sehr wenigen noch vorhandenen Gedenkplätzen<br />

kombiniere ich mit Erzählungen aus der Stadtgeschichte.<br />

Du bist im Elternhaus mit unterschiedlichen Kulturen<br />

aufgewachsen. Hat das einen Einfluss auf deine Kinder?<br />

I Ich bin verheiratet und habe vier Kinder, zwei Buben<br />

und zwei Mädchen zwischen 16 und 24 Jahren.<br />

Für sie war es mir ganz wichtig, dass sie hebräische<br />

Vornamen tragen. An ihnen merke ich sehr stark<br />

meinen eigenen Zwiespalt. Wir feiern in der Familie<br />

jüdische Feste und Feiertage, und es ist mir wichtig,<br />

meinen Kindern diese Traditionen mitzugeben.<br />

Jedes der Kinder sieht seine kulturelle Herkunft anders.<br />

In der Schule, in die meine Kinder gehen, wissen<br />

alle, dass sie Juden sind. Mein Sohn hat in seiner<br />

Klasse Taxidienst gemacht und hat dann von seinen<br />

Mitschüler*innen eine Urkunde mit dem Titel „Best<br />

Kosher Taxidriver“ bekommen.<br />

Ist für dich und deine Kinder ein kultureller Unterschied<br />

spürbar?<br />

I Heute ist die Situation eine ganz andere als zur Zeit<br />

meiner Kindheit. Die Monokulturalität, die es vor 30<br />

bis 40 Jahren gegeben hat, wo es eine fast ausschließlich<br />

katholische Gesellschaft gegeben hat, ist so nicht<br />

mehr da. Sogar eine kleine Stadt wie Graz ist divers<br />

geworden, mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen,<br />

die auch nach außen getragen werden und<br />

sich darüber austauschen.<br />

granatapfel.ws<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

sommer_doppel1.indb 15 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:07


WINA: Sie waren ab 2014 Direktor des Anne Frank Zentrums in<br />

Berlin, einem Bildungszentrum, das sich der Aufklärung über<br />

den Holocaust widmet. Nun übernehmen Sie mit Juni die Geschäftsführung<br />

von _erinnern.at_ in Österreich. Wie unterscheiden<br />

sich diese beiden Einrichtungen, und was eint sie?<br />

Patrick Siegele: Zwischen dem Anne Frank Zentrum<br />

und _erinnern.at_ besteht schon seit vielen Jahren eine<br />

enge Zusammenarbeit. Was die beiden Einrichtungen<br />

verbindet, sind einerseits methodische Schnittmengen,<br />

andererseits werden hier wie dort auf sehr<br />

hohem Niveau Lernmaterialien entwickelt. Beide Organisationen<br />

arbeiten nach dem Prinzip des biografischen<br />

Lernens. Das heißt: Komplexe historische Ereignisse<br />

werden über Lebensgeschichten vermittelt.<br />

Das macht das Anne Frank Zentrum vor allem über<br />

das Tagebuch von Anne Frank, bei _erinnern.at_ sind<br />

es Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Der<br />

Transfer von der Geschichte in die Gegenwart ist eine<br />

weitere Gemeinsamkeit. Hier geht es um die Frage,<br />

was Kinder und Jugendliche aus der Beschäftigung<br />

mit der Schoah und dem Nationalsozialismus lernen<br />

können: Was hat Geschichte mit mir zu tun? Und wo<br />

in meinem Umfeld begegnen mir noch heute Antisemitismus<br />

und Rassismus?<br />

Es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen den<br />

beiden Einrichtungen. Ich glaube, der größte liegt darin,<br />

dass das Anne Frank Zentrum eine Bildungseinrichtung<br />

ist, die sich unmittelbar an Kinder und Jugendliche<br />

richtet. _erinnern.at_ lebt von einem bundesweiten<br />

Netzwerk an Fachkräften, insbesondere Lehrerinnen<br />

und Lehrern. Für diese werden Fortbildungen, Studienreisen<br />

nach Israel oder Tagungen angeboten.<br />

Auf der einen Seite bemühen sich Initiativen und Einrichtungen<br />

wie eben das Anne Frank Zentrum und _erinnern.at_ um Bewusstseinsschaffung<br />

und Aufklärung, andererseits gibt es aus<br />

ganz Europa Berichte über steigenden Antisemitismus. Gerade<br />

die Coronapandemie hat gezeigt, was da an alten Stereotypen<br />

und Vorurteilen schlummert, die in dieser Krisensituation<br />

wieder unverhohlen an die Oberfläche kommen.<br />

Wie schwer ist es, die zu erreichen, die unbelehrbar scheinen?<br />

I Tatsächlich ist das schwer, und es stellt sich in der Bildung<br />

genau diese Frage: Wo setzen wir an, und wo sind<br />

die Grenzen dessen, was Bildung erreichen kann? Es ist<br />

wichtig, schon früh damit zu beginnen, Schülerinnen<br />

und Schülern Wissen über den Nationalsozialismus und<br />

die Schoah zu vermitteln, für diese Themen zu sensibilisieren<br />

oder in der Schule ein Klima zu schaffen, in dem<br />

man sich mit Diskriminierung und gesellschaftlicher<br />

Vielfalt auseinandersetzt. Das ist im Idealfall ein Ansatz,<br />

der Prävention und Intervention verbindet.<br />

Antisemitismus muss als solcher benannt und besprochen<br />

werden. Dabei ist wichtig, die Betroffenen<br />

in die Diskussion miteinzubeziehen. Antisemitismus<br />

ist viel zu lange als abstraktes Phänomen begriffen<br />

worden. Zum Glück tut sich hier etwas: Jüdinnen und<br />

Juden melden sich stärker zu Wort.<br />

Es muss aber auch darum gehen, was jüdisches Leben<br />

in Österreich und in Europa heute bedeutet. Denn<br />

Judentum ist mehr als Schoah. _erinnern.at_ hat hier<br />

INTERVIEW MIT PATRICK SIEGELE<br />

„Betroffene<br />

miteinbeziehen“<br />

Patrick Siegele, bisher Direktor des Anne<br />

Frank Zentrums in Berlin, übernimmt die Leitung<br />

von _erinnern.at_. WINA sprach mit ihm über den<br />

Beitrag, den solche Einrichtungen im Kampf gegen<br />

Antisemitismus leisten können.<br />

Interview: Alexia Weiss<br />

16 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 16 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:07


Kein Kampf gegen Windmühlen<br />

einen wichtigen Schritt gemacht und<br />

erst kürzlich neue Materialien herausgebracht,<br />

die die Vielfalt jüdischen Lebens<br />

in Österreich vermitteln. Hier geht<br />

es um Biografien und Alltagsgeschichten<br />

von Menschen, die vor 1938 in Österreich<br />

gelebt haben. An diesen sieht man:<br />

Die Schoah ist nur ein Aspekt, es gibt viele<br />

weitere Facetten jüdischen Lebens in Geschichte<br />

und Gegenwart.<br />

Frustriert es jemanden wie Sie, der sich Tag für<br />

Tag mit dem Thema auseinandersetzt, dass der<br />

Kampf gegen Antisemitismus manches Mal wie<br />

ein Kampf gegen Windmühlen erscheint?<br />

I Mich frustriert manchmal die fehlende Einsicht, dass<br />

wir es beim Antisemitismus mit einem konkreten, aktuellen<br />

Problem zu tun haben. Auf der einen Seite gibt<br />

es ein politisches und gesellschaftliches Bekenntnis<br />

zum „Niemals wieder“, auf der anderen Seite sind es<br />

mitunter dieselben Stimmen, die meinen, Antisemitismus<br />

gäbe es doch eigentlich seit 1945 nicht mehr.<br />

Spätestens nach dem Anschlag auf die Synagoge in<br />

Halle oder dem Angriff auf den Präsidenten der Jüdischen<br />

Gemeinde Graz hätten doch alle verstanden<br />

haben müssen, dass es sich um kein abstraktes,<br />

sondern um ein sehr konkretes Problem handelt, so<br />

wie Rassismus und Homophobie konkrete Probleme<br />

sind, unter denen Menschen jeden Tag zu leiden haben.<br />

Da hoffe ich, mit der Arbeit bei _einnern.at_ etwas<br />

bewirken zu können.<br />

Gibt es auf der anderen Seite aber auch Projekte, Erfahrungen,<br />

Strategien, von denen Sie sagen können: Ja, das wirkt,<br />

ja, da gibt es Erfolgserlebnisse?<br />

I Unsere erfolgreichsten Programme im Anne Frank<br />

Zentrum waren die, bei denen es gelungen ist, Jugendliche<br />

aktiv als Mitgestalterinnen von Bildungsarbeit<br />

oder in der Umsetzung von zivilgesellschaftlichen<br />

Projekten einzubeziehen. Da geht es um<br />

Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, dass ich mit meinem<br />

Tun etwas bewirken kann. Jugendliche müssen<br />

selbst erfahren, dass es einen Unterschied macht,<br />

sich gesellschaftlich zu engagieren. Beim Anne-<br />

Frank-Botschafterprogramm setzen Jugendliche<br />

zum Beispiel Projekte in ihrer unmittelbaren Umgebung<br />

um – etwa im Sportverein. Da haben wir ermutigende<br />

Rückmeldungen, was für eine prägende<br />

Erfahrung das für diese Jugendlichen war, wie das<br />

ihren Blick auf Geschichte, auf Gesellschaft und ihr<br />

eigenes Tun verändert hat.<br />

Bisher hat _erinnern.at_ als Verein des Bildungsministeriums<br />

gearbeitet, mit Anfang 2022 wird sie Teil der OeAD GmbH,<br />

einer Agentur der Republik Österreich, die im Bereich Bildung,<br />

Wissenschaft, Forschung und Kultur vernetzt. Möchten<br />

Sie _erinnern.at_ im Zug dieses Prozesses auch inhaltlich<br />

eine neue Ausrichtung geben?<br />

I In erster Linie geht es darum, die sehr gute Arbeit<br />

von _erinnern.at_ in dieser hohen Qualität fortzuset-<br />

„Antisemitismus<br />

muss<br />

als solcher<br />

benannt und<br />

besprochen<br />

werden. (…)<br />

Antisemitismus<br />

ist viel zu<br />

lange als abstraktes<br />

Phänomen<br />

begriffen<br />

worden.“<br />

Patrick Siegele<br />

zen und den Transferprozess in den<br />

OeAD zu gestalten. Ich sehe da große<br />

Chancen, weil der OeAd eine Agentur<br />

für Bildung und Internationalisierung<br />

ist. _erinnern.at_ ist diesbezüglich<br />

schon sehr gut aufgestellt,<br />

etwa durch die Partnerschaft mit Yad<br />

Vashem, aber auch als Mitglied der<br />

International Holocaust Remembrance<br />

Alliance (IHRA). Ansonsten<br />

bin ich jemand, der zuerst zuhören<br />

möchte und sich genau anschaut,<br />

was es schon an bewährten Strukturen<br />

und Formaten gibt und wie ausgehend<br />

davon die gute Arbeit fortgesetzt<br />

und weiterentwickelt werden kann. Spannend<br />

fände ich, die Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa<br />

zu verstärken. Was ich an _erinnern.at_ toll finde,<br />

sind das Netzwerk und die Arbeit in den Bundesländern,<br />

abseits der großen Städte. Das ist wichtig, um<br />

viele Schulen und viele Jugendliche zu erreichen.<br />

Stichwort Partnerschaften: Da gibt es Nachbarländer wie<br />

Ungarn, wo Antisemitismus auch auf politischer Ebene eine<br />

Rolle spielt. Was können Sie sich da konkret an Zusammenarbeit<br />

vorstellen?<br />

I Die große Politik ist nicht unsere Aufgabe als _erinnern.at_.<br />

Was wir machen können, ist über Partnerschaften<br />

diejenigen zu unterstützen, die sich in<br />

diesen Ländern für Demokratie und gegen Antisemitismus<br />

und Rassismus einsetzen wollen. Wir beobachten,<br />

dass die Rahmenbedingungen für Bildungsangebote<br />

aufgrund fehlender Ressourcen oder<br />

eines fehlenden politischen Willens nicht dieselben<br />

sind wie in Österreich und Deutschland. Da finde ich<br />

es wichtig, sich mit Organisationen, die sich kritisch<br />

mit Antisemitismus und Rassismus in ihren Ländern<br />

beschäftigen, zu solidarisieren. Mit internationalen<br />

Kooperationen lässt sich hier viel bewegen.<br />

_erinnern.at_ soll ein Mosaikstein der Bemühungen der Regierung<br />

im Kampf gegen Antisemitismus sein. Wie beurteilen<br />

Sie die nationale Strategie gegen Antisemitismus? Und<br />

was kann _erinnern.at_ aus Ihrer Sicht hier leisten?<br />

I Ich finde die Strategie in ihrem gesamtgesellschaftlichen<br />

Anspruch gut und wichtig. Sie erkennt an, dass<br />

der Kampf gegen Antisemitismus in Österreich nur<br />

gelingen kann, wenn sich viele staatliche und zivilgesellschaftliche<br />

Instanzen dieser Aufgabe annehmen.<br />

Wichtig finde ich dabei auch die Kooperation mit der<br />

IKG. _erinnern.at_ wird in dem Papier an mehreren<br />

Stellen genannt und leistet vor allem im Bildungsbereich<br />

einen wichtigen Beitrag. Klar ist aber auch: Es<br />

geht um die konkrete Umsetzung der Strategie. Wie<br />

viele Ressourcen werden zur Verfügung gestellt und<br />

wie groß ist die Bereitschaft, auch wirklich systematisch<br />

und strukturell etwas zu verändern, etwa in der<br />

Ausbildung von Lehrkräften? Wir können also gespannt<br />

sein, wie viel die Regierung bereit sein wird,<br />

konkret in diese Arbeit zu investieren.<br />

PATRICK SIEGELE,<br />

geb. 1974 in Zams/Österreich,<br />

Studium der Musikwissenschaft<br />

und Deutschen Philologie an der<br />

Universität Innsbruck sowie der<br />

University of Bristol, später zudem<br />

Studiengang für Museumsmanagement<br />

an der Freien Universität<br />

Berlin. Seit 2001 im Anne Frank<br />

Zentrum in Berlin beschäftigt,<br />

zunächst als Bildungsreferent und<br />

Leiter der Abteilung „Ausstellung<br />

Berlin“, ab 2011 stellvertretender<br />

Direktor, ab 2014 Direktor des<br />

Anne Frank Zentrums. Nun<br />

übernimmt Siegele die Leitung<br />

von _erinnern.at_. In seiner Freizeit<br />

macht er gerne Sport und freut<br />

sich, in Österreich wieder mehr<br />

in den Bergen schifahren und<br />

wandern zu können.<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

sommer_doppel1.indb 17 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08


Wortgewaltige Mahnerin<br />

„Schäm dich, Europa!“<br />

Susanne Scholl hat in den Corona-bedingten Lockdowns<br />

Ernüchtendes zur Verfasstheit Europas zusammengetragen.<br />

In einer Streitschrift führt sie vor, dass das moderne Europa<br />

auf Lügen aufgebaut ist. Wer der Zukunft eine Chance<br />

geben wolle, müsse aber die historische<br />

Wahrheit verteidigen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Seit Jahren ist die frühere ORF-Journalistin<br />

und langjährige Auslandskorrespondentin<br />

Susanne Scholl<br />

eine wortgewandte Mahnerin der Zivilgesellschaft.<br />

Unverblümt äußert sie, was sie<br />

sich denkt, zum Umgang mit Geflüchteten,<br />

zu Populismus, zum Rechtsruck. Die<br />

„Omas gegen Rechts“, in deren Vorstand<br />

sie seit 2017 Mitglied ist, versteht sich als<br />

„Plattform für zivilgesellschaftlichen Protest“.<br />

Zuletzt hielten Scholl und ihre Mitstreiterinnen<br />

vor allem Mahnwachen für<br />

die Geflüchteten von Moria ab.<br />

In ihrer nun veröffentlichen Streitschrift<br />

geht sie nicht nur mit der Gesellschaft<br />

insgesamt, sondern auch mit sich<br />

selbst hart ins Gericht. „Wir haben versagt“,<br />

schreibt sie da. „Meine Generation,<br />

aber auch die Generation vor uns. In Österreich<br />

hat man einer Geschichtslüge<br />

noch eine zweite übergestülpt. Wir waren<br />

nicht nur ‚das erste Opfer‘, wir haben<br />

auch die ‚Stunde Null‘<br />

erklärt. Beides war gelogen.“<br />

Man habe sich<br />

zufriedengegeben mit<br />

dem Versprechen, dass<br />

die Zivilisation gerettet<br />

und die Barbarei vorbei<br />

sei. Nie mehr werde geschehen,<br />

was nie hätte<br />

passieren dürfen und doch passiert sei.<br />

Und nun wieder passiere.<br />

Ausgrenzung. Scholl zeigt auf, dass die<br />

Menschheit offenbar immer einen Feind<br />

brauche. Nach dem Zerfall der Sowjetunion<br />

fehlte ein solcher. Mit dem 1. September<br />

2001 war jedoch ein neues globales<br />

Feindbild da: die Muslime. „Und da<br />

gibt es jede Menge Kürzel. Ein Name zum<br />

Beispiel. ‚Auch wieder so ein Mohammed‘<br />

– und alle wissen, was gemeint ist. ‚So ein<br />

Susanne Scholl:<br />

Schäm dich,<br />

Europa! Warum<br />

wir nicht mit einer<br />

Lüge leben sollten.<br />

Edition Konturen<br />

<strong>2021</strong>, 70 S., € 12<br />

Kopftuchweib‘ – auch das verstehen alle.“<br />

Scholl verweist dabei auf den Streit um<br />

den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten<br />

Kurt Waldheim. „Man musste nur<br />

„Und ich denke daran, dass ich nicht hier<br />

wäre, um dagegen aufzustehen, wenn meine<br />

Eltern an der Grenze zu England zurückgewiesen<br />

worden wären, als die Nazis ihnen<br />

nach dem Leben trachteten.“<br />

die ‚Ostküste‘ erwähnen – und alle wussten,<br />

was gemeint war.“ Ausgrenzung beginne<br />

mit Sprache, argumentiert sie.<br />

2015 habe die Zivilgesellschaft in Österreich<br />

gezeigt, wie stark sie sein könne.<br />

„Man half, weil man Mensch war und<br />

andere Menschen nicht einfach verkommen<br />

lassen wollte.“ Nun, mehr als fünf<br />

Jahre später, spreche man von offizieller<br />

Seite nur noch davon, dass sich 2015<br />

nicht wiederholen dürfe. „Was aber – frage<br />

ich – darf sich da nicht wiederholen? Die<br />

Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, das<br />

Mitgefühl, die Solidarität? Was heißt das<br />

für uns, für diese Gesellschaft, für unser<br />

aller Leben?“<br />

Im <strong>Mai</strong> 1945 seien die Nazis besiegt<br />

worden, so habe man es gelernt in Europa.<br />

Doch wo seien all jene gewesen,<br />

die mitgelaufen seien? Vergangenheit<br />

vergehe erst, wenn man aus ihr gelernt<br />

habe, betont Scholl. „Was wir alle nicht getan<br />

haben.“ Und eben auch Europa nicht.<br />

Europa behaupte, ein Friedensprojekt zu<br />

sein, aber heute werde an seinen Grenzen<br />

auf jene geschossen, „die vor Tod, Gewalt<br />

und Folter, vor Hunger uns Angst fliehen“.<br />

Es werde darüber diskutiert, wer leben<br />

und wer sterben solle. „Und ich denke daran,<br />

dass ich nicht hier wäre, um dagegen<br />

aufzustehen, wenn meine Eltern an der<br />

Grenze zu England zurückgewiesen worden<br />

wären, als die Nazis ihnen nach dem<br />

Leben trachteten.“<br />

Scholl zeigt sich in<br />

dieser Streitschrift einmal<br />

mehr als die Streitbare,<br />

die sie seit Jahren<br />

unermüdlich ist.<br />

Sie bringt Gedanken zu<br />

Papier, die in kleinsten<br />

Szenen generelle Entwicklungen<br />

widerspiegeln:<br />

Worum ging es damals, zu Beginn<br />

der Pandemie, im März 2020: Da wurden<br />

Supermärkte gestürmt, um Toilettenpapiervorräte<br />

anzulegen. Und das, obwohl<br />

klargestellt wurde, dass Geschäfte mit Artikeln<br />

des täglichen Bedarfs durchgehend<br />

offen bleiben würden. Der Mensch ist sich<br />

selbst am nächsten, so das Fazit. Im Großen<br />

wie im Kleinen. Die Coronapandemie<br />

verdrängte die Flüchtlingskrise aus<br />

den Schlagzeilen. Scholl richtet nun wieder<br />

einen Scheinwerfer auf sie.<br />

wına-magazin.at<br />

18<br />

sommer_doppel1.indb 18 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08


HIGHLIGHTS | 02<br />

„Lecha Dodi“ in Klagenfurt<br />

Mit einem ausgesprochen jüdischen Text überzeugte die 1996 in Berlin<br />

geborene Dana Vowinckel beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb<br />

und löste damit nebenbei auch eine höchst interessante Jurydiskussion<br />

aus. Als jüngste Teilnehmerin wurde sie schließlich mit dem Deutschland-Funk-Preis<br />

ausgezeichnet, dem zweiten nach dem Sieger-Preis, den<br />

die aus dem Iran stammende Autorin Nava Ebrahimi nach Graz trug.<br />

Lecha Dodi likrat kalah“ tönte es Pandemie-bedingt<br />

über Videozuspielung<br />

in die Klagenfurter Lesearena. Es<br />

war nicht das einzige jüdische Gebetszitat,<br />

mit dem Dana Vowinckel in ihrem<br />

Text mit dem rätselhaften Titel<br />

Gewässer im Ziplock überraschte. „Jedid<br />

Nefesch“, Geliebter der Seele, und<br />

andere Teile aus der Schabbat-Liturgie<br />

breitete die junge Berlinerin ganz<br />

selbstverständlich und ohne weitere<br />

Erklärungen aus.<br />

Erzählt wird von drei Generationen<br />

einer zerrissenen jüdischen Familie<br />

in Berlin, Chicago und Jerusalem. Als<br />

Kantor betet der aus Jerusalem stammende<br />

Vater in einer Berliner Synagoge<br />

vor, innig gläubig, voller Emphase<br />

und gleichsam im Dialog mit G-tt als<br />

„Partner seiner Stimme“. Die heranwachsende<br />

Tochter Margarita verbringt<br />

derweil die Ferien bei den Großeltern<br />

in Chicago, wo sie sich maßlos<br />

langweilt. Für die abwesende Mutter<br />

hegt sie nur Hassgefühle, während<br />

sie zum alleinerziehenden Vater eine<br />

starke, liebevolle Beziehung hat.<br />

Der collagierte Text, offenbar Teil eines<br />

Romans, wechselt souverän zwischen<br />

den beiden diametralen Perspektiven<br />

von Vater und Tochter. Da<br />

das Gefühlsleben des seltsam einsamen<br />

Kantors, der seine Gemeinde<br />

eher auf Distanz hält und ganz in seinen<br />

Gebeten aufgeht, dort das offenbar<br />

pubertierende Mädchen im ersten<br />

Liebeskummer.<br />

„Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin,<br />

oder?“, hatte sie der Jüngling,<br />

auf dessen Nachrichten sie vergeblich<br />

wartet, gefragt, als sie ihm Hebräisch<br />

als „coole“ Geheimsprache der Familie<br />

verkaufen wollte.<br />

„Grandios gelungen“, „tolle Anlagen“<br />

wurde nahezu einhellig gelobt.<br />

Juryvorsitzende Insa Wilke sah in der<br />

jungen Autorin eine Vertreterin einer<br />

„neuen Generation“, die von parallelen<br />

Welten erzählt, die ohne Assimilationszwang<br />

nebeneinander existieren<br />

könnten. Mara Delius, die Dana Vowinckel<br />

zum Bewerb eingeladen hatte, entdeckte<br />

in diesem „besonderen Text“<br />

eine neue Variation des alten „Topos<br />

der gepackten Koffer“ und insofern<br />

auch eine Diaspora-Familiengeschichte.<br />

Juror Klaus Kastberger hingegen konstatierte<br />

beim Thema des orthodox jüdischen<br />

Lebens einen „Emerging Market“,<br />

den auch Fernsehserien wie Shtisel<br />

oder Unorthodox bedienten. Das Interesse<br />

am orthodoxen Judentum sei ein<br />

„neues Faszinosum“, gespeist aus der<br />

Suche nach alternativen Lebenswelten,<br />

und als mediale Zeiterscheinung eine<br />

„Art von Mode“. Fraglich sei für ihn, wie<br />

sehr die Autorin dieser Mode anhänge.<br />

Orthodoxie sei ja auch „ein Kerkersystem“,<br />

und in dem vorgetragenen Text<br />

vermisste Kastberger den Widerstand<br />

dagegen.<br />

„Religion ist nicht immer<br />

Obsession, Glaube nicht immer<br />

Orthodoxie.“ Dana Vowinckel<br />

Nur in diesem einen Aspekt fühlte<br />

sich die ansonsten überglückliche Preisträgerin<br />

missverstanden. „Religion ist<br />

nicht immer Obsession, Glaube nicht<br />

immer Orthodoxie“, erwiderte sie auf<br />

Twitter. Auf ihren Roman darf man<br />

gespannt sein. A.P.<br />

Dana Vowinckel<br />

erzählt den Topos<br />

der gepackten<br />

Koffer aus neuem<br />

Blickwinkel.<br />

© für Bachmann-Preis live im ZDF und ORF/LST Kärnten/Catharina Tews<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

sommer_doppel1.indb 19 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08


MEN T SCHEN: MARIANNE KOHN<br />

KÖNIGIN DER NACHT<br />

Marianne Kohn wurde 1945 in Wien geboren.<br />

Nach dem Schulabbruch machte<br />

sie eine Ausbildung zur Filmcutterin. Mit 16<br />

Jahren ging sie nach Rom und arbeitete in<br />

der Cinecittà, unter anderem für Federico<br />

Fellini und Pier Paolo Pasolini. 1969 kehrte<br />

sie nach Wien zurück und war als Kellnerin<br />

tätig. Von 1983 bis 1987 führte sie den<br />

Wiener Klub „U4“, danach das „Café Europa“.<br />

Einige Jahre lang organisierte sie<br />

Clubbings. Seit 1995 leitet Marianne Kohn<br />

die 1908 von Adolf Loos gestaltete American<br />

Bar in der Wiener Innenstadt. Die Protégée<br />

des Musikforschers Marcel Prawy<br />

ist auch für ihre große Liebe zur italienischen<br />

Oper bekannt. Fotografie und Redaktion:<br />

Ronnie Niedermeyer<br />

Du magst Mozart nicht. Trotzdem wird das Buch über<br />

dein Leben, das im Herbst bei Brandstätter erscheinen<br />

wird, Königin der Nacht heißen.<br />

Marianne Kohn: Mit Mozart hat das wenig zu<br />

tun. Der Titel bezieht sich darauf, dass ich schon<br />

seit einem halben Jahrhundert Teil des Wiener<br />

Nachtlebens bin und es in dieser Zeit gewissermaßen<br />

mitgestaltet habe. Selbst würde ich mich<br />

nicht unbedingt als Königin bezeichnen, auch<br />

wenn ich manchmal gerne ein Krönchen als Modeaccessoire<br />

trage. Den Buchtitel habe ja auch<br />

nicht ich gewählt, sondern die Ghostwriterin,<br />

Ella Angerer. Jedenfalls stimmt es, dass ich Mozart<br />

nicht mag. Die Zauberflöte ist eine fade Oper.<br />

Ich bin da eher für die Italiener.<br />

„Selbst würde ich mich<br />

nicht unbedingt als Königin<br />

bezeichnen, auch<br />

wenn ich manchmal gerne<br />

ein Krönchen als Modeaccessoire<br />

trage.“<br />

20<br />

wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 20 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:14


wına-magazin.at<br />

21<br />

sommer_doppel1.indb 21 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:18


MEN T SCHEN:MARIANNE KOHN<br />

Marianne Kohn<br />

leitet seit 1995 die<br />

sogenannte Loos<br />

Bar. Ab dieser<br />

Zeit begannen<br />

sich die klassischmodernen<br />

Bars<br />

zu etablieren, für<br />

die das Wiener<br />

Nachteben heute<br />

bekannt ist.<br />

Trotzdem noch eine Frage zur Zauberflöte: Ende April streamte die<br />

Wiener Staatsoper eine Inszenierung von Moshe Leiser. Monostatos<br />

wurde von einem Sänger verkörpert, dessen Haut schwarz angemalt<br />

war. Wieso ist unkommentiertes Blackfacing in Österreich heutzutage<br />

noch möglich?<br />

I Sehr rassistisch, sehr eigenartig – es gäbe ja auch genügend<br />

dunkelhäutige Sänger, die die Rolle geben könnten. Und<br />

wieso muss er überhaupt als „Mohr“ gezeigt werden, nur<br />

weil das damals im Libretto so stand? Da muss ich gleich den<br />

Bogdan [ , Staatsoperndirektor, Anm. d. Red.] fragen,<br />

was er dazu meint. Gesehen habe ich den Stream jedenfalls<br />

nicht – ich schaue mir daheim keine Opern an. Oper ist für<br />

mich nur Oper, wenn ich dabei bin. Im September 2020 gab<br />

es noch die Butterfly, dann kam der Lockdown.<br />

Von Puccini schwärmst du ja allgemein, im Besonderen von La<br />

Bohème, deinem ersten Opernbesuch als Mädchen. Kannst du dich<br />

heute noch mit der Geschichte der armen jungen Näherin Mimì identifizieren?<br />

Mit deinem selbstbewussten Auftreten wirkst du eher<br />

wie eine Salome.<br />

I Nein, identifizieren mit der Mimì kann ich mich nicht,<br />

aber ich heule immer noch, wenn ich La Bohème sehe. Die<br />

Geschichte ist einfach traurig und zum Weinen. Das gehört<br />

zur Oper dazu – und am Schluss muss der Tod kommen. Bei<br />

Mozart stirbt ja kaum jemand.<br />

In der Salome aber schon.<br />

I Ja, aber Richard Strauss mag ich auch nicht – das geht schon<br />

fast in Richtung Zwölftonmusik, und die halte ich überhaupt<br />

nicht aus. Meine Mutter war allerdings eine große Straussianerin.<br />

Wie kam es dazu?<br />

I Vor dem Krieg war sie mit Marcel Prawy liiert, der schon<br />

damals ein phänomenales Opernwissen hatte und ihren<br />

Geschmack sicherlich beeinflusst hat. 1938 flüchtete Prawy<br />

nach Amerika. Meine Mutter blieb hier und heiratete den<br />

Mann, mit dem sie mich zeugen würde. Es war eine reine<br />

Zweckehe, um sie vor den Nazis zu schützen. Die ganze Verwandtschaft<br />

meiner Mutter wurde in Theresienstadt ermordet.<br />

Ihre erste Schwangerschaft hat meine Mutter abgebrochen,<br />

weil sie mitten im Krieg kein Kind auf die Welt bringen<br />

wollte. Kurz nach Kriegsende und also noch vor meiner Geburt<br />

trennten meine Eltern sich wieder. Prawy kam aus der<br />

Emigration zurück und wurde mein Ziehvater. Er war es, der<br />

mich als Kind in die Staatsoper mitnahm und meine Liebe<br />

zur Oper förderte.<br />

Wie kann man sich eine Kindheit im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

denn vorstellen?<br />

I Meine Mutter hat mich taufen lassen, weil sie der Meinung<br />

war, es könnte jederzeit wieder ein Hitler kommen. Unter<br />

diesem Schatten bin ich aufgewachsen. Es hat lange gedauert,<br />

bis wir uns von diesem Trauma erholen konnten – manchen<br />

ist es bis heute nicht gelungen.<br />

Auf den Fingern deiner rechten Hand hast du dir „ALMA“ tätowieren<br />

lassen. Alma Mahler-Werfel ist vor allem für ihre Ehen und Liebesbeziehungen<br />

mit den größten kreativen Köpfen des frühen 20.<br />

Jahrhunderts bekannt. Was verbindest du mit Alma, was verbindet<br />

dich mit Alma?<br />

I Eigentlich war Alma Mahler-Werfel nach heutigen Maßstäben<br />

ein Groupie – aber auch eine richtige Lady. Ich habe einen<br />

meiner Hunde nach ihr benannt, ein anderer hieß Loos.<br />

Und jetzt sitzen wir in der Loos Bar, die du leitest. Was bedeutet dieser<br />

Ort für dich?<br />

I Meine Vorfahren mütterlicherseits haben die Möbelfirma<br />

J. & J. Kohn gegründet und geleitet. Dieses Unternehmen hat<br />

auch die von Adolf Loos entworfenen Möbel gebaut, unter<br />

anderen für seine „American Bar“. Schon in meiner Kindheit<br />

war diese Bar für mich präsent. Ich durfte natürlich<br />

nicht hinein, konnte aber kurze Blicke auf das edle Interieur<br />

erhaschen. Seit frühester Jugend war es mein Wunsch,<br />

eines Tages hier arbeiten zu dürfen – und sei es als Putzfrau.<br />

Nach einigen Zwischenstationen bist du tatsächlich in der Gastronomie<br />

gelandet. Bald darauf wurdest du vegetarisch – in einer Zeit,<br />

wo dies noch als höchst ungewöhnlich galt. Vierzig Jahre ist es schon<br />

her, dass du kein Fleisch mehr anrührst. Was löste diese Entscheidung<br />

aus?<br />

I Eine Freundin von mir hat Veterinärmedizin studiert und<br />

mich in den Schlachthof St. Marx mitgenommen, der damals<br />

noch in Betrieb war. An dem Tag habe ich aufgehört,<br />

Fleisch zu essen. Immerhin wird man heute als Vegetarierin<br />

nicht mehr ausgelacht. Meine Enkelin lebt sogar vegan,<br />

aber ich würde es nicht schaffen, auf Milchprodukte<br />

zu verzichten.<br />

Dein einziges Kind wird heuer 50. Nicoles Lebensmotto lautet: „Diejenigen,<br />

die wollen, erreichen mehr als diejenige, die können.“ Hast<br />

du eigentlich alles erreicht, was du wolltest?<br />

I Ja, das habe ich. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich meinen<br />

Jugendtraum verwirklicht, die Loos Bar zu übernehmen<br />

– eine der ältesten, traditionsreichsten, legendärsten<br />

Bars dieser Stadt.<br />

Wie siehst du die Zukunft der Gastronomie nach Ende der Corona-<br />

Pandemie?<br />

I Momentan verdienen viele durch Zuwendungen vom Staat<br />

– mehr, als wenn sie offen hätten. Sobald sie tatsächlich wieder<br />

aufsperren dürfen, werden einige den Konkurs anmelden.<br />

Nur die Guten werden sich halten. Meine Bar hat zwei<br />

Weltkriege überlebt. Corona wird sie auch überleben.<br />

22 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 22 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:23


Reisen im zweiten<br />

Corona-Sommer<br />

Bezahlte Anzeige<br />

Auch wenn bereits viele von uns geimpft oder genesen sind,<br />

so stecken wir doch noch immer mitten in der Pandemie. In<br />

Österreich hat sich die Lage für den Moment entspannt. Das und<br />

der bevorstehende Sommer machen wieder Lust auf Ortsveränderung,<br />

auch Reisen ins Ausland sind wieder möglich.<br />

Es wird aber leider immer (noch) kein „Sommer wie damals“.<br />

Sowohl in Österreich als auch in den meisten Urlaubdestinationen<br />

werden weiterhin die mittlerweile schon fast selbstverständlichen<br />

Sicherheitsmaßnahmen gelten: Abstandhalten, Händewaschen,<br />

Schutzmaske tragen. Auch unterwegs auf Flughäfen, in<br />

Bahnhöfen, Flugzeugen und Zügen gelten generell weiterhin die<br />

Hygiene- und Abstandsregelungen.<br />

Generell gilt, informieren Sie sich bitte rechtzeitig und auch<br />

noch einmal kurz vor der Abreise über die an Ihrem Urlaubsziel<br />

geltenden Corona-Schutzmaßnahmen, denn diese ändern sich<br />

teils schneller als das Wetter. Einen guten Überblick dazu finden<br />

auf der Homepage des Außenministeriums (https://www.bmeia.<br />

gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/laender/) oder auch auf<br />

www.oesterreich.gv.at. Auf diesen Internetseiten finden sie auch<br />

weiterführende Informationen zu den sonstigen Einreisebestimmungen<br />

in die jeweiligen Länder.<br />

Aber auch für die Rückreise nach Österreich ist zu beachten,<br />

dass die Einreise nicht für jeden und auch nicht von überallher<br />

gleich möglich ist. Die tagesaktuellen Informationen dazu finden<br />

sie ebenfalls auf www.oesterreich.gv.at.<br />

Die Voraussetzungen für die Einreise nach Österreich richten<br />

sich danach, wie hoch das Infektionsrisiko in den Ländern und Gebieten<br />

ist, aus welchen die Einreise erfolgt. Derzeit wird zwischen<br />

drei Kategorien von Ländern unterschieden:<br />

• Staaten mit geringem Infektionsgeschehen (derzeit die meisten<br />

EU-/EWR-Staaten sowie Australien, Israel, Singapur und<br />

Südkorea).<br />

• Virusvariantenstaaten (derzeit Brasilien, Indien, Südafrika und<br />

das Vereinigte Königreich) und<br />

• Sonstige Staaten.<br />

Die Einreise aus Staaten mit geringem Infektionsgeschehen ist<br />

mit einem aktuellen 3-G-Nachweis möglich (also einem negativen<br />

ärztliches Zeugnis, ein Testergebnis, ein Impfzertifikat oder ein Genesungszertifikat).<br />

Die Einreise aus einem Virusvariantenstaat oder aus einem<br />

sonstigen Staat ist nach wie vor restriktiver geregelt. Diese wird zur<br />

Zeit generell nur österreichischen StaatsbürgerInnen, EU/EWR-BürgerInnen,<br />

Schweizer BürgerInnen und Personen mit Wohnsitz oder<br />

gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich, EU/EWR-Staat oder der<br />

Schweiz, Andorra , Monaco, San Marino oder dem Vatikan gestattet;<br />

Ausnahmen gibt es etwa für Einreisen zu beruflichen Zwecken.<br />

Für die Einreise aus einem sonstigen Staat benötig man ein<br />

Impfzertifikat oder ein Genesungszertifikat. Alle, die nicht geimpft<br />

oder genesen sind, benötigen ein negatives Testergebnis und<br />

müssen zusätzlich unmittelbar nach der Einreise eine zehntägige<br />

Quarantäne antreten, aus der sie sich frühestens nach 5 Tagen<br />

freitesten können; Berufsreisenden bleibt jedoch die Quarantäne<br />

erspart.<br />

Bei Einreisen aus einem Virusvariantengebiet ist generell eine<br />

zehntägige Quarantäne anzutreten, aus der man sich frühestens<br />

nach fünf Tagen freitesten kann (Ausnahmen insbesondere für<br />

Berufsreisende, diese können sich sofort freitesten).<br />

Auch müssen sich Reisende bei der Einreise nach Österreich<br />

vorab registrieren (Pre-Travel-Clearance). Das entsprechende „Pre-<br />

Travel-Clearance-Formular“ ist digital unter der Internetadresse<br />

https://entry.ptc.gv.at abrufbar. Über die erfolgreiche Registrierung<br />

erhält man dann eine (digitale) Bestätigung, die in Falle vorzuweisen<br />

ist (digital oder als Ausdruck). Wenn die Registrierung<br />

nicht über das elektronische Formular möglich ist, kann auch ein<br />

entsprechendes Papier-Formular ausgefüllt und vorgezeigt werden.<br />

Auch hier gibt es Ausnahmen, nämlich für die Einreise von<br />

nachweislich Geimpften, Getesteten oder genesenen, die aus<br />

Staaten mit geringem Infektionsgeschehen (Anlage A zur COVID-<br />

19-EinreiseVO) einreisen.<br />

Um mit einem ehemaligen Bundeskanzler zu sprechen: „Es<br />

ist alles sehr kompliziert.“ Daher, wenden Sie sich bei Fragen<br />

gerne an die RechtsexpertInnen von Lansky, Ganzer + partner<br />

(office@lansky.at).<br />

ÜBER DER AUTOR:<br />

Mag. ANDREAS BAUER<br />

ist Rechtsanwalt und Head<br />

of Environmental & Public<br />

Commercial Law bei LGP.<br />

Sein fachlicher Schwerpunkt<br />

liegt in den Bereichen Gewerberecht, Industrie- und<br />

Betriebsanlagenrecht, Bau- und Immobilienrecht, Raumordnungsrecht,<br />

Infrastrukturrecht, Umwelt- und Technikrecht,<br />

Datenschutzrecht, Verwaltungsstrafrecht sowie Europa- und<br />

Verfassungsrecht.<br />

sommer_doppel1.indb 23 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:23


Gemachte Unsicherheit<br />

Ein Mord,<br />

DER NACHWIRKT<br />

Axel Magnus ist mit dieser einen Erzählung<br />

aufgewachsen: Die Großmutter, bei der er aufwuchs,<br />

schilderte immer und immer wieder,<br />

wie ihr Vater eines Tages in der NS-Zeit abgeholt<br />

wurde und nicht mehr wiederkam. Als<br />

Erwachsener wurde ihm nach und nach klar, wie<br />

diese Familientragödie sein eigenes Leben beeinflusste<br />

– positiv wie negativ. Im Alter von 40<br />

Jahren machte er sich daher daran zu recherchieren,<br />

was dem Urgroßvater zugestoßen war.<br />

Text: Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked<br />

Wir treffen einander ganz<br />

Corona-konform im<br />

Freien, um über den Verbleib<br />

von Hugo Quittner<br />

(1875–1941) zu sprechen, über dessen Leben,<br />

Magnus’ Leben und eine Lücke, die<br />

immer da ist, die nicht zu füllen ist. Der<br />

dafür gewählte Ort ist kein zufälliger: der<br />

Leon-Zelman-Park in Wien-Landstraße.<br />

Magnus lebt im dritten Bezirk, ist in der<br />

SPÖ Landstraße aktiv, übt mehrere Funktionen<br />

in der Gewerkschaft der Privatangestellten<br />

(GPA) aus, die ebenfalls in diesem<br />

Bezirk zu finden ist.<br />

Hier, auf dem ehemaligen Areal des<br />

Aspangbahnhofes, befindet sich aber vor<br />

allem das Mahnmal, das daran erinnert,<br />

das von hier aus mehr als 47.000 Jüdinnen<br />

und Juden von den Nationalsozialisten<br />

deportiert wurden. Einer von ihnen<br />

war Hugo Quittner. Er verließ Wien am<br />

23. November 1941. Wie Magnus inzwischen<br />

recherchierte, war der an diesem<br />

Tag aus Wien abgefahrene Zug einer jener,<br />

der die gewaltsam mit ihm Beförderten<br />

direkt in den Tod im Baltikum transportierte.<br />

„Mein Urgroßvater gehörte wohl zu<br />

jenen, die nach der Ankunft im Osten sofort<br />

in eine Grube geschossen wurden.“<br />

Die Großmutter, die 1992 verstarb,<br />

wusste bis an ihr Lebensende nicht, wie<br />

das Leben ihres Vaters schließlich geendet<br />

hatte. „Damals gab es das Findbuch noch<br />

nicht, und eine Internetrecherche war<br />

auch noch nicht möglich. Wahrscheinlich<br />

hätte man die relevanten Informationen<br />

schon damals im Dokumentationsarchiv<br />

des Österreichischen Widerstands gefunden.“<br />

Doch damals war Magnus noch<br />

nicht auf die Idee gekommen nachzuforschen.<br />

Er selbst kam 1967 in Salzburg zur Welt. Die<br />

Eltern ließen sich scheiden, als er eineinhalb<br />

Jahre alt war, der Vater hatte die<br />

Mutter misshandelt, die Mutter wurde<br />

alkoholkrank. Axel und seine Schwester<br />

übersiedelten daher zu den Großeltern,<br />

die Großmutter beschreibt der Enkel<br />

heute als „Helikopteroma“. „Sie war<br />

ein Kontrollfreak, hat nie losgelassen. Wir<br />

haben auch extrem lange bei ihr im Bett<br />

geschlafen, und das ist von ihr ausgegangen.“<br />

Die Großmutter habe sich wie eine<br />

Übermutter verhalten und habe immer<br />

„zu gut aufgepasst“. Im Rückblick könnte<br />

das damit zu tun haben, dass ihr Sohn im<br />

Alter von fünf Monaten bei einem Bombenangriff<br />

starb. Es könnte aber auch daran<br />

liegen, dass sie nie erfahren habe, was<br />

mit ihrem Vater passiert ist. Immer und<br />

immer wieder habe sie jedenfalls von<br />

dem Tag erzählt, an dem der Vater abgeholt<br />

worden war. „Aber wahrscheinlich<br />

war es eine Kombination.“<br />

Was das mit ihm als Kind und auch als<br />

Erwachsenen machte, darüber wurde sich<br />

Axel Magnus erst nach Jahrzehnten klar.<br />

Hilfreich war da auch eine Psychotherapie.<br />

Heute tritt der Politik- und Kommu-<br />

24 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 24 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:26


Offene Fragen<br />

Axel Magnus, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Betriebsrat,<br />

Gewerkschaftsfunktionär und politischer Redner.<br />

„Mein Urgroßvater<br />

gehörte<br />

wohl zu jenen,<br />

die nach der Ankunft<br />

im Osten<br />

sofort in eine<br />

Grube geschossen<br />

wurden.“<br />

Axel Magnus<br />

nikationswissenschaftler selbstsicher auf,<br />

ob als Betriebsrat der Sucht- und Drogenkoordination<br />

Wien, als Gewerkschaftsfunktionär<br />

(er ist etwa Vorsitzender der<br />

GPA-Interessengemeinschaft Social sowie<br />

Mitglied im Verhandlungsteam für den<br />

Kollektivvertrag für Beschäftigte im Sozialbereich)<br />

oder als politischer Redner.<br />

„Ich bin inzwischen ein guter Schauspieler<br />

geworden. Als Kind habe ich immer<br />

das Gefühl gehabt, dass ich total unsicher<br />

bin.“ Seine spätere Schulzeit verbrachte<br />

er im Internat des heutigen Schigymnasiums<br />

Saalfelden. „In der Männerwelt dort<br />

habe ich lernen müssen, das zu überspielen.“<br />

Ob die Unsicherheit damit zusammenhänge,<br />

dass er früh von seinen Eltern<br />

getrennt wurde?<br />

Nein, sagt Axel Magnus heute, oder<br />

jedenfalls nicht hauptsächlich. Mit seinem<br />

Psychotherapeuten konnte er herausarbeiten,<br />

dass die Ursache vor allem<br />

darin lag, dass er sich als Kind keinen<br />

Reim darauf machen konnte, warum jemand<br />

einfach so abgeholt werden und<br />

verschwinden konnte. Die wiederholte<br />

Erzählung der Großmutter hatte sich<br />

fest eingeschrieben. Als Kind führte das<br />

zu einem Gefühl, dass man nie sicher<br />

sein konnte, was passieren würde, und<br />

schon gar nicht, wenn man etwas, und sei<br />

es auch nur eine Kleinigkeit, falsch ge-<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

sommer_doppel1.indb 25 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:30


Fragen zur Familiengeschichte<br />

Meldezettel.<br />

Nach der Deportation<br />

– Land: Polen.<br />

Gefühle verarbeiten.<br />

„Rauskotzen statt runterschlucken<br />

wäre besser.“<br />

macht hatte. „Einmal bin ich<br />

beim Rodeln mit einem Kind<br />

zusammengestoßen und habe<br />

dann den ganzen Tag geweint,<br />

weil ich nicht gewusst habe,<br />

was passieren würde.“<br />

Zu dieser Unsicherheit<br />

hatte auch die Übervorsicht<br />

der Großmutter beigetragen,<br />

ist sich Magnus heute sicher.<br />

Diese hatte schon seine Mutter<br />

kurz gehalten, wie es der Sohn<br />

formuliert. Dass diese dann<br />

alkoholkrank wurde, hält der<br />

Sohn daher für keinen Zufall.<br />

Aus seiner beruflichen Erfahrung,<br />

er arbeitete zunächst<br />

in Salzburg bei der Bewährungshilfe,<br />

seit 1999 dann bei<br />

den Vorläuferorganisationen<br />

der heutigen Sucht- und Drogenkoordination<br />

Wien, wisse<br />

er, dass etwa Depressionen,<br />

aber auch Suchterkrankungen<br />

häufig bei Nachkommen von<br />

NS-Opfern der zweiten, dritten,<br />

vierten Generation diagnostiziert<br />

würden.<br />

Vielleicht wäre es leichter<br />

gewesen, das, was da in der NS-Zeit passiert<br />

ist, mit jemandem zu besprechen,<br />

der überlebt hat. „Aber diese Chance<br />

hatte ich nie.“ Wie seine Recherchen ergaben,<br />

hätte es eine Schwester des Urgroßvaters<br />

gegeben, die in Wien mit einem<br />

Rechtsanwalt verheiratet war und<br />

die erst 1981 starb. Damals wusste er aber<br />

noch nichts von ihrer Existenz. Im Rückblick<br />

bedauert er es, sich mit ihr nicht unterhalten<br />

zu haben.<br />

Dafür hinterließ eine andere Begegnung<br />

großen Eindruck bei ihm. Seine<br />

Großmutter, sie kam 1914 zur Welt, hatte<br />

als Erwachsene in Wien bei einem jüdischen<br />

Brüderpaar in einem Krawattengeschäft<br />

in der Innenstadt gearbeitet. Einer<br />

der beiden war zwar in einem KZ interniert<br />

worden, überlebte aber und fand<br />

schließlich in Frankreich seine zweite<br />

Heimat. Als Magnus ein Teenager war, besuchte<br />

er mit seiner Großmutter, seiner<br />

Mutter und seiner Schwester einmal Eric<br />

Breuer in Nizza, der dort mit seiner Familie<br />

eine Krawattenproduktion betrieb.<br />

„Eric Breuer war ein weißhaariger Franzose,<br />

der immer noch Wienerisch sprach,<br />

aber sehr frankophil war, ein Mann<br />

von Welt. Es war heiß, er krempelte die<br />

Hemdsärmel hoch und ohne, dass er es<br />

selbst merkte, hat ihn ein Zucken durchfahren,<br />

als die Nummer sichtbar wurde.<br />

Dieses Erleben, wie das Grauen mehr als<br />

drei Jahrzehnte später Menschen noch<br />

beeinflusst, war für mich ein tiefes emotionales<br />

Erlebnis. Das hat mehr Bewusstsein<br />

geschaffen als hunderte Bücher.“<br />

Wichtig wurde Axel Magnus schon<br />

früh, sich für Gerechtigkeit einzusetzen<br />

– als Klassensprecher etwa zu Schulzeiten.<br />

Später, indem er in den 1990er-Jahren<br />

straffällig Gewordene im Rahmen der Bewährungshilfe<br />

betreute. „Damals war uns<br />

ganz klar – wir arbeiten auch mit Opfern.“<br />

Ja, natürlich habe es sich um Täter gehandelt,<br />

doch wer stehle, damit seine Kinder<br />

etwas zu essen haben, sei auch Opfer<br />

dieser Gesellschaft. „Ich habe auch einige<br />

junge Männer betreut, die in Pflegefamilien<br />

und Heimen groß geworden waren,<br />

und da waren viele Missbrauchte dabei.“<br />

Wenn er es sich aussuchen konnte, habe<br />

er mit zwei Gruppen allerdings nicht gearbeitet:<br />

„Mit Vergewaltigern und mit Faschos.<br />

Da habe ich immer mein Veto eingelegt.“<br />

Politik sei in seiner Familie zwar nie<br />

wirklich ein Thema gewesen. Die antifaschistische<br />

Einstellung aber schon. Der<br />

Großvater habe Zeit seines Lebens sozialdemokratisch<br />

gewählt, erzählt der Enkel.<br />

Und ja, als er 1999 nach Wien kam und<br />

sich hier von Beginn an bei den Donnerstagsdemonstrationen<br />

engagierte, da sei<br />

der Großvater schon stolz auf den Enkel<br />

gewesen. Dass die Großeltern in Salzburg<br />

landeten, war dem Krieg geschuldet. Wie<br />

auch der Urgroßvater hatten sie in Wien<br />

gelebt, der – nichtjüdische – Großvater arbeitete<br />

in einem als kriegswichtig eingestuften<br />

Metallbetrieb und wurde daher<br />

lange nicht zum Kriegsdienst eingezogen.<br />

Doch gegen Ende der NS-Zeit sollte<br />

26 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 26 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:35


Persönliche Antworten<br />

Wien. Insgesamt hatte<br />

der Urgroßvater sieben<br />

Geschwister, sie alle waren<br />

in einem kleinen Ort<br />

in der jetzigen Tschechischen<br />

Republik zur Welt<br />

gekommen. Die Familie<br />

sei zwar jüdisch, aber<br />

schon damals – in der<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht mehr<br />

besonders observant gewesen, mutmaßt<br />

Axel Magnus. „Die Mädchen hatten noch<br />

jüdische Vornamen, die aber alle, als sie<br />

nach Wien kamen, eingedeutscht wurden,<br />

da wurde etwa aus Miriam Maria.<br />

Die Brüder bekamen aber schon bei der<br />

Geburt deutsche Vornamen.“ Das Originalarchiv<br />

aus der Gegend sei zwar<br />

abgebrannt, doch einige der Familienmitglieder<br />

konnte Magnus in den Matrikenbüchern<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien finden.<br />

Noch sind die Recherchen zu seinen<br />

Vorfahren nicht ganz abgeschlossen. Aber<br />

Magnus kann nun schon ein ganz gutes<br />

Bild der Lebensumstände seines Urgroßvaters<br />

zeichnen. Doch auch beruflich<br />

führten ihn Recherchen zu einem ähnlichen<br />

Thema: Suchterkrankungen wurer<br />

doch noch zum Volkssturm stoßen – er<br />

zog es jedoch vor, aus Wien in Richtung<br />

Salzburg zu entschwinden.<br />

Trugschluss. Die Großmutter konnte die<br />

NS-Zeit übrigens relativ unbehelligt<br />

überstehen, da ihr Vater und ihre Mutter<br />

nicht verheiratet gewesen waren. Die<br />

Mutter war ebenfalls nichtjüdisch gewesen,<br />

der Vater zwar jüdisch – „doch meine<br />

Großmutter dürfte als Christin gegolten<br />

haben“. Der Urgroßvater wiederum fühlte<br />

sich sicher, da er – er hatte eine Zeitlang in<br />

den USA gelebt und war dort auch verheiratet<br />

gewesen – US-Staatsbürger gewesen<br />

sei, erzählt Magnus. Das sollte sich leider<br />

als Trugschluss herausstellen.<br />

Ab den 1910er-Jahren lebte Hugo Quittner<br />

wieder fix in Wien und war hier Kinodirektor.<br />

Bei seinen Recherchen fand<br />

der Urenkel heraus, dass er bei Stummfilmen<br />

teils selbst am Klavier begleitete<br />

und dass er immer wieder aneckte: einerseits,<br />

weil er sich nicht immer an arbeitsrechtliche<br />

Bestimmungen gehalten zu haben<br />

schien. Andererseits, weil er auch in<br />

Zeiten, in denen das nicht mehr so ungefährlich<br />

war, linke pädagogische Filme<br />

etwa in Form von Sondervorführungen<br />

für die Kinderfreunde zeigte. Die Pension<br />

trat der Urgroßvater schon relativ<br />

früh an, wie Magnus in Erfahrung bringen<br />

konnte. „Es dürfte sich dabei um etwas<br />

wie eine Invaliditätspension gehandelt<br />

haben.“ Als Quittner schließlich zum<br />

Aspangbahnhof verschleppt und von dort<br />

ins Baltikum deportiert wurde, war er 66<br />

Jahre alt.<br />

Darüber, wie er schließlich zu Tod kam,<br />

gibt es kein explizites Dokument. Magnus<br />

hat aber seine letzte reguläre Meldeadresse<br />

in einem Haus in der Brigittenau gefunden,<br />

dann auch noch die Meldung in<br />

einer Sammelwohnung nahe dem Augarten<br />

und auch einen Eintrag über das Datum<br />

der Deportation. Im Findbuch der<br />

ins Baltikum Deportierten fand er einerseits<br />

einen Personeneintrag zum Urgroßvater<br />

und andererseits einen längeren<br />

Text über Erschießungen in diesem<br />

Zeitraum. „Aus der Kombination der Daten<br />

war mir klar, dass er erschossen worden<br />

ist.“ Zwei der Brüder des Urgroßvaters<br />

seien in einem Konzentrationslager gestorben<br />

– einer in Auschwitz, einer in Theresienstadt.<br />

Ein weiterer Bruder dürfte in<br />

Schweden überlebt haben, zwei Schwestern<br />

konnten sich nach England retten,<br />

eine war wahrscheinlich schon vor dem<br />

Krieg verstorben, die vierte überlebte in<br />

Urgroßvater<br />

Hugo Quittner<br />

war Kinodirektor,<br />

der Stummfilme<br />

oft selbst am Klavier<br />

begleitete.<br />

…, dass er sich<br />

als Kind keinen<br />

Reim darauf<br />

machen konnte,<br />

warum jemand<br />

einfach so abgeholt<br />

werden und<br />

verschwinden<br />

konnte.<br />

den in der Geschichte teils als körperliche<br />

Erkrankung wie Diabetes gesehen,<br />

später wurden individualpsychologische<br />

und dann gesellschaftliche Faktoren<br />

als Ursache vermutet. Er habe sich<br />

hier eingehender mit Aaron Antonovsky<br />

und dessen Modell der Salutogenese auseinandergesetzt,<br />

das sich mit Risiken und<br />

Schutzfaktoren beschäftigt und diese Erkenntnisse<br />

für die Suchthilfe adaptiert.<br />

Für den einen könne zum Beispiel die gut<br />

funktionierende Familie ein Schutzfaktor<br />

sein, für den anderen eine schlecht funktionierende<br />

Familie ein Risiko darstellen.<br />

Es gehe also immer um das Individuum,<br />

und man müsse sich jeden Fall daher auch<br />

individuell ansehen, erzählt Magnus.<br />

Warum gerade ihm hier Antonovsky,<br />

der das Modell der Salutogenese unter<br />

anderem bei Forschungen zum Gesundheitszustand<br />

ehemaliger weiblicher KZ-<br />

Überlebender 1970 entwickelte, untergekommen<br />

sei, hält Magnus für keinen<br />

Zufall. Und ebenso wenig,<br />

dass er sich von<br />

klein an für Gerechtigkeit<br />

und als Erwachsener<br />

eben als Betriebsrat und<br />

gewerkschaftlich engagiere.<br />

„Das waren keine<br />

bewussten Entscheidungen,<br />

aber ich denke,<br />

dass das Unterbewusstsein<br />

da eine große Rolle<br />

gespielt hat.“ Fein findet<br />

Magnus, der früh Vater<br />

geworden ist – die Beziehung<br />

zur Mutter hielt<br />

aber nur kurz –, dass er<br />

schon seit vielen Jahren<br />

eine sehr gute Beziehung zu seinem inzwischen<br />

35-jährigen Sohn hat. „Bei uns<br />

gibt es zwar keine regelmäßigen Sonntagstreffen,<br />

da sind wir beide nicht der<br />

Typ dafür, aber wenn wir uns treffen, verbringen<br />

wir eine gute Zeit miteinander.“<br />

Der Sohn wisse von der Geschichte des<br />

Ururgroßvaters, da er aber nicht mit diesen<br />

ständigen Erzählungen der – in seinem<br />

Fall – Urgroßmutter aufwuchs, gehe<br />

ihm das Thema wohl nicht so nahe. „Aber<br />

auch er tut sich manchmal schwer, Gefühle<br />

zu verarbeiten. Rauskotzen statt<br />

runterschlucken wäre besser.“ Das gelte<br />

für ihn ebenso, sagt Magnus. Aber er habe<br />

dank Psychotherapie hier inzwischen einen<br />

besseren Umgang erlernt. Und er<br />

weiß: Familie beeinflusst jeden. Auch jene<br />

Familienmitglieder, die man nie kennenlernen<br />

durfte.<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

sommer_doppel1.indb 27 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:35


INTERVIEW MIT WOLFGANG KOS<br />

„Das jüdische Publikum<br />

war das treueste“<br />

In seinem neuen Band Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft legt Wolfgang Kos<br />

Geschichte und Schichten des legendären Luftkurorts frei.<br />

Interview: Anita Pollak<br />

Über den Semmering hat Wolfgang Kos<br />

schon früh und viel publiziert. Bereits<br />

1982 ist der gleichnamige Band mit dem<br />

Untertitel Kulturgeschichte einer künstlichen<br />

Landschaft erschienen. Ein ganzes Arbeitsleben später,<br />

in dem der Historiker unter anderem als Radiomacher<br />

und danach als Direktor des Wien Museums<br />

tätig war, ist er im Unruhe-Stand auf den Berg seiner<br />

Jugend zurückgekehrt und beschreibt nun die Nostalgie-trächtige<br />

Gegend von den Anfängen ihrer Erschließung<br />

durch die berühmte Ghega-Bahn chronologisch<br />

bin hin in die unmittelbare Gegenwart. Die Phasen der<br />

Besiedlung, die Geschichte der Hotelpaläste, die Gründerzeit<br />

im Villenbau und ihre schillernden Protagonisten,<br />

Glanzzeiten und Abstiege, Anachronismen, Extravaganzen<br />

und Kuriositäten, Mythos und Legenden<br />

rund um den späteren „Zauberberg“ und seine viel gerühmte<br />

Luft, all das präsentiert Wolfgang Kos mit der<br />

dem Sujet entsprechenden Eleganz. Der Flair dieses<br />

„Balkon von Wien“ verdankt sich zum Gutteil seinen<br />

jüdischen Besuchern, stellt Kos fest und resümiert:<br />

„Mit der Vertreibung der Juden war der Semmering<br />

auf Dauer beschädigt und starb einen seelischen Tod.“<br />

Im Zwiegespräch über Buch und Berg treffen zwei<br />

Semmering-Fans aufeinander.<br />

WINA: Ist der Semmering für Sie so etwas wie eine „Lebensliebe“?<br />

Wolfgang Kos: Nein, es war nie Liebe, ich hab’s mir ja<br />

nicht ausgesucht, sondern bin sozusagen hinein erzogen<br />

worden. Es gibt schon eine frühe Prägung, weil<br />

mein Vater gern Eisenbahn gefahren ist. Vor allem<br />

die Semmeringbahn hat es ihm angetan, die konnte<br />

er auswendig, wie die Viadukte heißen etc. Mir blieb<br />

als Kind nichts andres übrig, als das auch zu lernen.<br />

Meine Eltern haben dann am Semmering ein Appartement<br />

gekauft, wo ich in meiner Jugend gerne war.<br />

In den 1950er-Jahren war ja noch ein gewisser Glanz<br />

da, das Panhans hat sich als Nobelhotel präsentiert,<br />

Staatsgäste sind abgestiegen, und es war aus Wiener<br />

Sicht noch ein Stück große Welt. Ich habe also die Topografie<br />

und die Gschichterln gekannt und so auch<br />

den Mythos kennengelernt. Über den Schi-Club, bei<br />

„Mit der<br />

Vertreibung<br />

der Juden<br />

war der<br />

Semmering<br />

auf Dauer<br />

beschädigt<br />

und starb<br />

einen seelischen<br />

Tod.“<br />

dem ich als Jugendlicher war, habe ich auch Freunde<br />

gewonnen, aber ich hatte nie den Wunsch, mich dort<br />

als Zweitwohner anzusiedeln und auch kein Problem,<br />

der Gegend 20 Jahre lang untreu zu sein, denn treu<br />

war ich ihr ja nie.<br />

Wie kam es dann zur neuerlichen Beschäftigung mit der<br />

Region und ihrer Geschichte?<br />

I Schon für mein erstes Buch haben mich die historischen<br />

Schichten interessiert. Es ist dann später auch<br />

meine Dissertation geworden, denn mein ursprüngliches<br />

Dissertationsthema über die Entnazifizierung in<br />

Österreich musste ich aufgeben, das war damals nicht<br />

zu machen. Vor allem ging dieses Buch nur bis 1980<br />

und die Landesausstellung 1992 überhaupt nur bis zur<br />

Arisierung 1938. Das war der Tod der ersten Semmering-Geschichte.<br />

Es ist aber seit den 1990er-Jahren unerhört<br />

viel bedeutende Literatur darüber erschienen,<br />

Architektur- und Eisenbahngeschichte und literarische<br />

Forschung, ein neuer Faktenberg also, und ich<br />

konnte die Kulturzeitgeschichte auch nach 1980 völlig<br />

neu recherchieren. 1998 wurde ja die Semmering-<br />

Bahn als Welterbe-Ort aufgenommen und ist damit<br />

weltberühmt geworden.<br />

Es gab in jeder Phase seiner Geschichte unterschiedliche jüdische<br />

Kreise, die den Semmering als temporären Wohnort<br />

in den Villen, als Gäste in den Hotels bevölkert haben. Ein<br />

Sehnsuchtsort blieb er für die meisten auch nach der Vertreibung<br />

und Arisierung. Was war das Faszinosum gerade<br />

für das jüdische Publikum?<br />

I Es hat sehr stark mit der österreichischen Gesetzgebung<br />

ab 1870 zu tun, die Juden erlaubte, Grund zu<br />

kaufen. Wie an der Ringstraße waren es überproportional<br />

jüdische Großbürger, die Aristokraten hatten<br />

ihre Palais ja bereits, vielfach Aufsteiger, die zweite Generation<br />

nach den Firmengründern, die dann auch<br />

die Prachtentfaltung gesucht und ein kulturelles Interesse<br />

hatten. Relativ gleichzeitig zu dieser Selbstverwirklichungsmöglichkeit<br />

entlang der Ringstraße<br />

ist das Reichenauer Tal mit den ersten Villen besetzt<br />

worden. „Die Ringstraßenvorstadt Wiens“ war zuerst<br />

in Reichenau. Ich habe bei den einzelnen Villenbesit-<br />

© Christine Pichler/Die Presse/picturedesk.com<br />

28 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 28 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:37


Balkon von Wien<br />

Wolfgang Kos:<br />

Der Semmering.<br />

Eine exzentrische<br />

Landschaft.<br />

Residenz Verlag,<br />

384 S., € 34<br />

Das heißt, es gab dort eine jüdische Gründerzeit und Pioniere,<br />

die eine leeres Gebiet besiedelt und daher auch niemanden<br />

verdrängt haben. Ein einzigartiges Phänomen?<br />

I Ja, denn da gab es keine Kirche, keinen Pfarrer, keinen<br />

Friedhof, es war auch kein Dorf. Als jüdischer Sommerfrischler<br />

am Semmering konnte man von null beginnen.<br />

Die Villenbesitzer, so viele sind es ja nicht, haben<br />

dort die Rolle der Aristokratie übernommen, die anderen<br />

mussten sich im Hotel einquartieren.<br />

Und der Semmering hat nicht<br />

zuletzt eine große Rolle als jüdischer<br />

Heiratsmarkt gespielt, zum Matchmaking,<br />

denn während der Sommerfrische<br />

konnten die Familien einander<br />

beobachten. Und auch nach dem Einbruch<br />

des Ersten Weltkriegs blieb das<br />

jüdische Publikum treu.<br />

© Christine Pichler/Die Presse/picturedesk.com<br />

zern natürlich nicht in die Tiefe recherchiert, ob sie Juden<br />

waren oder getaufte Juden. Dass wir alle gezwungen<br />

sind, diese Frage zu stellen, hängt ja nur mit dem<br />

Nationalsozialismus zusammen, obwohl es manchmal<br />

soziologisch wichtig ist. In dieser auch kulturell expansiven<br />

Zeit hat die Schubkraft des jüdischen Großbürgertums<br />

in Wien auch die Dynamik in Reichenau und<br />

auf dem Semmering angetrieben.<br />

Vorausgegangen ist diesem Boom aber der gigantomanische<br />

Hotelbau am Semmering mit den großen Hotelpalästen, in<br />

denen ebenso vorwiegend jüdische Gäste abstiegen.<br />

I Ja, nach dem ersten Hotel Semmering 1882 sind bald<br />

einige Villen entstanden, und die Südbahngesellschaft<br />

hat es verstanden, dieses anfängliche Niemandsland<br />

schnell als Luxus zu vermarkten, als würde man eine<br />

neue Insel besiedeln. Da gab es keine Einheimischen,<br />

nur einige wenige Waldbauern, das meiste gehörte<br />

dem Fürsten Liechtenstein. Nach dem Südbahnhotel<br />

ist relativ bald das Hotel Panhans entstanden und<br />

dazwischen der Korso. In der nächsten Phase kamen<br />

dann sehr reiche Leute aus Wien, und besonders die<br />

um die Jahrhundertwende entstandenen Villen wurden<br />

fast durchwegs von jüdischen Bauherrn in Auftrag<br />

gegeben.<br />

Wolfgang Kos,<br />

der ehemalige<br />

Direktor des Wien<br />

Museums, ist in<br />

seinem Unruhe-<br />

Stand auf den<br />

Berg seiner<br />

Jugend zurückgekehrt.<br />

Nach 1945 kamen jüdische Gäste aus dem<br />

Raum der ehemaligen Monarchie, die den<br />

Mythos Semmering nur vom Hörensagen<br />

kannten, d. h. er hat den Krieg überlebt. Es<br />

gab ein relativ kurzes Revival, eine jüdische<br />

Jeunesse dorée etwa beim Five O’Clock<br />

Tea im Panhans, ein koscheres Restaurant<br />

etc., also eine kurze Blüte bis in die späten<br />

1960er-Jahre. Man sieht es an den Semmering-Motiven<br />

der jüdischen Gesellschafts-<br />

Fotografin Margit Dobronyi. Angehörige<br />

meiner Generation haben sentimentale Erinnerungen<br />

an diese Phase. Warum kommt<br />

diese Zeit in Ihrem Buch zu kurz?<br />

I Ich bin leider aus rechtlichen Gründen<br />

an kein Foto von Margit Dobronyi<br />

gekommen. Über die Periode der späten 1950er- und<br />

1960er-Jahre habe ich auch zu wenig gewusst. Und<br />

für die Zeit von 1945 bis 1980 waren mir die politischen<br />

Themen wichtig. Aber ich fand die Geschichte<br />

der 1927 erbauten Hakoah-Hütte spannend, die nach<br />

dem Krieg nochmals jüdisch belebt wurde, nach der<br />

Arisierung und Restituierung. Ihre Geschichte ist gar<br />

nicht leicht recherchierbar. In den späten 1980er-Jahren<br />

hat niemand auf dem Semmering von der Hakoah-<br />

Hütte gesprochen.<br />

Sie geben in Ihrem Buch einen relativ optimistischen Ausblick<br />

auf die Zukunft des Semmering, dessen Wachküssung<br />

ja schon oft ausgerufen wurde. Was erwarten Sie?<br />

I Wie immer geben die Gebildeteren die Trends vor,<br />

und die entdecken den Semmering wieder. Es gibt eine<br />

neue Kultur der Nähe, und auch die Bahnkultur hat in<br />

den letzten Jahren wieder einen Aufschwung erhalten.<br />

Aber der jüdische Semmering, das ist vorbei. Das jüdische<br />

Publikum war das treueste, und von diesem Mythos<br />

lebt man nach wie vor. Ich sehe aber die Gefahr,<br />

dass diese jüdische Prägung des Semmering wie eine<br />

Folklore behandelt wird, ähnlich wie Wien um 1900.<br />

Das Jüdische ist ein Teil der DNA dieser Region, aber es<br />

bleibt in einer ungreifbaren Vergangenheit.<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

sommer_doppel1.indb 29 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:39


INTERVIEW MIT FLORIAN KRUMPÖCK<br />

„In die Nostalgie kann man<br />

auch hineinwachsen“<br />

WINA: Anders als Ihre Vorgänger setzen Sie weniger auf<br />

Theater und eher auf musikalisch-literarische und kabarettistische<br />

Schwerpunkte sowie auf Stars, die oft mit ihren<br />

eigenen Programmen kommen. Wie sehr können Sie da<br />

bei der Gestaltung mitwirken?<br />

Florian Krumpöck: Mittlerweile entwickeln wir<br />

tatsächlich die meisten Programme in enger Zusammenarbeit<br />

mit den jeweiligen Künstlerinnen<br />

und Künstlern. Viele Programmpunkte entstehen<br />

dabei im Zusammenspiel mit dem Ambiente und<br />

der faszinierenden Geschichte der Spielstätte und<br />

sind deshalb auch nur exklusiv am Semmering zu<br />

erleben. Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Hugo von<br />

Hofmannsthal und viele andere Autoren der Jahrhundertwende<br />

waren ja im Südbahnhotel Semmering<br />

auf Sommerfrische, haben an diesem wundervollen<br />

Ort viel Zeit verbracht und das Gebäude sogar<br />

als Schauplatz für ihre Dramen und Novellen ausgewählt.<br />

Seit 2015 wird der Kultursommer<br />

Semmering unter der Intendanz des<br />

Pianisten und Dirigenten Florian<br />

Krumpöck zunehmend erfolgreich<br />

geführt. Und ist nun, nach dem vorläufigen<br />

Aus des Theatersommers in<br />

Reichenau, das einzige Festival der<br />

Region. Sein besonderer Reiz ist wohl<br />

die historische Spielstätte des Südbahnhotels,<br />

die als Genius loci bei<br />

der Programmplanung mitspielt,<br />

wie Florian Krumpöck betont.<br />

Interview: Anita Pollak<br />

KULTUR.SOMMER.<br />

SEMMERING <strong>2021</strong><br />

9. Juli bis 5. September<br />

Info und Kartenbestellungen:<br />

tourismus@semmering.<br />

gv.at , +43/(0)266 42 00 25<br />

Von der Nostalgie allein kann man aber nicht ewig leben<br />

bzw. sterben auch die entsprechenden Publikumsschichten<br />

irgendwann aus. Gelingt es Ihnen, auch jüngeres Publikum<br />

anzuziehen?<br />

I Nostalgie ist auch etwas, in das Zuschauer langsam<br />

hineinwachsen können. Ich persönlich habe<br />

zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass gerade<br />

auch jüngeres Publikum beginnt, sich zunehmend<br />

für den Semmering zu interessieren. Indem wir die<br />

einstige Künstlerkolonie in die Neuzeit übersetzen<br />

und zudem auch jüngere Ensembles engagieren,<br />

ziehen wir auch wieder jüngeres Publikum an. Immer<br />

wieder erlebe ich zudem, dass gerade die jüngere<br />

Generation bei unserem Menu à la Belle Époque<br />

besonders gerne in historisch angehauchten Kostümen<br />

erscheint und am Semmering ein nostalgisches<br />

Wochenende verbringen möchte.<br />

Das jüdische Erbe, die jüdische Vergangenheit, ist ein wesentlicher<br />

Teil der Tradition am Semmering. Wie sehr nehmen<br />

Sie in Ihrer Programmgestaltung darauf Bezug?<br />

I Fast alle namhaften Künstler der österreichischen<br />

Belle Époque waren jüdischer Herkunft, man denke<br />

nur an Schnitzler, Zweig, Polgar, Altenberg und viele<br />

andere, die bei uns gespielt und gelesen werden. Das<br />

jüdische Erbe spielt bei unserer Programmgestaltung<br />

daher selbstredend eine große Rolle. Darüber<br />

hinaus gibt es auch weitere Programmpunkte, die<br />

auf das jüdische Leben Bezug nehmen: Die Musiker<br />

© Herbert Lehmann/picturedesk.com<br />

30 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 30 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:41


Thema<br />

© Herbert Lehmann/picturedesk.com<br />

von Klezmer Reloaded treten heuer gleich zweimal<br />

am Semmering auf und begleiten beispielsweise einen<br />

Lesenachmittag zu Ephraim Kishon und Friedrich<br />

Torberg. Auch Timna Brauer wird mit einem<br />

Abend voller Erinnerungen an ihren Vater zu erleben<br />

sein.<br />

Im Vorjahr, dem ersten Corona-Sommer, haben Sie mit<br />

12.000 verkauften Karten einen Besucher-Rekord verzeichnet.<br />

Wie ist das Corona entsprechende Sicherheitskonzept<br />

für diese Saison geplant?<br />

I Unsere Sicherheitsmaßnahmen richten sich immer<br />

nach der aktuellen Verordnung und lassen sich<br />

in einem so großen, weitläufigen Gebäude wie dem<br />

Südbahnhotel Semmering glücklicherweise besonders<br />

gut umsetzen. So können wir auf drei Ebenen<br />

und zwei großen Terrassen mit Panoramablick in<br />

den Pausen sogar eine kulinarische Verköstigung<br />

anbieten. Wichtig ist uns, dass maximale Sicherheit<br />

gewährleistet wird und wir dem Publikum dabei<br />

ein angenehmes Kulturerlebnis bieten können.<br />

Glauben Sie an ein nachhaltiges Comeback der Region, insbesondere<br />

des Semmering, und welche Rolle soll da die<br />

Kultur für die Sommerzeit spielen? Im Winter gibt es ja eher<br />

sportliche Prioritäten.<br />

I Daran glaube ich auf jeden Fall! Mit wachsenden<br />

Projekten wie dem Kultur.Sommer.Semmering<br />

wurde hierfür ja schon eine ausgezeichnete Basis<br />

geschaffen. Besonders die ganzjährige Wiederbelebung<br />

der Region wäre meines Erachtens wichtig,<br />

nicht nur durch den Wintertourismus, sondern<br />

auch mit einem attraktiven ganzjährigen Kunstund<br />

Kulturangebot.<br />

„Das jüdische<br />

Erbe spielt bei<br />

unserer Programmgestaltung<br />

eine<br />

große Rolle.“<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

sommer_doppel1.indb 31 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:43


Zarte Bühnenbilder<br />

Kirishima Open Air Museum.<br />

Eine für Japan typische Environmental<br />

Sculpture aus Sonnenlicht, Kirschholz,<br />

Stahl und Glas (1998–2002).<br />

© flash 90/Hadas Parush © 123RF<br />

Beton und Poesie<br />

In Tel Aviv starb 90-jährig der begnadete Bildhauer<br />

Dani Karavan, bekannt vor allem für seine begehbaren<br />

Kunstwerke und Erinnerungsdenkmäler.<br />

Von Reinhard Engel<br />

© danikaravan.com<br />

Toskana. Im Garten von Daniel<br />

Spoerri steht Adam and Eve (For<br />

God created Man and Woman<br />

together) aus dem Jahr 2002, zwei<br />

in Gold gefasste Olivenbäume.<br />

Das Negev Brigade<br />

Monument in Erinnerung<br />

an die Palmach-Negev-<br />

Brigade, 1963–1968.<br />

32 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 32 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:55


Water, grass, flowers, trees, granite, iron, glass,<br />

text, sound<br />

Massive Skulpturen<br />

Tiergarten, Berlin: das unter anderem<br />

aus Wasser, Bäumen und Text bestehende<br />

Sinti und Roma Memorial (2000–2012).<br />

© danikaravan.com<br />

© Wikimedia Commons/Yair Talmor)<br />

„Ich habe Grenzen überschritten,<br />

Disziplinen<br />

gesprengt und mich zwischen<br />

Minimalismus und<br />

Konzeptkunst, Figuration<br />

und Abstraktion, Skulptur<br />

und Architektur, Land Art<br />

und Landschaftsdesign<br />

hin- und herbewegt.“<br />

Dani Karavan<br />

© flash90/Tomer Neuberg<br />

© Michael Kappeler / dpa / picturedesk.com<br />

Jerusalem Knesset: die Wandskulptur<br />

Jerusalem, City of Peace (1965–1966).<br />

Er konnte zart und hart. Kaum jemand,<br />

dem Dani Karavans monumentale<br />

Kunstwerke aus Beton,<br />

Stein und Stahl geläufig sind,<br />

wusste auch über seine ganz anderen, früheren<br />

Arbeiten Bescheid. Über Jahre entwarf<br />

er Bühnenbilder für eine der delikatesten<br />

Kunstformen der Bühne, das Ballet.<br />

Und er kooperierte mit ganz großen Truppen,<br />

mit Martha Graham, mit der Bat Sheva<br />

Dance Company oder auch mit dem Komponisten<br />

Gian Carlo Menotti. Karavan starb<br />

im <strong>Mai</strong> 90-jährig in Tel Aviv.<br />

Er war als Kind polnischer Einwanderer<br />

1930 in Palästina geboren worden, sein Vater<br />

Abraham zeichnete als Landschaftsarchitekt<br />

von den Vierziger- bis zu den Sechzigerjahren<br />

für das Aussehen eines Gutteils<br />

von Tel Aviv verantwortlich. Dani Karavan<br />

studierte erst in Tel Aviv Malerei, im Atelier<br />

von Yehezkel Streichman und Avigdor Steimatzky,<br />

später bei Mordechai Ardon in Jerusalem.<br />

Einige Jahre malte Karavan im Kibbuz<br />

Harel bei Latrun am Weg von Tel Aviv<br />

nach Jerusalem, wo er 1948 zu den Grün-<br />

dungsmitgliedern gehörte. 1956 reiste er<br />

nach Florenz, um an der Accademia delle<br />

Belle Arti Freskomalerei zu erlernen, dann<br />

ging es nach Paris an die Académie de la<br />

Grande Chaumière.<br />

Nun kamen die Jahre als Bühnenbildner<br />

am Tanztheater, bis er seine Liebe zu massiveren<br />

Materialien entdeckte. Einem steinernen<br />

Relief an der Knesset in Jerusalem<br />

folgte seine erste große begehbare Skulptur,<br />

das Denkmal für die Negev-Brigade in Beer<br />

Sheva. Es überragt von einem Hügel die Wüstenstadt<br />

und ist eine komplexe Anordnung<br />

unterschiedlicher mächtiger Betonteile mit<br />

symbolischen Bedeutungen, vom hoch aufragenden<br />

Wachturm bis zur – gerade in dieser<br />

Gegend so notwendigen – Wasserleitung.<br />

Karavan wollte schon bei dieser Land-<br />

Art-Skulptur, dass sie nicht nur von außen<br />

betrachtet wird, sondern sich die Besucher<br />

auch hineinwagen, das Kunstwerk<br />

im wahrsten Sinn des Wortes begehen.<br />

Bei späteren Arbeiten integrierte er zunehmend<br />

Elemente der Natur in seine<br />

Skulpturen: Bäume und Blumenbeete,<br />

Grasflächen und Pergolas. So hat er etwa<br />

den Platz vor dem israelischen Nationaltheater<br />

Habima in Tel Aviv gestaltet, der<br />

täglich aktiv von Jung und Alt in Besitz genommen<br />

wird.<br />

Ähnliches gilt für sein Mahnmal, das<br />

in Berlin an die von den Nationalsozialisten<br />

ermordeten Sinti und Roma erinnert<br />

und über das die Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

schrieb: „Dessen Kern bildet ein kreisrundes<br />

Wasserbecken; in seinem dunklen<br />

Wasser spiegeln sich Betrachter, Bäume und<br />

das Reichstagsgebäude. Inszeniert als Idyll<br />

im Großstadttrubel, setzt das Mahnmal darauf,<br />

den zufälligen Passanten ins Gedenken<br />

an die Zusammenhänge von Natur,<br />

Mensch und Geschichte hineinzuziehen.“<br />

Vor den Düsseldorfer Landtag von Nordrhein-Westfalen<br />

hat Karavan eine symbolträchtige<br />

Großplastik gesetzt. Die tonnenschwere<br />

runde, rostige Stahlplatte nimmt<br />

die bogenförmige Architektur des Gebäudes<br />

dahinter auf, aber sie wird in der Mitte<br />

geteilt von zwei Schienen: Die Wege nach<br />

Auschwitz haben in jeder deutschen Stadt<br />

begonnen.<br />

Eine der eindrucksvollsten Arbeiten<br />

Karavans erinnert an die Flucht und den<br />

Selbstmord des deutschen linken Intellektuellen<br />

Walter Benjamin an der französischspanischen<br />

Grenze in Portbou nahe Girona:<br />

Ein beklemmender stählerner Korridor<br />

führt steil hinunter an das blaue Mittelmeer<br />

– an jenes Meer, über das heute Flüchtlinge<br />

aus Afrika nach Europa streben.<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

sommer_doppel1.indb 33 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:03


Durchbrechen der Grenzen<br />

Cherchez la femme –<br />

auf der Suche nach der Frau<br />

Auf den Spuren der vergessenen Architektinnen, die<br />

einen unverzichtbaren Beitrag zur modernen architektonischen<br />

Planung in Palästina geleistet haben.<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

Kaete Dan<br />

Hotel an der Küstenstraße<br />

von Tel<br />

Aviv, wo heute das<br />

Dan Hotel steht.<br />

Wer waren Lotte Cohen,<br />

Elsa Gidoni-Mandelstamm<br />

oder Genia<br />

Averbuch? Außer einigen<br />

Architekturfreaks<br />

wird wohl kaum jemand in Israel<br />

diese Frage beantworten können. Sie gehörten<br />

zu den erfolgreichen Architektinnen<br />

im Palästina der Zwanziger und Dreißigerjahre,<br />

deren Einfluss vor allem in Tel<br />

Aviv bis heute spürbar ist. Diejenigen ihrer<br />

Bauten, die noch bestehen, wurden zu<br />

Ikonen des internationalen Stils. Doch sie<br />

selbst sind völlig in Vergessenheit geraten.<br />

Der Dizengoff-Platz, ein Wahrzeichen<br />

Tel Avivs, wurde erst kürzlich nach beinahe<br />

fünfzig Jahren der Verunstaltung<br />

wieder in seine ursprüngliche Form zurückversetzt.<br />

Die in den 1970er-Jahren<br />

errichtete Unterführung, die laut dem<br />

damaligen Bürgermeister Shlomo Lahat<br />

„den Verkehr erleichtern“ sollte, den<br />

Platz jedoch für Fußgänger schwer zugänglich<br />

machte, wurde abgebaut und<br />

die harmonische, runde Form mit den<br />

Grünflächen wiederhergestellt. Damit<br />

zog wieder Leben in das Stadtviertel am<br />

südlichen Teil der Dizengoff-Straße ein,<br />

Cafés und Geschäfte rund um den Platz<br />

florieren, der Kreisverkehr regelt den<br />

Verkehr.<br />

Levant Fair. Elsa<br />

Gidoni-Mandelstamm<br />

entwarf für die Messe<br />

unter anderem das<br />

Café Galina.<br />

Die Place Etoile von Tel Aviv. Der anfangs<br />

auch „Etoile von Tel Aviv“ genannte Platz<br />

wurde 1936 von Genia Averbuch entworfen<br />

und zwei Jahre später eröffnet.<br />

Averbuch plante auch zahlreiche Wohnhäuser,<br />

private Villen, Gebäude für Frauenorganisationen<br />

und drei Synagogen<br />

und wurde in der internationalen Fachliteratur<br />

ihrer Zeit hoch gelobt. Doch in<br />

Israel ist sie, wie auch ihre Berufskolleginnen,<br />

die in Palästina bedeutende Projekte<br />

entworfen haben, kaum bekannt.<br />

34 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 34 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:06


Perspektiven von Frauen<br />

hen und soll maßgeblich<br />

zur Durchsetzung des internationalen<br />

Stils beigetragen<br />

haben. (Das Werbeplakat<br />

für die Messe von<br />

1934 wurde übrigens vom<br />

österreichischen Grafiker<br />

Franz Krausz designt.) Die<br />

Aufträge für die Dutzenden<br />

Pavillons und Einrichtungen<br />

der Messe wurde durch<br />

teilweise anonyme Ausschreibungen<br />

vergeben,<br />

an denen die jungen Architektinnen<br />

gegen führende<br />

Berufskollegen im Land<br />

antraten – und gewannen. „Der Beitrag<br />

dieser Frauen zur Architektur im Land<br />

ist nicht weniger wichtig als jener ihrer<br />

männlichen Kollegen jener Zeit“, meint<br />

Davidi, „doch ihre Namen sind teilweise<br />

aus der Geschichte ausradiert.“<br />

Elsa Gidoni-Mandelstamm entwarf für<br />

die Levant Fair unter anderem das Café<br />

Galina, das, wie viele ihrer Projekte, viel<br />

internationalen Beifall erntete. In Folge<br />

ihrer Arbeit für die Messe wurde sie zu<br />

Ausschreibungen für öffentliche Gebäude<br />

eingeladen und gewann die Aufträge<br />

für die Haushaltschule im Neve-<br />

Jizhak-Viertel in Tel Aviv und für das Beit<br />

HaHaluzot, das einstige Haus der Pionierinnen,<br />

in der King-George-Straße. Die<br />

erst 1933 aus Berlin eingewanderte Architektin<br />

eröffnete ihr eigenes Büro und<br />

wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.<br />

Einige ihrer im internationalen<br />

Stil erbauten Häuser im alten Norden<br />

Tel Avivs sind erhalten geblieben und stehen<br />

unter Denkmalschutz. „Ich konnte zu<br />

Anfang nichts über Gidoni finden“, berichtet<br />

Davidi: „Erst nach und nach habe<br />

ich Material zusammengetragen und verstand,<br />

wie signifikant ihre Arbeit war. Sie<br />

hat hier einen wichtigen Beitrag zur Architektur<br />

geleistet, doch sie ist im Ausland<br />

viel bekannter als hier in Israel.“ Gidoni<br />

blieb nur fünf Jahre und ging dann<br />

„Der Beitrag<br />

dieser Frauen<br />

zur Architektur<br />

im Land<br />

ist nicht weniger<br />

wichtig<br />

als jener ihrer<br />

männlichen<br />

Kollegen jener<br />

Zeit.“<br />

Dr. Sigal Davidi<br />

Die Architektin Sigal Davidi hat mehr<br />

als ein Jahrzehnt damit verbracht, die<br />

Werke und den Werdegang dieser „vergessenen<br />

Architektinnen“ in mühsamer<br />

Puzzle-Arbeit zu recherchieren. In ihrem<br />

kürzlich erschienen Buch Ein neues Land<br />

erbauen, Architektinnen und Frauenorganisationen<br />

in Palästina unter dem Britischen Mandat<br />

(erschienen auf Hebräisch in der Open<br />

University Press) beschreibt sie die signifikante<br />

Rolle der Frauen in der Architektur<br />

jener Zeit: „Diese erste Generation von<br />

Architektinnen im Land durchbrach die<br />

Grenzen des weiblichen Stereotyps der<br />

‚unterstützenden Gefährtin‘, der in der<br />

zionistischen Utopie üblich war, und es<br />

ist bemerkenswert, wie sie sich in einer<br />

bis dahin rein männlichen Arbeitswelt<br />

durchsetzten. Sie führten ihre eigenen<br />

Architekturbüros und waren professionell,<br />

unabhängig und total auf ihre Arbeit<br />

fokussiert. Das Niveau ihrer Erfolge<br />

und Errungenschaften war sehr hoch und<br />

kann kaum mit der Situation von Architektinnen<br />

in anderen Ländern jener Epoche<br />

verglichen werden. Ihr Beitrag ist von<br />

großer Bedeutung, vor allem in Tel Aviv.“<br />

Frauen wurden erst nach und nach zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts zum Architekturstudium<br />

zugelassen, in Deutschland<br />

und Österreich im Jahr 1919. Dieses<br />

hundertjährige Jubiläum wurde in Berlin<br />

mit der großen Ausstellung Frau Architekt<br />

gewürdigt. Das Technion eröffnete seine<br />

Fakultät erst später, und so kamen zu Beginn<br />

der 1920er-Jahre und bis zur Machtübernahme<br />

der Nationalsozialisten in<br />

Deutschland über ein Dutzend gut ausgebildete<br />

und begabte junge Architektinnen<br />

aus Europa, vor allem aus dem deutschsprachigen<br />

Raum, in das Land und erbauten<br />

hier ganze Wohnviertel, Schulen<br />

und sogar Synagogen. Hier konnten<br />

sie zu jener Zeit relativ leicht große Aufträge<br />

bekommen, was in Europa damals<br />

für Frauen noch schwierig war.<br />

„Der Bauboom in der Zeit vor der<br />

Staatsgründung versorgte alle mit ausreichend<br />

Arbeit“, erläutert Davidi. Sie<br />

wurde auf das Phänomen der „vergessenen<br />

Architektinnen“ aufmerksam, als<br />

sie ihre Doktorarbeit über die Levant-<br />

Fair, die Orient-Messe, recherchierte.<br />

Diese in den 1930er-Jahren regelmäßig<br />

in Palästina abgehaltene internationale<br />

Architekturausstellung, an der sich<br />

zahlreiche europäische Staaten beteiligten,<br />

war in Fachkreisen hoch angesenach<br />

New York ging, wo sie Wolkenkratzer<br />

an prominenten Adressen in Manhattan<br />

entwarf und Teil der Architektengruppe<br />

rund um Walter Gropius und dem Österreicher<br />

Richard Neutra wurde, die an einem<br />

Projekt von modularen, vorgefertigten<br />

Häusern arbeitete.<br />

Die gebürtige Wienerin<br />

Dora Gad war zwar „nur“<br />

Innenarchitektin, zeichnet<br />

aber für viele prestigeträchtige<br />

Projekte verantwortlich,<br />

darunter die Innenausstattungen<br />

des Israel<br />

Museums, der Knesset, des<br />

Tel Aviver Hilton Hotels sowie<br />

der Hotels Accadia und<br />

Sharon in Herzlia. Sie entwarf<br />

auch die Einrichtung<br />

der ZIM-Passagierschiffe.<br />

Dass alle diese Frauen<br />

einfach vergessen wurden,<br />

führt Davidi auf zwei mögliche<br />

Gründe zurück: „Geschichte<br />

wird zumeist von<br />

Männern geschrieben,<br />

‚HerStory‘ wird dabei nicht so sehr berücksichtigt.<br />

Und außerdem spielt es vielleicht<br />

auch eine Rolle, dass viele dieser<br />

erfolgreichen Architektinnen keine Kinder<br />

und keine eigene Familie hier hatten,<br />

sodass es niemanden gab, dem es wichtig<br />

gewesen wäre, ihr Andenken zu bewahren.“<br />

Die erste bedeutende Architektin im<br />

Land war übrigens Lotte Cohn. Sie kam<br />

aus Deutschland und plante schon in den<br />

1920er-Jahren zahlreiche Projekte und<br />

ganze Stadtviertel im modernen internationalen<br />

Stil oder Bauhaus-Stil, darunter<br />

die Landwirtschaftsschule für Frauen<br />

in Nahalal, das Rasco-Viertel und das Kaete<br />

Dan Hotel an der Küstenstraße von Tel<br />

Aviv, an dessen Stelle heute das Dan Hotel<br />

steht. Sie war es auch, die die erste mit<br />

Elektrizität betriebene moderne öffentliche<br />

Küche entwarf. „Sie schrieb interessante<br />

Texte über architektonische Planung<br />

und das Leben hier im Land, vieles<br />

aus der Perspektive einer Frau, die Architektur<br />

für Frauen macht“, ergänzt Davidi.<br />

Lotte Cohn soll auch einen ausgeprägten<br />

Sinn für Humor gehabt haben. In Anspielung<br />

auf ihre männlichen Berufskollegen<br />

soll sie gesagt haben: „Im Gegensatz<br />

zu meinen Kollegen habe ich das Privileg,<br />

eine Küche nicht nur zu entwerfen,<br />

sondern dann auch in ihr zu kochen.“<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

sommer_doppel1.indb 35 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:06


Positive Streitkultur<br />

Zwischen Antisemitismus<br />

und heimischer Hühnersuppe<br />

Mit Freitagnacht Jews gelingt es Schauspieler und Producer Daniel Donskoy,<br />

junge Menschen für jüdische Themen zu interessieren.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

sche Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen,<br />

um mit ihnen beim gemeinsamen<br />

Essen über das Leben als Jude in<br />

Deutschland zu reden. „Ich spreche mit<br />

meinen Gästen über eine nicht einfache<br />

Thematik, über das Verständnis der jüdischen<br />

Identität in Deutschland, einem<br />

Land, wo diese leider nicht unbelastet ist.<br />

Wie also geht man in guter jüdischer Tradition<br />

an die heikelsten Sachen heran?<br />

Mit einer Balance aus Humor, Streitlust<br />

im besten Sinne und gutem Essen. Eine<br />

Show zwischen Antisemitismus und Hühnersuppe.“<br />

Daniel Donskoy wurde 1990 in Moskau<br />

geboren, seine Mutter ist gebürtige<br />

Ukrainerin, sein Vater Russe. Kurz nach<br />

seiner Geburt zogen die Eltern als jüdische<br />

Kontingentflüchtlinge nach Berlin.<br />

Daniel fing mit fünf Jahren an, Klavier zu<br />

spielen, später brachte er sich das Gitarre-<br />

Spiel selbst bei. Nach der Trennung seiner<br />

Eltern zog er mit seiner Mutter 2002 nach<br />

Tel Aviv, daher zählt er Russisch, Ivrith,<br />

Deutsch und Englisch zu seinen Muttersprachen.<br />

2008 ging er zurück nach Berlin<br />

und wollte zuerst Medizin studieren,<br />

entschied sich dann doch für Biologie und<br />

Medienmanagement. Um sich das mit 18<br />

Jahren finanzieren zu können, jobbte er<br />

als Barkeeper im Berliner Kulturzentrum<br />

Tacheles und nahm nebenbei Aufträge als<br />

Model an.<br />

Mit 20 Jahren nahm er Ballettunterricht,<br />

erst danach fand er seine Bestimmung:<br />

Von 2011 bis 2014 absolvierte<br />

Donskoy eine Schauspiel- und Musicalausbildung<br />

an der Arts Educational School<br />

Wie schaffen wir jüdische Bürgerinnen<br />

und Bürger endlich, unseren<br />

nicht-jüdischen Mitbürgerinnen<br />

und Mitbürgern „das Jüdische“<br />

positiv rüberzubringen? Also: jüdisches<br />

Leben, Inhalte, Denkweise, Gefühle. Das<br />

ist uns ja sehr wichtig, denn wir buhlen seit<br />

Jahrtausenden nicht nur um existenzielle,<br />

verständnisvolle Akzeptanz, sondern sehnen<br />

uns auch unentwegt danach, ein klein<br />

wenig geliebt zu werden. Trotzdem ist dieser<br />

hartnäckige, scheinbar unausrottbare<br />

Antisemitismus noch immer da. Ok, werden<br />

Sie sagen, da gibt es schon hunderte<br />

private und öffentliche Initiativen, Institutionen<br />

und Plattformen, die sich damit<br />

beschäftigen. Stimmt, aber schaffen sie einen<br />

Geist der Normalität im Umgang miteinander?<br />

Die Herzen der 18- bis 38-Jährigen<br />

erreichen sie jedenfalls kaum: Bücher<br />

darüber lesen ist mühsam, an Dialogforen<br />

teilnehmen ist aufwendig, und über Social-Media-Kanäle<br />

kommt kaum etwas<br />

Poppiges, Humorvolles, das ihr Lebensgefühl<br />

ansprechen könnte.<br />

Der 31-jährige deutsche Schauspieler,<br />

Musiker und Regisseur Daniel Donskoy ändert<br />

das seit Ende April durch seine WDR-<br />

Talkshow Freitagnacht Jews in acht Folgen,<br />

wöchentlich um 17 Uhr, in der ARD-Mediathek<br />

sowie auf dem WDR-YouTube-Kanal.<br />

Bereits seine Sendungssignation beginnt<br />

mit dem provokanten Song: Jude, Jude, Jude<br />

ist einfach nur ein Wort, aber in Deutschland ist<br />

Antisemitismus Sport. In den Strophen zwischen<br />

diesem Refrain benennt er selbst<br />

alle gängigen Vorurteile gegen Juden, fordert<br />

seine Zuschauer und Seherinnen<br />

zum Fragestellen auf und endet mit Willkommen<br />

und Schabbat Schalom. Donskoy<br />

empfängt als Gastgeber interessante jüdiin<br />

London, die er mit einem Bachelor in<br />

Musical/Theatre abschloss. Gleichzeitig<br />

studierte er 2012 ein Semester in New York<br />

am angesehenen Lee Strasberg Institute.<br />

Es folgten mehrere Theaterengagements<br />

in London, u. a. am Andrew Lloyd Webber<br />

Foundation Theatre, am Garrick Theatre<br />

und am St. James Theatre. 2016 spielte<br />

„Jude, Jude, Jude ist einfach nur ein Wort, aber<br />

in Deutschland ist Antisemitismus Sport.“<br />

Intro-Song zu Daniel Donskoys WDR-Talkshow<br />

er am Nottingham Playhouse die Rolle des<br />

Jim O’Connor in Tennessee Williams’ Erfolgsstück<br />

Die Glasmenagerie. Ab 2015 arbeitete<br />

das Multitalent in London, seinem<br />

zweiten Wohnsitz nach Berlin, auch<br />

als Theaterregisseur, Theaterproduzent<br />

und Theaterautor.<br />

Ab 2016 verlagerte Donskoy seinen<br />

künstlerischen Schwerpunkt auf Film und<br />

Fernsehen. Er spielte Haupt- und Gastrollen<br />

in diversen britischen Serien und war<br />

im Februar 2017 zum ersten Mal im deutschen<br />

Fernsehen zu sehen. Da legte er einen<br />

fulminanten Senkrechtstart als vielseitiger<br />

Schauspieler hin: In der ZDF-Serie<br />

SOKO Leipzig spielte er den israelischen Soldaten<br />

Avi Cohen, der nach Leipzig kommt,<br />

um den Tod seiner ermordeten Mutter zu<br />

rächen. Darauf folgten im gleichen Jahr<br />

Episodenrollen in diversen ZDF-Produktionen.<br />

Für die Hauptrolle des Kleinkriminellen<br />

und Priesters wider Willen <strong>Mai</strong>k<br />

Schäfer in der RTL-Serie Sankt <strong>Mai</strong>k von<br />

2018 bis 2020 wurde Donskoy als „Bester<br />

Schauspieler“ für den Bayerischen Fernsehpreis<br />

nominiert.<br />

© Christoph Hardt/Action Press/picturedesk.com<br />

36 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 36 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:09


Spannender Newcomer<br />

© Christoph Hardt/Action Press/picturedesk.com<br />

Den absoluten Ritterschlag, den das<br />

deutsche Fernsehen zu vergeben hat, eine<br />

Rolle in einer Tatort-Folge, erhielt der großgewachsene<br />

Rothaarige 2018 als attraktiver,<br />

selbstsicherer Jungunternehmer, der<br />

am Ende als Mörder entlarvt wird. Im<br />

Jahr darauf übernahm Donskoy den Part<br />

des neuen Rechtsmediziners bei Charlotte<br />

Lindholm alias Maria Furtwängler.<br />

Der Tagespiegel schrieb über ihn: „Eine Bildschirmpräsenz,<br />

die es hierzulande lang<br />

nicht mehr gab”, und titelte Donskoy 2018<br />

zu einem der spannendsten Newcomer des<br />

deutschen Films. Als übereifrigen Violinisten<br />

Ron, der sich einem israelisch-palästinensischen<br />

Jugendorchester anschließt,<br />

war Donskoy in dem Kinofilm Crescendo an<br />

der Seite des Österreichers Peter Simonischek<br />

zu sehen.<br />

In einer The Crown-Staffel spielt Daniel<br />

Donskoy den Liebhaber von Lady Diana:<br />

„Lady Di hätte ich schon sehr gerne kennengelernt,<br />

sie muss faszinierend gewesen<br />

sein.“ An seinem 30. Geburtstag hatte<br />

er intensive Drehtage, aber er arbeite sehr<br />

gerne an diesen Tagen. Diesmal wurde ihm<br />

eine großer Wunsch erfüllt: „Ich durfte<br />

beim Mittagessen zwischen Helena Bonham<br />

Carter und Olivia Colman sitzen und<br />

dachte mir: ‚Pretty cool. I’m happy!‘“<br />

Schabbat mit Daniel: Vom Digitalformat direkt<br />

ins WDR-Fernsehen. Der WDR hatte die<br />

Idee, das Projekt Freitagnacht Jews mit dem<br />

beliebten Schauspieler zu machen. Was<br />

hat Daniel Donskoy daran gereizt? „Natürlich<br />

die Thematik. Die jüdische Identitätsfrage,<br />

die ich selbst versuche, seit gut<br />

20 Jahren für mich zu beantworten. Es ist<br />

die erste jüdische Late Night Show Deutschlands.<br />

Eine geile Chance, mit dem Publikum<br />

und meinen Gästen gemeinsam auf<br />

eine Reise zu gehen.“ Er bemühe sich, mit<br />

einem ehrlichen journalistischen Ansatz<br />

zu verstehen, was die Menschen bewegt.<br />

„Es hat verdammt viel Spaß gemacht, vor<br />

allem, weil es so wichtig ist. Jude ist ein<br />

Wort, das Menschen hier immer noch nicht<br />

gerne in den Mund nehmen. Von Normalität<br />

sind wir weit entfernt. Es ist ein erster<br />

wagemutiger Schritt in eine hoffentlich<br />

bessere Richtung“, so der Host der 25-Minuten-Sendung.<br />

„Es wäre schön, wenn sich die Leute<br />

durch Empathie verstehen lernen“, so<br />

Donskoy, „denn die positive Streitkultur<br />

geht gerade verloren. Ich würde provokant<br />

behaupten, sie ist vom Aussterben<br />

bedroht. Nicht bei uns“, lacht er. Kurz bevor<br />

das Gespräch losgeht, kocht der Gastgeber<br />

ein kulinarisch passendes Gericht für<br />

seinen Gast: zum Beispiel für den muslimischen<br />

Psychologen Ahmad Mansour eine<br />

riesige Lammkeule. Oder er teilt mit Sascha<br />

Chaimowicz, dem Chefredakteur des ZEIT-<br />

Magazins, beim Fischeintopf seine Gedanken<br />

über Herkunft und Identität. Der angehenden<br />

Rabbinerin Helène Braun bestellt<br />

er speziell koscheres Essen, das er persönlich<br />

im Studio serviert. Das Essen ist eher<br />

Mittel zum Zweck, um einander näher zu<br />

kommen und eine ungezwungene Atmosphäre<br />

zu schaffen. „Das Essen spielt in<br />

der jüdischen Kultur eine wichtige Rolle.<br />

Die meisten Feiertage erklären sich so:<br />

Sie wollten uns umbringen, sie haben es<br />

nicht geschafft, lasst uns essen.“ Wonach<br />

wählt er seine Gäste aus? Donskoy betont,<br />

dass das Jüdischsein nur einen Aspekt einer<br />

vielfältigen Identität ausmacht. „Alle<br />

Gäste sind jüdisch, legen aber Wert darauf<br />

zu sagen, dass sie ‚nicht nur jüdisch‘<br />

sind, sondern eben auch Mutter oder Feministin,<br />

Musiker oder Journalist.“ Zum<br />

Dinner und Diskurs waren bis jetzt schon<br />

interessante Persönlichkeiten wie der Publizist<br />

Max Czollek, die Schauspielerin Susan<br />

Sideropoulos, die Autorin Mirna Funk<br />

oder auch der Rapper Ben Salomo geladen.<br />

Die Freitagnacht Jews-Show ist ein Hit geworden,<br />

und „weil es sich viele User*innen<br />

gewünscht haben“, schreibt der WDR,<br />

werde das neue digitale Format mit Daniel<br />

Donskoy zusätzlich zur Verbreitung im<br />

WDR-YouTube-Kanal und der ARD-Mediathek<br />

ab dem 18. Juni <strong>2021</strong> auch wöchentlich<br />

im WDR-Fernsehen ausgestrahlt: Immer<br />

freitags um 23.30 Uhr nach dem Kölner<br />

Treff. Aufgezeichnet wird die Sendung wegen<br />

Schabbat aber schon um 17 Uhr. Neben<br />

überwiegend positiven Reaktionen schlugen<br />

Daniel Donskoy in den sozialen Medien<br />

auch Hass-Kommentare entgegen.<br />

Donskoy reagierte darauf musikalisch:<br />

Er veröffentlichte<br />

seinen provokanten<br />

Song Jude, der in<br />

Daniel Donskoy:<br />

„Wie geht man in Kurzform auch der<br />

guter jüdischer Tradition<br />

an die heikelsten Opener von Freitagnacht<br />

Jews ist, auf den<br />

Sachen heran?“<br />

gängigen Streaming-<br />

Portalen. Die Erträge<br />

des Songs spendet er an hassmelden.de, eine<br />

gemeinnützige, ehrenamtliche Organisation,<br />

bei der Hate Speech im Internet anonym<br />

angezeigt werden kann.<br />

„Wichtig ist mir besonders, dass alle, die<br />

zuschauen, ihre Angst verlieren, jene Fragen<br />

zu stellen, die sie wirklich interessieren.“<br />

Daher fordert Donskoy dazu auf, sich<br />

ungeniert zu melden. Und ja, es gebe auch<br />

Denkanstöße, die mal wehtun. Die Sendung<br />

sei anders und werde sicher manche<br />

aufrütteln oder irritieren. „Trotzdem<br />

ist es für mich ein Geschenk, mit einem<br />

Team von Menschen, von denen ich viele<br />

meine Freunde nennen darf, unser Herzblut<br />

in ein gemeinsames Projekt stecken<br />

zu können, das die realistische Möglichkeit<br />

hat, etwas zu bewegen.“<br />

Donskoys Mutter wohnt in Israel, der<br />

Vater in der Schweiz, der Bruder in England,<br />

und die beiden Schwestern leben in<br />

Amerika. „Ich bin nirgendwo und überall<br />

zu Hause“, erklärt er. In der internationalen<br />

Film- und Fernsehwelt ist der selbstbewusste<br />

Jude Donskoy jedenfalls gut beheimatet.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

sommer_doppel1.indb 37 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:17


LEBENS ART<br />

Grandioses Gummi<br />

Ein Sackerl voller Liebe, magischer Einhörner und farbenfroher Regenbogen. Das ganz vegan,<br />

ohne Gluten oder Palmöl und auch noch klimaneutral produziert. Wüssten wir es nicht besser,<br />

würden wir die „Wunderland Rainbow-Edition“ von Katjes direkt auf die Ernährungspyramide<br />

der WHO setzen. katjes.de<br />

Hava nagila!<br />

Wenn es wieder einmal einer Extraportion<br />

guter Laune bedarf: Dinge, die den Dopamin-<br />

Spiegel steigen lassen ...<br />

Flotte Sohlen<br />

Handgemacht in Marrakesch, werden die<br />

Slippers des Wiener Labels Tassel Tales aus<br />

Vintage-Teppich-Stoffen nach dem Upcycling-Prinzip<br />

gefertigt. So ist jedes Paar ein fein<br />

verarbeitetes Unikat, das sowohl das örtliche<br />

Handwerk wie die fair entlohnte Arbeit<br />

von Frauen unterstützt. Wermutstropfen:<br />

Die tollen Mules gibt es in so<br />

vielen Mustern und Farben, dass man<br />

direkt in Entscheidungsnotstand kommt.<br />

tassel-tales.com<br />

Die Unzerbrechlichen<br />

Wenn eine Brille unkaputtbar ist, bedeutet das<br />

nicht nur, dass man sich ohne Konsequenzen<br />

auch einmal patschert auf sie draufsetzen<br />

kann. Es bedeutet ebenso, dass man die Bügel<br />

einfach selbst in die optimale Position biegen<br />

kann. Bei gloryfy ermöglicht der flexible Spezialkunststoff<br />

NBFX die perfekte Kaltanpassung<br />

der Brillenbügel an die anatomischen Bedürfnisse<br />

des Trägers. Passt!<br />

gloryfy.at<br />

Hauch von Hut<br />

Ob Picasso-Muse Dora Maar für diesen feinen<br />

Kopfputz Namenspatin war? So lässig und<br />

extravagant wie die Französin ist das sommerliche<br />

Haarband aus luftigem Tüll allemal.<br />

„Dora“ aus der Wiener Hutmanufaktur Mühlbauer<br />

kann dank der Einarbeitung eines biegsamen<br />

Drahtes nach Lust und Laune gebunden,<br />

geknotet und geformt werden. Achtung:<br />

Das Model mag – wie wir – nur sonniges, warmes<br />

Wetter und einen behutsamen Umgang.<br />

muehlbauer.at<br />

Kein Kater<br />

Was für eine Rezeptur: Für den bittersüßen<br />

Bio-Aperitif „Bitterschön“ werden Kräuter,<br />

Chinarindenbaumrinde, Holunder,<br />

Kurkuma und Zitronenverbene mit handgepflückten<br />

sizilianischen Zitrusfrüchten und<br />

österreichischem Gebirgsquellwasser zusammengebracht.<br />

Selbstverständlich alkoholfrei<br />

– so muss man sich beim Genuss<br />

auch keinen Kopf über den nächsten Tag<br />

machen.<br />

wonderfuldrinks.com<br />

Hand drauf!<br />

Fußball-Allstar Maradonna sprach von<br />

„la mano de Dios“ (der Hand Gottes), die Beatles<br />

sangen „I want to hold your hand“, und die<br />

Design-Manufaktur Wiener Times macht aus<br />

bunten Stoffen ein kultiges Greiforgan, das<br />

über zwei Meter lang lässig auf der Couch liegt.<br />

Wer sich in guten Händen wähnen will,<br />

braucht diese extrem(itäten) tollen<br />

Sofakissengiganten!<br />

wienertimes.com<br />

Glücklich satt<br />

Man kann sich vorstellen, warum Elior<br />

Molcho sein neues Gastro-Brand KVETCH<br />

genannt hat ( = eine Person, die sich<br />

dauernd beschwert). Schließlich liefert er notorischen<br />

Nörglern ein perfektes Gegengift:<br />

saftige Gute-Laune-Burgers! Geplant ist ein eigenes<br />

Lokal, bis das steht, werden Kvetch<br />

Smashed Burgers im Food-Truck vor dem NENI<br />

Tel Aviv Beach am Donaukanal gebraten.<br />

Visuelle Appetithappen liefert der Insta-Account:<br />

@kvetch.smashedburgers.<br />

Fotos: © Nuriel Molcho/NENI, Hersteller<br />

38 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 38 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:22


WINAKOCHT<br />

Alles in Butter mit der Butter?<br />

Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso.<br />

Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte:<br />

Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Servus <strong>Wina</strong>-ExpertInnen,<br />

ich bin ein wenig verwirrt. Einige meiner Bekannten<br />

kaufen nur Milch, die als „Chalaw Israel“ produziert<br />

wurde. Ihre Butter hingegen besorgen sie<br />

sich in jedem herkömmlichen Supermarkt. Sie<br />

scheint also auch für „Chalaw Israel“-Essende koscher<br />

zu sein, obwohl die Milch, aus der sie hergestellt<br />

wurde, nur „Chalav Stam“ ist. Wie kann<br />

das sein?<br />

<strong>Mai</strong>k M., Wien<br />

HONIG-ZIMT-<br />

BUTTER<br />

ZUTATEN<br />

(für 1 Einmachglas):<br />

200 g weiche Teebutter<br />

250 g Honig<br />

1 EL gemahlener Zimt<br />

1 Prise Salz<br />

Koscher ist nicht gleich koscher. Die Regeln,<br />

die beim Kauf von Lebensmitteln<br />

zur Anwendung kommen, sind nicht<br />

nur vielfältig, sondern auch durchaus unterschiedlich<br />

– je nachdem, welcher rabbinischen<br />

Autorität man folgt. Wie das allerdings<br />

Ihre Bekannten im Speziellen<br />

handhaben, darüber können auch wir nur<br />

spekulieren. Befragen wir zum allgemein<br />

besseren Verständnis stattdessen unsere jüdischen<br />

Quellen.<br />

Grundsätzlich stellt der Talmud fest, dass<br />

es unmöglich ist, aus der Milch unkoscherer<br />

Tiere Butter herzustellen. Sie koaguliert<br />

oder gerinnt nämlich nicht. Dieser Logik<br />

nach wäre es also kein Problem, Butter<br />

– oder auch andere fertige feste Milchprodukte<br />

wie etwa Crème fraîche oder Sauerrahm<br />

– zu kaufen, die nicht unter spezieller<br />

Koscher-Aufsicht hergestellt werden.<br />

Kann man Butter also bedenkenlos kaufen?<br />

Jein. In manchen Ländern wird Butter<br />

aus Molke produziert, die nach der Produktion<br />

von Hartkäse mit tierischem Lab<br />

übrigbleibt. Das Österreichische Lebensmittelbuch,<br />

Codexkapitel B32, definiert Butter als ein ausschließlich<br />

aus Milch stammendes und durch das Verfahren<br />

der kontinuierlichen Verbutterung von Rahm hergestelltes<br />

Streichfett vom Typ einer homogenen Wasser-in-Fett-Emulsion.<br />

Zudem garantieren die Verordnungen, dass Milch von<br />

koscheren Tieren nicht mit der Milch von nichtkoscheren<br />

Tieren vermischt wird.<br />

Man sollte auch nicht vergessen, dass die gesamten Vorschriften<br />

über „Chalaw Israel“ den meisten Juden nicht als<br />

rabbinisches Verbot gelten, sondern als Minhag. „Chalaw Israel“<br />

zu kaufen, ist mehr ein guter Brauch.<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Butter in eine Schüssel geben<br />

und mit dem Handrührgerät<br />

für zirka zwei Minuten schlagen,<br />

bis sie cremig ist. Honig,<br />

Zimt und Salz zufügen und<br />

weiterrühren, bis eine gleichmäßige<br />

Masse entstanden<br />

ist. In ein steriles Einmachglas<br />

abfüllen, mit dem Ablaufdatum<br />

der Ursprungsbutter beschriften<br />

und im Kühlschrank<br />

aufbewahren. Die Honig-<br />

Zimt-Butter schmeckt köstlich<br />

auf Brioche, Toast oder<br />

Palatschinken.<br />

Liebe Kulinarik-Redaktion,<br />

beim Einkauf wundere ich mich regelmäßig über<br />

den Begriff „Teebutter“. Wären wir in England,<br />

könnte ich das ja noch verstehen. Dort hat das<br />

Stückchen Butter auf dem Gebäck zum Fünf-Uhr-<br />

Tee Tradition. Aber bei uns trinkt man ja eher Kaffee<br />

– ob zur süßen Nachmittagsjause oder zum Frühstück.<br />

Woher kommt denn die Bezeichnung „Teebutter“?<br />

<br />

Nina B., Wien<br />

Die Bezeichnung „Teebutter“ hat nichts<br />

mit dem Verzehrzeitpunkt zu tun, und<br />

auch die Getränkebegleitung spielt keine<br />

namensgebende Rolle. Vielmehr handelt es<br />

sich um einen Austriazismus aus dem Lebensmittelkodex.<br />

In ihm wird Butter der<br />

höchsten Güteklasse als „Teebutter“ bezeichnet<br />

– gefolgt von der weniger qualitätsvollen<br />

Tafel- und der Kochbutter. Was sich Marketingstrategen<br />

sonst noch ausgedacht haben<br />

– von der Alm- über die Land- bis zur Sommerbutter<br />

– hat keinerlei Aussagekraft über<br />

die Qualitätsstufe.<br />

Woher der Ausdruck „Teebutter“ allerdings<br />

etymologisch rührt, darüber streiten<br />

die Experten noch. Fakt ist: 1901 wurde die<br />

Teebutter auf Kochkunst- und Nahrungsmittelausstellungen<br />

in London und Paris mit<br />

dem „Großen Preis" und einer Goldmedaille<br />

ausgezeichnet und begründete damit den<br />

Ruf der österreichischen Teebutter international.<br />

Sogar bis an den Englischen Königshof<br />

schaffte es die Butter. Kaum Wahrheitsgehalt<br />

hat hingegen die schmalzige Legende, nach<br />

der die Royals sie als Zutat für ihr Teegebäck<br />

entdeckten und die Butter folglich „Teebutter“ nannten. Auch<br />

die Erklärung, wonach TEE eine Abkürzung sei, die für Teschener<br />

Erzherzögliche Butter stehe und also ein Markenname aus<br />

dem Kaiserreich wäre, der sich bis heute gehalten habe, darf<br />

bezweifelt werden. Weit wahrscheinlicher ist dagegen folgende<br />

butterweiche Ableitung aus der Zeit der Donaumonarchie: „Tee“<br />

kommt von „Tej“, was auf Ungarisch so viel wie Milch bedeutet.<br />

Welcher Erklärung Sie auch immer folgen möchten: Lassen<br />

Sie sich nicht die Teebutter vom Brot nehmen. Erst recht<br />

nicht in der köstlichen Variante, die wir Ihnen in unserem Rezept<br />

vorstellen.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />

office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

sommer_doppel1.indb 39 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:22


WINA YOGA<br />

Über die Liebe<br />

Um zu lieben, benötigt es Präszenz. Und vor allem benötigen wir<br />

Selbstliebe. Bedingungslose Selbstliebe.<br />

ie gut ist es, wenn wir<br />

zu nahe beieinander<br />

stehen? Wie viel Platz<br />

und Raum braucht ein<br />

Mensch? Und ist das ein individuelles<br />

oder allgemeines ungeschriebenes<br />

(Liebes-)Gesetz?<br />

Nähe und Distanz sind allgemein<br />

wichtige Themen. Gerade in<br />

der letzten Zeit, in der wir viel soziale<br />

Distanz erlebt haben, ist es sinnvoll,<br />

sich mit Fragen wie den folgenden<br />

zu beschäftigen: Wie drücken<br />

wir aus, wenn wir Raum brauchen,<br />

und wie, wenn wir Nähe suchen?<br />

Wie, wenn wir Zurückweisung erleben?<br />

Und wann bemerken wir, wenn wir jemanden<br />

dazu bringen, uns zurückzuweisen, zum Beispiel, indem<br />

wir selbst eine bestimmte Stimmung mitbringen<br />

und dann aufgrund unserer Erwartungshaltung an unser<br />

Gegenüber enttäuscht sind, wenn darauf nicht die erwartete<br />

Resonanz folgt?<br />

Was dadurch entsteht, ist ein Ungleichgewicht zwischen<br />

zwei Menschen. Etwa, wenn ein Mensch viel Energie<br />

mitbringt und der andere gerade weniger davon hat.<br />

Dann folgen gerne Worte wie: Immer ist das so. Er/ Sie<br />

wird sich nie ändern. Das hat einen immer schon gestört<br />

...<br />

Wenige nehmen sich den Moment, um zu realisieren,<br />

was man selbst gerade braucht, damit wir uns<br />

selbst verstehen können und es so auch unserem Gegenüber<br />

ausdrücken können, statt es zu kritisieren.<br />

Und wenn das mit dem Partner, der Partnerin gerade<br />

nicht möglich ist, ist es das dann vielleicht allein?<br />

Wir bleiben meist nicht im Moment, obwohl das doch<br />

so hilfreich wäre, um zu erkennen, dass der/die andere<br />

gerade etwas anderes braucht als wir selbst.<br />

In diesen Momenten weiß ich, dass ich Rückzug auf<br />

meiner Matte finde. Ich setze mich auf die Weise, wie<br />

ich sie in meinem letzten Beitrag beschrieben habe,<br />

und schließe entweder die Augen oder fokussiere einen<br />

Punkt. Dann beobachte ich die Gefühle, die gerade<br />

wahrnehmbar sind, bevor ich auf mein Gegenüber gedankenlos<br />

in der Emotion reagiere. Und dabei handelt<br />

es sich um ein Reflektieren und nicht um ein Reagieren!<br />

Um zu lieben, braucht es Präsenz. Was bedeutet Präsenz?<br />

Das Da-Sein für uns selbst und andere. Einfach<br />

da sein. Dazu benötigt jedes Individuum etwas anderes,<br />

Die Liebe wird mit sich selbst und mit dem<br />

Auserwählten Umfeld geteilt<br />

aber vor allem benötigen wir bedingungslose<br />

Selbstliebe.<br />

Aus einem Seminar habe ich mitgenommen,<br />

dass wir jeden Tag neu<br />

beginnen, jeden Tag mit unseren<br />

Gedanken, unseren Worten und unseren<br />

Taten selbst beeinflussen können.<br />

Alles weitere ist Übung. Dann<br />

kommt alles zu dir, und zwar zum<br />

richtigen Zeitpunkt.<br />

Bald ist Tu B’Av, das Fest der<br />

Liebe, und dieser kleine, feine Feiertag<br />

beinhaltet das Erinnern an<br />

die Liebe, an das große Ganze.<br />

Wie wäre es, dieses Jahr das Fest<br />

der Liebe so zu gestalten, dass die Präsenz im Vordergrund<br />

steht? Dabei geht es weniger um Materialismus<br />

und Konsum und mehr um das Miteinander der<br />

Liebenden. Wer es gerne mit anderen feiern möchte,<br />

kann planen, etwas Gemeinnütziges zu tun oder jemand<br />

anderen mit Präsenz zu beschenken. Und wer<br />

es allein feiert, beschenkt sich eben selbst mit Liebe.<br />

Wie drücken wir aus, wenn wir<br />

Raum brauchen? Und wie, wenn<br />

wir Nähe suchen?<br />

Es kann auch eine Meditation, eine Yoga-Einheit, etwas<br />

mit Liebe Zubereitetes, Selbstgekochtes, eine Wanderung<br />

und so vieles mehr sein.<br />

Wichtig dabei ist, alles andere – die 19 Hochzeiten, auf<br />

denen wir alle immer gleichzeitig tanzen wollen – an diesem<br />

Tag auf später zu vertrösten. Es geht darum, die Präsenz<br />

und Liebe mit uns selbst und unserem Umfeld für<br />

einen bestimmten Zeitraum zu teilen. Selbstverständlich<br />

zählen dazu keine Notfälle, den gesunden Menschenverstand<br />

behalten wir uns tagtäglich.<br />

Zum Abschluss ein Aufruf des Malers und Dichters<br />

Khalil Gibran: Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur<br />

Fessel: Lasst sie eher ein wogendes Meer zwischen den Ufern<br />

eurer Seelen sein. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich,<br />

aber lasst jeden von euch allein sein. So wie die Alten einer<br />

Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern.<br />

Und steht zusammen, doch nicht zu nah. Denn die Säulen des<br />

Tempels stehen für sich. Und die Eiche und die Zypresse wachsen<br />

nicht im Schatten der anderen.<br />

wına-magazin.at<br />

40<br />

sommer_doppel1.indb 40 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:23


HIGHLIGHTS | 03<br />

Keine Tatsachenberichte<br />

Eine Ausstellung in Stuttgart zeigt einen<br />

düsteren Grafikzyklus Fred Uhlmans<br />

Ist das nun – ja was? Pikant? Täppisch? Verunglückt?<br />

Da nennt die Staatsgalerie Stuttgart ihre<br />

Ausstellung des Künstlers Fred Uhlman (1901–<br />

1985) Trotz allem, weil er, der gebürtige Stuttgarter,<br />

einstmals genau diese Worte nach einer Lesung<br />

in seiner Geburtsstadt als Widmung in ein<br />

Buch schrieb.<br />

Eine Fred-Uhlman-Straße in Stuttgart gibt<br />

es, im südlichen Bezirk Sillenbuch. Schwäbisch<br />

nüchtern, schwäbisch sauber ist das unauffällige<br />

Sträßchen. Dabei wäre es wohl naheliegender<br />

gewesen, die Hölderlinstraße nach ihm umzubenennen.<br />

Dort wuchs er auf. Dort (Nr. 57) sind<br />

heute Stolpersteine zu finden, die an seine fast<br />

vollständig ermordete Familie erinnern. Er, der<br />

Jude, Jurist und Sozialdemokrat, konnte 1933 gerade<br />

noch nach Paris fliehen, 1936 dann weiter<br />

nach England. 1940 wurde er wie viele andere<br />

„enemy aliens“ auch, etwa der Exilant und Avantgardist<br />

Kurt Schwitters, auf der Isle of Man harsch<br />

kaserniert. Dort fing er zu zeichnen<br />

an. Und zu schreiben.<br />

Eine Fred-Uhlman-Ausstellung<br />

gab es bisher nicht in Stuttgart.<br />

Vor seinem Tod schenkte er der<br />

Staatsgalerie einen Grafikzyklus.<br />

Düster ist er, auch beißend, auch<br />

bitter. Ein Totentanz auf Ruinen<br />

und hinter Stacheldraht. Ein Blatt<br />

aus der Serie Captivity (Gefangenschaft)<br />

heißt etwa Landschaft mit<br />

Erhängtem. Starke Werke eben des<br />

20. Jahrhunderts. A.K.<br />

FRED UHLMAN<br />

Staatsgalerie Stuttgart<br />

bis 12. September <strong>2021</strong><br />

staatsgalerie.de<br />

FAHIMA #1<br />

Wer die israelische Koloratursopranistin<br />

Hila Fahima an der Wiener Staatsoper<br />

in der Titelpartie von Verdis Rigoletto<br />

als Gilda gehört hat, kann sich<br />

jetzt erneut auf die Künstlerin freuen:<br />

Bei den Bregenzer Festspielen singt<br />

sie wieder die Gilda. Über ihre immer<br />

wieder neuen Aufgaben verrät<br />

sie: „Ich setze mich sehr gerne mit<br />

Neuem, Unbekanntem auseinander<br />

– es ist, als würde man ein neues Kleid<br />

tragen, dessen Schnitt und Farbe man<br />

selbst entworfen hat.“ (MH)<br />

Die toten Feldherrn<br />

(1940) aus Fred Uhlmans<br />

(19011985) Serie<br />

Captivity.<br />

Aliza Nisenbaums farbenprächtige<br />

Hommagen an<br />

die Heldinnen und Helden<br />

der Corona-Krise.<br />

ALIZA NISENBAUM<br />

Tate Gallery Liverpool<br />

bis 5. September <strong>2021</strong><br />

tate.org.uk<br />

Alle Augenfutter<br />

Die Tate Gallery Liverpool zeigt Aliza<br />

Nisenbaums bunte Pflegemenschen-<br />

Hommagen<br />

Momenterl mal. Halt. Ist das nicht – das<br />

ist doch?!? Aber nein. Das ist nicht Xenia<br />

Hausner in Liverpool (deren Gemälde sind<br />

derzeit in der Wiener Albertina zu sehen). Diese<br />

strahlend bunten, intensiv leuchtenden, hellen<br />

wie optimistischen Arbeiten stammen von<br />

Aliza Nisenbaum, in Mexiko geboren, seit Längerem<br />

in New York City ansässig und dort auch<br />

Malerei an der Columbia University lehrend.<br />

Die Tate Gallery Liverpool zeigt nun Nisenbaums<br />

jüngste, in den vergangenen Monaten<br />

entstandene großformatige neue Ölgemälde.<br />

Und zwar: Porträts. Genauer: Gemeinschaftsund<br />

Gruppenporträts von Mitarbeitern, hauptberuflichen<br />

wie ehrenamtlichen, des National<br />

Health Service, des staatlichen englischen Gesundheitsdienstes<br />

in Groß-Liverpool. Eine feine<br />

Hommage an all jene, die zur Hoch-Zeit der Pandemie<br />

besonders exponiert waren, besonders<br />

Ergreifendes direkt vor Augen hatten. Natürlich<br />

hielt die sympathische wie offene Nisenbaum<br />

die geforderte Distanz ein,<br />

kommunizierte mit den zu Porträtierenden<br />

digital und ließ auch, was so<br />

mancher, von der Krankenschwester<br />

bis zum Ordinarius, ihr erzählte<br />

oder zeigte, vom Musikinstrument<br />

bis zum Trost spendenden Haustier,<br />

in ihre von David Hockneys Stil<br />

wie vom barock überschwänglich<br />

erzählerischen mexikanischen muralismo<br />

eines Diego Rivera inspirierten<br />

Werke einfließen. A.K.<br />

MUSIKTIPPS<br />

ARGERICH<br />

Über die Pianistin Martha Argerich<br />

zu schwärmen, ist so einfach wie auf<br />

der Hand liegend. Auf den 20 CDs<br />

der Warner Classics Recordings, die es nun<br />

zum Sonderpreis gibt, sind Einspielungen aus<br />

unglaublichen 41 Jahren zusammengefasst.<br />

Unter ihren musikalischen Partnern bei Mozart,<br />

Schumann, Chopin, Debussy, Kodály oder<br />

Bartók sind neben anderen Mischa <strong>Mai</strong>sky und<br />

Gidon Kremer, Itzhak Perlman, Nelson Freire,<br />

Nikolaus Harnoncourt und Charles Dutoit.<br />

FAHIMA #2<br />

Ab 2013 gehörte Hila Fahima mit<br />

ihrem mehrfach preisgekrönten<br />

hellen Koloratursopran sieben Jahre lang dem<br />

Ensemble der Wiener Staatsoper an. Auf Doni-<br />

zetti/Verdi (Orfeo) interpretiert sie nun mit Michele<br />

Gamba und dem ORF Radio-Sympho-<br />

nieorchester Wien Bekannteres (Lucia und<br />

Gilda), aber auch weniger bekannte Arien aus<br />

selten auf die Bühne gehobenen Opern Doni-<br />

zettis wie Rosmonda d’Inghilterra oder Emilia<br />

di Liverpool. . Und das zum Dahinschmelzen.<br />

WEINBERGER<br />

Wenn Musikdramaturgen Unterhaltsames<br />

suchen, dann graben<br />

sie die leichte Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer<br />

von Jaromir Weinberger aus. Aber seine<br />

Orchesterwerke? Diese legt nun das Label cpo<br />

neu vor, eingespielt mit raffiniertem Elan von<br />

der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-<br />

Pfalz unter Karl-Heinz Steffens und fast noch<br />

unterhaltsamer und amüsanter. Schwungvoll,<br />

dabei kunstvoll lyrisch sind etwa die sieben Böhmischen<br />

Lieder und Tänze. A.K.<br />

© Marco Borggreve; Aliza Nisenbaum. Photography by Jeff McLane, courtesy the artist and Anton Kern Gallery, New York; The Estate of Fred Uhlman<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

sommer_doppel1.indb 41 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25


Belastete Ehe<br />

„Menschliche<br />

Größe hat Grenzen,<br />

Kleinheit nicht“<br />

Zwei Künstlerleben:<br />

die wiederentdeckte Marta Karlweis<br />

und der fast vergessene Jakob<br />

Wassermann.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Jakob Wassermann<br />

zählte neben Hermann<br />

Hesse und Thomas Mann,<br />

der ihn als „Weltstar des<br />

Romans“ bezeichnete, zu<br />

den meistgelesenen deutschen<br />

Autoren seiner Zeit.<br />

Arthur Schnitzler mochte<br />

sie anfangs gar nicht: Er<br />

beschrieb Marta Karlweis<br />

in seinen Tagebüchern als<br />

„begabtes, künstliches, unwahres<br />

hartes Geschöpf“, denn ihn irritiere<br />

„ihr socialer Ehrgeiz“. Trotzdem,<br />

vielleicht von typisch weiblichen Selbstzweifel<br />

geplagt, legte ihm die bereits erfolgreiche<br />

Schriftstellerin immer wieder<br />

eigene Texte vor, die er vorerst abschätzig<br />

als „ein Simili Wassermann stellenweise<br />

von täuschendem Glanz“ nannte,<br />

und noch mit dem Zusatz, „ihre Äfferei<br />

geht ins Geniale“, versah. Wenn man<br />

dieses harsche menschliche und literarische<br />

Urteil liest, sollte man wissen, dass<br />

Schnitzler in das Privatleben des Schriftsteller-Ehepaares<br />

Marta Karlweis-Jakob<br />

Wassermann verstrickt war und daher<br />

nicht als unparteiisch gelten darf.<br />

Die für Marta Karlweis und Jakob Wassermann<br />

beglückende Liebesgeschichte,<br />

die für beide in der jeweils zweiten Ehe<br />

kulminierte, war dennoch nicht unbeschwert:<br />

Ein bitter geführter siebenjähriger<br />

Scheidungskrieg mit Julie Speyer,<br />

der ersten Frau Wassermanns, wurde<br />

zur schweren Belastung, psychisch und<br />

finanziell. Zuerst ergriff Arthur Schnitzler<br />

Partei für Julie und mahnte zur Rücksichtnahme<br />

auf die Verlassene. Erst im Laufe<br />

© S.M./SZ-Photo/picturedesk.com<br />

42 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 42 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25


Wiederzuentdeckendes Literaturpaar<br />

© S.M./SZ-Photo/picturedesk.com<br />

„Vom gesellschaftlichen<br />

Standpunkt<br />

aus sind wir<br />

bereits heute<br />

vogelfrei.“<br />

Jakob Wassermann<br />

1921 in Mein Weg<br />

als Deutscher<br />

und Jude.<br />

bende Kollegin Maria Lazar die Schule der<br />

berühmten Pädagogin Eugenie Schwarzwald<br />

am Wiener Franziskanerplatz. Dort<br />

unterrichten einige prominente Vertreter<br />

des Wiener kulturellen Lebens,<br />

darunter Adolf Loos<br />

und Oskar Kokoschka. Aus<br />

ihren frühen literarischen<br />

Texten liest Karlweis auch<br />

im stadtbekannten Salon<br />

der Berta Zuckerkandl den<br />

illustren Gästen vor.<br />

Als Marta 12 Jahre alt ist,<br />

stirbt ihr Vater, und obwohl<br />

der Vormund ihr das Studium<br />

nach der Matura verbietet,<br />

beginnt sie, an der<br />

Universität Wien Psychologie<br />

zu studieren. 1907 heiratet<br />

sie den westböhmischen<br />

Industriellen Walter<br />

Stross und bricht das Studium<br />

ab. Nach der Geburt<br />

der zwei Töchter, Bianca (1908) und<br />

Emmy (1910) widmet sich Karlweis-Stross<br />

wieder verstärkt dem Schreiben: 1912 erscheint<br />

die Erzählung Der Zauberlehrling,<br />

1913 wird am Münchner Residenztheater<br />

ihre Komödie Der Herrenmensch aufgeführt<br />

und erntet positiven Widerhall.<br />

Es folgt Ein österreichischer Don Juan im<br />

Jahr 1929, den die Germanisten Albert C.<br />

Eibl und Johann Sonnleitner vor Kurzem<br />

sachkundig neu herausgegeben haben.<br />

Erzählt wird darin scharfsinnig und spitzzüngig<br />

ein Reigen der Lieblosigkeiten vor<br />

dem Hintergrund der letzten Jahrzehnte<br />

der Habsburgermonarchie. „Dieser Abgesang<br />

auf die gar nicht so gute alte Zeit<br />

erinnert ein wenig an Joseph Roth, mehr<br />

aber noch an den gegen Nostalgie resistenteren<br />

Ödön von Horváth. Kunstvoll<br />

der Zeit beschlichen ihn<br />

Zweifel an seiner charakterlichen<br />

Einschätzung:<br />

Durch einen infamen<br />

Schlüsselroman Speyers<br />

fühlte sich Schnitzler hintergangen<br />

und rächte sich<br />

in dem Roman Therese, in<br />

dem er sie in der Figur der<br />

Julie Fabiani als eine „pathologische<br />

Person“ porträtierte.<br />

Doch wer ist diese Marta<br />

Karlweis, die bereits 1912 mit der viel beachteten<br />

Erzählung Der Zauberlehrling in<br />

den Süddeutschen Monatsheften hervortritt,<br />

in der sie das wienerische künstlerische<br />

Milieu zwischen Bohème und Großbürgertum<br />

klarsichtig und expressionistisch<br />

schildert?<br />

Marta Karlweis wird 1889 als Tochter<br />

des Direktors der Südbahn-Gesellschaft<br />

Carl Karlweis in Wien geboren. Der Vater<br />

schreibt nebenbei überaus erfolgreich<br />

Theaterstücke, u. a. im Wiener Dialekt.<br />

Wenige Tage vor der Geburt seiner Tochter<br />

konvertiert er gemeinsam mit seiner<br />

jüdischen Frau Emilie zum Protestantismus.<br />

Martas jüngerer Bruder Oskar<br />

beginnt eine erfolgreiche Karriere als<br />

Schauspieler, 1938 emigriert er in die<br />

USA. Marta besucht wie auch ihre schreiverwoben<br />

hat die Autorin in diesem Sittenbild<br />

jede Menge bitterböse Geschichten<br />

aus der Wienerstadt“, urteilt Literaturwissenschaftler<br />

Franz Haas.<br />

Doch der private Wendepunkt in Marta<br />

Karlweis’ Leben ereignet sich im Sommer<br />

1915 in Altaussee, als sie im Haus ihrer<br />

Schwägerin Emmy, Frau des angesehenen<br />

Musikwissenschafters Egon Wellesz, den<br />

16 Jahre älteren, bereits sehr erfolgreichen<br />

jüdischen Schriftsteller Jakob Wassermann<br />

kennenlernt. Dieser ist seit 1901<br />

mit der wohlhabenden, exzentrischen Julie<br />

Speyer, Tochter eines Textilfabrikanten<br />

und Kaiserlichen Rates, verheiratet,<br />

doch die Ehe läuft schlecht. Marta und Jakob<br />

gehen nach ihrem Treffen eine Liebesaffäre<br />

ein und verlegen 1919 ihren<br />

Wohnsitz ganz nach Altaussee.<br />

Zu diesem Zeitpunkt zählt Wassermann<br />

neben Hermann Hesse und Thomas<br />

Mann, der ihn als „Weltstar des<br />

Romans“ bezeichnet, bereits zu den<br />

meistgelesenen deutschsprachigen Autoren.<br />

Zu seinen engen Freunden gehörten<br />

Hugo von Hofmannsthal, Arthur<br />

Schnitzler sowie Alfred Döblin Nach Wassermanns<br />

Erstling Melusine eine Liebesgeschichte<br />

(1896) folgt der Roman Die Juden<br />

von Zirndorf (1897), eine Chronik aus dem<br />

17. Jahrhundert über das Leben des Shabtai<br />

Zvi mit einer anschließenden Beschreibung<br />

der jüdischen Gemeinde in<br />

der fränkischen Kleinstadt im 19. Jahrhundert.<br />

Mit dem Fortsetzungsroman<br />

Die Geschichte der jungen Renate Fuchs sowie<br />

Caspar Hauser (1907), Das Gänsemännchen<br />

(1915) und Christian Wahnschaffe (1919)<br />

schafft er große Publikumserfolge. „Hätte<br />

es vor Wassermann den Roman nicht gegeben,<br />

er wäre bestimmt gewesen, ihn<br />

zu erfinden“, schwärmte auch Heinrich<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

sommer_doppel1.indb 43 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25


Beschämendes Desinteresse<br />

„Kunstvoll verwoben hat<br />

die Autorin in diesem<br />

Sittenbild jede Menge<br />

bitterböse Geschichten<br />

aus der Wienerstadt.“<br />

Franz Haas<br />

Marta Karlweis: Die österreichische Schriftstellerin, die<br />

beeindruckende expressionistische Arbeiten schuf, war<br />

ab 1926 Wassermanns zweite Frau.<br />

ren Not, Asyllosigkeit und auch die innere<br />

Unrast der Antrieb dazu“, schrieb<br />

Jakob Wassermann. In München, wo er<br />

fast drei Jahre wohnte, gewann Wassermann<br />

die Freundschaft Thomas Manns<br />

und Rainer Maria Rilkes. Ende 1897 begann<br />

er, Feuilletons und Theaterberichte<br />

für die Frankfurter Zeitung zu schreiben, in<br />

deren Auftrag er später nach Wien übersiedelte,<br />

wo er sich den Dichtern der<br />

Gruppe Jung-Wien anschloss, besonders<br />

Arthur Schnitzler.<br />

Bereits 1921 beurteilt er in seinem autobiografischen<br />

Rückblick Mein Weg als<br />

Deutscher und Jude die gesellschaftliche<br />

Perspektive für die Juden vernichtend.<br />

„Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus<br />

Mann. Einen Romancier von Geblüt“<br />

nennt er Wassermann, den 1873 im deutschen<br />

Fürth geborenen Sohn des jüdischen<br />

Spielwarenfabrikanten Adolf Wassermann.<br />

Die Familie verarmt nach dem<br />

Brand der Fabrik; Jakob ist neun Jahre alt,<br />

als seine Mutter stirbt. In dem frühen Text<br />

Schläfst du Mutter? verarbeitete er dieses<br />

Trauma. Das Verhältnis zur Stiefmutter ist<br />

so schlecht, dass ihn sein Vater nach Wien<br />

schickt, wo er eine kaufmännische Lehre<br />

absolvieren soll. Diese bricht er bald ab,<br />

versucht sich in München als Student, arbeitet<br />

u. a. als Lektor in der Redaktion des<br />

Simplicissimus. „Von meinem zwanzigsten<br />

Jahr an war das Wandern ein Teil meiner<br />

Existenz und bis ins dreißigste wasind<br />

wir bereits heute vogelfrei“, ist sein<br />

Fazit. In seiner Essayistik setzt er sich immer<br />

wieder auch mit der Existenzform<br />

des Juden in nichtjüdischer Umgebung<br />

auseinander, zuletzt noch in den Selbstbetrachtungen<br />

im Jahr 1933, nach dem Ausschluss<br />

aus der Preußischen Akademie<br />

der Künste. Gleichzeitig mit der Bücherverbrennung<br />

1933 in Deutschland werden<br />

seine Bücher verboten.<br />

Wassermann, der sich durch seine psychologische<br />

Prosa und die realistische Erzählweise<br />

von Dostojewski inspirieren<br />

ließ, war ein Idealist, der absolute moralische<br />

Werte suchte und unablässig Kritik<br />

an der „moralischen Trägheit des Herzens“<br />

der bürgerlichen Gesellschaft übte. Sein<br />

ständiges Streben nach Gerechtigkeit bewies<br />

er hervorragend in seinem berühmtesten<br />

Prosawerk Der Fall Maurizius (1928), in<br />

dem er den sechzehnjährigen Etzel Andergast<br />

in jugendlicher Überschwänglichkeit<br />

einen alten Justizirrtum aufdecken lässt.<br />

Autorin im Schatten der männlichen Konkurrenten.<br />

Zurück zur Liebesgeschichte, die<br />

in Altaussee begann, dem Ort, der von Jakob<br />

Wassermann so beschrieben wurde:<br />

„Altaussee ist kein Dorf, sondern eine<br />

Krankheit, die man nie mehr los wird!“<br />

Während Marta Karlweis mit Stross<br />

zu einer einvernehmlichen Scheidung<br />

kommt, erreicht Wassermann erst nach<br />

langen Streitereien und vielen Prozessen<br />

die Trennung: Mithilfe zahlloser Anwälte<br />

versucht Julie Wassermann-Speyer, ihren<br />

Mann finanziell zu ruinieren. Ein Echo<br />

dieser unglücklichen Erfahrungen klingt<br />

in Wassermanns Roman Laudin und die Seinen<br />

(1925) nach. Erst 1926 können Marta<br />

und Jakob ihre Ehe legalisieren, der gemeinsame<br />

Sohn Carl Ulrich kommt bereits<br />

1924 zur Welt.<br />

„Am gründlichsten vergessen werden<br />

in der Literaturgeschichte jene Frauen,<br />

© DVB Verlag<br />

44 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 44 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26


Männerdominierte (Literatur)Welt<br />

© DVB Verlag<br />

deren Werke der Nationalsozialismus<br />

zunichtemachte. So ein eklatanter Fall<br />

ist auch Marta Karlweis, deren teils böse<br />

funkelnden Romane nach 1945 in Vergessenheit<br />

gerieten“, konstatiert der Literaturwissenschaftler<br />

Franz Haas.<br />

Die Buchfassung ihrer Erzählung Der<br />

Zauberlehrling erscheint 1913 in München.<br />

1919 erscheint bei S. Fischer der 440 Seiten<br />

starke Roman Die Insel der Diana, der<br />

ebenso wie der historische Roman Das<br />

Gastmahl auf Dubrowitza 1921 von der Kritik<br />

überaus positiv aufgenommen wird.<br />

Albert C. Eibl, dem Gründer des Verlages<br />

Das vergessene Buch (DVB) und dem<br />

Germanisten Johannes Sonnleitner als<br />

Herausgeber ist es zu danken, dass dieses<br />

Buch 2017 wieder aufgelegt wurde.<br />

Bereits 2015 wagte sich das Duo Eibl-<br />

Sonnleiter an eines der Spitzenwerke<br />

der Autorin: Ein österreichischer Don Juan.<br />

Florian Welle meint dazu in der Süddeutschen<br />

Zeitung: „Der bitterböse Roman handelt<br />

davon, wie ‚das Judenmädl‘ Cecile ins<br />

Verderben gestürzt wird. Karlweis’ Interesse<br />

liegt am Untergang der Monarchie.<br />

Doch liegt ihr jede Nostalgie fern. Großartig<br />

entlarvt wird eine bigotte, misogyne<br />

Operettengesellschaft.“<br />

Dass Marta Karlweis nach 1945 dennoch<br />

nicht mehr literarisch rehabilitiert<br />

wurde, sei hingegen vor allem der<br />

Nachkriegsgermanistik anzulasten, die<br />

„dezidiertes und aus heutiger Sicht beschämendes<br />

Desinteresse an der Literatur<br />

der Vertriebenen manifestierte“, stellt<br />

der Herausgeber fest. Auch der amüsante<br />

Roman Schwindel (1931) wurde 2017 im<br />

DVB Verlag wiederaufgelegt und mit einem<br />

kundigen Nachwort von Sonnleitner<br />

bereichert. Darin zeichnet die Autorin<br />

exemplarisch und parallel zum Zerfall<br />

der Donaumonarchie den Niedergang einer<br />

kleinbürgerlichen bis proletarischen<br />

Familie in drei Generationen auf. Der<br />

scharfsinnige Roman muss den Vergleich<br />

mit Ödön von Horváths zeitgleich erschienenen<br />

Geschichten aus dem Wiener Wald keinesfalls<br />

scheuen.<br />

Aktuell ist der vierte Band der von Verleger<br />

Albert C. Eibl und Germanist Johann<br />

Sonnleitner lobenswert betriebenen<br />

Karlweis-Renaissance erschienen,<br />

ihre Erzählung Der Zauberlehrling zusammen<br />

mit zwei späteren Novellen. Der Zauberlehrling<br />

ist der leichtsinnige Bonvivant<br />

Georg Hübner im Wien des Fin de Siècle,<br />

der Theater- und Kaffeehausbesuche,<br />

der „süßen Mädl“, der soignierten älteren<br />

Herren und der ungestümen Künstler.<br />

Es ist eine Gesellschaft im Aufbruch,<br />

die noch wenig von der nahen Katastrophe<br />

ahnt, jedoch insgeheim das Ende<br />

schon in sich trägt.<br />

Marta Karlweis, eine österreichische<br />

Schriftstellerin, die beeindruckende expressionistische<br />

Arbeiten schuf, war nicht<br />

nur ab 1926 Wassermanns zweite Frau,<br />

sondern auch seine erste Biografin. Wie<br />

sehr sie trotz ihrer literarischen Erfolge<br />

in der männerdominierten Welt eines Arthur<br />

Schnitzler, Hermann Bahr, Hugo von<br />

Hofmannsthal u. v. a. nicht gebührend<br />

zur Kenntnis genommen wurde, zeigt ein<br />

Auszug aus dem im Juli <strong>2021</strong> erscheinenden<br />

Buch der Historikerin Marie-Theres<br />

Arnbom mit dem Titel Die Villen vom Ausseerland:<br />

1929 erhält Jakob Wassermann<br />

Besuch von Egon Michael Salzer, einem<br />

Journalisten des Neuen Wiener Journals,<br />

der in zauberhafter Weise Einblick in die<br />

Idylle gewährt: Dort trifft der Journalist<br />

auf Marta Karlweis:„Inmitten eines Rosenbeetes<br />

steht die hübsche junge Hausfrau<br />

im kleidsamen Dirndl mit Schere<br />

und Korb bewaffnet, um die Rosenstöcke<br />

zu beschneiden, Unkraut auszujäten.<br />

Sie spricht von der Arbeit ihres Mannes:<br />

‚Und Sie, gnädige Frau, leben hier in diesem<br />

Paradies ganz weltabgeschieden?‘,<br />

frage ich. ‚Was fällt Ihnen ein!‘, repliziert<br />

die schöne Frau. Weist auf die Rosen hin,<br />

denen so viel Liebe gilt, erinnert an ihren<br />

entzückenden Jungen, der eben mit dem<br />

Vater einen Spaziergang macht. ‚Wohl ist<br />

hier unser Heim, die Arbeitsstätte meines<br />

Gatten.‘“<br />

Ist Karlweis zu bescheiden, oder passt<br />

sie sich nur den gängigen und von ihr<br />

erwarteten gesellschaftlichen Konventionen<br />

an? Leider können wir sie nicht<br />

mehr fragen.<br />

Nach der Machtergreifung Hitlers distanzierte<br />

sich die neue Verlagsleitung unter<br />

Samuel Fischers Schwiegersohn von<br />

seinem Erfolgsautor Wassermann. Außerdem<br />

ließ die erste Frau noch Wassermanns<br />

Verlagskonto sperren, daher muss<br />

er auch befürchten, das Haus in Altaussee<br />

zu verlieren. Am 1. Januar 1934 starb<br />

Wassermann an einem Schlaganfall, nachdem<br />

er vergeblich versucht hatte, einen<br />

Vorschuss für seine schriftstellerische Tätigkeit<br />

zu bekommen. Noch im Jänner zog<br />

Marta Wassermann nach Zürich, wo sie bei<br />

C. G. Jung ihr unterbrochenes Psychologiestudium<br />

fortsetzte. Von Julie Wassermann-Speyer,<br />

die in den Besitz des Hauses<br />

zu kommen versuchte, wurde sie mit<br />

Klagen überzogen. 1938 ebenfalls nach Zürich<br />

emigriert, mietete sich diese im gleichen<br />

Haus wie Karlweis ein, die nach ihrem<br />

Studienabschluss nach Kanada floh.<br />

1939 übernahm sie einen Lehrauftrag an<br />

der McGill-Universität in Montreal. Bis zu<br />

ihrem Tod arbeitete sie in ihrer psychiatrischen<br />

Praxis in Ottawa. Am 2. November<br />

1965 starb Marta Karlweis auf einer Reise<br />

nach Lugano, von wo aus sie ihre im Tessin<br />

lebende Tochter Bianca besuchen wollte.<br />

Als letztes Buch hatte die damal 45-Jährige<br />

bereits 1935 die Biografie ihres Mannes<br />

im Amsterdamer Querido Verlag herausgebracht.<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

sommer_doppel1.indb 45 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26


Ukrainisches Schtetl<br />

Viele große Karrieren beginnen<br />

mit einem veritablen Misserfolg.<br />

A Dangerous <strong>Mai</strong>d hieß das<br />

Musical von Chat B. Well, für<br />

das die beiden Brüder George und Ira acht<br />

Songs beisteuerten, George die Kompositionen,<br />

Ira – noch unter dem Pseudonym Arthur<br />

Francis – die Texte. Lang sollte sich die<br />

leichte Komödie vom ehemaligen Showgirl,<br />

das sich einen reichen jungen Mann<br />

angelt, nicht auf den Bühnenbrettern halten.<br />

Zwischen der Premiere in Atlantic City<br />

und der letzten Aufführung in Pittsburgh<br />

lag im Frühling 1921 nicht einmal ein Monat.<br />

Jahre später feierte das Musical unter<br />

dem Titel Elsie eine Wiedergeburt, freilich<br />

mit Liedern aus anderen Federn. Nur<br />

einige wenige der Original-Songs sahen<br />

später noch einmal das Scheinwerferlicht,<br />

etwa in den späten 1950er-Jahren mit Ella<br />

Fitzgerald.<br />

Die beiden Brüder ließen sich freilich<br />

nicht entmutigen, und einige Jahre später<br />

begannen sie, erste Erfolge einzufahren:<br />

Lady, Be Good sollte 1924 am Broadway<br />

einschlagen, darauf folgte eine fruchtbare<br />

Zusammenarbeit bei mehr als zwei Dutzend<br />

Produktionen für die Bühne und für<br />

Hollywood. Strike up the Band, Let Them Eat<br />

Cake oder die Oper Porgy and Bess gehörten<br />

dazu und zahlreiche unvergessliche<br />

Melodien, die weltweit gespielt wurden:<br />

Summertime, The Man I Love, I Got Rhythm<br />

und viele mehr.<br />

Die beiden wurden bereits in Amerika<br />

geboren, Ira 1896 und George, eigentlich<br />

Jacob, 1898. Sein Name sollte an Jakov<br />

Gershowitz erinnern, den Großvater. Dieser<br />

kam aus einem ukrainischen Schtetl<br />

und arbeitete als Mechaniker für die zaristische<br />

russische Armee. Das erlaubte<br />

ihm dann auch als Jude, nach dem Ab-<br />

rüsten seinen Wohnort zu wählen, und er<br />

zog in die Nähe der Hauptstadt St. Petersburg.<br />

Sein Sohn Moishe, ein Zuschneider<br />

für Damenschuhe, verliebte sich in ein jüdisches<br />

Mädchen aus Vilnius, Roza Bruskina.<br />

Vor der immer wiederkehrenden<br />

Bedrohung antijüdischer Pogrome wanderte<br />

sie mit ihrer Familie nach Amerika<br />

aus, Moishe folgte wenig später, nicht zuletzt<br />

auch, weil ihm die Einberufung in<br />

der Armee drohte. Die beiden heirateten<br />

1895 New York, Gershowitz änderte<br />

seinen Namen erst in Morris Gershwine,<br />

dann in Gershwin, und aus Roza wurde<br />

Rose.<br />

Morris hatte die unterschiedlichsten<br />

Geschäftsideen und zog mit seiner Familie<br />

deshalb quer durch die New Yorker Boroughs.<br />

Sie begannen in Brooklyn, lebten<br />

dann in Harlem, um schließlich auf der<br />

Lower East Side im jüdischen Theaterdi-<br />

© ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com<br />

Zwei Brüder<br />

mit Swing<br />

Im Frühjahr 1921 arbeiteten die<br />

Brüder George und Ira Gershwin<br />

erstmals zusammen – und produzier-<br />

ten einen Flop. Doch bald wurden<br />

sie zu einem der erfolgreichsten<br />

Teams der Musical-Branche.<br />

Von Reinhard Engel<br />

46 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 46 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26


Lower East Side<br />

© ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com<br />

Man importierte<br />

kaum mehr<br />

Operettennoten,<br />

setzte<br />

dagegen auf<br />

amerikanische<br />

Ware und auf<br />

die Suche nach<br />

einem eigenen<br />

nationalen Ton.<br />

strikt zu bleiben. Dort betrieb Morris ein<br />

türkisches Bad, Ira sollte eine Zeitlang bei<br />

ihm arbeiten.<br />

Song Plugger. Entscheidend für die Zukunft<br />

der Söhne sollte einen Anschaffung<br />

werden, die ursprünglich für Ira gedacht<br />

war: ein Klavier. Doch schnell hatte es der<br />

jüngere George für sich okkupiert, nahm<br />

auch ernsthaft Unterricht. Er verließ die<br />

Schule mit 15 und verdiente sein erstes<br />

Geld bereits mit Musik, als so genannter<br />

Song Plugger. Dabei ging es darum, Noten<br />

zu verkaufen, indem man den prospektiven<br />

Kunden die Stücke vorspielte und sie<br />

eventuell auch für unterschiedliche Stimmen<br />

tonartmäßig versetzte.<br />

Eine weitere Einnahmequelle erschloss<br />

sich George, indem er Walzen für<br />

automatische Klaviere aufnahm. Darunter<br />

war nun schon die eine oder andere<br />

Geniales Duo.<br />

Das Klavier wur-<br />

de eigentlich für<br />

Ira angeschafft,<br />

der schrieb aber<br />

lieber Songtexte,<br />

während Geor-<br />

ge bereits mit<br />

15 Jahren sein<br />

erstes Geld mit<br />

Musik verdiente.<br />

eigene Komposition, freilich unter Phantasienamen.<br />

Und er begleitete Sängerinnen auf<br />

der Bühne bei leichten Vaudeville-Programmen.<br />

1919 schrieb er seinen ersten Hit, Swanee,<br />

kassierte erstmals Tantiemen. Und auch<br />

das Komponieren fürs Musical begann in diesen<br />

Jahren.<br />

Obwohl Ira der Ältere war, begann er später<br />

mit seiner Arbeit für die Unterhaltungsbranche.<br />

Er hatte wohl einen Schulabschluss, das<br />

College aber geschmissen und dann bei seinem<br />

Vater mitgearbeitet. Doch auch er konnte<br />

sich der Faszination des Yiddish Theater District<br />

nicht entziehen. Sein Talent für das Textschreiben<br />

wurde Anfang der 1920er-Jahre erkannt,<br />

als sein Bruder bereits am Weg nach<br />

oben war. Und um diesem nicht in die Quere<br />

zu kommen, lieferte Ira seine ersten Songtexte<br />

unter Pseudonym ab, eben als Arthur Francis.<br />

Doch ab dem großen Erfolg von Lady, Be Good<br />

brauchte er sich nicht mehr zu verstecken und<br />

wurde mit seinem Bruder zum kongenialen<br />

Dream Team der Musicalbühne.<br />

Der Erfolg der beiden war sicher ihren außergewöhnlichen<br />

Talenten geschuldet, so Amy<br />

C. Baumgartner. Sie analysierte in ihrer Master-Arbeit<br />

an der University of Virginia den<br />

Aufstieg der Gershwins etwas umfassender.<br />

Was die musikalische Seite anging, so integrierte<br />

George erfolgreich Jazz-Elemente, die<br />

wohl in Städten wie New Orleans oder Chicago<br />

bereits <strong>Mai</strong>nstream waren, New York hinkte<br />

aber noch etwas hinterher. Die internationale<br />

Politik spielte ebenfalls eine Rolle: Die<br />

USA hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg<br />

in eine selbstgewählte Isolation zurückgezogen,<br />

und diese betraf auch die kulturelle Produktion.<br />

Man importierte kaum mehr Operettennoten,<br />

setzte dagegen auf amerikanische<br />

Ware und auf die Suche nach einem eigenen<br />

nationalen Ton.<br />

Diesem spürte George Gershwin auch abseits<br />

der Musical-Bühnen nach, eine Etage<br />

höher auf der Prestigeskala, zwischen Unterhaltungsmusik<br />

und so genannter ernster<br />

Musik. Schon 1924 komponierte er sein erstes<br />

klassisches Stück, die Rhapsody in Blue, beeinflusst<br />

von zeitgenössischen französischen<br />

Komponisten wie Maurice Ravel oder Claude<br />

Debussy, aber schon mit genuin amerikanischem<br />

Schwung und voller Elemente von Jazz<br />

und Blues. Das Werk machte ihn nun auch in<br />

der „seriösen“ Musikwelt bekannt. Und er verfolgte<br />

diesen Weg weiter, parallel zu neuen,<br />

wieder erfolgreichen Musicals. Bei einem Aufenthalt<br />

in Paris Mitte der 1920er-Jahre entstand<br />

An American in Paris.<br />

Dort traf er auch auf Ravel, und von diesen<br />

Begegnungen gibt es mehrere – nicht ganz<br />

seriös belegte – Zitate. So soll Ravel die Bitte<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

sommer_doppel1.indb 47 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:27


Hollywood<br />

GERSHWIN IN WIEN<br />

Der Andrang für die Werkeinführung war<br />

so groß, dass diese vom Palais Pálffy in<br />

den Schubert Saal des Konzerthauses verlegt<br />

werden musste. Das war 1965, und Marcel<br />

Prawy stellte als Chefdramaturg der Wiener<br />

Volksoper das Ensemble von Porgy und Bess<br />

dem begeisterten Publikum vor – unter anderem<br />

Olive Moorefield und William Warfield. Bereits<br />

Anfang der 1950er-Jahre hatte es in Wien<br />

eine gefeierte Tourneevorstellung der amerikanischen<br />

Everyman Opera Company mit Leontyne<br />

Price und ebenfalls William Warfield gegeben.<br />

Porgy und Bess sollte in Wien auch bis in die<br />

jüngste Zeit populär bleiben. Zuletzt präsentierte<br />

etwa die Volksoper 2019 eine konzertante<br />

Aufführung, das Theater an der Wien trotz Corona-Widrigkeiten<br />

im Herbst 2020 eine moderne<br />

mit Flüchtlingsthemen angereicherte<br />

Bühnenversion.<br />

Doch Gershwin hatte in Wien schon vor der<br />

NS-Zeit und dem Krieg seine Fans. Bereits 1924<br />

brachte das Neue Wiener Journal einen Korrespondentenbericht<br />

aus New York mit dem Titel<br />

Wie der Jazz in New York die Konzertsäle erobert.<br />

In den Zeitungen der Zwischenkriegszeit<br />

liest man immer wieder in den Radioprogrammen<br />

den Namen Gershwin, etwa 1937 in der<br />

Kleinen Volkszeitung erst am Nachmittag das<br />

klassische Stück Ein Amerikaner in Paris, dann<br />

am Abend unter „Tanzmusik“ They Can’t Take<br />

That Away from Me.<br />

Wirklich Bewegung kam in die Gershwin-Rezeption<br />

allerdings erst nach dem Krieg, unter anderem<br />

mit den US-Soldaten. 1945 konnte man<br />

schon im Rex (Stadttheater), dem „Theater für<br />

die amerikanischen Truppen“, die Rhapsody in<br />

Blue hören. 1950 berichtet die Weltpresse von<br />

zwei weihnachtlichen Gershwin-Konzerten im<br />

Konzerthaus, in denen neben der Rhapsody<br />

auch Ein Amerikaner in Paris und das Klavierkonzert<br />

in F-Dur gespielt wurden. Ab 1954 bot<br />

Marcel Party, zunächst noch unter der Patronanz<br />

der Amerikaner, im Kosmostheater Musical-Programme<br />

an. An der Volksoper sollte er<br />

dann für ein wahres Feuerwerk an Premieren<br />

sorgen.<br />

George Gershwin besuchte übrigens im Jahr<br />

1928 Wien. Er hatte ein größere Europareise unternommen<br />

und in Paris bereits Komponisten-<br />

Kollegen wie Maurice Ravel und Igor Strawinsky<br />

gesehen. In Wien sprach er mit Alban Berg, Arnold<br />

Schönberg und Emmerich Kálmán, und er<br />

ließ es sich auch nicht nehmen, die Witwe des<br />

Walzerkönigs Johann Strauss, Adele, zu treffen.<br />

„Porgy and Bess“: Die<br />

Schöpfer des Musicals, der<br />

Komponist George Gershwin,<br />

der Librettist DuBose Heyward<br />

und der Autor der Songs, Ira<br />

Gershwin.<br />

So soll Ravel die<br />

Bitte Gershwins,<br />

ihn zu unterrichten,<br />

mit den<br />

Worten abgelehnt<br />

haben, er<br />

solle kein zweitklassiger<br />

Ravel<br />

werden, wenn er<br />

doch schon ein<br />

erstklassiger<br />

Gershwin sei.<br />

Gershwins, ihn zu unterrichten, mit den<br />

Worten abgelehnt haben, er solle kein<br />

zweitklassiger Ravel werden, wenn er<br />

doch schon ein erstklassiger Gershwin<br />

sei. Und bei einem anderen Gespräch soll<br />

Ravel gefragt haben, was Gershwin mit<br />

seiner Musik in den USA verdiene. Als er<br />

hörte, wie viel das sei, soll er gesagte habe,<br />

dann müsse eigentlich er bei Gershwin<br />

Unterricht nehmen.<br />

1935 wurde die moderne amerikanische<br />

Oper Porgy and Bess in Boston uraufgeführt,<br />

unmittelbar darauf am Broadway.<br />

Das Libretto hatten DuBose Heyward<br />

und Ira Gershwin verfasst. Fürs Kino<br />

schrieben die Gershwins dann noch Shall<br />

We Dance mit Ginger Rogers und Fred Astaire.<br />

Doch bald darauf begann George,<br />

über Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen<br />

zu klagen, bei ihm<br />

wurde ein Hirntumor diagnostiziert, an<br />

dem er im Sommer 1937 starb.<br />

Ira konnte drei Jahre lang nicht arbeiten,<br />

so sehr bedrückte ihn der Tod des<br />

Bruders. Doch dann nahm er einen neuen<br />

Anlauf und schrieb für Komponisten wie<br />

Jerome Kern, Kurt Weill oder Harold Arlen<br />

wieder Songtexte, war damit weiter<br />

erfolgreich auf den Bühnen und auf der<br />

Filmleinwand, etwa mit Billy Wilder. Und<br />

auch für Judy Garlands Film A Star is Born<br />

lieferte er die Texte. Ira Gershwin starb<br />

1983 in Beverly Hills 86-jährig.<br />

© akg-images/picturedesk.com<br />

48 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 48 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:27


Thema<br />

Zurückgehend auf eine Initiative unseres langjährigen Kultusvorstehers<br />

in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Herrn<br />

Dipl. Ing. Edmund Reiss s. A., wurde 1995 die Wohnheimverwaltungsgesellschaft<br />

mbH. als eine Tochtergesellschaft der Israelitischen<br />

Kultusgemeinden Wien gegründet.<br />

Die Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. betreibt gegenwärtig<br />

23 Wohnheime an verschieden Standorten in Wien. Darunter<br />

finden sich rund 800 Wohnungen und nahezu 500<br />

Garagenstellplätze. Unser Leitspruch – Wohnen all inclusive –<br />

bietet in der Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. die unbefristete<br />

Anmietung von Wohneinheiten in einer speziellen Angebotsvielfalt<br />

von Standorten und Dienstleistungen, die weit über<br />

das übliche Maß hinausgehen. Darunter fallen individuelles und<br />

komfortables Wohnen mit günstigem Energiebezug, sowohl für<br />

Strom, Heizung und Warmwasser, als auch den uneingeschränkten<br />

Zugang zu Internet in jeder Wohneinheit, sowie ein Reparaturservice<br />

durch unsere Mitarbeiter, natürlich während der<br />

gesamten Nutzungsdauer. Die Ausstattung der Einheiten ist je<br />

nach Ausführung mit Einbaukomplettküchen mit Kochgelegenheit,<br />

Backrohr, Geschirrspüler Abwäsche und Kühlschrank, Fliesen-Bad<br />

oder Dusche, WC, Vorraum und Abstellraum gegeben.<br />

Die Beheizung erfolgt durch Fernwärme oder auch Gas-Kombithermen.<br />

Die Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. führt<br />

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49<br />

sommer_doppel1.indb 49 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:28


Theateridol seiner Zeit<br />

Ein Budapester Ritter<br />

am Wiener Burgtheater<br />

Adolf von Sonnenthal war einer der populärsten<br />

und bestbezahlten Schauspieler seiner Zeit – und<br />

spielte während seiner Zeit am Wiener Burgtheater<br />

nicht weniger als 400 Rollen.<br />

Von Gábor Dombi, Übersetzung von Karl Pfeifer<br />

lang befanden sich auch ein jüdisches Spital,<br />

eine jüdische Schule sowie ein jüdisches<br />

Restaurant und ein Buchladen im<br />

Gebäudekomplex. Und es wohnten nicht<br />

nur Juden hier, sondern auch nichtjüdische<br />

Geschäftsleute, Drucker, Rechtsanwälte,<br />

Architekten, von denen wohl die<br />

meisten eine berufliche Verbindung zur<br />

Familie des Barons Orczy hatten.<br />

Der Vater von Adolf Sonnenthal, Hermann<br />

Sonnenthal, wurde 1802 in Óbuda<br />

geboren und war Textilhändler. 1846 ging<br />

er in Konkurs, die Familie wohnte aber<br />

weiterhin im Haus. Hermann und dessen<br />

Frau Charlotte Weiss (1806–1864) hatten<br />

sieben Kinder, und Adolf (1834–1909)<br />

Adolf von<br />

Sonnenthal<br />

in seiner oppulenten<br />

Wiener<br />

Wohnung um<br />

1900.<br />

Das „Orczy’sche Haus“ war das<br />

bekannteste Gebäude in der<br />

Stadtmitte des alten Pest, dem<br />

späteren Budapest. Im „pro<br />

Stunde ein Goldstück“ bringenden Zinshaus<br />

wohnten bis zu seiner Demolierung<br />

1937 zahllose Familien, darunter der zu<br />

seiner Zeit wohl bekannteste Schauspieler<br />

der Monarchie, Adolf Sonnenthal.<br />

Das Orczy’sche Haus war damals das<br />

Zentrum der Pester Juden, in dem es außer<br />

Wohnungen auch Geschäfte und Büros<br />

gab. Im Hof standen zwei Synagogen,<br />

es fanden die Zusammenkünfte der Leitung<br />

der jüdischen Gemeinde statt, und<br />

der Oberrabbiner wohnte hier. Eine Zeitwar<br />

das zweite des Ehepaars, das bis zuletzt<br />

in Budapest lebte. Die Geschwister<br />

Sonnenthals aber zogen, angezogen vom<br />

enormen Erfolg ihres Bruders, mit der Zeit<br />

alle ebenfalls nach Wien.<br />

Adolf Sonnenthal besuchte bis 1846<br />

die jüdische „Normalschule“, die damals<br />

deutschsprachig war, und zählte dort<br />

bald zu den besten Schülern. Nach Ausbruch<br />

der Revolution am 15. März 1848<br />

kam es im April in Pest zu einer antijüdischen<br />

Zusammenrottung. Aufgehetzte<br />

Gesellen zerschlugen in der Gegend des<br />

Orczy’schen Hauses die Schaufenster und<br />

Geschäfte der Juden. Sonnenthal nahm<br />

eine Axt in die Hand und verteidigte als<br />

Anführer einer kleinen Gruppe von Jugendlichen<br />

den elterlichen Besitz gegen<br />

die besoffene, nach Beute gierende Meute.<br />

Bald darauf beschlossen die Eltern, dass<br />

Adolf Schneider werden müsse. Nach zwei<br />

Jahren als Lehrling erhielt er den Gesellenbrief,<br />

ging, wie es damals üblich war,<br />

auf Wanderung und begann am 25. November<br />

1850, bei Josef Peschek in Wien zu<br />

arbeiten. In der „Kaiserstadt“ wurde Sonnenthal<br />

rasch zu einem begeisterten The-<br />

© Charles Scolik sen. / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

50 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 50 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:30


Abkehr von der Deklamation<br />

© Charles Scolik sen. / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

aterbesucher und sammelte bald schon<br />

den Mut, den bekannten Schauspieler Bogumil<br />

Dawison eines Tages früh am Morgen<br />

zu besuchen, um diesem privat vorzusprechen.<br />

Er trug seinen Monolog aus<br />

Schillers Die Räuber mit derartigem Pathos<br />

und Schwung vor, dass, als er sich auf einen<br />

Stuhl warf, dieser in Stücke brach.<br />

Der überraschte Dawison lächelte und<br />

sagte: „Es ist nicht unbedingt notwendig,<br />

bei dieser Szene einen Stuhl zu zerbrechen,<br />

aber sonst haben Sie ganz geschickt<br />

vorgetragen.“<br />

Dawison stellte den jungen Enthusiasten<br />

dem damaligen Burgtheater-Direktor<br />

Heinrich Laube vor, und da dieser das Talent<br />

Sonnenthals sofort erkannte, gab er<br />

ihm den Rat, an kleineren Theatern seine<br />

Fähigkeiten weiterhin zu beweisen.<br />

So begann Adolf Sonnenthal seine Theaterlaufbahn<br />

zuerst in Temesvár (Timisoara),<br />

ging von dort an das Theater von<br />

Hermannstadt (Sibiu), wo er von 1852 bis<br />

1854 blieb, und war danach in Graz in<br />

der Saison 1854–1855 engagiert, von wo<br />

er schließlich ins ferne Königsberg (Kaliningrad)<br />

zog. Am 18. <strong>Mai</strong> 1856 spielte Adolf<br />

Sonnenthal das erste Mal in Wien – vorerst<br />

noch als Gast und in der Rolle des Mortimer<br />

in Schillers Maria Stuart. Da der Erfolg<br />

auch in Wien nicht ausblieb, wurde<br />

er 1859 an das Burgtheater engagiert, Im<br />

Jahr darauf heiratete er Pauline Pappenheim,<br />

mit der er fünf Kinder hatte: Felix,<br />

Hermine, Edmund, Sigmund und Paul.<br />

Adolf Sonnenthal wurde rasch zum<br />

großen Vorbild seiner Generation: Die<br />

Kleider, die er trug, beeinflussten die<br />

Wiener Mode, Zeitungen publizierten<br />

seine Sprüche und berichteten über alles,<br />

was ihn betraf – von seinem Beinbruch<br />

über den frühen Tod seiner Ehefrau<br />

1872 bis zu den Geschichten seiner<br />

Kinder und Enkelkinder.<br />

nig Lear, Hamlet, Nathan,<br />

Macbeth und Clavigo zählten<br />

zu seinen legendärsten<br />

Rollen, er war aber auch in<br />

Komödien erfolgreich und<br />

galt als einer der ersten<br />

großen „Konversationsschauspieler“.<br />

Er war einer<br />

der ersten Schauspieler,<br />

der die pathetische Bühnendeklamation<br />

durch natürliches<br />

Sprechen und realistischen<br />

Gestus ersetzte,<br />

sein Name war auf der<br />

ganzen Welt bekannt und<br />

man lud ihn mehrmals<br />

zu Gastspielen, darunter<br />

nach Russland (1884, 1900)<br />

und in die USA (1885, 1899, 1902), ein.<br />

Deutsch war Sonnenthals Muttersprache,<br />

doch auch seine Französischkenntnisse<br />

waren beachtlich, und so übersetzte<br />

der Schauspieler, Regisseur und spätere<br />

Intendant in seiner kargen Freizeit eine<br />

beachtliche Anzahl an damals populären<br />

französischen Stücken.<br />

1870 wurde er Hauptregisseur und Direktor<br />

des Burgtheaters, 1884 dessen Generaldirektor.<br />

1881 wurde der hochgerühmte<br />

Künstler von Kaiser Franz Joseph<br />

mit der „Eisernen Krone“ und dem Ritter-Titel<br />

ausgezeichnet, 1906 folgte das<br />

Offizierskreuz des Franz-Joseph-Ordens,<br />

weitere Ehrungen erhielt er vom Badener<br />

Großherzog und vom bulgarischen Fürsten.<br />

Doch nicht nur Publikum und Adel<br />

verehrten ihn, sondern auch seine Kollegen:<br />

So wurde Sonnenthal zum ersten<br />

Präsidenten des Verbandes österreichischer<br />

Schauspieler ernannt, und zu seinem<br />

40-jährigen Bühnenjubiläum überraschten<br />

ihn seine Kollegen mit einem aus<br />

reinem Gold gefertigten Lorbeerkranz,<br />

der die Aufschrift „Dem Meister des deutschen<br />

Schauspiels – die Schauspielkünstler<br />

der Burg 1. Juni 1896“ trug; auf einem<br />

der äußeren Blätter kann man heute noch<br />

die Jahresangaben „1856–1896“ erkennen.<br />

Mit seinem Elternhaus und seiner Geburtsstadt<br />

Budapest blieb Adolf Sonnenthal<br />

sein Leben lang eng verbunden,<br />

verzichtete aber dennoch 1889 auf seine<br />

ungarische Staatsbürgerschaft, was eine<br />

Reihe von Budapestern damals auch verärgerte.<br />

Solange es existierte, war er Mitglied<br />

des Ensembles des Deutschen Theaters in<br />

Pest, und sein gelegentliches Auftreten<br />

galt für seine Verehrer stets als vielbeachtetes<br />

Fest. Und so war es nur einem glücklichen<br />

Zufall des Schicksals geschuldet, dass<br />

„Es ist nicht<br />

unbedingt<br />

notwendig, bei<br />

dieser Szene<br />

einen Stuhl zu<br />

zerbrechen,<br />

aber sonst<br />

haben Sie<br />

ganz geschickt<br />

vorgetragen.“<br />

Bogumil Dawison<br />

Realistischer Gestus. Berühmt wurde Sonnenthal<br />

unter anderem für sein großes Erinnerungsvermögen,<br />

das ihm das Erlernen<br />

immer neuer Rollen erleichterte.<br />

Während der 53 Jahre, die er am Burgtheater<br />

verbrachte, spielte er nicht weniger<br />

als 400 Rollen, die er alle später stolz<br />

in seinen Memoiren auflistete. Selten gab<br />

es einen Monat, in dem er lediglich eine<br />

Rolle spielte – in seinen ersten vier Bühnenjahren<br />

trat er während der Theatersaison<br />

monatlich in drei bis vier Neuinszenierungen<br />

auf. Sonnenthal zeichnete sich<br />

in allen Sparten des Theaters aus, Faust,<br />

Wallenstein, Karl Moor, Don Carlos, Köer<br />

am 20. Dezember 1889,<br />

dem Tag, an dem das Theater<br />

durch einen Brand zerstört<br />

wurde, trotz der vorherigen<br />

Ankündigung seines<br />

Besuchs nicht auftrat.<br />

Als einer der bestbezahlten<br />

Schauspieler der Monarchie<br />

nahm Sonnenthal<br />

immer wieder an damals<br />

populären Benefizveranstaltungen<br />

teil, zu denen<br />

auch solche für jüdische<br />

Wohltätigkeitsvereine gehörten.<br />

Sein Judentum war<br />

kein Geheimnis, und seine<br />

Popularität wurde vorerst<br />

durch den aufkommenden<br />

Antisemitismus nicht gemindert. Doch<br />

zur Jahrhundertwende war der Antisemitismus<br />

in Wien bereits derart erstarkt,<br />

dass seine Ernennung zum Ehrenbürger<br />

der Stadt nicht mehr durchgesetzt werden<br />

konnte.<br />

Sein 50-jähriges Berufsjubiläum feierte<br />

das Burgtheater mit einer Aufführung<br />

von Nathan der Weisen; und während<br />

seiner letzten Lebensjahre bearbeitete er<br />

Shakespeares Kaufmann von Venedig mit<br />

dem Wunsch, durch eine neue Interpretation<br />

des Shylock als dem in seinen Rechten<br />

verletzten wahren Helden des Stücks<br />

dem Antisemitismus auf seine Weise entgegenzutreten.<br />

Adolfs Sonnenthal starb am 4. April<br />

1909 während eines Gastspiels am Deutschen<br />

Theater in Prag. Alle Zeitungen der<br />

Monarchie brachten ausführliche Nachrufe,<br />

Kaiser Franz Joseph lud Sonnenthals<br />

Kinder zu sich ein, um persönlich sein<br />

Beileid auszudrücken, und am 5. November<br />

1911 wurde ihm zu Ehren eine Büste<br />

im Burgtheater aufgestellt. Heute erinnert<br />

eine Gasse in Ottakring an den einst vielgeliebten<br />

Charakterdarsteller.<br />

Von seinen Nachfahren folgte ihm zwei<br />

Frauen auf Bühne: Seine Enkelin Helene<br />

von Sonnenthal (1893–1953) wurde Theaterschauspielerin<br />

und trat in Tschechien,<br />

Deutschland und Österreich auf. Eine<br />

weitere Enkelin, die sieben Jahre jüngere<br />

Sängerin und Schauspielerin Luise „Luzi“<br />

von Sonnenthal, heiratete 1924 keinen Geringeren<br />

als den weltberühmten Komponisten<br />

Erich Wolfgang Korngold (1897–<br />

1957). 1932 emigrierte sie mit ihrem Mann<br />

in die USA, wo sie 1962 in Hollywood starb.<br />

In der Datenbank von Yad Vashem findet<br />

man unter den ermordeten Juden 13-<br />

mal den Namen Sonnenthal.<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

sommer_doppel1.indb 51 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:31


Subjektive Befragungsweise<br />

99 Jahre und<br />

nehmung von deutschen Kriegsgefange-<br />

nen eingesetzt. In zahlreichen Interviews<br />

wiederholt er später immer wieder seine<br />

kein bisschen leise<br />

Enttäuschung als Jude und Wiener über das<br />

Verhalten vieler nach dem Krieg.<br />

„Das Wort Befreiung habe ich damals<br />

nie gehört. So etwas wie Freiheit und De-<br />

mokratie, das war ja überhaupt nicht im<br />

Vom Wiener Rudolfsplatz schaffte es Georg Stefan<br />

Gedankenschatz vorgesehen. Aber unser<br />

Kriegsmaterial haben sie alle bewundert,<br />

Troller, der begnadete Interviewer und Dokumendie<br />

Jeeps, die Walkie-Talkies. Und komtarfilmer,<br />

in die weite Welt. Nach seiner Vertreibung<br />

mentiert wurde das mit den Worten: ‚Kein<br />

war ihm Wien fremd geworden – seine internationale<br />

Wunder, dass ihr den Krieg gewonnen<br />

Karriere machte er von Paris aus.<br />

habt, mit dem Material‘“, erzählte Troller<br />

2005 in einem TV-Interview mit dem West-<br />

Ein Porträt von Marta S. Halpert<br />

deutschen Rundfunk.<br />

Am 1. <strong>Mai</strong> 1945 nimmt der GI Troller an<br />

der Befreiung Münchens teil, und dort beginnt<br />

er endlich seine berufliche Leidenschaft<br />

auszuleben: Kurz arbeitet er bei Ra-<br />

dio München, bevor er als Reporter bei der<br />

Um gefangene SS-Leute zu ver-<br />

die Familie lebte quasi ums Eck, nämlich<br />

Neuen Zeitung anheuert. Doch in München<br />

hören, fährt der 24-jährige jü-<br />

am Rudolfsplatz, und übersiedelte später<br />

hält ihn auch dieser Job nicht, er will zu-<br />

dische US-Soldat Georg Stefan<br />

nach Döbling. Als jüdischer Junge wird er<br />

rück nach Wien, seine Heimatstadt. „Ich<br />

Troller am 29. April 1945 mit<br />

von den Schulkameraden oft gehänselt<br />

bin damals alle Straßen abmarschiert,<br />

dem Jeep in das von US-Truppen befreite<br />

Konzentrationslager Dachau. Den grau-<br />

enhaften Anblick der Skelette, der vielen<br />

verhungerten und ermordeten Häftlinge,<br />

kann er nur mit dem distanzierten Blick<br />

durch die Kamera ertragen. Trotz dieses<br />

Schutzschildes wird ihn die Erschütte-<br />

rung dieser Erfahrung sein ganzes Leben<br />

nicht verlassen.<br />

Mit 97 Jahren, im <strong>Mai</strong> 2019, widmet<br />

ihm die berühmte Berliner Galerie Gri-<br />

sebach eine Fotoausstellung mit seinem<br />

Lebensmotto: Liebe ist das ganze Ge-<br />

heimnis. Diese Aufnahmen sind nicht<br />

mehr erschreckend, zeigen aber den-<br />

noch eine Welt, die es so nicht mehr gibt:<br />

und verspottet. „Mit sowas musste man le-<br />

ben. Und unter den Nazis wurde das noch<br />

härter“, berichtet er. Auf Druck des Vaters<br />

liest er sämtliche Klassiker und hat einzelne<br />

Monologe bis heute auswendig parat.<br />

Mit 16 leiht er sich eine alte Schreib-<br />

maschine und verfasst erste Gedichte und<br />

Gedanken – und verpasst diesen den prä-<br />

tentiösen Titel Georg Stefan Trollers Gesam-<br />

melte Werke. . Trotz dieser frühen literari-<br />

schen Bestrebungen erlernt Georg Stefan,<br />

der zweite Sohn Karl Trollers, zunächst<br />

den Beruf des Buchbinders.<br />

Mit knapp 17 Jahren flieht er 1938 vor<br />

den Nazis aus Wien: Ein Schmuggler bringt<br />

ihn über die Grenze in die Tschechoslowa-<br />

die ich kannte, tagelang, nächtelang, um<br />

mein Heimweh zu stillen. Aber schließlich<br />

fand ich für mich diesen Satz: Eine Hei-<br />

mat kann man so wenig wiederfinden wie<br />

eine Kindheit.“<br />

Troller versucht zwar, in Österreich hei-<br />

misch zu werden, aber es gelingt ihm nicht,<br />

obwohl er beim Wiener Sender Rot-Weiß-<br />

Rot die beliebte Sendereihe XY weiß alles<br />

initiiert. Er kehrt bereits 1946 in die USA<br />

zurück und studiert bis 1949 zunächst An-<br />

glistik an der University of California und<br />

anschließend Theaterwissenschaft an der<br />

Columbia University in New York. Der berufliche<br />

und private Wendepunkt in Trol-<br />

lers Leben kommt im Jahr 1949, als er mit<br />

schwarz-weiße Schnappschüsse, Kostbar-<br />

kei, von da an hat er keine Papiere, nur eine<br />

keiten aus dem Paris der 1950er-Jahre, die<br />

illegale Existenz. Die nächste<br />

Troller machte, als er im Nachkriegseu-<br />

Fluchtstation ist Frankreich,<br />

„Eine Heimat kann<br />

ropa nach seinen persönlichen Lebenswo<br />

er gleich nach Kriegsaus-<br />

spuren suchte. Er selbst hatte diese Fotos<br />

bruch interniert wird. 1941 er-<br />

man so wenig wielängst<br />

vergessen, glaubte, sie bei Umzügattert<br />

er in Marseille schließderfinden<br />

wie eine<br />

gen und Aufbrüchen verloren zu haben.<br />

lich mit viel Glück ein Visum<br />

Doch seine Tochter Fenn fand sie glück-<br />

für die USA.<br />

Kindheit.“<br />

licherweise beim Ausmisten.<br />

Bereits 1943 wird er von der<br />

Georg Stefan Troller<br />

Zwischen diesen beiden Ereignissen<br />

US-Army zum Kriegsdienst<br />

liegt ein reiches künstlerisches Leben: Der<br />

am 10. Dezember 1921 in Wien geborene<br />

Georg Stefan Troller ist seit Jahrzehnten<br />

als Schriftsteller, Fernsehjournalist, Drehbuchautor,<br />

Regisseur und Dokumentarfil-<br />

eingezogen und leistet den<br />

alliierten Truppen bei ihrem<br />

Vormarsch durch das besetzte<br />

Frankreich und Nazi-Deutschland<br />

mit seinen Sprachkenntmer<br />

erfolgreich. Doch bis zu diesem vielnissen<br />

wertvolle Dienste. Trol-<br />

fältigen Ruhm war es ein weiter Weg aus<br />

ler ist mit der Mentalität der<br />

Personenbeschreibung. Indem er ausgewählten<br />

Menschen jene zeitlosen Fragen stellte, die er an sich selbst<br />

der Neutorgasse im 1. Wiener Bezirk: Dort<br />

Nazi-Täter und Opfer vertraut<br />

hatte, konnte er damit auch seinen eigenen Erfahrungs-<br />

führte Trollers Vater Karl sein Pelzgeschäft,<br />

und wird deshalb bei der Ver-<br />

horizont als Mensch und Filmemacher erweitern.<br />

1 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 1 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:32


Empathisch-kritische Methode<br />

einem Fulbright-Stipendium für die Sor-<br />

bonne in Paris nach Europa zurückkehrt.<br />

Die quicklebendige Stadt an der Seine<br />

mit ihrem französischen Esprit lenkt Trol-<br />

ler vom Studium ab, dafür entdeckt er eine<br />

neue Welt. Mit 28 Jahren entwickelt er sich<br />

zum Flaneur, zum feinsinnigen Beobach-<br />

ter der französischen Lebenskunst, genießt<br />

sie und eignet sie sich spielend an. In Pa-<br />

ris findet er Anfang der 1960er-Jahre die<br />

zukünftige Stätte seiner bemerkenswerten<br />

Karriere: das Fernsehen. Als Kulturkorres-<br />

pondent für den Westdeutschen Rundfunk<br />

in Köln produziert er in neun Jahren 50<br />

Folgen der Sendung Pariser Journal. . Er zeigt<br />

dabei ein Paris, das man zu dieser Zeit in<br />

Deutschland so nicht kannte: höchst einfühlsame<br />

Menschenporträts und einzigar-<br />

tige Milieustudien.<br />

Die Kamera als Schutzschild. 1971 wirbt ihn<br />

das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) ab,<br />

dies wird zu einer weiteren bedeutenden<br />

Weichenstellung in Trollers Leben: 22 Jahre<br />

lang wird er dort in den 70 Folgen seines<br />

legendären Interviewformats Personenbe-<br />

schreibung Fernsehgeschichte schreiben.<br />

Trotz seiner direkten und meist unkonventionellen<br />

Fragen stehen ihm Stars wie Mar-<br />

lon Brando, Romy Schneider, Alain Delon,<br />

Brigitte Bardot, Woody Allen, Kirk Doug-<br />

las sowie die Box-Legende Mohammed Ali<br />

Rede und Antwort. Coco Chanel und Edith<br />

Piaf unterhalten sich ebenso freimütig mit<br />

ihm wie der Regisseur und Schauspieler<br />

Erich von Stroheim, der häufig Nazis darstellte<br />

und eigentlich der Sohn eines Wie-<br />

ner jüdischen Hutmachers war.<br />

„Journalist zu sein, war für mich ein Mit-<br />

tel der Selbstheilung und Lebensrettung“,<br />

erinnert sich Troller. „Meine Seele als jüdischer<br />

Emigrant, der dem Holocaust entkommen<br />

war und der 19 Angehörige verlo-<br />

ren hatte, war verletzt“, sagte er in einem<br />

Interview 2017. „Ich nenne meinen Job<br />

heute: Gesundung durch andere.“ Er ver-<br />

suche nämlich ständig und noch immer,<br />

seine natürliche und durch Flucht und<br />

Verfolgung gesteigerte Menschenscheu zu<br />

überwinden. Indem er ausgewählten Men-<br />

schen jene zeitlosen Fragen stellte, die er<br />

an sich selbst hatte, konnte er damit auch<br />

seinen eigenen Erfahrungshorizont als<br />

Mensch und Filmemacher erweitern.<br />

Zwischen 1.200 und 1.500 Interviews<br />

hat er nach eigenen Angaben geführt. Anfänglich<br />

war seine betont subjektive Be-<br />

fragungsweise von Berufskollegen nur<br />

geduldet, dennoch wurde später seine<br />

empathische wie kritische Methode der<br />

Befragung zum Vorbild für viele Journalisten.<br />

Troller drehte anspruchsvolle biogra-<br />

fische Filme über Rimbaud, Gauguin, B.<br />

Traven, Karl Kraus u. v. a. Er schrieb 15 Bü-<br />

cher, zuletzt Das fidele Grab an der Donau, Paris<br />

geheim, Selbstbeschreibung. . Fernsehfilme, Do-<br />

kumentationen, Fotobände und Essays für<br />

Zeitschriften kamen später dazu.<br />

„Angst war mein ständiger Lebensbe-<br />

gleiter, einmal fürchtete ich um meine<br />

Existenz, einmal um meine Identität“, of-<br />

fenbarte Troller seinem engen Freund,<br />

dem Regisseur Axel Corti. „Die Angst hängt<br />

mir in den Knochen, ich muss mich verstellen,<br />

um natürlich zu sein.“ Die Drehbü-<br />

cher für die zeitkritische Filmtrilogie Wohin<br />

und zurück schrieben die Freunde zwischen<br />

1979 und 1985 gemeinsam. Axel Corti, 1933<br />

in Paris geboren, war mit 23 Jahren bereits<br />

Leiter der Literatur- und Hörspielabtei-<br />

lung von Studio Tirol. Seit 1960 lauschte<br />

eine riesige Fan-Gemeinde seinem gesellschaftspolitischen<br />

regelmäßigen Ra-<br />

diofeuilleton Der Schalldämpfer. . Corti, der<br />

überdies als Dramaturg und Regisseur am<br />

Wiener Burgtheater und am Berliner Schillertheater<br />

tätig war, führte auch aufregende<br />

und tiefsinnige Gespräche mit Trol-<br />

ler für den NDR in der beliebten Talkshow<br />

3 nach 9. . Seit 1986 wurde Wohin und zurück<br />

häufig wiederholt. Die drei Filme heims-<br />

ten in vielen Ländern und Festivals Preise<br />

ein und liefen in Wien und Paris im Kino.<br />

Auch mit 99 Jahren geht Georg Stefan<br />

Troller gerne auf Lesereise, wenn man ihn<br />

einlädt: Fotos von seinem Auftritt im Feb-<br />

ruar 2020 im Kölner Literaturhaus zeugen<br />

davon. Sein Humor, gespickt mit Selbstironie,<br />

hat ebenso wenig unter der Zeit ge-<br />

litten wie seine immer noch üppige<br />

Künstlermähne. Er versichert auch<br />

schmunzelnd, dass er wie bisher<br />

jedes Manuskript auf seiner al-<br />

ten<br />

Hermes-Schreibmaschine<br />

tippt. „Ich habe keinen Compu-<br />

ter und kein Internet“, erzählte<br />

er lachend während der Lesung<br />

in Köln. „Meine Manuskripte faxe<br />

oder schicke ich meinem Verleger<br />

per Post. Anmerkungen mache<br />

ich mit einem vierfarbigen Kugel-<br />

schreiber.“ Seine zahlreichen Preise<br />

sowie Ehrenurkunden hat eine Putzfrau<br />

aus Versehen im Pariser Studio ent-<br />

sorgt. Das bekümmert ihn heute wenig.<br />

© Robert Newald/picturedesk.com<br />

wına-magazin.at<br />

2<br />

sommer_doppel1.indb 2 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:34


Intuitiv & launisch<br />

Wittgensteins<br />

Familie<br />

Vor 70 Jahren starb in Cambridge der große Philosoph<br />

Ludwig Wittgenstein. Sein Wiener Vater war einer der<br />

reichsten Menschen Europas, die jüdischen Vorfahren<br />

stammten aus Deutschland.<br />

Es muss eine packend-groteske<br />

Szene gewesen sein. Im englischen<br />

Cambridge trafen 1946 bei<br />

einem Philosophieseminar zwei<br />

der führenden Philosophen der Zeit aufeinander,<br />

beide emigrierte Wiener. Doch<br />

Karl Popper und Ludwig Wittgenstein waren<br />

sich alles andere als einig, im Gegenteil.<br />

Der Disput spitzte sich derart zu, dass<br />

Wittgenstein erregt im Zimmer auf und ab<br />

ging, vom offenen Kamin einen Schürhaken<br />

nahm und mit ihm bedrohlich gestikulierte.<br />

Als ihn Popper darauf ansprach,<br />

warf er das Eisen zornig auf den Fußboden<br />

und stürmte aus dem Raum.<br />

Ludwig Wittgenstein sollte in Cambridge<br />

1951 an Prostatakrebs sterben, als<br />

letzte Worte an nicht anwesende Freunde<br />

sind überliefert: „Sagen Sie ihnen, dass<br />

ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“<br />

Ob wundervoll, sei dahingestellt, zu sehr<br />

schimmert immer wieder Leiden, quälende<br />

Sinnsuche und manische Selbsterhöhung<br />

durch. Doch ungewöhnlich,<br />

spannungsgeladen und alles andere als<br />

langweilig war sein Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit.<br />

Wittgenstein wurde 1886 in Neuwaldegg<br />

als Sohn eines der reichsten Menschen Europas,<br />

des Industriemagnaten und „österreichischen<br />

Carnegie“ Karl Wittgenstein<br />

geboren. Ludwig hatte vier Brüder und<br />

drei Schwestern. Eine auf strenge Disziplin<br />

ausgerichtete Erziehung sowie möglicherweise<br />

eine genetische Disposition<br />

sollte dazu führen, dass sich später drei<br />

seiner Brüder das Leben nahmen. Ludwig<br />

erhielt in den ersten Jahren Privatunter-<br />

Von Reinhard Engel<br />

richt im Wiener Familienpalais in der Argentinierstraße,<br />

doch er wollte eine öffentliche<br />

Schule besuchen. Für die Zulassung<br />

an Wiener Gymnasien reichten die Privatstunden<br />

nicht, also wurde er in einer Linzer<br />

Gewerbeschule eingeschrieben, übrigens<br />

in jener, die auch zur selben Zeit Adolf Hitler<br />

besuchte. Ob die beiden, die in unterschiedlichen<br />

Klassen waren, miteinander<br />

Kontakt hatten, ist nicht sicher.<br />

Ursprünglich wollte Ludwig in Wien<br />

bei Ludwig Boltzmann Physik inskribieren.<br />

Doch der berühmte Professor nahm<br />

sich auf einer Urlaubsreise in Duino das<br />

Leben, Wittgenstein musste umdisponieren.<br />

Sein Vater Karl wollte die Söhne<br />

auf spätere Positionen in seinen Industrieunternehmen<br />

vorbereiten, daher zog<br />

Ludwig nach Berlin und studierte Maschinenbau.<br />

1906 nahm er in Manchester ein<br />

Ingenieurstudium mit Schwerpunkt Luftfahrt<br />

auf, beschäftigte sich dort auch intensiv,<br />

aber kurz mit der Berechnung von<br />

Propellern, doch dann faszinierten ihn<br />

Mathematik, Logik und Philosophie immer<br />

stärker. Er übersiedelte nach Cambridge,<br />

wo ihn Bertrand Russel als Student<br />

akzeptierte.<br />

Nach einer ersten Begegnung meinte<br />

der Autor der Principia Mathematica noch,<br />

es sei Zeitverschwendung, mit dem „hitzigen<br />

Deutschen“ zu streiten, aber schon<br />

wenig später attestierte er ihm höchste Intelligenz,<br />

schnelle Auffassungsgabe und<br />

Talent, aber er erkannte bereits seine<br />

schwierige Persönlichkeit: „Seine Verfassung<br />

ist die eines Künstlers, intuitiv und<br />

launisch. Er sagt, dass er seine Arbeit jeden<br />

Morgen hoffnungsvoll beginne und jeden<br />

Abend in Verzweiflung ende.“<br />

Wittgenstein studierte intensiv, hatte<br />

seine erste – homosexuelle – Beziehung,<br />

zog sich monatelang nach Norwegen in<br />

eine einsame Hütte zurück, um an logischen<br />

Problemen zu arbeiten. 1913 starb<br />

sein Vater und Ludwig erbte ein gewaltiges<br />

Vermögen, das er allerdings in Kürze<br />

verschenkte, an seine Geschwister und an<br />

bedürftige Künstler.<br />

Der Kriegsausbruch 1914 bot ihm die<br />

Gelegenheit, aus der Welt der schwierigen<br />

Gedanken in eine grausame Welt der Realität<br />

zu wechseln. Wittgenstein meldete<br />

sich freiwillig, übernahm als vorgeschobener<br />

Artillerie-Beobachter an der russischen<br />

Front gefährlichste Einsätze, wurde<br />

auch mehrmals dekoriert. Den Krieg beendete<br />

er als Leutnant an der italienischen<br />

Front und wurde dort noch mehrere<br />

Monate gefangen gehalten.<br />

Trotz extremer Beanspruchungen hatte<br />

er während der Kampfeinsätze und Internierung<br />

an seinem ersten – und wohl bekanntesten<br />

– Werk gearbeitet, dem Tractatus<br />

logico-philosophicus. Dieser sollte dann<br />

1921 in Deutschland erstmals publiziert<br />

werden, wirklich bekannt wurde er aber<br />

erst in der englischen Übersetzung mit einem<br />

Vorwort von Bertrand Russel. Es ist<br />

ein hoch kompliziertes Werk, das sich mit<br />

den Beziehungen zwischen Sprache und<br />

Denken befasst, das mit messerscharfen,<br />

strikt durchnummerierten Dogmen die<br />

Philosophie in enge Grenzen verweist und<br />

einen Gutteil von ihr als sinnlos und spekulativ<br />

abschmettert. Es lässt aber dennoch<br />

ein breites Feld für nicht logisch erfassbare<br />

menschliche Tätigkeiten frei,<br />

etwa Religion oder Mystizismus. Darüber<br />

könne man aber nicht sprechen, das ließe<br />

sich bloß zeigen.<br />

Wittgenstein dachte, dass er mit diesem<br />

intellektuellen Paukenschlag einen Großteil<br />

Jahrhunderte alter philosophischer<br />

Probleme gelöst habe, die Wissenschaft<br />

brauche ihn nun nicht mehr. Er wandte<br />

sich ganz anderen Tätigkeiten zu. Erst arbeitete<br />

er als Gärtner in einem Kloster, erwog<br />

sogar kurzzeitig, selbst in einen Orden<br />

einzutreten. Dann nahm er mehrere Anstellungen<br />

als Dorfschullehrer in der niederösterreichischen<br />

Buckligen Welt an,<br />

galt dort als rührender Förderer begabter<br />

Kinder und ebenso brutaler Zuchtmeister<br />

dümmerer Mädel und Buben. Ohrfeigen,<br />

das Reißen an den Haaren, gar das blutig<br />

Schlagen gehörten dazu und führten letzten<br />

Endes zu seiner Entlassung.<br />

© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com<br />

54 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 54 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35


Verfassung eines Künstlers<br />

© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com<br />

Ende der 1920er-Jahre kehrte Wittgenstein<br />

dann wieder nach Cambridge zurück.<br />

Nicht zuletzt kritische Artikel zu seinem<br />

Tractatus hatten ihn einsehen lassen, dass<br />

er als junger Mann doch nicht so viele Probleme<br />

endgültig gelöst hatte, wie er damals<br />

dachte, er müsse sich wohl weiter schwierigen<br />

philosophischen Fragen widmen. Für<br />

den korrekten Einstieg in die englische akademische<br />

Welt brauchte er eine Dissertation,<br />

Russel akzeptierte den Tractatus als<br />

solche. Bald nach seiner akademischen Akzeptanz<br />

erhielt Wittgenstein 1939 mit Hilfe<br />

des Ökonomen John Maynard Keynes auch<br />

die britische Staatsbürgerschaft.<br />

Das jüdische Vermächtnis. Das war für ihn<br />

die Absicherung gegenüber dem Zugriff<br />

der Nationalsozialisten, nicht aber für<br />

seine Geschwister. Nach den NS-Rassengesetzen<br />

hatten sie nämlich drei jüdische<br />

Großeltern, das machte sie zu Volljuden.<br />

Die Eltern von Ludwig<br />

Wittgenstein: Karl und<br />

Leopoldine Wittgenstein,<br />

geb. Kallmus.<br />

Wittgenstein<br />

dachte, dass<br />

er mit diesem<br />

intellektuellen<br />

Paukenschlag<br />

einen Großteil<br />

Jahrhunderte<br />

alter<br />

philosophischer<br />

Probleme<br />

gelöst<br />

habe.<br />

Mit langwierigen Verhandlungen – und<br />

angeblich unter direkter Beteiligung Hitlers<br />

– gelang es, einen Deal mit den Behörden<br />

zu erreichen. Der Status wurde auf<br />

Halbjuden heruntergesetzt, das ermöglichte<br />

Ludwigs Geschwistern die Ausreise.<br />

Dafür sollen aber astronomisch hohe Summen<br />

aus Schweizer Tresoren an die Nazis<br />

geflossen sein.<br />

Diese Reichtümer hatte Ludwigs Vater<br />

Karl Otto Clemens in einer einzigen Generation<br />

angehäuft, wiewohl bereits dessen<br />

Vater, Herrmann Christian Wittgenstein,<br />

ein ostdeutscher Wollhändler und späterer<br />

Immobilieninvestor in Wien, der gemeinsam<br />

mit seiner ebenfalls jüdischen Frau<br />

zum Protestantismus übergetreten war, es<br />

schon zu einem gewissen Wohlstand gebracht<br />

hatte. Dessen Vater, Moses Meyer,<br />

hatte im Dienst der Westfälischen Sayn-<br />

Wittgenstein-Hohenstein Güter verwaltet<br />

und nach einem Dekret der französischen<br />

Besatzungsmacht als Nachname den seiner<br />

Grundherren angenommen.<br />

Karl Otto Clemens Wittgenstein war<br />

mindestens so unruhig, wie es später sein<br />

Sohn Ludwig werden sollte. Er schmiss die<br />

Schule hin, ging in die USA, wo er sich als<br />

Musik- und Sprachlehrer, als Kellner, Barmusiker<br />

und Matrose auf einem Binnenschiff<br />

verdingte. Nach seiner Rückkehr<br />

studierte er in Wien ein knappes Jahr an<br />

der Technischen Hochschule, ehe er wieder<br />

abbrach. Über Vermittlung eines Verwandten<br />

begann er dann in einem Walzwerk<br />

in Nordböhmen als technischer<br />

Zeichner zu arbeiten.<br />

Von da an ging es steil bergauf.<br />

1876 war er schon Direktor in<br />

diesem Werk, bald auch Hauptaktionär.<br />

Wieder einige Jahre<br />

später hatte er bereits einen integrierten<br />

Industriekonzern geformt,<br />

von der Stahlschmelze<br />

bis zu Endprodukten wie Sensen.<br />

Und seine Fabriken standen<br />

längst nicht mehr nur in Böhmen,<br />

sondern auch in Niederösterreich<br />

und in der Steiermark,<br />

wo ihm die Alpine Montangesellschaft<br />

gehörte. Wittgenstein galt<br />

als Kombi-Talent von Techniker<br />

und Manager, er modernisierte<br />

seine Werke, erhöhte stetig Effizienz<br />

und Betriebsleistung. Ökonomische<br />

Weitsicht brachte ihn<br />

auch dazu, in den USA, in den Niederlanden<br />

und in der Schweiz zu investieren, das<br />

sollte seinen Erben dann einen Gutteil ihres<br />

Vermögens in der Zeit der Depression<br />

und Hyperinflation sichern.<br />

Und Wittgenstein genoss seinen Reichtum<br />

auch. Er hatte mehrere Palais und<br />

Landhäuser, gemeinsam mit seiner Frau<br />

Leopoldine, einer geborenen Kalmus mit<br />

jüdischem Vater und slowenisch-katholischer<br />

Mutter, führte er einen eleganten<br />

Salon, in dem Künstler wie Johannes<br />

Brahms, Gustav Mahler, Bruno Walter<br />

oder Pablo Casals zu Gast waren. Er förderte<br />

auch die Wiener Sezessionisten und<br />

besaß wertvolle Gemälde, etwa französischer<br />

Impressionisten.<br />

Ludwig wurde katholisch getauft, sah<br />

sich aber stets als areligiös, obwohl ihn<br />

Rituale, Metaphysik und Mystiker interessierten.<br />

Und auch wenn er keine formale<br />

jüdische Bildung erhalten hatten, sagte er<br />

einmal: „Meine Gedanken sind hundert<br />

Prozent hebräisch.“ Ob er damit nur die<br />

jüdische oder auch die christliche Tradition<br />

gemeint hatte, ist nicht eindeutig belegt.<br />

wına-magazin.at<br />

55<br />

sommer_doppel1.indb 55 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35


Dokumentarischer Essay<br />

Der Wiener Schriftsteller und<br />

Zwischenwelt-Redakteur Alexander<br />

Emanuely zeichnet<br />

in seinem jüngsten Buch Das Beispiel<br />

Colbert ausgehend von der<br />

Biorafie und dem vielfältigen<br />

Wirken Carl Colberts ein vielschichtiges<br />

Panorama des gesellschaftlichen<br />

Aufbruchs um 1900<br />

in Österreich. Er spürt dabei den<br />

Anfängen der Zivilgesellschaft<br />

nach und holt vieles inzwischen<br />

im allgemeinen Bewusstsein<br />

Vergessene wieder hervor.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Porträt einer Zeit<br />

voller Umbrüche<br />

Ein Vergessener ist auch der<br />

Titelgeber. Carl Colbert,<br />

1855 in Wien als Carl Cohn<br />

geboren, war ein Kind seiner<br />

Zeit und der Zeit doch immer<br />

wieder einen Schritt voraus. Nach dem<br />

frühen Tod ihres Vaters 1836 übernahm<br />

die Mutter, Charlotte Cohn, die Wechselstube<br />

Mercur ihres Schwagers und leitete<br />

auch das gleichnamige Lotterie-Ziehungslistenblatt.<br />

Der Sohn, der in Wien<br />

das Akademische Gymnasium und dann<br />

eine Handelsakademie besuchte, arbeitete<br />

zunächst in der Wechselstube mit<br />

und gründete später mit seinem Schwager<br />

Alexander Gut das Bankhaus C. Cohn<br />

und Gut. Nach und nach begann er sich<br />

aber weg von einem Kapitalisten, hin zu<br />

einem Medienmacher und Sozialreformer<br />

zu bewegen. Er gab das Bankhaus auf,<br />

heiratete die Pianistin Antonie Wolff, änderte<br />

seinen Familiennamen in Colbert<br />

und trat aus der Kultusgemeinde aus.<br />

1887 gründete er die Zeitschrift Wiener<br />

Mode, die nicht nur in der k.u.k. Monarchie<br />

erschien und in mehreren Sprachen<br />

veröffentlicht wurde. Spätere Publikationen<br />

wurden politischer, etwa die Wochenzeitung<br />

Morgen oder die sozialistischpazifistische<br />

Boulevardzeitung Abend. Als<br />

Freimaurer engagierte er sich zunächst<br />

für das private Hilfsprojekt eines Kinderasyls<br />

im Kahlenbergerdorf. Nach<br />

und nach wurde ihm aber klar, dass es<br />

hier grundsätzliche Reformen braucht,<br />

und er setzte sich zunehmend für Kinder<br />

und gegen Kinderarbeit, aber auch<br />

für Frauen und deren volle bürgerliche<br />

Rechte ein. Er engagierte sich im Verein<br />

Freie Schule, aus dem die Kinderfreunde<br />

hervorgingen, für eine Kunstschule für<br />

Frauen, die heutige Modeschule Hetzendorf,<br />

und begründete eine erste Sozialakademie<br />

mit. Im Alter begann er zudem,<br />

Romane zu schreiben. Den Nationalsozialismus<br />

erlebte Colbert nicht mehr, er<br />

Alexander Emanuely:<br />

Das Beispiel Colbert.<br />

Fin de siècle und<br />

Republik. Ein dokumentarischer<br />

Essay.<br />

Verlag der Theodor<br />

Kramer Gesellschaft<br />

2020, 656 S., € 36<br />

© Wien Museum, Wikipedia<br />

56 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 56 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:36


Wegbereiter<br />

Wiener Mode. 1887 von<br />

Carl Colbert gegründet,<br />

erschien das Blatt in mehreren<br />

Sprachen nicht nur<br />

in der k. u. k. Monarchie.<br />

Er zeichnet vielmehr das Entstehen von<br />

Zivilgesellschaft nach und verfolgt die<br />

Lebenswege etwa von Teilnehmern der<br />

1848er-Revolution bis in die USA.<br />

Der Morgen. Die Wiener<br />

Wochenzeitung erschien<br />

von 1910 bis 1938 und war<br />

eine etwas politischere<br />

Gründung Colberts.<br />

starb 1929 in Wien. Sein Sohn Ernst Colbert<br />

wurde 1943 in Auschwitz ermordet.<br />

Emanuely geht es in seinem umfassenden<br />

Tableau aber nicht nur um Colbert.<br />

Er zeichnet vielmehr das Entstehen<br />

von Zivilgesellschaft nach und verfolgt<br />

die Lebenswege etwa von Teilnehmern<br />

der 1848er-Revolution bis in die USA,<br />

wie jenen des Arztes Joseph Goldmark,<br />

dem Bruder des bekannten Komponisten<br />

Karl Goldmark. Er und andere sogenannte<br />

„Forty-Eighters“ hätten der<br />

Demokratie in den Vereinigten Staaten<br />

neue Impulse gegeben, schreibt Emanuely<br />

etwa, „weil sie Abraham Lincoln in<br />

seinem Kampf gegen die Sklaverei nicht<br />

nur unterstützt haben, sondern maßgeblich<br />

am Erfolg seiner Politik beteiligt waren“.<br />

So habe Goldmark beispielsweise in<br />

Brooklyn 1860 den King’s County Republican<br />

Club mitbegründet, der Lincoln bei<br />

den Präsidentschaftswahlen unterstützen<br />

sollte.<br />

Partizipation an der Mitgestaltung. Die<br />

bürgerlichen Revolutionen des 18. und<br />

19. Jahrhunderts bedeutete für viele Europäer<br />

und Nordamerikaner einen Befreiungsschlag<br />

gegen die Herrschaft absolutistischer<br />

und feudaler Monarchien.<br />

Und Colbert kam mit genau diesen Ideen<br />

und Idealen der Aufklärung schon<br />

früh in Berührung und entwickelte<br />

daraus sein soziales Engagement,<br />

sein Eintreten für Frauenrechte,<br />

für Kinderrechte. Denn, so Emanuely,<br />

„Freiheit und Zurückdrängen<br />

der staatlichen Herrschaft<br />

bedeutete noch lange nicht den<br />

Beginn einer neuen Gleichheit aller<br />

Menschen bzw. deren Partizipation<br />

an der Mitgestaltung von Gesellschaft<br />

und Politik und schon gar nicht das<br />

Ende von Armut und Ausbeutung.“<br />

Und so ist Emanuelys „dokumentarischer<br />

Essay“ viel mehr als das: Ihm ist<br />

hier eine umfassende Betrachtung des<br />

Kampfes um eine gerechtere Gesellschaft<br />

gelungen, des Strebens nach sozialem<br />

Ausgleich, nach Reformen, die<br />

Frauen unabhängiger machten, die Kindern<br />

eine bessere Zukunft ermöglichten.<br />

Colbert war einer jener, die dem Roten<br />

Wien den Weg bereiteten und es vorantrieben.<br />

wına-magazin.at<br />

57<br />

sommer_doppel1.indb 57 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39


Israelisch & jüdisch<br />

„Es gibt kein Vorher<br />

und kein Nachher“<br />

Liebesleben, Mann und Frau, Späte Familie, Schmerz: Zeruya Shalevs Romantitel führen durch<br />

ein Lebenswerk im wahrsten Sinn. Wie die Geschichte zweier Frauen mit der Geschichte ihres<br />

Landes verknüpft ist, zeigt Schicksal, das jüngste Buch der israelischen Bestseller-Autorin.<br />

Von Anita Pollak<br />

Vom „Gründerhügel“ aus, in einer<br />

jüdischen Siedlung im Westjordanland,<br />

blickt Rachel hinab in<br />

die Wüste und zurück auf ihr Leben. In<br />

den 1970er-Jahren ist sie mit ihrer Familie<br />

und einigen wenigen Gleichgesinnten<br />

hoffnungsfroh hierhergezogen, nun<br />

wohnen hier viele Tausende und müssen<br />

immer noch mit „gezogenen Waffen“ bewacht<br />

werden. Nein, so hat sich die Neunzigjährige<br />

ihr Leben nicht vorgestellt. Dem<br />

Kampf um das Land, dem Kampf gegen die<br />

britische Mandatsmacht in Palästina, hat<br />

sie in ihrer Jugend fast alles geopfert, nun<br />

ist Rachel eine der letzten Zeuginnen, die<br />

von der Untergrundorganisation Lechi berichten<br />

kann. Von ihren toten Helden, ihren<br />

spektakulären Aktionen und ihrem<br />

Scheitern. Denn im Gegensatz zur vielgerühmten<br />

Haganah wurde die Rolle der Lechi,<br />

die als Terrororganisation nach der<br />

Staatsgründung Israels 1948 sogar verboten<br />

wurde, lange verschwiegen. Und auch<br />

Rachel wird nicht mehr zugehört. Bis sich<br />

eines Tages eine viel jüngere Frau, Atara,<br />

für ihre Geschichte interessiert. Aus sehr<br />

persönlichen Gründen. Denn Rachel war,<br />

wie Atara nach dem Tod ihres Vaters, des<br />

Hirnforschers Meno Rubin, herausfindet,<br />

dessen erste Frau. Nur ein Jahr dauerte die<br />

„unreife Ehe“ der beiden zwanzigjährigen<br />

Untergrundkämpfer, beide gründeten danach<br />

eigene Familien und trafen einander<br />

nie wieder. Und doch hat sie ihr Vater, unter<br />

dessen grausamer Kälte sie als Kind so<br />

gelitten hatte, dass sie seinen Tod herbeisehnte,<br />

auf seinem Sterbebett ungewohnt<br />

zärtlich Rachel genannt.<br />

Schuld ohne Sühne. „Es gibt kein Vorher<br />

und Nachher in der Tora“, hat Meno die<br />

kleine Atara einmal belehrt, und dieser<br />

talmudische Grundsatz könnte auch als<br />

Motto über Zeruya Shalevs Roman stehen.<br />

Vorher und Nachher, Vergangenheit<br />

und Gegenwart scheinen in der Geschichte<br />

der beiden Frauen genauso wie<br />

Zeruya Shalev:<br />

Schicksal.<br />

Aus dem Hebräischen<br />

von Anne Birkenhauer.<br />

Berlin Verlag <strong>2021</strong>,<br />

416 S., € 24,70<br />

„Verhängnisvolle Familiendramatik,<br />

das kann Shalev<br />

eben am besten.“<br />

in der Geschichte Israels schicksalhaft<br />

miteinander verknüpft. Als Architektin<br />

hat sich Atara bezeichnenderweise auf<br />

die sensible Restaurierung alter Gebäude<br />

spezialisiert. Ihre erste Begegnung mit Rachel<br />

wird durch deren Sohn gestört, der<br />

ein ultraorthodoxer Kabbalist geworden<br />

ist. Mit ihrem zweiten Besuch macht<br />

sich Atara unschuldig schuldig am plötzlichen<br />

Tod ihres Ehemannes Alex, eine Erkenntnis,<br />

die sie besonders im Gefolge der<br />

Schiva, der Trauerwoche mit ihren vielen<br />

ungebetenen Gästen, zu Boden wirft. Szenen<br />

ihrer spannungsreichen zweiten Ehe<br />

mit Alex, für die beide ihre ersten Familien<br />

verließen, Schuldgefühle den erwachsenen<br />

Kindern gegenüber, Unsühnbares<br />

und Ungesühntes verdunkeln Ataras Bewusstsein.<br />

Über viele Dutzende Seiten seziert<br />

Shalev die umwölkte Psyche der zur<br />

Witwe gewordenen Frau, quälend auch<br />

für den empathischen Leser.<br />

An den eigenen Ansprüchen, den eigenen<br />

Erwartungen scheitern Partner, scheitern<br />

Eltern, scheitern Idealisten. Und selbst<br />

das Schuldgefühl ist eine Hybris, eine „Unglück<br />

bringende Überheblichkeit“. Zeichenhaft<br />

blitzt immer wieder das Bild des<br />

biblischen Sündenbocks auf.<br />

Verhängnisvolle Familiendramatik, das<br />

kann Shalev eben am besten. Und so universal,<br />

so allgemein menschlich Beziehungen,<br />

Verfehlungen und Konflikte<br />

auch sind: Shalevs Szenarien spielen immer<br />

vor der unverwechselbaren Kulisse<br />

Israels. Diesmal kommt dem Land selbst<br />

aber eine wesentliche Rolle zu. Auch ihr<br />

eigener Vater, so die Autorin in einem Interview,<br />

war in seiner Jugend kurze Zeit<br />

Kämpfer in der Lechi gewesen. Zeit seines<br />

Lebens wollte sie seine Erzählungen<br />

nicht hören, nach<br />

seinem Tod jedoch begann sie<br />

die Geschichte zu faszinieren,<br />

und sie begann zu recherchieren.<br />

Rachel ist ihr Sprachrohr<br />

für die Heldensaga der mutigen<br />

Pioniere geworden. Sie, die alte unentwegte<br />

Idealistin, muss das Pathos nicht<br />

scheuen, wenn sie wie ein Mantra immer<br />

wieder die Namen der jungen Opfer vor<br />

sich hersagt, wenn sie daran erinnert, mit<br />

welch hohem Blutzoll Israels Freiheit erkämpft<br />

wurde. Ein Pathos, das zumindest<br />

in der deutschen Übersetzung oft seltsam<br />

archaisch anmutet.<br />

Aber Schicksal ist nicht nur Shalevs bisher<br />

israelischster Roman, er ist auch ihr<br />

jüdischster. Und da kann die studierte Bibelwissenschaftlerin<br />

aus dem Vollen der<br />

heiligen Schriften, Gebetstexte und Rituale<br />

schöpfen. Wodurch wird „Tikkun“, die<br />

„Reparatur“ der Welt, die Verbesserung<br />

des Landes, die Erlösung der Menschen<br />

erreicht? Shalevs Figuren sind Suchende,<br />

ihre Wege sind verschieden. „Gott?! Seit<br />

wann ist Gott ein Teil unseres Lebens? Unserer<br />

Familie?“, schleudert Atara entsetzt<br />

ihrem Sohn Eden entgegen, dem Elitesoldaten,<br />

der sich plötzlich der Orthodoxie<br />

zuwenden will.<br />

Er ist nur ein Teil des Spektrums der israelischen<br />

Gesellschaft, das Zeruya Shalev<br />

in ihrem breit angelegten Erzählpanorama<br />

altmeisterlich entfaltet. Wie bei<br />

einem guten Bild kann darin jede und jeder<br />

seine Sicht darauf einbringen, andere<br />

Geschichten aus diesem vieldeutigen Buch<br />

herauslesen.<br />

wına-magazin.at<br />

58<br />

sommer_doppel1.indb 58 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39


Nicht Ihresgleichen<br />

Stresstest für Bobos<br />

„Es kann der Frömmste nicht in Friede leben, wenn es dem bösen<br />

Nachbar nicht gefällt.“ Wie ein Beweis für dieses Schiller-<br />

Zitat liest sich der Gesellschaftsroman Leute wie wir, in dem die<br />

israelische Autorin Noa Yedlin klug, witzig und ein bisschen<br />

boshaft ihre Generation der Forty-Somethings porträtiert.<br />

Von Anita Pollak<br />

Jetzt ist das Viertel zwar noch ein bisschen<br />

abgesandelt, seine Bewohner<br />

vielleicht nicht gerade Leute, mit denen<br />

man unbedingt Freundschaft schließen<br />

möchte, aber das sind doch hässliche<br />

Vorurteile, und in spätestens zehn Jahren<br />

wird das hier ein angesagtes Trendviertel<br />

sein, in dem man sich keine Wohnung wird<br />

leisten können, geschweige denn ein Haus.<br />

So denken Osnat und ihr Mann Dror, als sie<br />

mit beiden Töchtern in ihr stylish renoviertes<br />

Haus im Viertel Drei-Fünf im Süden Tel<br />

Avivs einziehen, ein urbanes, akademisch<br />

gebildetes Bobo-Paar Anfang vierzig, wie<br />

es überall in der westlichen Welt zu Hause<br />

sein könnte.<br />

Sie arbeitet in einem mächtigen Lebensmittelkonzern,<br />

er hat seine IT-Stelle gekündigt,<br />

um daheim seine Start-up-Idee zu<br />

entwickeln, ein Programm, das<br />

„pornografische Komponenten“<br />

im Internet identifiziert<br />

und gleichzeitig Eltern warnt,<br />

sobald ihre Kinder auf einschlägigen<br />

Seiten landen. Also sammelt<br />

er ganztags pornografische<br />

„Muster“ zum guten Zweck und<br />

bekocht als Hausmann nebenbei die Töchter.<br />

Möglichst gesund, wünscht sich Osnat,<br />

denn die elfjährige Hamutal ist bereits fast<br />

zu dick. Was kein Problem sein sollte, aber<br />

trotzdem. Kein Problem sollte auch Hamutals<br />

neue Freundin sein, deren Eltern<br />

Kampfhunde halten und züchten. Sogar<br />

der unmittelbare Nachbar, der alte Israel,<br />

der gefühlt 24/7 unbeweglich im Garten<br />

sitzt, alles sieht und seinen gewohnten<br />

Parkplatz notfalls militant verteidigt, sollte<br />

kein Problem sein. Doch es kann eben der<br />

Frömmste nicht in Frieden leben ... Wer hat<br />

den naiven Neuen den Briefkasten eingeschlagen,<br />

wer bei ihnen eingebrochen und<br />

auf dem blanken Badezimmerboden einen<br />

Scheißhaufen hinterlassen, und was wollte<br />

der Einbrecher damit sagen?<br />

Ressentiments. Recht bald dämmert den<br />

Eheleuten, dass ihre Nachbarn jedenfalls<br />

nicht „Ihresgleichen“ sind, obwohl<br />

sie sich für diese Gedanken politisch korrekt<br />

schämen. „Menschen tun sich nun<br />

mal mit Menschen zusammen, die ihnen<br />

ähnlich sind, was die Wertvorstellungen<br />

angeht, Kultur, Lebensstil, das ist<br />

auf der ganzen Welt so, das erscheint mir<br />

jetzt nicht unbedingt … irgendwie sensationell<br />

neu“, meint Dror, der von Anfang<br />

an lieber nach Rechovot gezogen wäre, in<br />

die Nähe des Weizmann-Instituts, wo die<br />

geistigen Eliten des Landes wohnen, sich<br />

untereinander paaren und ihre dementsprechend<br />

hochbegabten Kinder auf die<br />

„Menschen tun sich nun mal<br />

mit Menschen zusammen,<br />

die ihnen ähnlich sind.“<br />

Noa Yedlin:<br />

Leute wie wir.<br />

Aus dem<br />

Hebräischen von<br />

Markus Lemke.<br />

Kein & Aber <strong>2021</strong>,<br />

411 S., € 23,70<br />

richtigen Schulen schicken. Ja, wie für alle<br />

bildungsbürgerlichen Eltern wird die anstehende<br />

Schulauswahl ein fast existentieller<br />

Stress, denn die kleine Hannah in die<br />

nächstgelegene staatliche Schule zu schicken,<br />

bei aller gutmenschlichen Liebe,<br />

nein nicht fürs eigene Kind!<br />

Diffizil und treffend, hinterhältig,<br />

schlau und raffiniert entlarvt Noa Yedlin<br />

die Ressentiments der entsprechenden<br />

Schicht der Forty-Somethings, ihre inneren<br />

und äußeren Konflikte, ihre Ängste<br />

und Bedürfnisse.<br />

So ihre Angst vor der eigenen Spießigkeit,<br />

gepaart mit dem Bedürfnis nach Sicherheit,<br />

ihre Angst vor dem alten Nachbarn,<br />

der der Tochter Süßigkeiten zusteckt,<br />

ihre Angst davor, ihr Angst zu machen, Osnats<br />

latente Lust auf einen Seitensprung,<br />

gepaart mit ihrer Angst vor dem Zerbrechen<br />

ihrer Ehe, die seit dem Umzug in die<br />

neue Gegend ohnehin dauerkriselt. Was<br />

macht Dror eigentlich wirklich, während<br />

er stundenlang mit dem Kampfhund-Welpen<br />

unterwegs ist, der ihnen als Geschenk<br />

aufgedrängt wurde?<br />

Über ein knappes Jahr, in Monatskapitel<br />

unterteilt, entfaltet Yedlin ihren Gesellschaftsroman<br />

als eine Art Psychothriller,<br />

wobei die einzelnen Fakten schemenhaft<br />

im Dunkeln bleiben. Nicht so wichtig ist<br />

letztlich, wer was tatsächlich getan hat. Was<br />

gedacht, was angedeutet, aber nicht ausgesprochen<br />

wurde, macht die subtile Spannung<br />

aus. Wobei man ihrer Protagonistin<br />

Osnat beim Denken und Reden fast in Echtzeit<br />

folgen muss, was zuweilen auch nerven<br />

kann. So genau will man das alles vielleicht<br />

doch nicht wissen.<br />

Den Zeitgeist einer Generation hat die in<br />

Israel hoch ausgezeichnete Autorin jedenfalls<br />

exemplarisch getroffen. Mag der Immobilien-Hype<br />

in ihrer Heimat noch krasser<br />

sein als anderswo, mögen die einzelnen<br />

soziologischen Mikrokosmen, das entsprechende<br />

Lokalkolorit spezifisch israelisch<br />

sein: Insgesamt sind Osnat und Dror doch<br />

„Leute wie wir“ oder, je nachdem, wie unsere<br />

Kinder.<br />

59 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 59 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39


WINA WERK-STÄDTE<br />

Tina Blaus „Frühling im<br />

Prater“ aus dem Jahr<br />

1882 befindet sich heute<br />

im Wiener Belvedere.<br />

Wien<br />

Auch die Wiener Bevölkerung<br />

zieht es wieder ins Ausland.<br />

Dabei hat die Stadt herrliche<br />

Naturerlebnisse zu bieten,<br />

wie die Landschaften von<br />

Tina Blau beweisen.<br />

Von Esther Graf<br />

ina Blau zählt zu den bedeutendsten<br />

österreichischen Malerinnen<br />

des 19. Jahrhunderts.<br />

1845 als Tochter des jüdischen<br />

k. k. Militärarztes Simon Blau<br />

geboren, offenbarte sich bereits<br />

in jungen Jahren ihr künstlerisches Talent,<br />

das die Eltern förderten. Ihre Ausbildung<br />

erhielt sie unter anderem von August<br />

Schaeffer von Wienwald, dem späteren Direktor<br />

des Kunsthistorischen Museums. Stilistisch<br />

zählt sie zu den Hauptvertreter:innen<br />

des Stimmungsimpressionismus, der die österreichische<br />

Freilichtmalerei von 1870 bis<br />

1900 bezeichnet. Der Begriff stammt aus der<br />

späteren Kunstgeschichtsschreibung in Abgrenzung<br />

zur heroisierenden Landschaftsmalerei<br />

des Historismus. Möglicherweise<br />

aus Karrieregründen konvertierte Tina<br />

Blau 1883 zum Protestantismus und heiratete<br />

den deutschen Pferde- und Schlachtenmaler<br />

Heinrich Lang. Das Paar zog nach<br />

München, wo Blau ab 1889 an der „Damenakademie“<br />

des Münchner Künstlerinnenvereins<br />

Landschafts- und Stilllebenmalerei<br />

unterrichtete und 1890 im Kunstverein<br />

ausstellte. Nach dem Tod ihres Mannes unternahm<br />

sie ausgedehnte Studienreisen und<br />

kehrte anschließend nach Wien zurück, wo<br />

sie unweit der Prater-Rotunde ihr Atelier einrichtete.<br />

Zusammen mit Rosa Mayreder und<br />

anderen Künstler:innen gründete sie 1897<br />

eine Kunstschule für Frauen und Mädchen<br />

in Wien und leistete damit einen wichtigen<br />

Beitrag zur Förderung von Frauen in der österreichischen<br />

Kunst. 1916 starb sie an Herzstillstand.<br />

Ihr Ehrengrab befindet sich auf<br />

dem Wiener Zentralfriedhof, Tor 3.<br />

© https://digital.belvedere.at/objects/8033/fruhling-im-prater (Commons Wikimedia); 123RF<br />

60 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

WIEN<br />

In der österreichischen Hauptstadt entstand die erste jüdische Gemeinde ab etwa 1200<br />

und bestand bis zum landesweiten Pogrom (Wiener Gesera) 1420/21. Trotz eines Ansiedlungsverbots<br />

bis 1624 und weiteren Vertreibungen etablierten sich eine aschkenasische<br />

und eine sefardische Gemeinde. Die rechtliche Gleichstellung 1867 führte zur Blütezeit<br />

des jüdischen Lebens in Wien bis zum „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Dem Großteil<br />

der über 185.000 Jüdinnen und Juden gelang die Flucht. Von den ca. 65.000 Verbliebenen<br />

überlebten nur etwa 2.000. Heute leben um die 8.000 in Wien. ikg-wien.at<br />

sommer_doppel1.indb 60 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:40


URBAN LEGENDS<br />

Wenn sich<br />

Gräben auftun<br />

Der Nahostkonflikt ist seit Langem globaler Spielball<br />

verschiedenster Interessen. Traurig ist, wenn Jugendliche, die<br />

tausende Kilometer entfernt von Israel und Gaza leben,<br />

dadurch gegeneinander aufgehetzt werden.<br />

ocial Media at their worst: Wenn Raketen Richtung<br />

Israel fliegen und Israel seinerseits militärische<br />

Ziele in Gaza bombardiert, entstehen im<br />

Nu zig Memes, die geteilt und geteilt und geteilt<br />

werden. Meine Tochter zeigte mir dieser Tage<br />

ein besonders heftiges: In Comic-Manier gezeichnet,<br />

ist darauf zu sehen, wie auf einen Israeli eine TV-Kamera<br />

gehalten wird, während über der Grenze die Leichen<br />

von Palästinensern – sehr blutig<br />

Von Alexia Weiss dargestellt, etwa mit abgetrenntem<br />

Kopf – am Boden liegen. Solche Darstellungen<br />

werden dann auch von Jugendlichen hier in<br />

Österreich weitergepostet, und der Hinweis, dass hier<br />

doch auch einmal ein Blick auf Nachrichtenportale gut<br />

wäre, wird weggewischt. Man habe schon seine verlässlichen<br />

Quellen. Und „die Medien“ würden ja nicht objektiv<br />

berichten.<br />

Nun ist es ja tatsächlich so, dass auch aus jüdischer<br />

Perspektive so manche Berichterstattung über<br />

Vorkommnisse in Israel etwas biased erscheint. Aber<br />

dennoch: Wer anerkannten Zeitungen und Fernsehstationen,<br />

die sich grundsätzlich um objektive Berichterstattung<br />

bemühen, nicht mehr glaubt, sondern sich<br />

nur mehr über Memes, die via WhatsApp und Instagram<br />

weitergereicht werden, informiert, ist am Ende eben<br />

nicht informiert und im schlechtesten Fall gebrainwasht.<br />

Ähnliches war in den vergangenen Monaten<br />

auch in Sachen Corona-Pandemie zu beobachten.<br />

In Israel selbst sorgten diesen <strong>Mai</strong> nicht nur die Raketenangriffe<br />

für Aufregung, sondern auch Ausschreitungen<br />

arabischer Israelis gegen ihre jüdischen Nachbarn.<br />

Keine Rede mehr von friedlicher Koexistenz, da<br />

wurde geplündert und niedergebrannt. Eran Singer,<br />

der sich im israelischen Fernsehen (Channel 11) und<br />

Radio (Kann Reshet Bet) seit Jahren für ein friedliches<br />

Miteinander einsetzt, beklagte nun, dass vor allem die<br />

jüngere Generation nur mehr auf Basis dessen handle,<br />

was sie auf Social Media erfahre. Und wenn dort Hass<br />

geschürt wird, führt das dann auch zu Gewalt auf der<br />

Straße.<br />

Was positiv stimmt: Sofort gab es in Israel zig Demonstrationen,<br />

bei denen Israelis – jüdisch und arabisch<br />

– gemeinsam für Frieden und vor allem für ein<br />

friedliches Miteinander auf die Straße gingen. Und<br />

dennoch bleibt: Dieses gute Miteinander wird sehr<br />

rasch sehr brüchig.<br />

Wer anerkannten Zeitungen und<br />

Fernsehstationen nicht mehr<br />

glaubt, sondern sich nur mehr über<br />

Memes informiert, ist am Ende eben<br />

nicht informiert und im schlechtesten<br />

Fall gebrainwasht.<br />

Das zeigte sich bei den Ausschreitungen in Lod in<br />

Israel. Das zeigte sich aber auch tausende Kilometer<br />

entfernt bei einer Kundgebung in Wien, bei der Hamas-Fahnen<br />

zu sehen und antisemitische Sprechchöre<br />

zu hören waren. Mit dabei auch Wiener Jugendliche,<br />

mobilisiert via WhatsApp und Instagram, die meinen,<br />

sie gehen hier für die gerechte Sache auf die Straße.<br />

Die gar nicht merken, wie sie hier instrumentalisiert<br />

werden und dass sich das eine Unrecht nicht gutmachen<br />

lässt, indem man selbst anderes Unrecht begeht.<br />

Da zerbrechen dann auch vom einen auf den anderen<br />

Tag Freundschaften, da entsteht in so manchem Klassenzimmer<br />

eine vergiftete Atmosphäre. Einfach nur<br />

zum Verzweifeln.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

61<br />

sommer_doppel1.indb 61 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:40


JUNI/JULI KALENDER<br />

KONZERT<br />

18.30 Uhr, Floridsdorfer Brücke/<br />

Schulschiff, 1210 Wien<br />

kultursommerwien.at<br />

23. JULI<br />

ALLES MIT GEFÜHL<br />

Im Rahmen des Wiener Kultursommers<br />

spielt auch Scheiny’s All Star Yiddish<br />

Revue endlich wieder öffentlich in Wien:<br />

Nuch amol mit Feeling heißt das aktuelle<br />

Programm, noch einmal mit Gefühl, und<br />

präsentiert frechen Swing, modernen<br />

Klezmer und musikalische Comedy aus<br />

dem pulsierenden Herzen des Mid-century-„Borsht<br />

Belt“. Let’s sing!<br />

UNGER BEI SEELIGER<br />

Am 20. Juni war Filmregisseurin, Drehbuchautorin,<br />

Journalistin und Moderatorin, kurz:<br />

das selbstbewusste Wiener weibliche Multimedientalent<br />

Mirjam Unger bei Chuzpe<br />

zu Gast. Unger, die Hauptabendmainstreamserien<br />

wie die Vorstadtweiber, den<br />

österreichischen „Landkrimi“ und den ZDF-<br />

Weihnachtsfilm Alle Nadeln an der Tanne<br />

ebenso zu ihrem Repertoire zählt wie unter<br />

die Haut gehende Dokumentationen, wie<br />

Armut ist kein Kinderspiel oder Die Frau an<br />

der Waffe, und vielbeachtete Kinofilme wie<br />

<strong>Mai</strong>käfer flieg!, reiht sich damit bruchlos in<br />

die hochkarätige und vielstimmige Gästeschar<br />

der von Journalistin<br />

Avia Seeliger gestalteten<br />

erfolgreichen Podcast-<br />

Reihe der IKG.Kultur ein<br />

und erzählt ihre Sicht auf<br />

jüdische Themen unserer<br />

Zeit. Heiß zum Nachhören!<br />

PODCAST<br />

https://anchor.fm/chuzpe<br />

THEATERWANDERUNG<br />

8.45 Uhr, Treffpunkt<br />

Büro Krimml Tourismus,<br />

Oberkrimml 37, 5743 Krimml<br />

teatro-caprile.at<br />

25. JUNI BIS 4. JULI <strong>2021</strong><br />

FLUCHT-SPUREN<br />

1993 gegründet, hat sich teatro caprile in den<br />

letzten Jahren auf innovative Theaterprojekte<br />

spezialisiert, die mit ungewöhnlichen szenischen<br />

Mitteln mitten hineinführen in historisch<br />

aufgeladene österreichische Landschaften.<br />

<strong>2021</strong> setzt das freie Ensemble seine erfolgreiche<br />

Reihe der „Krimmler Theaterwanderungen“<br />

mit dem Projekt Flucht über die Berge fort<br />

und begibt sich „in Memoriam Marko Feingold“<br />

auf die „Spuren des jüdischen Exodus<br />

von 1947“. Marko Feingold (1913–2019) verhalf<br />

in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs über 5.000 jüdischen Holocaust-<br />

Überlebenden, die die Schoah zwar überstanden<br />

hatten, in einem Europa der Verfolgung,<br />

Ermordung und Ausgrenzung aber nicht<br />

mehr ihre Heimat sahen, zur Flucht. Er plante<br />

die Fluchtroute über den Krimmler Tauern gemeinsam<br />

mit dem jüdischen Bergführer Viktor<br />

Knopf, von dort aus ging es für viele über<br />

Italien weiter nach Palästina und „Eretz Israel“.<br />

teatro caprile folgt einer Teilstrecke der beschwerlichen<br />

und gefährlichen Route mit einer<br />

Reihe von Szenen, die tiefe Einblicke in die<br />

politische und gesellschaftliche Situation jener<br />

Jahre liefern und die traumatische persönliche<br />

Situation Überlebender sensibel beleuchtet.<br />

Konzept, Text, Regie: Andreas Kosek; Bergcoaching:<br />

Hans Nerbl; mit: Heide Maria Hager, Andreas Kosek,<br />

Céline Nerbl, Astrid Perz, Gabi Schall, András Sosko,<br />

Ivana Stojkovic u. a.; Aufführungstermine: 25., 27.06.<br />

sowie 2., 3. u. 4.07.<strong>2021</strong>; Buchungen über teatro.caprile@aon.at<br />

MUSIKTHEATER<br />

20 Uhr<br />

Porgy & Bess,<br />

Riemergasse 11, 1010 Wien<br />

porgy.at/events/10512/<br />

28. JUNI <strong>2021</strong><br />

MAHOGONNY –<br />

THE ORIGINAL<br />

Im Pay-as-you-wish-Stream – man kann<br />

aber auch vorbeikommen und live dabei<br />

sein! – präsentiert Musiktheater<br />

Wien e.V. in der Regie von Bruno Berger-Gorski<br />

und musikalisch geleitet von<br />

Anna Sushon die 1927 uraufgeführte<br />

Kammeroper von Kurt Weill und Bertolt<br />

Brecht Mahagonny – ein Songspiel.<br />

Niemand ahnte damals, bei der<br />

ersten Zusammenarbeit von Brecht,<br />

Weill und Caspar Neher als Ausstatter,<br />

dass hier neue Musiktheatergeschichte<br />

geschrieben werden würde. Die Uraufführung<br />

wurde Triumph und Skandal<br />

zugleich – die Partitur wurde kurz<br />

darauf zurückgezogen, und Weill und<br />

Brecht begannen, aus dem Stoff gemeinsam<br />

ihre monumentale abendfüllende<br />

Oper Aufstieg und Fall der Stadt<br />

Mahagonny zu entwickeln. Mit der<br />

Aufführung des ursprünglichen Songspiels<br />

bietet diese Produktion ein seltenes<br />

historisches Zeugnis, das man sich<br />

nicht entgehen lassen sollte. Vor Ort<br />

oder zu Hause: eine Empfehlung!<br />

Mit: Ethel Merhaut, Victoria Hotjanov, Franz<br />

Gürtelschmied, Wolfgang Resch, Shlomi Wagner,<br />

Ognjen Milivojsa, Zoryana Kushpler, Gail<br />

Gilmore<br />

© MichaelaKrauss-Boneau, Adrian Leiter, IKG.Kultur, Scheiny/Presse, Porgy&Bess/Presse, INJOEST<br />

62 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 62 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:46


Von Angela Heide<br />

KOCHEN & MORE<br />

ikg-wien.at/delicious-dishes-<br />

jewish-cooking-class/<br />

JÜDISCHES<br />

„WECK & REX“<br />

Farbige Gaumenfreuden gewiss!<br />

Barbara Herscovici, Gesundheitswissenschaftlerin<br />

und Essensforscherin,<br />

(ver)führt auch in der<br />

neuen Folge der beliebten Reihe<br />

Delicious Dishes – Jewish cooking<br />

class in die Kunst des Kochens und<br />

Genießens. Dieses Mal geht es –<br />

passend zur Jahreszeit mit ihren<br />

wunderbaren frischen, fruchtigen<br />

Gemüse- und Obstsorten, von denen<br />

man sich zwar nie satt essen<br />

kann, aber dann doch merkt, dass<br />

nicht alles in den Bauch geht und<br />

etwas von den farbenfrohen Mengen<br />

aufbewahrt werden sollte für<br />

die grauen Tage, die einigermaßen<br />

prognostiziert werden können –,<br />

diesmal also geht es ums Fermentieren.<br />

Ob Obst, ob Gemüse, ob<br />

Curry, Gurken oder Paradeiser: Was<br />

diese Kunst des glasigen Haltbarmachens<br />

so alles in sich birgt, davon<br />

erzählt Barbara Herscovici nicht<br />

nur, sondern zeigt so manches Rezept,<br />

auf das wir uns alle schon einigermaßen<br />

gespannt einwecken<br />

können. Lassen wir also die Bakterien<br />

für uns arbeiten, für alles andere<br />

ist es derzeit eh zu heiß!<br />

THEATER (7+)<br />

Innenhof des Volkskundemuseums,<br />

Gartenpalais Schönborn,<br />

Laudongasse 15–19, 1080 Wien<br />

volkskundemuseum.at<br />

23. JUNI BIS 18. JULI <strong>2021</strong><br />

MÄRCHENHAFTE STADT-<br />

MUSIKANTEN IN WIEN<br />

Mit ihren poetischen, immer auch gesellschaftlich<br />

brisante Themen aufgreifenden Freilufttheaterproduktionen<br />

für alle haben sich Zenith Productions<br />

für Theater und Musik in den letzten<br />

Jahren einen veritablen Namen gemacht und<br />

sind aus dem Wiener Sommer eigentlich nicht<br />

mehr wegzudenken. <strong>2021</strong> widmen sie sich einem<br />

der bekanntesten und schönsten Märchen aus<br />

der Sammlung der Brüder Grimm, den Bremer<br />

Stadtmusikanten. Selbstbewusst verlegt Autor<br />

und Regisseur Kari Rakkola das Märchen nach<br />

Wien und lässt die vier von der Ermordung bedrohten<br />

alten Tiere, einen Esel, einen Hund, eine<br />

Katze und einen Hahn, in die heiße Donaustadt<br />

ziehen, um hier eine Band zu gründen und ihren<br />

Lebensunterhalt endlich selbstbestimmt zu verdienen.<br />

Es ist ein Märchen, das über Hoffnung<br />

und Mut erzählt, darüber, dass man stärker wird,<br />

wenn man sich „zusammentut“, und darüber,<br />

dass man in jedem Alter die Chance bekommen<br />

soll, neu anzufangen und Freund*innen zu finden.<br />

Entstanden ist eine fantasievolle, liebevolle,<br />

lebensbejahende Inszenierung von und für alle<br />

Generationen mit viel Musik, die neben aller Tiefe<br />

auch mit viel Humor die Geschichte in den barocken<br />

Innenhof des wunderbaren Gartenpalais<br />

Schönborn zaubert.<br />

15 Vorstellungen von 23. Juni bis 18. Juli; freiwillige<br />

Spende (die Hälfte geht an UNICEF); Reservierungen<br />

über +43/(0)677/614 05 081<br />

facebook.com/zenithproductionsvienna<br />

TAGUNG<br />

Volkskundemuseum,<br />

Laudongasse 15–19, 1080 Wien<br />

volkskundemuseum.at<br />

7. BIS 9. JULI <strong>2021</strong><br />

30. INTERNATIONALE<br />

SOMMERAKADEMIE<br />

Unter dem Titel Antisemitismus als Code.<br />

Forschung – Prävention – Intervention findet<br />

von 7. bis 9. Juli im Wiener Volkskundemuseum<br />

die 30. Internationale Sommerakademie<br />

des Instituts für jüdische Geschichte<br />

Österreichs statt. Diskutiert werden judenfeindliche<br />

Codes und Stereotype, die im kollektiven<br />

Gedächtnis fest verankert sind und<br />

in den letzten Jahren aus unterschiedlichen<br />

Gründen verstärkt wieder auftauchen. Diese<br />

„unbewusste Wiedererkennung“ erzeugt<br />

„Vertrautheit und damit eine Bereitwilligkeit<br />

zur Rezeption bis hin zur Anerkennung der<br />

Faktizität“. Wie kann man, ist eine der Frage<br />

der hochkarätig besetzten Tagung, diesem<br />

Phänomen wissenschaftlich begegnen, wie<br />

aber auch Programme für unterschiedliche<br />

Gruppen entwickeln, um sich damit auch<br />

im Alltag, in Bildung, Zusammenleben und<br />

Kommunikation auseinanderzusetzen? Die<br />

Vortragenden der diesjährigen Sommerakademie<br />

sind Expert*innen zu Themen wie<br />

Judenhass und Antisemitismus vom Mittelalter<br />

bis in unsere Gegenwart wie auch<br />

Expert*innen, wenn es darum geht, „Maßnahmen<br />

zur Prävention und Intervention bei<br />

antisemitischen Haltungen und Handlungen“<br />

zu entwickeln und zu implementieren.<br />

Fragen & Anmeldungen unter office@injoest.ac.at<br />

injoest.ac.at/de/aktuelles<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

63<br />

sommer_doppel1.indb 63 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:47


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich reisen wollte, aber doch nicht<br />

durfte, war wenige Wochen nach der Geburt<br />

meines Kindes. Es ist ein Baby für<br />

Fortgeschrittene – ich bin Anfängerin.<br />

Diese Lautstärke bei gleichzeitig fehlendem<br />

Schlaf hat mich trotz der Freude hart<br />

erwischt. Da kam der Satz aus mir: „Wie<br />

schön wäre es, einfach für ein Wochenende<br />

auf Erholung zu fahren.“ Ich meinte<br />

natürlich ohne Baby.<br />

Das letzte Mal, dass ich mich gerne mit<br />

einem Wochenendurlaub belohnt hätte,<br />

ist eigentlich jetzt. Jetzt bin ich an einem<br />

Punkt, an dem ich uns gern dafür belohnen<br />

würde, wie gut wir mittlerweile mit den<br />

Grenzerfahrungen des Elternseins umgehen.<br />

Unser Baby dürfte jetzt sogar mit.<br />

Das letzte Mal, dass ich von einer Reise<br />

am liebsten nicht wieder zurückgekommen<br />

wäre, war – wenn ich etwas antworten<br />

muss – Pula in Kroatien. Eigentlich freue<br />

ich mich nämlich immer aufs Zurückkommen<br />

zu unseren Katzen. Aber dieser Urlaub<br />

war der perfekte Sommer: ein Mobile<br />

Home direkt am Meer. Der Morgenkaffee im<br />

Schlafgewand am Strand. Eine Wespe beobachten,<br />

wie sie sich Stück für Stück vom<br />

Schinken schneidet. Eine Reisegemeinschaft,<br />

die ich ins Herz geschlossen habe.<br />

Das letzte Mal, dass ich etwas unfrisiert<br />

gemacht habe, war heute: ein Spaziergang<br />

im Prater mit dem Haarknoten von vorm<br />

Schlafengehen am Vorabend. Für die Lesebühne<br />

bin ich dann doch zu eitel für keine<br />

Frisur, aber privat bin ich für eine Frisur, die<br />

sitzt, oft zu faul.<br />

Das letzte Mal, dass ich auf einer Veranstaltung<br />

mit perfekt frisierten Menschen<br />

war, war vielleicht bei meiner Sponsion.<br />

Außerdem war ich die einzige Frau mit<br />

Hose. Das hat mich doch etwas schockiert.<br />

Das war viel auffälliger als jegliche Haartracht.<br />

VOM WEGFAHREN<br />

UND WESPEN<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem Monat<br />

berichtet Autorin Nadine Kegele aus der Baby-Nachtschicht von<br />

einem Urlaub, der niemals hätte zu Ende gehen müssen.<br />

Die Vorarlbergerin Nadine Kegele, 40, debütierte 2013 mit dem Buch Annalieder,<br />

im selben Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen und gewann<br />

dort den Publikumspreis. 2017 erschien ihre Protokollsammlung Lieben muss man<br />

unfrisiert über das Selbstverständnis von Frauen. Im Text für das Theaterstück Bin<br />

noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse beschäftigte sie sich mit Therese Zauser,<br />

geboren 1910, die als 19-Jährige Feldkirch verließ und als Artistin arbeitete. In<br />

Nordafrika und den Mittelmeerländern trat sie als Sängerin und Tänzerin (oder,<br />

wie sie es nannte, „danseuse et chanteuse fantaisiste“) auf. Nach einem Auftritt in<br />

Deutschland wurde Zauser wegen feindlicher Äußerungen gegenüber dem Naziregime<br />

denunziert, verhaftet und im Oktober 1941 in das KZ Ravensbrück transportiert.<br />

Dort verliert sich ihre Spur. Die Sterbeurkunde des KZ Ravensbrück ist auf<br />

den 11. Februar 1942 datiert.<br />

Bin noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse:<br />

30.6., 20 Uhr, Theater Hamakom,<br />

hamakom.at<br />

© www.detailsinn.at<br />

64 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 64 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:48

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