Wina Mai 2021
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<strong>Mai</strong> <strong>2021</strong><br />
Iyar/Siwan 5781<br />
#4, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
wina-magazin.at<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
9 120001 135738<br />
04<br />
RAKETEN, SOCIAL<br />
MEDIA UND<br />
APFELSTRUDEL<br />
Israel unter Beschuss:<br />
Berichte und Analysen<br />
NORMALES LEBEN<br />
NACH DER IMPFUNG<br />
Pfizer: Ein jüdischer und ein<br />
muslimischer Migrant in den USA<br />
wollen gemeinsam die Welt retten.<br />
ISRAELS<br />
WUNDERFRAUEN<br />
Ein eigenes Museum rückt Heldinnen<br />
und Gründerinnen des Staates<br />
ins Ramenpenlicht<br />
SHTISEL-MANIA<br />
Eine orthodoxe Familie erobert die<br />
Streaming-Welt – mit Charme, Tam<br />
und Suchtfaktor<br />
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variieren. Die Lohnsteuer wird aber<br />
monatlich berechnet – so, als würden<br />
Sie das ganze Jahr über gleich viel<br />
verdienen.<br />
Zählt man jedoch die unterschiedlichen<br />
Löhne bzw. Gehälter<br />
zusammen und berechnet dann die<br />
Steuer, kommt oftmals ein Guthaben<br />
heraus.<br />
Außerdem können Sie in der<br />
Arbeitnehmerveranlagung Folgendes<br />
geltend machen:<br />
• Werbungskosten: z. B. Ausund<br />
Fortbildungsmaßnahmen,<br />
Arbeitsmittel<br />
• Sonderausgaben: z. B.<br />
Wohnraumschaffung und<br />
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Not in my Name – lo be shmi<br />
schrieben sich unzählige Frauen<br />
in Israel in ihre Handflächen und<br />
protestieren so gegen Gewalt<br />
und Hass im eigenen Land.<br />
Editorial<br />
Der Atemzug zwischen der Euphorie über fallende<br />
Masken und einen Hauch an Normalität und Freiheit<br />
und dem Sirenengeheul des Krieges war zu<br />
kurz, um richtig durchatmen zu können. Kaum<br />
haben die Israelis die Quarantäne verlassen, müssen sie<br />
auch schon zurück in die Enge ihrer Sicherheitsräume und<br />
Bunker. Erneut bringt ein bewaffneter Konflikt zwischen<br />
der Terrororganisation Hamas und Israel Angst und Trauer<br />
über die Region. Das ist nichts Neues, könnte man denken.<br />
Doch dieser Konflikt birgt einige neue Momente in sich, die<br />
einen mit Sorge erfüllen.<br />
Anfang April tauchte das erste Video über den Social-Media-Kanal<br />
TikTok auf, in dem ein muslimischer Israeli einen<br />
orthodoxen Juden in einer Jerusalemer Straßenbahn ohrfeigt.<br />
Seither tauchen immer wieder Videos mit ähnlichem<br />
Inhalt auf und erinnern erschreckend an Aufnahmen aus<br />
dem Zweiten Weltkrieg.<br />
Eine Ohrfeige ist erniedrigend, das wird jeder<br />
Psychologe bestätigen. Geohrfeigte Menschen<br />
sind keine kriegerischen Auseinandersetzungen,<br />
brennende Synagogen nicht<br />
der legitime Ausdruck politischer Kritik. Das<br />
sind eindeutig rassistisch, antisemitisch motivierte<br />
Gewaltakte. Und Gewalt schürt Gewalt<br />
– vermutlich ist das reines Kalkül – und<br />
stärkt damit die Extreme auf beiden Seiten.<br />
Zugleich werden aber auch die sozialen Medien<br />
genutzt, um zu angeblich israelkritischen<br />
Veranstaltungen aufzurufen, die derzeit europaweit<br />
vielerorts stattfinden. Die jüdische<br />
Bevölkerung des Kontinents zeigt sich besorgt<br />
über den on- und offline erfahrenen Hass und<br />
die rasch ansteigende Bedrohung: Flaggenverbrennungen<br />
vor Synagogen in Deutschland,<br />
Skandieren antisemitischer und rassistischer<br />
Propaganda in Wien, Amsterdam, London – es sind Reminiszenzen<br />
an die dunkelsten Jahre unserer Geschichte.<br />
Der Konflikt in Israel ist bedrohlich und komplex – Emotionalität,<br />
Unwissenheit und Fake News machen ihn nur<br />
noch gefährlicher. Und mittlerweile haben nicht nur die<br />
Menschen der Region Angst. Doch Angst ist kein guter Ratgeber.<br />
Das haben wir spätestens durch die Pandemie begriffen.<br />
Sie hat in den letzten Monaten zu falschen Entscheidungen,<br />
Verschwörungstheorien und Aggression geführt,<br />
anstatt jede vorhandene Energie in die Lösung einer weltweit<br />
bedrohlichen Situation zu investieren. Sie hat dazu geführt,<br />
dass sich das Virus explosionsartig verbreiten konnte.<br />
Nach vielen Monaten unermüdlicher internationaler Forschung<br />
hoffen wir derzeit alle, dass die Impfungen nun das<br />
Ende der Pandemie bedeuten werden.<br />
Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien<br />
ähneln in ihrem Verhalten Viren: Sie mutieren schnell, damit<br />
wir sie nicht erwischen können. Doch nach Jahrhunderten<br />
rassistischer und antisemitischer Gewaltäußerungen und<br />
dem Versuch, diese zu analysieren, zu verstehen und zu verhindern,<br />
stehen wir im <strong>Mai</strong> <strong>2021</strong> erneut vor der Situation, dass<br />
wir keine wirklichen Gegenmittel gegen dieses Virus haben,<br />
das sich ebenso pandemisch wieder zu verbreiten versucht.<br />
Quarantäne hilft da wohl nichts. Wissen, ausgewogene Berichterstattung<br />
und Dialog auf allen Seiten könnten vermutlich<br />
zumindest maskenähnlich vor der Verbreitung schützen.<br />
Doch die Impfung, die uns alle einmal ein friedliches Miteinander<br />
erleben lässt, muss noch gefunden werden.<br />
Julia Kaldori<br />
„Unsere Zweifel<br />
sind Verräter und<br />
häufig die Ursache<br />
für den Verlust<br />
von Dingen,<br />
die wir gewinnen<br />
könnten, scheuten<br />
wir nicht den<br />
Versuch.“<br />
William Shakespeare<br />
© Ariella Bernstein<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
sommer_doppel1.indb 1 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:37
S.20<br />
Marianne Kohn arbeitete für Federico Fellini<br />
und Pier Paolo Pasolini als Cutterin, leitete danach<br />
in Wien den Klub U4 und das Café Europa,<br />
und führt seit 1995 die von Adolf Loos gestaltete<br />
American Bar.<br />
„Meine Bar hat zwei<br />
Weltkriege überlebt.<br />
Corona wird<br />
sie auch<br />
überleben.“<br />
Marianne Kohn<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Web & Social Media: Agnieszka Madany<br />
a.madany@jmv-wien.at<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Die „unmögliche Regierung“<br />
Israels Regierung basiert auf einem<br />
gebrochenen Wahlkampfversprechen<br />
und besteht aus acht Parteien – spannende<br />
Voraussetzungen.<br />
11 „Jüdisch, aber sehr nett“<br />
Auf hunderten Karteikarten klassifizierten<br />
die Concierges eines Schweizer<br />
Luxushotels über Jahrzehnte die<br />
Gäste.<br />
14 „Interreligiöses Denken“<br />
Ihre Arbeit sieht Ruth Lauppert-<br />
Scholz als einen Beitrag zu mehr Akzeptanz<br />
und Toleranz von Diversität.<br />
16 „Benennen und besprechen“<br />
Patrick Siegele, bisher Direktor des<br />
Anne Frank Zentrums in Berlin, übernimmt<br />
die Leitung von _erinnern.at_.<br />
18 Schäm dich, Europa!<br />
Susanne Scholl hat in den Corona-bedingten<br />
Lockdowns Ernüchterndes<br />
zur Verfasstheit Europas zusammengetragen.<br />
20 MenTschen<br />
Marianne Kohn – eine Institution des<br />
Wiener Nachtlebens – leitet seit 1995<br />
die von Adolf Loos gestaltete American<br />
Bar in der Wiener Innenstadt.<br />
24 Ein Mord, der nachwirkt<br />
Der Vater seiner Großmutter wurde in<br />
der NS-Zeit eines Tages abgeholt und<br />
kam nicht mehr wieder – eine Erzählung,<br />
die Axel Magnus Leben prägte.<br />
28 Auf Dauer beschädigt<br />
In seinem Band Der Semmering. Eine<br />
exzentrische Landschaft legt Wolfgang<br />
Kos Schichten und Geschichte des legendären<br />
Luftkurorts frei.<br />
INHALT<br />
30 In Nostalgie hineinwachsen<br />
Seit 2015 wird der Kultur.Sommer.<br />
Semmering in der Intendanz von<br />
Florian Krumpöck zunehmend<br />
erfolgreicher.<br />
32 Beton und Poesie<br />
In Tel Aviv starb 90-jährig der begnadete<br />
Bildhauer Dani Karavan, bekannt<br />
vor allem für seine begehbaren Kunstwerke<br />
und Erinnerungsdenkmäler.<br />
34 Cherchez la femme<br />
Auf den Spuren der vergessenen<br />
Architektinnen, die einen unverzichtbaren<br />
Beitrag zur modernen architektonischen<br />
Planung in Palästina<br />
geleistet haben.<br />
36 Heikelste Sachen angehen<br />
Mit Freitagnacht Jews gelingt es Schauspieler<br />
Daniel Donskoy, auch junge<br />
Menschen für jüdische Themen zu<br />
interessieren.<br />
„Antisemitismus<br />
ist viel zu lange<br />
als<br />
abstraktes<br />
Phänomen<br />
begriffen<br />
worden.“<br />
Patrick Siegele<br />
S.16<br />
S.38<br />
Hava nagila!<br />
Wenn es wieder einmal einer Extraportion guter Laune bedarf:<br />
Dinge, die den Dopamin-Spiegel steigen lassen ...<br />
2 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 2 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:45
KULTUR<br />
42 Zwei Künstlerleben<br />
Die wiederentdeckte Marta Karlweis<br />
und der fast vergessene einstige „Weltstar<br />
des Romans“ Jakob Wassermann.<br />
46 Zwei Brüder mit Swing<br />
George und Ira Gershwin wurden Anfang<br />
der 1920er-Jahre zu einem der erfolgreichsten<br />
Paare der amerikanischen<br />
Musical-Branche.<br />
50 Ein Budapester Ritter<br />
Adolf von Sonnenthal war einer der<br />
populärsten Schauspieler seiner Zeit<br />
– und spielte am Wiener Burgtheater<br />
nicht weniger als 400 Rollen.<br />
52 Und kein bisschen leise<br />
Vom Wiener Rudolfsplatz schaffte<br />
es der heute 99-jährige begnadete<br />
Interviewer und Dokumentarfilmer<br />
Georg Stefan Troller in die weite Welt.<br />
54 Wittgensteins Familie<br />
Vor 70 Jahren starb der große Philosoph<br />
Ludwig Wittgenstein. Sein Wiener<br />
Vater war einer der reichsten Menschen<br />
Europas.<br />
56 Zeit voller Umbrüche<br />
Alexander Emanuely zeichnet in seinem<br />
jüngsten Buch Das Beispiel Colbert<br />
ein vielschichtiges Panorama des gesellschaftlichen<br />
Aufbruchs um 1900.<br />
58 Kein Vorher und Nachher<br />
Liebesleben, Mann und Frau, Späte Familie,<br />
Schmerz: Zeruya Shalevs Romantitel<br />
führen durch ein Lebenswerk im<br />
wahrsten Sinn.<br />
59 Stresstest für Bobos<br />
In dem Gesellschaftsroman Leute wie<br />
wir porträtiert die israelische Autorin<br />
Noa Yedlin klug, witzig und ein<br />
bisschen boshaft ihre Generation<br />
der Forty-Somethings.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
05 WINA_Kommentar<br />
Ein neues Institut für die Implementierung<br />
des Abraham-Abkommens.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
08 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Die neue Regierung steht jetzt für einen<br />
zivileren Umgang miteinander.<br />
Von Gisela Dachs<br />
10 WINA_Kommentar<br />
Itamar Gross über die Freude, zu<br />
zwei Mannschaften halten zu können.<br />
38 WINA_Lebensart<br />
Dinge, die den Dopamin-Spiegel<br />
steigen lassen ...<br />
38 WINA_Yoga<br />
Um zu lieben, benötigen wir vor allem<br />
bedingungslose Selbstliebe.<br />
39 WINA_kocht<br />
Ist alles in Butter mit der Butter,<br />
und wie ist das mit der Teebutter?<br />
60 WINA_Werkstädte<br />
Tina Blaus Frühling im Prater ist im<br />
Wiener Belvedere zu bewundern.<br />
61 Urban Legends<br />
Alexia Weiss über die Gräben des<br />
Nahostkonfliktes, die auch tausende<br />
Kilometer entfernt aufbrechen.<br />
62 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den Juli<br />
Coverfoto: DalaiFood / Photocase<br />
64 Das letzte Mal<br />
Autorin Nadine Kegele berichtet aus<br />
der Baby-Nachtschicht.<br />
„Fast alle<br />
namhaften Künstler<br />
der österreichischen<br />
Belle<br />
Époque waren<br />
jüdischer<br />
Herkunft.“<br />
Florian Krumpöck<br />
S.30<br />
Florian Krumpöck ist seit<br />
2015 Intendant des Kultur.<br />
Sommer.Semmering, dem<br />
erfolgreichen und aktuell einzigen<br />
Festival in der Region.<br />
WINA ONLINE:<br />
wina-magazin.at<br />
facebook.com/winamagazin<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
Auf Dauer beschädigt<br />
In seinem neuen<br />
Band Der Semmering.<br />
Eine exzentri-<br />
sommer_doppel1.indb 3 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:46
HIGHLIGHTS | 01<br />
1900Titel-hier<br />
Die JvorspannDie Jvorspann text.<br />
Die Jvorspann text. text.<br />
Guttmann studiert Medizin und sagt,<br />
Aktivismus und ihre jüdische Identität<br />
zwei Dinge, die ihr wichtig sind. „Die JÖH<br />
ist mir für mich ein Ort, wo ich diese zwei<br />
Sachen kombinieren kann.“ Sie war bereits<br />
in den vergangenen beiden Jahren Teil des<br />
Boards und ist stolz darauf, dass nun zwei<br />
Frauen die JÖH als Präsidentinnen repräsentieren.<br />
„Ich möchte, dass die JÖH ein sicherer<br />
Ort für alle Juden und Jüdinnen Österreichs<br />
ist, wo jedem geholfen wird, eine<br />
Stimme zu haben, und diese auch ausdrücken<br />
zu können, ein Ort, wo jede kreative<br />
Idee ihren Platz hat, aber auch ein<br />
Ort, wo man neue Menschen kennenlernen<br />
kann und sich gleichzeitig immer zu<br />
Hause fühlt.“<br />
Turkof studiert Bildungswissenschaften<br />
und Kultur- und Sozialanthropologie.<br />
In der jüdischen Gemeinde sowohl<br />
nach außen politisch und kulturell aktiv zu<br />
sein, sei ihr aus vielen Gründen schon immer<br />
wichtig gewesen, betont sie. „Beginnen<br />
mit dem Shomer habe ich gemerkt,<br />
dass, wenn ich etwas neuen kreieren oder<br />
verändern möchte, ich eine Gruppe von<br />
Menschen hinter mir habe, die mich unterstützt.<br />
Die JÖH ist für mich ein Ort, wo<br />
ich gemeinsam mit anderen jungen Jüdinnen<br />
und Juden eine Stimme haben kann.<br />
Besonders ist es mir wichtig, weiblichen<br />
Stimmen einen Raum zu gebeenschen<br />
kennenlernen kann und sich gleichzeitig<br />
immer zu Hause fühlt.“<br />
Turkof studiert Bildungswissenschaften<br />
und Kultur- und Sozialanthropologie.<br />
In der jüdischen Gemeinde sowohl<br />
nach außen politisch und kulturell aktiv zu<br />
sein, sei ihr aus vielen Gründen schon immer<br />
wichtig gewesen, betont sie. „Beginnen<br />
mit dem Shomer habe ich gemerkt,<br />
dass, wenn ich etwas neuen kreieren oder<br />
verändern möchte, ich eine Gruppe von<br />
Menschen hinter mir habe, die mich unterstützt.<br />
Die JÖH ist für mich ein Ort, wo<br />
ich gemeinsam mit anderen jungen Jüdin-<br />
Zitat text hier<br />
Xxxxxx<br />
00<br />
Xxxx Dollar<br />
für den Kampf gegen den Coronavirus<br />
hat Popstar P!nk gespendet,<br />
nachdem sie und ihr Sohn Covid-<br />
19-positiv getestet wurde. 500.000<br />
Dollar hat Alecia Beth Moore, wie<br />
P!nk mit bürgerlichem Namen<br />
heißt, dem Temple University<br />
Hospital in Philadelphia überwiesen,<br />
wo ihre deutsch-jüdische<br />
Mutter Judith Kugel 18 Jahre lang<br />
gearbeitet hat. None plaut quibea<br />
volorepudion eate quiaectatur,<br />
Lebensmittelexport,<br />
koscher<br />
Die WKO will österreichische Produzenten<br />
für Ausfuhren nach Israel<br />
und in die USA motivieren.<br />
Ich habe mir gedacht, für österreichische<br />
Lebensmittelproduzenten gibt es<br />
hier noch ein großes Potential“, erzählt<br />
Markus Haas, Wirtschaftsdelegierter der<br />
WKO in Tel Aviv. „Und koschere Lebensmittel<br />
können darüber hinaus nicht nur<br />
nach Israel geliefert werden, sondern<br />
auch in andere Länder mit jüdischen<br />
Konsumenten, etwa in die USA.“<br />
Aus diesem Grund organisierte die<br />
WKO im Frühjahr ein Webinar für die<br />
heimische Lebensmittelbranche, gemeinsam<br />
mit der Wirtschaftsdelegierten<br />
in Amerika. „50 Unternehmen haben<br />
aktiv teilgenommen, etwa 100<br />
weitere haben sich noch die YouTube-<br />
Präsentation heruntergeladen“, so<br />
Haas. Für praktische Fragen stand dabei<br />
der Wiener Gemeinderabbiner Shlomo<br />
Hofmeister zur Verfügung. Er erklärte<br />
die Zertifizierungs-Prozesse für unterschiedliche<br />
Lebensmittel, und er überraschte<br />
die Teilnehmer auch damit,<br />
dass die Kosten dafür dann niedriger<br />
werden, wenn die Produkte nicht nur<br />
exportiert, sondern auch den Konsumenten<br />
in österreichischen jüdischen<br />
Gemeinden angeboten werden.<br />
Derzeit liefern etwa 50 heimische Unternehmen<br />
Lebensmittel nach Israel. RE<br />
BU neu nagoflkjgkfjgkljgkgfjgkjglkgjlfkjOssimolum<br />
fugiat. Debisciis sinum aut occus<br />
dolorepe dell<br />
© Xxx<br />
4 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 4 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47
WINA KOMMENTAR<br />
Das Abraham-Abkommen hält<br />
Eine neues Institut soll die Implementierung<br />
vorwärtstreiben.<br />
ie Unterzeichner des historischen Abraham-<br />
Abkommens verhielten sich während und<br />
nach den jüngsten elftägigen Hamas-Bombenangriffen<br />
auf Israel und dessen militärischer<br />
Reaktion in Gaza darauf ziemlich leise.<br />
Es ist nicht nur ein einzigartiges Novum, dass sich muslimische<br />
Staaten mit scharfer<br />
Von Marta S. Halpert öffentlicher Kritik an Israel zurückhalten,<br />
sondern es bedeutet<br />
viel mehr, dass dieser wichtige Vertrag die Praxisprobe<br />
vorerst bestanden hat.<br />
Es war eine Sensation, als am 15. September 2020 vor<br />
dem Weißen Haus in Washington der Vertrag über diplomatischen<br />
Beziehungen und der vollständigen Normalisierung<br />
zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten<br />
(VAE), Bahrain und dem Staat Israel unterzeichnet<br />
wurde. Der Außenminister der Emirate, Abdullah bin<br />
Zayid Al Nahyan, erklärte dabei: „Wir erleben bereits<br />
heute einen Wandel im Herzen des Nahen Ostens, der<br />
weltweit Hoffnung schenken wird. Ich stehe heute hier,<br />
um eine Hand zum Frieden auszustrecken und eine<br />
Hand zum Frieden zu erhalten.“<br />
Ein Monat später trafen die Delegationen aus beiden<br />
Ländern zu einem historischen Besuch in Israel ein, um<br />
an der Unterzeichnung von vier Abkommen über Investitionen,<br />
wissenschaftliche Zusammenarbeit, Zivilluftfahrt<br />
und Visumbefreiungen im Rahmen des Abraham-<br />
Abkommens, das einem Friedensvertrag ebenbürtig ist,<br />
teilzunehmen. In der gelebten Realität bestätigt das Abkommen<br />
hauptsächlich die bereits seit Längerem bestehende<br />
Kooperation in Sicherheitspolitik, Technologie<br />
und Wirtschaft.<br />
Das wahrhaft Neue ist die Aufnahme von offiziellen<br />
diplomatischen Beziehungen: Dieses „öffentlich Machen“<br />
war möglich geworden, weil die palästinensische<br />
Frage nicht mehr ganz oben auf der Agenda stand und<br />
die arabischen Unterzeichner die Explosionsgefahr des<br />
Nahostkonfliktes nicht mehr so hoch einschätzten, dass<br />
es für sie problematisch werden könnte. Außerdem<br />
waren die VAE weder je in einen Krieg mit Israel<br />
involviert, noch genießt die Hamas im Gazastreifen,<br />
als Ableger der Muslimbruderschaft<br />
und Verbündeter des Iran, in den<br />
VAE irgendwelche Sympathien.<br />
Daher kamen zu Beginn der Kämpfe nur zögerliche<br />
Reaktionen aus den VAE, die sowohl an Israel wie<br />
auch an die Palästinenser appellierten. Erst die andauernde<br />
Auseinandersetzung um Jerusalem, die drittheiligste<br />
Stadt für Muslime nach Mekka und Medina, erzürnte<br />
die „arabische Straße“ so sehr, dass die VAE sich<br />
gezwungen sahen, den Schaden für ihr Image in der Region<br />
zu begrenzen: Erst bei der Entscheidung des Regionalgerichts<br />
von Jerusalem zur Zwangsräumung mehrerer<br />
palästinensischer Häuser im Stadtteil Sheikh Jarrah<br />
verwiesen die VAE auf das Völkerrecht, wonach die Räumung<br />
als illegal und als Menschenrechtsverletzung interpretiert<br />
würde und somit dem israelischen Narrativ<br />
eines Rechtsdisputs um Immobilien entgegenstehe.<br />
Daher kamen zu Beginn der Kämpfe<br />
nur zögerliche Reaktionen aus den<br />
Vereinigten Arabischen Emiraten,<br />
die sowohl an Israel wie auch an die<br />
Palästinenser appellierten.<br />
Abraham Accords Institute. Um diese positive Entwicklung<br />
in den Beziehungen zwischen Israel, Bahrain, Marokko,<br />
Sudan und den VAE zu vertiefen und auszubauen<br />
sowie diese Grundlage für weitere Abkommen dieser<br />
Art zwischen dem jüdischen Staat und muslimischen<br />
Ländern zu propagieren, hat Jared Kushner eine private<br />
Stiftung gegründet. Für das Abraham Accords Institute<br />
gelang es dem Trump-Schwiegersohn, eine Reihe<br />
von finanzstarken Unterstützern zu gewinnen. Dazu zählt<br />
u. a. Haim Saban, ein ägyptisch-amerikanischer Jude,<br />
der auf der Liste der größten Medienunternehmern der<br />
Welt steht. Die Botschafter der VAE und Bahrains gehören<br />
ebenso zu den Gründern wie Avi Berkowitz, ein 32-jähriger<br />
Absolvent der Harvard Law School, der bis zu seinem<br />
Wechsel in das Weiße Haus in der Kushner-Immobilienfirma<br />
beschäftigt und dort an den Verhandlungen zum<br />
Abraham-Abkommen beteiligt war.<br />
Kushner und Berkowitz haben jedenfalls den<br />
Segen der Biden-Regierung erhalten, die<br />
derartige Normalisierungsverträge begrüßt.<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
sommer_doppel1.indb 5 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47
Peinliche Wortbüche<br />
DER GEORDNETE WECHSEL<br />
Die neue Regierung basiert auf einem gebrochenen Wahlkampfversprechen. Sie<br />
besteht aus nicht weniger als acht Parteien, die ideologisch keinen gemeinsamen<br />
Nenner haben – inklusive einer islamistisch-arabischen Partei.<br />
zu einer „unmöglichen“<br />
Regierung<br />
Von Ben Segenreich<br />
Vier Parlamentswahlen von<br />
April 2019 bis März <strong>2021</strong><br />
haben jeweils Ergebnisse<br />
gebracht, die eine Regierungsbildung<br />
unmöglich<br />
machten, und deshalb hat Israel jetzt wieder<br />
eine unmögliche Regierung. Schon die<br />
zuletzt amtierende, im <strong>Mai</strong> 2020 gebildete<br />
Regierung war unmöglich gewesen:<br />
ein komplizierter Organismus mit zwei<br />
Köpfen, von denen der eine, der liberale<br />
Benny Gantz, im Wahlkampf geschworen<br />
hatte, er würde nie und nimmer mit<br />
dem anderen, dem rechtskonservativen<br />
Premier Benjamin Netanjahu, koalieren.<br />
Nach nur sieben Monaten, in denen über<br />
fast alles gestritten und fast nichts weitergebracht<br />
wurde, hauchte die gelähmte politische<br />
Missgeburt ihr Leben aus.<br />
Die 13. Juni angelobte Regierung hat<br />
mit ihrer Vorgängerin gemein, dass auch<br />
sie in einem gebrochenen Wahlkampfversprechen<br />
wurzelt. Naftali Bennett von der<br />
nationalreligiösen Yamina-Partei hatte<br />
vor laufender Kamera eine Erklärung unterschrieben,<br />
wonach er Yair Lapid von<br />
der Zentrumspartei Jesch Atid auf gar keinen<br />
Fall zum Premier machen würde. Jetzt<br />
haben die beiden einander gegenseitig zu<br />
Premiers gemacht, mit einer vereinbar-<br />
ten „Job-Rotation“ im August 2023. Und<br />
dabei hat Bennett sogar noch den Vortritt<br />
bekommen – mithin ist der Chef einer<br />
Sechs-Prozent-Partei nunmehr Israels<br />
mächtigster Mann! Noch „unmöglicher“<br />
als dieses Arrangement ist aber das Gespann,<br />
das Bennett und Lapid kutschieren<br />
wollen. Es besteht aus nicht weniger<br />
als acht Parteien, die ideologisch keinen<br />
gemeinsamen Nenner haben – mit dabei<br />
sind Tauben und Falken, militant Progressive<br />
und Erzkonservative, Antireligiöse<br />
und Religionsnahe und sogar eine islamistisch-arabische<br />
Partei.<br />
Kein gemeinsamer Nenner. Dementsprechend<br />
widersprüchlich sind die<br />
kreuzweise geschlossenen Koalitionsabkommen.<br />
Wichtige Bereiche wird diese<br />
Regierung nicht einvernehmlich bearbeiten,<br />
sondern nur ausklammern können:<br />
Justizreform, Homo- und Genderangelegenheiten,<br />
Beduinen, Migranten<br />
oder komplexe Fragen von Staat und Religion<br />
wie die Zivilehe oder Subventio-<br />
nen für religiöse Schulen. Insbesondere<br />
bei der Palästinenserpolitik vertreten die<br />
ganz „linken“ und die ganz „rechten“ Partner<br />
konträre Positionen. Nun gut, der israelisch-palästinensische<br />
Konflikt war in<br />
den vier Wahlkämpfen kein Thema, und<br />
von einem „Friedensprozess“, bei dem<br />
konkret über die Schaffung eines Palästinenserstaates<br />
entschieden werden<br />
müsste, wird auf absehbare Zeit ohnehin<br />
keine Rede sein. Aber wie soll man sich<br />
auch nur darüber einigen, ob eine Flaggenparade<br />
in Ost-Jerusalem erlaubt oder<br />
verboten wird, oder ob Budgetmittel für<br />
den Ausbau einer Siedlung bewilligt oder<br />
blockiert werden? Richtig heikel kann<br />
das werden, wenn es um die nationale Sicherheit<br />
geht, etwa bei einer Konfrontation<br />
mit dem Iran oder der Hamas. Hätte<br />
die jetzt angetretene Regierung angesichts<br />
der Raketensalven, die erst vor einem Monat<br />
in israelischen Städten einschlugen,<br />
eine gemeinsame Linie gefunden?<br />
Natürlich, es gäbe schon auch ein paar<br />
ideologiefreie Ziele, auf die alle zum Wohle<br />
aller hinarbeiten könnten, etwa billigere<br />
Wohnungen und weniger Verkehrsstaus.<br />
Aber was die Koalitionsfragmente kittet,<br />
ist nur ein einziges politisches Motiv: der<br />
beinahe schon obsessive Wunsch, Netan-<br />
© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />
6 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 6 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:47
Geordneter Wechsel<br />
© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />
Legislaturperiode von<br />
vier Jahren nicht durchstehen<br />
kann. Wenn sie<br />
schon nach wenigen Monaten<br />
zerbricht, dann<br />
kommt eben doch gleich<br />
wieder die Wahl Nummer<br />
fünf und womöglich ein<br />
großes Comeback von Netanjahu. Wenn<br />
die Koalition ihr Ziel, Netanjahu endgültig<br />
aus der Politik zu drängen, erreichen<br />
will, muss sie so lange Zeit schinden, bis<br />
die Likud-Partei in der Opposition vielleicht<br />
die Geduld verliert und ihren Vorsitzenden<br />
austauscht. Auf eine eventuelle<br />
rechtskräftige Verurteilung Netanjahus<br />
braucht man vorläufig nicht zu schielen,<br />
denn der Weg durch die Instanzen wird<br />
einige Jahre dauern.<br />
Wie auch immer – wenn in manchen<br />
Kommentaren die Schwierigkeit der Regierungsbildung<br />
als Anfang vom „Ende<br />
der Demokratie“ in Israel gedeutet wurde,<br />
so ist das ein grober Denkfehler. Parteijahu<br />
loszuwerden. Und weil dieses Motiv<br />
so stark ist, liegt darin wiederum das Potenzial<br />
zu einem Aufbruch. Nein, Israels<br />
Politik wird sich nicht fundamental ändern,<br />
bloß weil Bennett statt Netanjahu an<br />
der Spitze steht. Alle israelischen Premiers<br />
haben, innerhalb einer gewissen Bandbreite,<br />
ungefähr dasselbe gemacht, weil<br />
sie denselben nahostpolitischen und gesellschaftlichen<br />
Sachzwängen unterworfen<br />
waren. Und Netanjahu kann auf eine<br />
blendende Wirtschaftsentwicklung, beachtliche<br />
außenpolitische Erfolge, die relativ<br />
gute Bewältigung von<br />
Sicherheitskrisen und zuletzt<br />
den Sieg über die Corona-Pandemie<br />
hinweisen.<br />
Aber nach zwölf Jahren Netanjahu<br />
in einem Stück (und<br />
obwohl Kreisky und Merkel<br />
demonstriert haben, dass<br />
man auch 13 und 16 Jahre in<br />
einem Stück regieren kann)<br />
war es einfach Zeit für neue<br />
Gesichter und einen anderen<br />
Ton. Die da und dort<br />
überbordende Gehässigkeit<br />
der Netanjahu-Gegner<br />
ist fehl am Platz, aber wegen<br />
seines kantigen, manipulativen<br />
Stils und der Überheblichkeit<br />
seiner Entourage<br />
hatte sich so viel Ärger<br />
aufgebaut, dass der Premier<br />
zu einer Belastung für sein Land geworden<br />
war. Letztlich liegt es an der Person<br />
Netanjahus, dass Israel in eine innenpolitische<br />
Dauerkrise geschlittert ist. Wäre<br />
Netanjahu nach der ersten Wahl oder spätestens<br />
nach seiner Korruptionsanklage<br />
im November 2019 zurückgetreten, dann<br />
hätte Israel schon längst eine „normale“<br />
Regierung.<br />
Bloß nicht wieder wählen. Für die Bildung<br />
der „unmöglichen“ Regierungen<br />
Netanjahu-Gantz und nunmehr Bennett-Lapid<br />
und die damit verbundenen<br />
peinlichen Wortbrüche gibt es natürlich<br />
eine plausible Rechtfertigung: Man wollte<br />
„Parteienvielfalt<br />
und häufige<br />
Wahlen,<br />
nach denen<br />
man nicht<br />
immer sofort<br />
weiß, wer gewonnen<br />
hat,<br />
sind kein Zeichen<br />
von zu<br />
wenig, sondern<br />
eher von zu viel<br />
Demokratie.“<br />
dem Land einen weiteren<br />
Wahlgang ersparen. Ob<br />
das diesmal gelingt, ist<br />
völlig offen. Die neue Regierung<br />
ist derartig heterogen,<br />
dass sie eine volle<br />
Israels neuer Premier, Naftali Bennett, wendet sich<br />
nach der Sondersitzung zur Abstimmung über die<br />
neue Regierung an den scheidenden Langzeit Premier<br />
Benjamin Netanjahu.<br />
envielfalt und häufige Wahlen, nach denen<br />
man nicht immer sofort weiß, wer<br />
gewonnen hat, sind kein Zeichen von zu<br />
wenig, sondern eher von zu viel Demokratie.<br />
In Diktaturen gibt es entweder überhaupt<br />
keine Wahlen, oder man weiß schon<br />
vorher, wer gewinnt. Wenn der angeblich<br />
allmächtige, ja von manchen schon zum<br />
„Diktator“* gestempelte Netanjahu zwei<br />
Jahre lang um die Macht rangeln musste<br />
und sie am Ende verloren hat, dürften<br />
die demokratischen Institutionen in Israel<br />
doch ganz gut funktionieren. Auch<br />
der Umstand, dass der Regierungschef<br />
vor Gericht gestellt wurde, sollte eigentlich<br />
jene beruhigen, die sich um Israels<br />
Demokratie sorgen. Trotz all der Komplikationen<br />
und Emotionen ist nun im<br />
israelischen Parlament ein geordneter<br />
Machtwechsel nach allen Regeln des<br />
Grundgesetzes abgewickelt worden. Das<br />
wird nichts daran ändern, dass Israel wegen<br />
seiner äußeren Bedrohung, seiner inneren<br />
Segmentierung und seines Wahlsystems<br />
schwer regierbar ist.<br />
* haaretz.com/israel-news/elections/.premium-with-netanyahu-victory-it-s-time-we-admit-israel-has-become-a-dictatorship-1.7107324;<br />
israeltoday.co.il/read/netanyahu-is-a-dictatorsay-israelis-in-black-flag-protest/<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
sommer_doppel1.indb 7 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:48
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Neue Regierung,<br />
neues Glück?<br />
Die heterogene Koalition wird vielleicht nicht<br />
lange halten, aber sie steht schon jetzt für einen<br />
zivileren Umgang miteinander.<br />
ie Namen der neuen Amtsträger<br />
sind noch gewöhnungsbedürftig.<br />
Regierungschef Naftali Bennett,<br />
Gesundheitsminister Nitzan Horovitz,<br />
Transportministerin Merav<br />
Michaeli, um nur einige zu<br />
nennen. Gemeinsam waren die<br />
drei am Flughafen Ben Gurion<br />
aufgetaucht, um die vermeintliche Bruchstelle eines<br />
erneuten Corona-Ausbruchs im Land zu begutachten.<br />
Mit der indischen Delta-Variante hatten<br />
sich vor allem Schulkinder infiziert. Angesteckt<br />
wurden sie offenbar von geimpften Erwachsenen,<br />
die sich nicht als immun erwiesen und das Virus<br />
von einer Reise mitgebracht hatten. Man soll am<br />
besten gar nicht fliegen, falls es sich vermeiden<br />
lässt, lautete das Fazit.<br />
Ansteigende Covid-19-Zahlen gehören möglicherweise<br />
aber noch zu den leichteren Übungen<br />
der neuen Regierung. Acht Partner, die<br />
in ihrer politischen Ausrichtung kaum unterschiedlicher<br />
sein könnten, haben sich<br />
dafür zusammengetan. Dass diese Koalition<br />
überhaupt zustande kam, ist<br />
eine Leistung für sich. Dazu waren<br />
Werte, die man schon aus dem kollektiven<br />
Vokabular verschwunden<br />
Von Gisela Dachs<br />
Acht Partner, die in ihrer politischen Ausrichtung<br />
kaum unterschiedlicher sein könnten,<br />
haben sich dafür zusammengetan. Dass diese<br />
Koalition überhaupt zustande kam, ist eine<br />
Leistung für sich.<br />
geglaubt hatte, wie Teamgeist, Kompromissbereitschaft<br />
und Konsensfindung zum Prinzip erhoben<br />
worden. Kitt war der gemeinsame Wunsch, Benjamin<br />
Netanjahu nach zwölf Jahren an der Macht abzulösen<br />
und fünfte Neuwahlen zu vermeiden.<br />
Es war kein respektvoller Übergang, wie man das<br />
bisher eigentlich trotz aller Divergenzen kannte.<br />
Gerade einmal eine halbe Stunde Zeit nahm sich<br />
Netanjahu für die Geschäftsübergabe an seinen<br />
Nachfolger Zeit, zuvor soll er Dokumente geschreddert<br />
haben. Vor der Vereidigung in der Knesset ließ<br />
man Bennett keinen Satz zu Ende reden. Er nahm<br />
das stoisch hin, ließ sich nicht hinabziehen in die<br />
schlammigen Tiefen der Zwischenrufer. Einer der<br />
haredischen Abgeordneten, die neuerdings ja auf<br />
der Oppositionsbank sitzen, hat ihn im Plenum<br />
seither als „eine Null“ beschimpft. Dass Bennett,<br />
der erste Regierungschef mit Kippa, wenn auch einer<br />
nur sehr kleinen, jetzt zu den anderen gehört,<br />
verzeiht man ihm nicht.<br />
Auch konnte seine Yamina-Partei nur gerade<br />
einmal sechs Mandate hinter sich scharen. Das<br />
macht ihn zusätzlich angreifbar. Deshalb soll Bennett<br />
auch nur eine halbe Kadenz regieren und in<br />
der zweiten Hälfte das Ruder an den „alternierenden<br />
Ministerpräsidenten“, Yair Lapid, übergeben.<br />
Beide verfügen über ein Vetorecht. Damit ist dieses<br />
Arrangement mehr als ein Rotationsabkommen.<br />
Erfunden wurde es von der vorausgegangenen Regierung,<br />
weil Benny Gantz sicherstellen wollte, dass<br />
ihn Netanjahu nicht austricksen würde. Am Ende<br />
ist es dann, wie man weiß, tatsächlich nicht so weit<br />
gekommen. Es fehlte aber von Anfang an das Vertrauen.<br />
Das Gespann Bennett-Lapid beginnt unter<br />
einem viel besseren Stern. Die beiden könnten gut<br />
miteinander. Erstmal in der Geschichte des Landes<br />
aber sollen im neuen Kabinett auch die Minis-<br />
© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />
8 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 8 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:48
© Emmanuel Dunand / AFP / picturedesk.com<br />
ter rotieren dürfen. Machtteilung wurde zum Prinzip<br />
erhoben.<br />
Krasser könnte der Gegensatz zu Bibi wahrscheinlich<br />
nicht sein. In Netanjahus Welt gab es nur<br />
schwarz oder weiß, man war entweder für oder gegen<br />
ihn. Dieses binäre System ist durch ein multipolares<br />
ersetzt worden. In der Einheitsregierung<br />
gehe es „nicht um mich, sondern um uns“, versprach<br />
Bennett. Netanjahu war ein Einzelkämpfer,<br />
zutiefst misstrauisch selbst seinen engsten Mitarbeitern<br />
gegenüber, alle Karten immer nah bei<br />
sich haltend. In der One-Man-Show gab es allenfalls<br />
Platz für Statisten. Seine Anhänger, und davon<br />
gibt es immer noch viele, sehen darin Führungsqualitäten,<br />
die ein Staatsmann besonders im Nahen<br />
Osten brauchen würde.<br />
Bennett,49, steht hingegen für Teamgeist. Er ist<br />
22 Jahre jünger als Bibi, hat eine erfolgreiche Karriere<br />
als Start-up-Unternehmer hinter sich, dort<br />
zählen flache Hierarchien. Bennett müsse jetzt seinen<br />
eigenen Führungsstil ausformen und für sich<br />
beanspruchen, riet ein Kommentator, „als ein professioneller<br />
Premier und Technokrat, jung, zeitgemäß,<br />
zugänglich und sehr hightech“.<br />
Offen aber ist, wie lange die neue heterogene Regierung<br />
überhaupt halten kann. Was kontroverse<br />
Fragen angeht, wird man sich darauf einigen müssen,<br />
sie – soweit das möglich ist – zu umgehen. Angesagt<br />
ist konstruktive Politik. Man will sich auf das<br />
Machbare und Notwendige konzentrieren, vor allem<br />
die Wirtschaft, es geht darum, Posten zu besetzen,<br />
die vakant geblieben waren, Infrastrukturprojekte<br />
auf den Weg zu bringen. Zunächst aber muss<br />
erst einmal ein Haushaltsetat für <strong>2021</strong>–2022 verabschiedet<br />
werden.<br />
Viele Beobachter geben der neuen Koalition<br />
keine lange Lebensdauer. Politische Landminen<br />
Israels Präsident<br />
Reuvin Rivlin (M.),<br />
flankiert von Ministerpräsident<br />
Naftali<br />
Bennett (l.) und dem<br />
stellvertretenden<br />
Ministerpräsidenten<br />
und Außenminister<br />
Yair Lapid (r.) beim Fotoshooting<br />
der neuen<br />
Koalitionsregierung in<br />
der Residenz des Präsidenten<br />
in Jerusalem<br />
am 14. Juni <strong>2021</strong>.<br />
und Sicherheitsfragen, die schnell zu Zerreißproben<br />
werden könnten, gibt es genug. Und Netanjahu<br />
hat versprochen, auf der Oppositionsbank alles zu<br />
tun, um seine(n) Nachfolger zu stürzen. Seine fortdauernde<br />
Präsenz könnte aber auch weiterhin für<br />
den nötigen Zusammenhalt halten.<br />
Man darf gespannt sein, wie und wie lange sich<br />
die Kooperation gestalten wird zwischen einem religiösen<br />
Ministerpräsidenten, seinem säkularen Co-<br />
Premier, einer überzeugten Feministin an der Spitze<br />
der Arbeitspartei, einem bekennenden Homosexuellen<br />
als Vorsitzenden der Meretz-Partei und einem<br />
konservativen Muslim an der Spitze der Raam-Partei.<br />
Der Kreis ließe sich um eine äthiopischstämmige<br />
Ministerin und eine gehörlose Abgeordnete<br />
erweitern. So viel Diversität war noch nie.<br />
Dazu waren Werte, die man schon aus dem<br />
kollektiven Vokabular verschwunden geglaubt<br />
hatte, wie Teamgeist, Kompromissbereitschaft<br />
und Konsensfindung zum Prinzip<br />
erhoben worden.<br />
In jedem Fall aber hat mit dem Bennett-Team<br />
schon jetzt eine neue Art von Politik Einzug gehalten,<br />
die eine Zäsur signalisiert. Es könnte sein,<br />
dass es genau das ist, was das Land für einen Reset<br />
braucht, um nicht wieder an einem toten Punkt<br />
anzugelangen. Und neben einem anderen Tonfall<br />
ist noch etwas an der neuen Koalition anders – die<br />
geografische Verortung ihrer Mitglieder. Denn bis<br />
auf Mansour Abbas, der in Galiläa wohnt, und Avigdor<br />
Lieberman mit seinem Haus in einer Siedlung<br />
jenseits der Grünen Linie, leben alle anderen im<br />
Großraum Tel Aviv.<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
sommer_doppel1.indb 9 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:53
WINA KOMMENTAR<br />
Wien – Tel Aviv<br />
Als israelischer Österreicher – oder mittlerweile österreichischer Israeli in<br />
Tel Aviv – freue ich mich, dass ich zu zwei Mannschaften halten kann, mit<br />
denen ich Vertrautes assoziiere.<br />
Ich bin in Wien aufgewachsen und fühle mich in<br />
der Stadt daheim. Ich höre gerne Falco und STS,<br />
gehe Schifahren und noch lieber ins Apres-Ski,<br />
würde einen „Spritzer“ niemals „Schorle“ nennen,<br />
kenne The Sound of Music nur aus Erzählungen,<br />
und ja, das Wort Oida macht in jedem Zusammenhang<br />
Sinn.<br />
Von Itamar Gross Genau so bin ich auch meiner<br />
israelischen Seite sehr verbunden.<br />
Meine halbe Familie ist israelisch, ich wohne<br />
seit knapp zwei Jahren in Tel Aviv, stelle die Klimaanlage<br />
grundsätzlich auf -4 Grad ein, meine Pita reißt traditionell<br />
aufgrund einer Überdosis Tchina, und Prozesse, die<br />
meines Erachtens zu langsam fortschreiten, werden mit<br />
einem ungeduldigen „nu“ kommentiert.<br />
Ich bin sehr gerne israelischer Österreicher (oder<br />
mittlerweile in Tel Aviv österreichischer Israeli?) und erlebe<br />
Endrunden von Fußball-Welt- und Europameisterschaften<br />
mit einem Hauch von Ernüchterung. In dieser<br />
Zeit sind nämlich die Straßen mit Personen überfüllt,<br />
die in ihren Landesfarben geschminkt Spiele verfolgen.<br />
Bunte Fahnen wehen durch die Mengen, und jeder kleiner<br />
Pfiff des Schiris provoziert einen Aufschrei der Fans.<br />
Währenddessen musste ich in den letzten 20 Jahre zur<br />
Kenntnis nehmen, dass weder Israel noch Österreich<br />
sich in den meisten Fällen qualifiziert.<br />
Auch heuer hat sich Israel nicht qualifiziert, dafür erfreulicherweise<br />
Österreich. Mein erstes EM-Highlight<br />
hatte ich allerdings bereits in der Qualifikationsrunde,<br />
als nämlich im Ernst-Happel-Stadion Israel auf Österreich<br />
traf. Der Moment, als die israelische Hymne in<br />
Wien zu hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />
sehr gut für mich zusammengefasst. Es war<br />
ein schöner Moment des Innehaltens, für den ich sehr<br />
dankbar bin. Back to reality war ich abermals mit der<br />
Frage konfrontiert, ob ich beim Match eher zu Österreich<br />
oder Israel halte.<br />
Sobald diese Frage im Raum steht, erinnere ich mich<br />
unweigerlich an den Moment zurück, als Andi Herzog<br />
2002 ein Tor in der 92. Minute gegen Israel erzielte. Dadurch<br />
hat es Österreich auf dem letzten Drücker in die<br />
Der Moment, als die israelische<br />
Hymne im Ernst-Happel-Stadion zu<br />
hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />
sehr gut für<br />
mich zusammengefasst!<br />
Play-offs geschafft, Israel flog aus dem Turiner. Ich war<br />
damals zehn und furchtbar enttäuscht, habe ich mir<br />
doch damals das Weiterkommen Israels sehr erhofft.<br />
Bei diesem Spiel war es anders. Da rechnerisch gesehen<br />
Österreich größere Chancen hatte, bei einem Sieg<br />
an der Endrunde teilzunehmen, habe ich mich über<br />
deren Sieg gefreut. Ist das opportunistisch? Möglicherweise.<br />
Jedoch ist es auch schön, wenn man zu zwei<br />
Mannschaften halten kann, mit denen man Vertrautes<br />
assoziiert. Und wenn man nach dem Motto „Besser mit<br />
einer Mannschaft bei der EM dabei als mit keiner“ gehen<br />
möchte, dann darf man auch ein Auge zudrücken.<br />
Wenn ich mich also der eigentlichen Beantwortung<br />
des Ausgangsfrage widmen will, kann ich alles in allem<br />
sagen, dass ich sehr froh bin, mich gleichermaßen am<br />
Strand von Tel Aviv und in einem Wiener Kaffeehaus mit<br />
Melange und Kipferl zu Hause zu fühlen.<br />
Wohlgefühl<br />
mit Melange und Kipferl ebenso wie<br />
mit einer Pita, die gern mal aufgrund<br />
einer Überdosis Tchina reißt.<br />
© 123RF<br />
10 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 10 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:53
Vergessene Welt<br />
„Très juif mais gentil“<br />
In hunderten Karteikarten klassifizierten über Jahrzehnte<br />
„Sehr jüdisch, aber nett“<br />
die Concierges eines Schweizer Luxushotels ihre Gäste. Die<br />
Beschreibungen reichten dabei von gönnerisch-freundlich<br />
bis zu brutal antisemitisch. Gesammelt in einem Bildband,<br />
zeichnen diese ein gruseliges Sittengemälde vom alpinen<br />
Tourismus.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Das Grandhotel<br />
Waldhaus<br />
im<br />
Schweizerischen<br />
Vulpera<br />
versinnbildlicht<br />
eine<br />
verschwundene<br />
Welt. Es<br />
brannte 1989<br />
bis auf die<br />
Grundmauern<br />
nieder.<br />
Empfang. Die Gäste<br />
wurden genau taxiert<br />
und ihre Vorlieben,<br />
Macken etc. über<br />
Jahrzehnte notiert.<br />
Lois Hechenblaikner,<br />
Andrea Kühbacher<br />
und Rolf Zollinger (Hg.):<br />
Keine Ostergrüsse mehr!<br />
Die geheime Gästekartei<br />
des Grandhotel Waldhaus<br />
in Vulpera.<br />
Edition Patrick Frey <strong>2021</strong>,<br />
388 S., € 52<br />
© Grandhotel/ Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger, „Keine Ostergrüsse mehr!“, Edition Patrick Frey<br />
11 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 11 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:55
Kurzprosa auf Karteikarten<br />
Leicht vergilbt: die Karteikarten,<br />
auf denen Concierges und<br />
Rezeptionisten Eintragungen zu<br />
den Gästen gemacht haben.<br />
© Grandhotel/ Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger, „Keine Ostergrüsse mehr!“, Edition Patrick Frey<br />
Doch ab 1932<br />
nahmen die Einträge<br />
zu: „Ostergruß<br />
zurück“, es<br />
gab die Adressaten<br />
und ehemaligen<br />
Gäste nicht<br />
mehr an diesen<br />
Wohnorten.<br />
Die großformatigen Fotos<br />
verweisen auf eine<br />
traumhafte, luxuriöse,<br />
verschwundene Welt.<br />
Da schwimmen mehrere Großhotels<br />
zwischen Berggipfeln wie Kreuzfahrtdampfer<br />
auf hoher See. Da sitzen<br />
im Innenhof des Hotels elegante<br />
Kurgäste zwischen südlichen Pflanzen<br />
beim Tee. Da liest ein vornehmer<br />
Herr in einer mächtigen Halle<br />
mit Kassettendecke die Zeitung.<br />
Und da wiegen sich gut gekleidete<br />
Damen und Herren sinnlich beim<br />
Nachmittagstanz. Und auch die<br />
Kurpromenade entlang des reißenden<br />
Alpenflusses erinnert mit ihren<br />
wohlhabenden Flaneuren an Bad<br />
Ischl und Abbazia, Nizza und Triest.<br />
Keine Ostergrüsse mehr! heißt der<br />
Bildband aus dem Zürcher Verlag<br />
Edition Patrick Frey, herausgegeben<br />
von Lois Hechenblaikner, Andrea<br />
Kühbacher und Rolf Zollinger. Er dokumentiert<br />
den Alltag in einem feinen<br />
Berghotel im Schweizerischen Vulpera,<br />
dem Grandhotel Waldhaus. Vulpera<br />
liegt etwa in der Mitte zwischen dem Tiroler<br />
Serfaus und der bekannten Tourismusdestination<br />
St. Moritz. Das Grandhotel<br />
gibt es nicht mehr, es brannte 1989 bis<br />
auf die Grundmauern nieder und wurde<br />
nicht mehr wieder aufgebaut.<br />
Den Kern des Buches bilden freilich<br />
nicht die romantischen Schwarzweißfotos<br />
aus der Welt der Reichen und Schönen<br />
nach den beiden Weltkriegen. Es sind<br />
leicht vergilbte Karteikarten, auf denen<br />
Concierges und Rezeptionisten Eintragungen<br />
zu ihren Gästen gemacht<br />
haben, über deren Vorlieben, Macken<br />
und über die Jahre immer krasser<br />
auch über deren Herkunft oder<br />
„Rasse“. Gerettet hat dieses fast einzigartige<br />
Dokument des bösen Blicks<br />
der Dienenden auf „die da oben“ ein<br />
ehemaliger Direktor des Hotels. Der<br />
Zeitraum umspannt dabei die Zwischenkriegszeit<br />
und einige Jahre<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg, die<br />
jüngeren Exemplare fielen wohl<br />
dem Brand zum Opfer.<br />
Die Herausgeber gehen dabei<br />
systematisch vor, ziehen Leserinnen<br />
und Leser recht geschickt in<br />
ihren Sog der Angestellten-Kurzprosa.<br />
Es beginnt ganz harmlos, mit<br />
vorwiegend positiven Qualifizierungen:<br />
„Glanzgast, konsumiert gut“,<br />
liest man da und „nice and happy“,<br />
„sehr nette Gäste, finanzkräftig“.<br />
Doch langsam mischen sich bereits<br />
andere Töne in die Beschreibungen:<br />
„großer Protz à la Neureich“, heißt<br />
es, oder „ordinaire, aber ganz guter Vorsaison-Gast“,<br />
„als Lückenbüßer genommen“,<br />
„ekelhafter Nörgler aus Ungarn“.<br />
Lange Prominentenliste. Die Gäste, die<br />
meist mehrere Wochen blieben, konsumierten<br />
einen Mix aus Gesundheits- und<br />
Wellnessurlaub. Wirklich Kranke gab es<br />
nicht, diese buchten gleich die Kurhäuser<br />
in Davos. Man spazierte hier zur Quelle<br />
mit dem Mineralwasser, spielte Golf und<br />
Tennis, genoss die feine Küche. Die hohen<br />
Preise des Luxushotels sorgten für<br />
eine soziale Auslese, meist wohnten hier<br />
wına-magazin.at<br />
12<br />
sommer_doppel1.indb 12 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:57
Keine Läuterung<br />
ALPINE AUFDECKER<br />
Wer sind die Herausgeber des Bandes?<br />
Lois Hechenblaikner ist ein bekannter<br />
Tiroler Fotograf, der sich vor allem mit<br />
den Auswüchsen des alpinen Tourismus<br />
in qualitätsvollen Reportagen einen<br />
Namen gemacht hat, nicht zuletzt<br />
über Ischgl. Er bemühte sich lange Zeit,<br />
von Rolf Zollinger, einem ehemaligen<br />
Direktor des Grandhotels Waldhaus,<br />
die von diesem noch vor dem Brand<br />
geretteten Karteikarten einsehen und<br />
veröffentlichen zu dürfen, auf deren<br />
Spur er zufällig gestoßen war. Andrea<br />
Kühbacher ist eine Kulturwissenschaftlerin<br />
und Autorin aus Innsbruck.<br />
Sie war etwa Pressesprecherin des Tiroler<br />
Landesmuseums Ferdinandeum<br />
und hat gastrosophische Bücher herausgegeben.<br />
Großbürger, Adelige, Unternehmer und<br />
erfolgreiche Künstler. Die Promiliste war<br />
lang, von Theodor Heuss, dem deutschen<br />
Bundespräsidenten, über den Sänger Richard<br />
Tauber, vom israelischen Staatschef<br />
Chaim Weizmann bis zum Schriftsteller<br />
Friedrich Dürrenmatt (der übrigens einmal<br />
einen Hotel-Großbrand beschrieb,<br />
recht kurz vor jenem in Vulpera).<br />
heit gewesen sein dürften,<br />
war das Handeln um die<br />
Zimmer- und Pensionspreise<br />
wohl eher die Regel<br />
denn die Ausnahme: „Findet<br />
Zimmerpreis zu hoch“,<br />
liest man da, und immer<br />
wieder die Worte „Preisdrücker“<br />
oder „Schinder“.<br />
Das wird allerdings nie mit<br />
der Tatsache in Zusammenhang<br />
gebracht, dass es<br />
keine Fixpreise gab, sondern<br />
eine Fülle an Nachlässen,<br />
Abschlägen und<br />
Sonderkonditionen. Jene,<br />
die das wussten und danach<br />
ökonomisch rational<br />
handelten, wurden dann<br />
vom Personal verachtet.<br />
Über die Konditionen-Verhandlungen<br />
pirschen sich die Herausgeber dann an<br />
den harten Kern des Buches heran, den<br />
Judenhass. Erst beginnt es mit versteckten<br />
Qualifizierungen, immer wieder ist<br />
von „Tirolern“ zu lesen, oder „großen Tirolern“.<br />
„Gemeint waren nicht reale Nord-,<br />
Ost- oder Südtiroler, sondern es waren<br />
verklausulierte Hinweise darauf, dass es<br />
sich um jüdische Gäste handelte.“ Die Autoren<br />
vermuten, es ging dabei um eine<br />
Anspielung auf die damals sprichwörtliche<br />
Geschäftstüchtigkeit der Tiroler Wanderhändler<br />
vor allem aus dem Zillertal.<br />
Und tatsächlich klingt es seltsam, wenn<br />
von einem Dr. med. Friedlich Fischl aus<br />
der Rothausstraße (wohl der Rathausstraße)<br />
in Wien I zu lesen ist, „wollte alle<br />
Platten des Menu wechseln/Tiroler“, oder<br />
zu Paul Hecht aus Berlin, „großer Tiroler“.<br />
Ab 1929 wird dann der Ton klarer,<br />
schärfer, das Umschreiben scheint nicht<br />
mehr nötig. Da taucht dann schon wiederholt<br />
der „Stinkjude“ auf, es heißt:<br />
„Jude, zahlt nicht“, „großer Jud“ oder<br />
„ziemlich frech, Juden“. Man muss auch<br />
nicht mehr jeden Gast umwerben. Während<br />
die Deutschen wohlgelitten sind,<br />
schreibt jemand auf eine Karte: „Geht<br />
ins Kurhaus, was wir nicht bedauern, da<br />
Gemeint waren<br />
nicht reale<br />
Nord -, Ost- oder<br />
Südtiroler, sondern<br />
es waren<br />
verklausulierte<br />
Hinweise darauf,<br />
dass es<br />
sich um jüdische<br />
Gäste handelte.<br />
„Problemgäste“. Auch Wiener Namen finden<br />
sich immer wieder in den Karteikarten,<br />
etwa jene der Brauerei-Kuffners. Da<br />
sind Herr und Frau Professor Moritz Rosenthal,<br />
„ein bekannter Pianist“ oder der<br />
„Minister a. d.“ Univ. Prof. Dr. Joseph Redlich,<br />
„Herr Generaldirektor“, Frau und<br />
Tochter Bánó-Gabor aus dem vierten Bezirk<br />
oder Herr Heinrich von Boschan und<br />
Mutter aus dem dritten, und bei Richard<br />
Tauber steht als Adresse Wien-Staatsoper.<br />
Der Dramaturgie der Herausgeber folgend,<br />
wird es aber schnell härter, nun<br />
tauchen zunehmend Problemgäste auf:<br />
„er Snob, sie nett“, „spinnt auf Hochtouren“,<br />
„frech, schimpft beständig über<br />
die Küche, Preisdrücker“, „liebt nächtliche<br />
Besuche und billige Zimmer“, „Hochstapler!<br />
Wurde von einem Hotel in Meran<br />
wegen Zechprellerei gesucht“. Während<br />
die wirklichen Gauner eher die Seltenschönstes<br />
Exemplar seiner<br />
Rasse.“<br />
Diese Sorgen brauchten<br />
sich die Rassisten<br />
an der Rezeption auch<br />
nicht mehr lange machen,<br />
immer wieder<br />
trugen sie in den Jahren<br />
ab 1933 ein nüchternes<br />
„parti“ ein, verreist oder<br />
einfach weg. Manchen<br />
dieser Gäste mag wohl<br />
die Flucht nach Übersee<br />
gelungen sein, aber<br />
bei einem Großteil handelte<br />
es sich doch um<br />
die endgültig Fahrt in<br />
die Vernichtungslager<br />
des NS-Regimes. Ähnliche<br />
Schlüsse konnte man auch aus dem<br />
titelgebenden Marketinginstrument „Ostergrüße“<br />
ziehen. Zunächst hatte auf<br />
manchen Karteikarten gestanden, „keinen<br />
Ostergruß mehr“, man sollte unangenehme<br />
Gäste nicht dazu animieren<br />
wiederzukommen. Doch ab 1932 nahmen<br />
die Einträge zu: „Ostergruß zurück“. Es<br />
gab die Adressaten und ehemaligen Gäste<br />
nicht mehr an diesen Wohnorten.<br />
Wer nun denkt, nach dem Zusammenbruch<br />
Großdeutschlands habe sich<br />
bei den Schweizer Hotelangestellten eine<br />
Läuterung gezeigt, der irrt. Nun trauen<br />
sie sich nicht mehr, von „Saujuden“ zu<br />
schreiben, es gibt einen neuen Code: P,<br />
PP oder PPP. Das war schon vor Kriegsende<br />
in den Schriftgebrauch hereingesickert:<br />
„Prachtvolles Palestina-Exemplar<br />
[!] und benimmt sich danach.“<br />
Später hieß es etwa: „Hat ziemlich viele<br />
Bekannte, alles Palestina-Schweizer.“ Die<br />
Anzahl der großen Ps „gibt Aufschluss<br />
darüber, wie ‚jüdisch‘ die Gäste wahrgenommen<br />
wurden. Nur eben umgekehrt:<br />
Je mehr P, umso negativer die dabeistehenden<br />
Bemerkungen.“ Aber es<br />
ging auch bald wieder deutlicher. 1951<br />
schrieb ein Concierge auf seine Karteikarte:<br />
„Schießt den Vogel aller Juden ab<br />
… kein Ostergruß.“<br />
13 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 13 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:57
INTERVIEW MIT RUTH KATRIN LAUPPERT-SCHOLZ<br />
„Interreligöses und<br />
interkulturelles Denken“<br />
Ihre Vortragsarbeit sieht Ruth Katrin Lauppert-Scholz als einen<br />
Beitrag zu mehr Akzeptanz und Toleranz von Diversität. Wissen macht das<br />
andere besser verständlich und verringert Barrieren. Interview: Viola Heilman<br />
WINA: Du bist Soziologin und arbeitest als vortragende<br />
Referentin zu interreligiösen Themen. Worüber handeln<br />
deine Vorträge, Seminare und Workshops?<br />
Ruth Lauppert-Scholz: Grundsätzlich habe ich unterschiedliche<br />
Schwerpunkte. Einerseits die Vermittlung<br />
des lebendigen, aktiven jüdischen Lebens,<br />
dieser Vortrag heißt Judentum erLeben. Andererseits<br />
arbeite ich an der Shoah Education, also Gedenkarbeit,<br />
was unter anderem Gedenkstättenpädagogik<br />
im weitesten Sinne beinhaltet. Da gehören etwa die<br />
Führungen Stolpersteine erzählen Geschichten dazu, aber<br />
auch Führungen zu den jüdischen Gedenkstätten in<br />
der Südoststeiermark. Ein dritter Schwerpunkt ist<br />
meine Arbeit mit Lehrern und Schüler*innen über<br />
Antisemitismus und interreligiöses Lernen. Hier<br />
hilft mir mein zusätzliches Studium der Religionswissenschaft<br />
sehr.<br />
Du leitest einen Verein, der Granatapfel heißt?<br />
I Eigentlich ist das kein Verein, sondern ein Ein-Personen-Unternehmen.<br />
Ich führe dieses Unternehmen<br />
und organisiere hier meine Arbeit.<br />
An wen richten sich deine Bildungsangebote?<br />
I Es sind ganz unterschiedliche Zielgruppen, die vorwiegend<br />
aus Multiplikator*innen, Pädagog*innen,<br />
Vermittler*innen und Lehrbeauftragten der Pädagogischen<br />
Hochschule Steiermark bestehen. Ich bin<br />
dort auch Mitglied der Ethiklehrerausbildung und<br />
Vortragende für Erwachsenengruppen zu speziellen<br />
Themen. Es gab zum Beispiel eine Vortragsreihe über<br />
Unorthodox, das Buch und die Netflix-Serie. Solche<br />
vorgegebenen Themen sind keine leichte Entscheidung,<br />
da es viel Pro und Kontra dazu gibt. Von diesen<br />
„Dabei kommt<br />
es auch darauf<br />
an zu zeigen,<br />
wie viel der<br />
Islam und<br />
das Judentum<br />
gemeinsam<br />
haben.“<br />
Ruth Lauppert-<br />
Scholz<br />
Gruppen kommen viele Fragen zum Judentum im<br />
Allgemeinen, weil darüber in der Öffentlichkeit viel<br />
zu wenig bekannt ist. Es werden Fragen zu Festen,<br />
Feiertagen, Kashrut und Traditionen gestellt. Andere<br />
Zielgruppen meiner Arbeit sind Schüler*innen<br />
ab der dritten Klasse Volksschule. Manchmal kommen<br />
sogar erste Klassen zu mir. Um die Thematik näherzubringen,<br />
wende ich für ganz kleine Kinder altersgerechte<br />
Möglichkeiten an. Wenn sie sich dann<br />
merken, dass der Davidstern sechs Zacken hat und<br />
nicht fünf oder acht, dann ist das schon ein pädagogischer<br />
Erfolg für mich.<br />
Wie vermittelst du dein Wissen?<br />
I Das Spezielle an meinem Ansatz ist das interreligiöse<br />
und interkulturelle Denken. Wenn man beispielsweise<br />
ein konfessionell gebundenes Angebot bucht,<br />
wie etwa eine Kirchen-Synagogen-Moschee-Führung,<br />
dann beleuchte ich die Themen aus der Innenseite der<br />
jeweiligen Religion und nicht vom Rand. Aus meiner<br />
Perspektive bleiben sonst zu viele Fragen offen. Wie<br />
zum Beispiel die Figur des Jesus: Die Frage ist hier,<br />
welche Rolle diese Figur in der jüdischen, christlichen<br />
und muslimischen Religion spielt. Auf diese Weise ergeben<br />
sich dann auf einer übergeordneten Ebene unterschiedliche<br />
Zugänge.<br />
Siehst du durch die zunehmende Diversität in der Gesellschaft<br />
eine Abflachung der kulturellen Unterschiede?<br />
I Ja, in meinem speziellen Umfeld und dem meiner<br />
Kinder ist das so. Aber das geht nicht automatisch<br />
überall. Es bedarf viel Arbeit, die Akzeptanz herzustellen.<br />
Es sollte daher viel mehr Angebote im Bereich<br />
des interkulturellen Lernens geben.<br />
© privat<br />
14 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 14 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:02
Kulturelle Verbindungen<br />
Ruth Lauppert-Scholz fragt unter<br />
anderem danach, welche Rolle<br />
Jesus in der jüdischen, christlichen<br />
und muslimischen Religion spielt.<br />
© privat<br />
Wer sind die Teilnehmer*innen an deinen Vorträgen?<br />
I Das ist ganz unterschiedlich. Es sind Menschen, die<br />
an interreligiösen und interkulturellen Themen interessiert<br />
sind. Es kommen unter anderem muslimische<br />
Jugendgruppen. Hier arbeite ich vor allem<br />
mit männlichen Jugendlichen. Man weiß heute, dass<br />
die zugewanderten Muslime einen starken muslimisch<br />
geprägten Antisemitismus mitbringen. Hier<br />
ist die Überlegung, wie man diesen Menschen begegnet.<br />
Das ausgewogene und offene Begegnen ist dabei<br />
das Wichtigste, um einen Lernprozess zu beginnen.<br />
Für diese jungen Männer möchte ich das Judentum<br />
belegbar und lebendig zu machen. Dabei kommt es<br />
auch darauf an zu zeigen, wie viel der Islam und das<br />
Judentum gemeinsam haben.<br />
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit<br />
gegen den muslimischen Antisemitismus sehr erfolgversprechend<br />
sein kann. Wichtig ist dabei, dass<br />
man psychologisch gefestigt sein muss, um mit dieser<br />
Zielgruppe zu arbeiten. Wichtig sind auch außerschulische<br />
Aktivitäten, zum Beispiel, die Gedenkstätten<br />
zu besuchen.<br />
Darüber hinaus veranstalte ich Gespräche, die Tea<br />
and Talk heißen, bei denen Vertreter*innen aller<br />
Weltreligionen und Politiker*innen miteinander<br />
über Themen sprechen, die alle betreffen, wie Leben,<br />
Sterben oder Jenseitsvorstellungen. Es geht mir<br />
um Diversität und interkulturelles Zusammenleben.<br />
Welche Rolle spielt die Jüdische Gemeinde Graz bei deiner<br />
Arbeit?<br />
I Sie ist ein Kunde von mir, und ich bin Leiterin des<br />
Bildungszentrums der Gemeinde. Wir sind in sehr<br />
enger Kooperation und Abstimmung miteinander.<br />
RUTH LAUPPERT-<br />
SCHOLZ<br />
Nach dem Studium der<br />
Soziologie folgt eine<br />
zehnjährige Lehr- und<br />
Forschungstätigkeit am<br />
Institut für Soziologie der<br />
Karl-Franzens-Universität<br />
Graz mit dem Schwerpunkt<br />
Religionssoziologie. Ausarbeitung<br />
verschiedener altersgerechter<br />
Bildungsprogramme<br />
für Schulen und<br />
Erwachsenenbildungseinrichtungen<br />
im Bereich des<br />
Judentums; Konzeption<br />
und Betreuung von Workshops<br />
und Gedenkspaziergängen,<br />
u. a. Stolpersteine<br />
erzählen Geschichte zu den<br />
Grazer Stolpersteinen für<br />
den Verein für Gedenkkultur<br />
in Graz; Konzeption und<br />
Projektleitung Judentum<br />
erLeben. Seit 2017 ist Ruth<br />
Lauppert-Scholz als Pädagogin<br />
für das Kinderprogramm<br />
Synagoge erleben<br />
der Jüdischen Gemeinde<br />
Graz tätig.<br />
Was wird in deinen Workshops gemacht?<br />
I Hier werden Religion, Kultur und Tradition anhand<br />
von Artefakten dargestellt. Das sind Judaika, wie Menora,<br />
Chanukkia oder eine Chamsa, und geht bis zu<br />
koscheren Gummibärchen. Das haptische Erleben,<br />
Riechen und Schmecken sind die langlebigsten Erinnerungen<br />
für Kinder und Erwachsene. Oft sprechen<br />
mich ehemalige Schüler*innen noch Jahre später an,<br />
dass sie von mir koschere Gummibärchen bekommen<br />
haben. Bei den Erwachsenengruppen ist es der<br />
koschere Wein. Diese sensorischen Erlebnisse der<br />
Teilnehmer*innen stellen den Zusammenhang mit<br />
der jüdischen Kultur und Tradition her.<br />
Über die Schoah mache ich einen eigenen Workshop.<br />
Während der Corona-Zeit konnte ich den Schul-<br />
Workshop Shalom-Salaam-Grüß Gott über die monotheistischen<br />
Weltreligionen auch online machen.<br />
Die Führungen durch Graz zu Stolpersteinen und<br />
den sehr wenigen noch vorhandenen Gedenkplätzen<br />
kombiniere ich mit Erzählungen aus der Stadtgeschichte.<br />
Du bist im Elternhaus mit unterschiedlichen Kulturen<br />
aufgewachsen. Hat das einen Einfluss auf deine Kinder?<br />
I Ich bin verheiratet und habe vier Kinder, zwei Buben<br />
und zwei Mädchen zwischen 16 und 24 Jahren.<br />
Für sie war es mir ganz wichtig, dass sie hebräische<br />
Vornamen tragen. An ihnen merke ich sehr stark<br />
meinen eigenen Zwiespalt. Wir feiern in der Familie<br />
jüdische Feste und Feiertage, und es ist mir wichtig,<br />
meinen Kindern diese Traditionen mitzugeben.<br />
Jedes der Kinder sieht seine kulturelle Herkunft anders.<br />
In der Schule, in die meine Kinder gehen, wissen<br />
alle, dass sie Juden sind. Mein Sohn hat in seiner<br />
Klasse Taxidienst gemacht und hat dann von seinen<br />
Mitschüler*innen eine Urkunde mit dem Titel „Best<br />
Kosher Taxidriver“ bekommen.<br />
Ist für dich und deine Kinder ein kultureller Unterschied<br />
spürbar?<br />
I Heute ist die Situation eine ganz andere als zur Zeit<br />
meiner Kindheit. Die Monokulturalität, die es vor 30<br />
bis 40 Jahren gegeben hat, wo es eine fast ausschließlich<br />
katholische Gesellschaft gegeben hat, ist so nicht<br />
mehr da. Sogar eine kleine Stadt wie Graz ist divers<br />
geworden, mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen,<br />
die auch nach außen getragen werden und<br />
sich darüber austauschen.<br />
granatapfel.ws<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
sommer_doppel1.indb 15 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:07
WINA: Sie waren ab 2014 Direktor des Anne Frank Zentrums in<br />
Berlin, einem Bildungszentrum, das sich der Aufklärung über<br />
den Holocaust widmet. Nun übernehmen Sie mit Juni die Geschäftsführung<br />
von _erinnern.at_ in Österreich. Wie unterscheiden<br />
sich diese beiden Einrichtungen, und was eint sie?<br />
Patrick Siegele: Zwischen dem Anne Frank Zentrum<br />
und _erinnern.at_ besteht schon seit vielen Jahren eine<br />
enge Zusammenarbeit. Was die beiden Einrichtungen<br />
verbindet, sind einerseits methodische Schnittmengen,<br />
andererseits werden hier wie dort auf sehr<br />
hohem Niveau Lernmaterialien entwickelt. Beide Organisationen<br />
arbeiten nach dem Prinzip des biografischen<br />
Lernens. Das heißt: Komplexe historische Ereignisse<br />
werden über Lebensgeschichten vermittelt.<br />
Das macht das Anne Frank Zentrum vor allem über<br />
das Tagebuch von Anne Frank, bei _erinnern.at_ sind<br />
es Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Der<br />
Transfer von der Geschichte in die Gegenwart ist eine<br />
weitere Gemeinsamkeit. Hier geht es um die Frage,<br />
was Kinder und Jugendliche aus der Beschäftigung<br />
mit der Schoah und dem Nationalsozialismus lernen<br />
können: Was hat Geschichte mit mir zu tun? Und wo<br />
in meinem Umfeld begegnen mir noch heute Antisemitismus<br />
und Rassismus?<br />
Es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen den<br />
beiden Einrichtungen. Ich glaube, der größte liegt darin,<br />
dass das Anne Frank Zentrum eine Bildungseinrichtung<br />
ist, die sich unmittelbar an Kinder und Jugendliche<br />
richtet. _erinnern.at_ lebt von einem bundesweiten<br />
Netzwerk an Fachkräften, insbesondere Lehrerinnen<br />
und Lehrern. Für diese werden Fortbildungen, Studienreisen<br />
nach Israel oder Tagungen angeboten.<br />
Auf der einen Seite bemühen sich Initiativen und Einrichtungen<br />
wie eben das Anne Frank Zentrum und _erinnern.at_ um Bewusstseinsschaffung<br />
und Aufklärung, andererseits gibt es aus<br />
ganz Europa Berichte über steigenden Antisemitismus. Gerade<br />
die Coronapandemie hat gezeigt, was da an alten Stereotypen<br />
und Vorurteilen schlummert, die in dieser Krisensituation<br />
wieder unverhohlen an die Oberfläche kommen.<br />
Wie schwer ist es, die zu erreichen, die unbelehrbar scheinen?<br />
I Tatsächlich ist das schwer, und es stellt sich in der Bildung<br />
genau diese Frage: Wo setzen wir an, und wo sind<br />
die Grenzen dessen, was Bildung erreichen kann? Es ist<br />
wichtig, schon früh damit zu beginnen, Schülerinnen<br />
und Schülern Wissen über den Nationalsozialismus und<br />
die Schoah zu vermitteln, für diese Themen zu sensibilisieren<br />
oder in der Schule ein Klima zu schaffen, in dem<br />
man sich mit Diskriminierung und gesellschaftlicher<br />
Vielfalt auseinandersetzt. Das ist im Idealfall ein Ansatz,<br />
der Prävention und Intervention verbindet.<br />
Antisemitismus muss als solcher benannt und besprochen<br />
werden. Dabei ist wichtig, die Betroffenen<br />
in die Diskussion miteinzubeziehen. Antisemitismus<br />
ist viel zu lange als abstraktes Phänomen begriffen<br />
worden. Zum Glück tut sich hier etwas: Jüdinnen und<br />
Juden melden sich stärker zu Wort.<br />
Es muss aber auch darum gehen, was jüdisches Leben<br />
in Österreich und in Europa heute bedeutet. Denn<br />
Judentum ist mehr als Schoah. _erinnern.at_ hat hier<br />
INTERVIEW MIT PATRICK SIEGELE<br />
„Betroffene<br />
miteinbeziehen“<br />
Patrick Siegele, bisher Direktor des Anne<br />
Frank Zentrums in Berlin, übernimmt die Leitung<br />
von _erinnern.at_. WINA sprach mit ihm über den<br />
Beitrag, den solche Einrichtungen im Kampf gegen<br />
Antisemitismus leisten können.<br />
Interview: Alexia Weiss<br />
16 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 16 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:07
Kein Kampf gegen Windmühlen<br />
einen wichtigen Schritt gemacht und<br />
erst kürzlich neue Materialien herausgebracht,<br />
die die Vielfalt jüdischen Lebens<br />
in Österreich vermitteln. Hier geht<br />
es um Biografien und Alltagsgeschichten<br />
von Menschen, die vor 1938 in Österreich<br />
gelebt haben. An diesen sieht man:<br />
Die Schoah ist nur ein Aspekt, es gibt viele<br />
weitere Facetten jüdischen Lebens in Geschichte<br />
und Gegenwart.<br />
Frustriert es jemanden wie Sie, der sich Tag für<br />
Tag mit dem Thema auseinandersetzt, dass der<br />
Kampf gegen Antisemitismus manches Mal wie<br />
ein Kampf gegen Windmühlen erscheint?<br />
I Mich frustriert manchmal die fehlende Einsicht, dass<br />
wir es beim Antisemitismus mit einem konkreten, aktuellen<br />
Problem zu tun haben. Auf der einen Seite gibt<br />
es ein politisches und gesellschaftliches Bekenntnis<br />
zum „Niemals wieder“, auf der anderen Seite sind es<br />
mitunter dieselben Stimmen, die meinen, Antisemitismus<br />
gäbe es doch eigentlich seit 1945 nicht mehr.<br />
Spätestens nach dem Anschlag auf die Synagoge in<br />
Halle oder dem Angriff auf den Präsidenten der Jüdischen<br />
Gemeinde Graz hätten doch alle verstanden<br />
haben müssen, dass es sich um kein abstraktes,<br />
sondern um ein sehr konkretes Problem handelt, so<br />
wie Rassismus und Homophobie konkrete Probleme<br />
sind, unter denen Menschen jeden Tag zu leiden haben.<br />
Da hoffe ich, mit der Arbeit bei _einnern.at_ etwas<br />
bewirken zu können.<br />
Gibt es auf der anderen Seite aber auch Projekte, Erfahrungen,<br />
Strategien, von denen Sie sagen können: Ja, das wirkt,<br />
ja, da gibt es Erfolgserlebnisse?<br />
I Unsere erfolgreichsten Programme im Anne Frank<br />
Zentrum waren die, bei denen es gelungen ist, Jugendliche<br />
aktiv als Mitgestalterinnen von Bildungsarbeit<br />
oder in der Umsetzung von zivilgesellschaftlichen<br />
Projekten einzubeziehen. Da geht es um<br />
Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, dass ich mit meinem<br />
Tun etwas bewirken kann. Jugendliche müssen<br />
selbst erfahren, dass es einen Unterschied macht,<br />
sich gesellschaftlich zu engagieren. Beim Anne-<br />
Frank-Botschafterprogramm setzen Jugendliche<br />
zum Beispiel Projekte in ihrer unmittelbaren Umgebung<br />
um – etwa im Sportverein. Da haben wir ermutigende<br />
Rückmeldungen, was für eine prägende<br />
Erfahrung das für diese Jugendlichen war, wie das<br />
ihren Blick auf Geschichte, auf Gesellschaft und ihr<br />
eigenes Tun verändert hat.<br />
Bisher hat _erinnern.at_ als Verein des Bildungsministeriums<br />
gearbeitet, mit Anfang 2022 wird sie Teil der OeAD GmbH,<br />
einer Agentur der Republik Österreich, die im Bereich Bildung,<br />
Wissenschaft, Forschung und Kultur vernetzt. Möchten<br />
Sie _erinnern.at_ im Zug dieses Prozesses auch inhaltlich<br />
eine neue Ausrichtung geben?<br />
I In erster Linie geht es darum, die sehr gute Arbeit<br />
von _erinnern.at_ in dieser hohen Qualität fortzuset-<br />
„Antisemitismus<br />
muss<br />
als solcher<br />
benannt und<br />
besprochen<br />
werden. (…)<br />
Antisemitismus<br />
ist viel zu<br />
lange als abstraktes<br />
Phänomen<br />
begriffen<br />
worden.“<br />
Patrick Siegele<br />
zen und den Transferprozess in den<br />
OeAD zu gestalten. Ich sehe da große<br />
Chancen, weil der OeAd eine Agentur<br />
für Bildung und Internationalisierung<br />
ist. _erinnern.at_ ist diesbezüglich<br />
schon sehr gut aufgestellt,<br />
etwa durch die Partnerschaft mit Yad<br />
Vashem, aber auch als Mitglied der<br />
International Holocaust Remembrance<br />
Alliance (IHRA). Ansonsten<br />
bin ich jemand, der zuerst zuhören<br />
möchte und sich genau anschaut,<br />
was es schon an bewährten Strukturen<br />
und Formaten gibt und wie ausgehend<br />
davon die gute Arbeit fortgesetzt<br />
und weiterentwickelt werden kann. Spannend<br />
fände ich, die Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa<br />
zu verstärken. Was ich an _erinnern.at_ toll finde,<br />
sind das Netzwerk und die Arbeit in den Bundesländern,<br />
abseits der großen Städte. Das ist wichtig, um<br />
viele Schulen und viele Jugendliche zu erreichen.<br />
Stichwort Partnerschaften: Da gibt es Nachbarländer wie<br />
Ungarn, wo Antisemitismus auch auf politischer Ebene eine<br />
Rolle spielt. Was können Sie sich da konkret an Zusammenarbeit<br />
vorstellen?<br />
I Die große Politik ist nicht unsere Aufgabe als _erinnern.at_.<br />
Was wir machen können, ist über Partnerschaften<br />
diejenigen zu unterstützen, die sich in<br />
diesen Ländern für Demokratie und gegen Antisemitismus<br />
und Rassismus einsetzen wollen. Wir beobachten,<br />
dass die Rahmenbedingungen für Bildungsangebote<br />
aufgrund fehlender Ressourcen oder<br />
eines fehlenden politischen Willens nicht dieselben<br />
sind wie in Österreich und Deutschland. Da finde ich<br />
es wichtig, sich mit Organisationen, die sich kritisch<br />
mit Antisemitismus und Rassismus in ihren Ländern<br />
beschäftigen, zu solidarisieren. Mit internationalen<br />
Kooperationen lässt sich hier viel bewegen.<br />
_erinnern.at_ soll ein Mosaikstein der Bemühungen der Regierung<br />
im Kampf gegen Antisemitismus sein. Wie beurteilen<br />
Sie die nationale Strategie gegen Antisemitismus? Und<br />
was kann _erinnern.at_ aus Ihrer Sicht hier leisten?<br />
I Ich finde die Strategie in ihrem gesamtgesellschaftlichen<br />
Anspruch gut und wichtig. Sie erkennt an, dass<br />
der Kampf gegen Antisemitismus in Österreich nur<br />
gelingen kann, wenn sich viele staatliche und zivilgesellschaftliche<br />
Instanzen dieser Aufgabe annehmen.<br />
Wichtig finde ich dabei auch die Kooperation mit der<br />
IKG. _erinnern.at_ wird in dem Papier an mehreren<br />
Stellen genannt und leistet vor allem im Bildungsbereich<br />
einen wichtigen Beitrag. Klar ist aber auch: Es<br />
geht um die konkrete Umsetzung der Strategie. Wie<br />
viele Ressourcen werden zur Verfügung gestellt und<br />
wie groß ist die Bereitschaft, auch wirklich systematisch<br />
und strukturell etwas zu verändern, etwa in der<br />
Ausbildung von Lehrkräften? Wir können also gespannt<br />
sein, wie viel die Regierung bereit sein wird,<br />
konkret in diese Arbeit zu investieren.<br />
PATRICK SIEGELE,<br />
geb. 1974 in Zams/Österreich,<br />
Studium der Musikwissenschaft<br />
und Deutschen Philologie an der<br />
Universität Innsbruck sowie der<br />
University of Bristol, später zudem<br />
Studiengang für Museumsmanagement<br />
an der Freien Universität<br />
Berlin. Seit 2001 im Anne Frank<br />
Zentrum in Berlin beschäftigt,<br />
zunächst als Bildungsreferent und<br />
Leiter der Abteilung „Ausstellung<br />
Berlin“, ab 2011 stellvertretender<br />
Direktor, ab 2014 Direktor des<br />
Anne Frank Zentrums. Nun<br />
übernimmt Siegele die Leitung<br />
von _erinnern.at_. In seiner Freizeit<br />
macht er gerne Sport und freut<br />
sich, in Österreich wieder mehr<br />
in den Bergen schifahren und<br />
wandern zu können.<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
sommer_doppel1.indb 17 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08
Wortgewaltige Mahnerin<br />
„Schäm dich, Europa!“<br />
Susanne Scholl hat in den Corona-bedingten Lockdowns<br />
Ernüchtendes zur Verfasstheit Europas zusammengetragen.<br />
In einer Streitschrift führt sie vor, dass das moderne Europa<br />
auf Lügen aufgebaut ist. Wer der Zukunft eine Chance<br />
geben wolle, müsse aber die historische<br />
Wahrheit verteidigen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Seit Jahren ist die frühere ORF-Journalistin<br />
und langjährige Auslandskorrespondentin<br />
Susanne Scholl<br />
eine wortgewandte Mahnerin der Zivilgesellschaft.<br />
Unverblümt äußert sie, was sie<br />
sich denkt, zum Umgang mit Geflüchteten,<br />
zu Populismus, zum Rechtsruck. Die<br />
„Omas gegen Rechts“, in deren Vorstand<br />
sie seit 2017 Mitglied ist, versteht sich als<br />
„Plattform für zivilgesellschaftlichen Protest“.<br />
Zuletzt hielten Scholl und ihre Mitstreiterinnen<br />
vor allem Mahnwachen für<br />
die Geflüchteten von Moria ab.<br />
In ihrer nun veröffentlichen Streitschrift<br />
geht sie nicht nur mit der Gesellschaft<br />
insgesamt, sondern auch mit sich<br />
selbst hart ins Gericht. „Wir haben versagt“,<br />
schreibt sie da. „Meine Generation,<br />
aber auch die Generation vor uns. In Österreich<br />
hat man einer Geschichtslüge<br />
noch eine zweite übergestülpt. Wir waren<br />
nicht nur ‚das erste Opfer‘, wir haben<br />
auch die ‚Stunde Null‘<br />
erklärt. Beides war gelogen.“<br />
Man habe sich<br />
zufriedengegeben mit<br />
dem Versprechen, dass<br />
die Zivilisation gerettet<br />
und die Barbarei vorbei<br />
sei. Nie mehr werde geschehen,<br />
was nie hätte<br />
passieren dürfen und doch passiert sei.<br />
Und nun wieder passiere.<br />
Ausgrenzung. Scholl zeigt auf, dass die<br />
Menschheit offenbar immer einen Feind<br />
brauche. Nach dem Zerfall der Sowjetunion<br />
fehlte ein solcher. Mit dem 1. September<br />
2001 war jedoch ein neues globales<br />
Feindbild da: die Muslime. „Und da<br />
gibt es jede Menge Kürzel. Ein Name zum<br />
Beispiel. ‚Auch wieder so ein Mohammed‘<br />
– und alle wissen, was gemeint ist. ‚So ein<br />
Susanne Scholl:<br />
Schäm dich,<br />
Europa! Warum<br />
wir nicht mit einer<br />
Lüge leben sollten.<br />
Edition Konturen<br />
<strong>2021</strong>, 70 S., € 12<br />
Kopftuchweib‘ – auch das verstehen alle.“<br />
Scholl verweist dabei auf den Streit um<br />
den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten<br />
Kurt Waldheim. „Man musste nur<br />
„Und ich denke daran, dass ich nicht hier<br />
wäre, um dagegen aufzustehen, wenn meine<br />
Eltern an der Grenze zu England zurückgewiesen<br />
worden wären, als die Nazis ihnen<br />
nach dem Leben trachteten.“<br />
die ‚Ostküste‘ erwähnen – und alle wussten,<br />
was gemeint war.“ Ausgrenzung beginne<br />
mit Sprache, argumentiert sie.<br />
2015 habe die Zivilgesellschaft in Österreich<br />
gezeigt, wie stark sie sein könne.<br />
„Man half, weil man Mensch war und<br />
andere Menschen nicht einfach verkommen<br />
lassen wollte.“ Nun, mehr als fünf<br />
Jahre später, spreche man von offizieller<br />
Seite nur noch davon, dass sich 2015<br />
nicht wiederholen dürfe. „Was aber – frage<br />
ich – darf sich da nicht wiederholen? Die<br />
Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, das<br />
Mitgefühl, die Solidarität? Was heißt das<br />
für uns, für diese Gesellschaft, für unser<br />
aller Leben?“<br />
Im <strong>Mai</strong> 1945 seien die Nazis besiegt<br />
worden, so habe man es gelernt in Europa.<br />
Doch wo seien all jene gewesen,<br />
die mitgelaufen seien? Vergangenheit<br />
vergehe erst, wenn man aus ihr gelernt<br />
habe, betont Scholl. „Was wir alle nicht getan<br />
haben.“ Und eben auch Europa nicht.<br />
Europa behaupte, ein Friedensprojekt zu<br />
sein, aber heute werde an seinen Grenzen<br />
auf jene geschossen, „die vor Tod, Gewalt<br />
und Folter, vor Hunger uns Angst fliehen“.<br />
Es werde darüber diskutiert, wer leben<br />
und wer sterben solle. „Und ich denke daran,<br />
dass ich nicht hier wäre, um dagegen<br />
aufzustehen, wenn meine Eltern an der<br />
Grenze zu England zurückgewiesen worden<br />
wären, als die Nazis ihnen nach dem<br />
Leben trachteten.“<br />
Scholl zeigt sich in<br />
dieser Streitschrift einmal<br />
mehr als die Streitbare,<br />
die sie seit Jahren<br />
unermüdlich ist.<br />
Sie bringt Gedanken zu<br />
Papier, die in kleinsten<br />
Szenen generelle Entwicklungen<br />
widerspiegeln:<br />
Worum ging es damals, zu Beginn<br />
der Pandemie, im März 2020: Da wurden<br />
Supermärkte gestürmt, um Toilettenpapiervorräte<br />
anzulegen. Und das, obwohl<br />
klargestellt wurde, dass Geschäfte mit Artikeln<br />
des täglichen Bedarfs durchgehend<br />
offen bleiben würden. Der Mensch ist sich<br />
selbst am nächsten, so das Fazit. Im Großen<br />
wie im Kleinen. Die Coronapandemie<br />
verdrängte die Flüchtlingskrise aus<br />
den Schlagzeilen. Scholl richtet nun wieder<br />
einen Scheinwerfer auf sie.<br />
wına-magazin.at<br />
18<br />
sommer_doppel1.indb 18 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08
HIGHLIGHTS | 02<br />
„Lecha Dodi“ in Klagenfurt<br />
Mit einem ausgesprochen jüdischen Text überzeugte die 1996 in Berlin<br />
geborene Dana Vowinckel beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb<br />
und löste damit nebenbei auch eine höchst interessante Jurydiskussion<br />
aus. Als jüngste Teilnehmerin wurde sie schließlich mit dem Deutschland-Funk-Preis<br />
ausgezeichnet, dem zweiten nach dem Sieger-Preis, den<br />
die aus dem Iran stammende Autorin Nava Ebrahimi nach Graz trug.<br />
Lecha Dodi likrat kalah“ tönte es Pandemie-bedingt<br />
über Videozuspielung<br />
in die Klagenfurter Lesearena. Es<br />
war nicht das einzige jüdische Gebetszitat,<br />
mit dem Dana Vowinckel in ihrem<br />
Text mit dem rätselhaften Titel<br />
Gewässer im Ziplock überraschte. „Jedid<br />
Nefesch“, Geliebter der Seele, und<br />
andere Teile aus der Schabbat-Liturgie<br />
breitete die junge Berlinerin ganz<br />
selbstverständlich und ohne weitere<br />
Erklärungen aus.<br />
Erzählt wird von drei Generationen<br />
einer zerrissenen jüdischen Familie<br />
in Berlin, Chicago und Jerusalem. Als<br />
Kantor betet der aus Jerusalem stammende<br />
Vater in einer Berliner Synagoge<br />
vor, innig gläubig, voller Emphase<br />
und gleichsam im Dialog mit G-tt als<br />
„Partner seiner Stimme“. Die heranwachsende<br />
Tochter Margarita verbringt<br />
derweil die Ferien bei den Großeltern<br />
in Chicago, wo sie sich maßlos<br />
langweilt. Für die abwesende Mutter<br />
hegt sie nur Hassgefühle, während<br />
sie zum alleinerziehenden Vater eine<br />
starke, liebevolle Beziehung hat.<br />
Der collagierte Text, offenbar Teil eines<br />
Romans, wechselt souverän zwischen<br />
den beiden diametralen Perspektiven<br />
von Vater und Tochter. Da<br />
das Gefühlsleben des seltsam einsamen<br />
Kantors, der seine Gemeinde<br />
eher auf Distanz hält und ganz in seinen<br />
Gebeten aufgeht, dort das offenbar<br />
pubertierende Mädchen im ersten<br />
Liebeskummer.<br />
„Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin,<br />
oder?“, hatte sie der Jüngling,<br />
auf dessen Nachrichten sie vergeblich<br />
wartet, gefragt, als sie ihm Hebräisch<br />
als „coole“ Geheimsprache der Familie<br />
verkaufen wollte.<br />
„Grandios gelungen“, „tolle Anlagen“<br />
wurde nahezu einhellig gelobt.<br />
Juryvorsitzende Insa Wilke sah in der<br />
jungen Autorin eine Vertreterin einer<br />
„neuen Generation“, die von parallelen<br />
Welten erzählt, die ohne Assimilationszwang<br />
nebeneinander existieren<br />
könnten. Mara Delius, die Dana Vowinckel<br />
zum Bewerb eingeladen hatte, entdeckte<br />
in diesem „besonderen Text“<br />
eine neue Variation des alten „Topos<br />
der gepackten Koffer“ und insofern<br />
auch eine Diaspora-Familiengeschichte.<br />
Juror Klaus Kastberger hingegen konstatierte<br />
beim Thema des orthodox jüdischen<br />
Lebens einen „Emerging Market“,<br />
den auch Fernsehserien wie Shtisel<br />
oder Unorthodox bedienten. Das Interesse<br />
am orthodoxen Judentum sei ein<br />
„neues Faszinosum“, gespeist aus der<br />
Suche nach alternativen Lebenswelten,<br />
und als mediale Zeiterscheinung eine<br />
„Art von Mode“. Fraglich sei für ihn, wie<br />
sehr die Autorin dieser Mode anhänge.<br />
Orthodoxie sei ja auch „ein Kerkersystem“,<br />
und in dem vorgetragenen Text<br />
vermisste Kastberger den Widerstand<br />
dagegen.<br />
„Religion ist nicht immer<br />
Obsession, Glaube nicht immer<br />
Orthodoxie.“ Dana Vowinckel<br />
Nur in diesem einen Aspekt fühlte<br />
sich die ansonsten überglückliche Preisträgerin<br />
missverstanden. „Religion ist<br />
nicht immer Obsession, Glaube nicht<br />
immer Orthodoxie“, erwiderte sie auf<br />
Twitter. Auf ihren Roman darf man<br />
gespannt sein. A.P.<br />
Dana Vowinckel<br />
erzählt den Topos<br />
der gepackten<br />
Koffer aus neuem<br />
Blickwinkel.<br />
© für Bachmann-Preis live im ZDF und ORF/LST Kärnten/Catharina Tews<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
sommer_doppel1.indb 19 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08
MEN T SCHEN: MARIANNE KOHN<br />
KÖNIGIN DER NACHT<br />
Marianne Kohn wurde 1945 in Wien geboren.<br />
Nach dem Schulabbruch machte<br />
sie eine Ausbildung zur Filmcutterin. Mit 16<br />
Jahren ging sie nach Rom und arbeitete in<br />
der Cinecittà, unter anderem für Federico<br />
Fellini und Pier Paolo Pasolini. 1969 kehrte<br />
sie nach Wien zurück und war als Kellnerin<br />
tätig. Von 1983 bis 1987 führte sie den<br />
Wiener Klub „U4“, danach das „Café Europa“.<br />
Einige Jahre lang organisierte sie<br />
Clubbings. Seit 1995 leitet Marianne Kohn<br />
die 1908 von Adolf Loos gestaltete American<br />
Bar in der Wiener Innenstadt. Die Protégée<br />
des Musikforschers Marcel Prawy<br />
ist auch für ihre große Liebe zur italienischen<br />
Oper bekannt. Fotografie und Redaktion:<br />
Ronnie Niedermeyer<br />
Du magst Mozart nicht. Trotzdem wird das Buch über<br />
dein Leben, das im Herbst bei Brandstätter erscheinen<br />
wird, Königin der Nacht heißen.<br />
Marianne Kohn: Mit Mozart hat das wenig zu<br />
tun. Der Titel bezieht sich darauf, dass ich schon<br />
seit einem halben Jahrhundert Teil des Wiener<br />
Nachtlebens bin und es in dieser Zeit gewissermaßen<br />
mitgestaltet habe. Selbst würde ich mich<br />
nicht unbedingt als Königin bezeichnen, auch<br />
wenn ich manchmal gerne ein Krönchen als Modeaccessoire<br />
trage. Den Buchtitel habe ja auch<br />
nicht ich gewählt, sondern die Ghostwriterin,<br />
Ella Angerer. Jedenfalls stimmt es, dass ich Mozart<br />
nicht mag. Die Zauberflöte ist eine fade Oper.<br />
Ich bin da eher für die Italiener.<br />
„Selbst würde ich mich<br />
nicht unbedingt als Königin<br />
bezeichnen, auch<br />
wenn ich manchmal gerne<br />
ein Krönchen als Modeaccessoire<br />
trage.“<br />
20<br />
wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 20 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:14
wına-magazin.at<br />
21<br />
sommer_doppel1.indb 21 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:18
MEN T SCHEN:MARIANNE KOHN<br />
Marianne Kohn<br />
leitet seit 1995 die<br />
sogenannte Loos<br />
Bar. Ab dieser<br />
Zeit begannen<br />
sich die klassischmodernen<br />
Bars<br />
zu etablieren, für<br />
die das Wiener<br />
Nachteben heute<br />
bekannt ist.<br />
Trotzdem noch eine Frage zur Zauberflöte: Ende April streamte die<br />
Wiener Staatsoper eine Inszenierung von Moshe Leiser. Monostatos<br />
wurde von einem Sänger verkörpert, dessen Haut schwarz angemalt<br />
war. Wieso ist unkommentiertes Blackfacing in Österreich heutzutage<br />
noch möglich?<br />
I Sehr rassistisch, sehr eigenartig – es gäbe ja auch genügend<br />
dunkelhäutige Sänger, die die Rolle geben könnten. Und<br />
wieso muss er überhaupt als „Mohr“ gezeigt werden, nur<br />
weil das damals im Libretto so stand? Da muss ich gleich den<br />
Bogdan [ , Staatsoperndirektor, Anm. d. Red.] fragen,<br />
was er dazu meint. Gesehen habe ich den Stream jedenfalls<br />
nicht – ich schaue mir daheim keine Opern an. Oper ist für<br />
mich nur Oper, wenn ich dabei bin. Im September 2020 gab<br />
es noch die Butterfly, dann kam der Lockdown.<br />
Von Puccini schwärmst du ja allgemein, im Besonderen von La<br />
Bohème, deinem ersten Opernbesuch als Mädchen. Kannst du dich<br />
heute noch mit der Geschichte der armen jungen Näherin Mimì identifizieren?<br />
Mit deinem selbstbewussten Auftreten wirkst du eher<br />
wie eine Salome.<br />
I Nein, identifizieren mit der Mimì kann ich mich nicht,<br />
aber ich heule immer noch, wenn ich La Bohème sehe. Die<br />
Geschichte ist einfach traurig und zum Weinen. Das gehört<br />
zur Oper dazu – und am Schluss muss der Tod kommen. Bei<br />
Mozart stirbt ja kaum jemand.<br />
In der Salome aber schon.<br />
I Ja, aber Richard Strauss mag ich auch nicht – das geht schon<br />
fast in Richtung Zwölftonmusik, und die halte ich überhaupt<br />
nicht aus. Meine Mutter war allerdings eine große Straussianerin.<br />
Wie kam es dazu?<br />
I Vor dem Krieg war sie mit Marcel Prawy liiert, der schon<br />
damals ein phänomenales Opernwissen hatte und ihren<br />
Geschmack sicherlich beeinflusst hat. 1938 flüchtete Prawy<br />
nach Amerika. Meine Mutter blieb hier und heiratete den<br />
Mann, mit dem sie mich zeugen würde. Es war eine reine<br />
Zweckehe, um sie vor den Nazis zu schützen. Die ganze Verwandtschaft<br />
meiner Mutter wurde in Theresienstadt ermordet.<br />
Ihre erste Schwangerschaft hat meine Mutter abgebrochen,<br />
weil sie mitten im Krieg kein Kind auf die Welt bringen<br />
wollte. Kurz nach Kriegsende und also noch vor meiner Geburt<br />
trennten meine Eltern sich wieder. Prawy kam aus der<br />
Emigration zurück und wurde mein Ziehvater. Er war es, der<br />
mich als Kind in die Staatsoper mitnahm und meine Liebe<br />
zur Oper förderte.<br />
Wie kann man sich eine Kindheit im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />
denn vorstellen?<br />
I Meine Mutter hat mich taufen lassen, weil sie der Meinung<br />
war, es könnte jederzeit wieder ein Hitler kommen. Unter<br />
diesem Schatten bin ich aufgewachsen. Es hat lange gedauert,<br />
bis wir uns von diesem Trauma erholen konnten – manchen<br />
ist es bis heute nicht gelungen.<br />
Auf den Fingern deiner rechten Hand hast du dir „ALMA“ tätowieren<br />
lassen. Alma Mahler-Werfel ist vor allem für ihre Ehen und Liebesbeziehungen<br />
mit den größten kreativen Köpfen des frühen 20.<br />
Jahrhunderts bekannt. Was verbindest du mit Alma, was verbindet<br />
dich mit Alma?<br />
I Eigentlich war Alma Mahler-Werfel nach heutigen Maßstäben<br />
ein Groupie – aber auch eine richtige Lady. Ich habe einen<br />
meiner Hunde nach ihr benannt, ein anderer hieß Loos.<br />
Und jetzt sitzen wir in der Loos Bar, die du leitest. Was bedeutet dieser<br />
Ort für dich?<br />
I Meine Vorfahren mütterlicherseits haben die Möbelfirma<br />
J. & J. Kohn gegründet und geleitet. Dieses Unternehmen hat<br />
auch die von Adolf Loos entworfenen Möbel gebaut, unter<br />
anderen für seine „American Bar“. Schon in meiner Kindheit<br />
war diese Bar für mich präsent. Ich durfte natürlich<br />
nicht hinein, konnte aber kurze Blicke auf das edle Interieur<br />
erhaschen. Seit frühester Jugend war es mein Wunsch,<br />
eines Tages hier arbeiten zu dürfen – und sei es als Putzfrau.<br />
Nach einigen Zwischenstationen bist du tatsächlich in der Gastronomie<br />
gelandet. Bald darauf wurdest du vegetarisch – in einer Zeit,<br />
wo dies noch als höchst ungewöhnlich galt. Vierzig Jahre ist es schon<br />
her, dass du kein Fleisch mehr anrührst. Was löste diese Entscheidung<br />
aus?<br />
I Eine Freundin von mir hat Veterinärmedizin studiert und<br />
mich in den Schlachthof St. Marx mitgenommen, der damals<br />
noch in Betrieb war. An dem Tag habe ich aufgehört,<br />
Fleisch zu essen. Immerhin wird man heute als Vegetarierin<br />
nicht mehr ausgelacht. Meine Enkelin lebt sogar vegan,<br />
aber ich würde es nicht schaffen, auf Milchprodukte<br />
zu verzichten.<br />
Dein einziges Kind wird heuer 50. Nicoles Lebensmotto lautet: „Diejenigen,<br />
die wollen, erreichen mehr als diejenige, die können.“ Hast<br />
du eigentlich alles erreicht, was du wolltest?<br />
I Ja, das habe ich. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich meinen<br />
Jugendtraum verwirklicht, die Loos Bar zu übernehmen<br />
– eine der ältesten, traditionsreichsten, legendärsten<br />
Bars dieser Stadt.<br />
Wie siehst du die Zukunft der Gastronomie nach Ende der Corona-<br />
Pandemie?<br />
I Momentan verdienen viele durch Zuwendungen vom Staat<br />
– mehr, als wenn sie offen hätten. Sobald sie tatsächlich wieder<br />
aufsperren dürfen, werden einige den Konkurs anmelden.<br />
Nur die Guten werden sich halten. Meine Bar hat zwei<br />
Weltkriege überlebt. Corona wird sie auch überleben.<br />
22 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 22 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:23
Reisen im zweiten<br />
Corona-Sommer<br />
Bezahlte Anzeige<br />
Auch wenn bereits viele von uns geimpft oder genesen sind,<br />
so stecken wir doch noch immer mitten in der Pandemie. In<br />
Österreich hat sich die Lage für den Moment entspannt. Das und<br />
der bevorstehende Sommer machen wieder Lust auf Ortsveränderung,<br />
auch Reisen ins Ausland sind wieder möglich.<br />
Es wird aber leider immer (noch) kein „Sommer wie damals“.<br />
Sowohl in Österreich als auch in den meisten Urlaubdestinationen<br />
werden weiterhin die mittlerweile schon fast selbstverständlichen<br />
Sicherheitsmaßnahmen gelten: Abstandhalten, Händewaschen,<br />
Schutzmaske tragen. Auch unterwegs auf Flughäfen, in<br />
Bahnhöfen, Flugzeugen und Zügen gelten generell weiterhin die<br />
Hygiene- und Abstandsregelungen.<br />
Generell gilt, informieren Sie sich bitte rechtzeitig und auch<br />
noch einmal kurz vor der Abreise über die an Ihrem Urlaubsziel<br />
geltenden Corona-Schutzmaßnahmen, denn diese ändern sich<br />
teils schneller als das Wetter. Einen guten Überblick dazu finden<br />
auf der Homepage des Außenministeriums (https://www.bmeia.<br />
gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/laender/) oder auch auf<br />
www.oesterreich.gv.at. Auf diesen Internetseiten finden sie auch<br />
weiterführende Informationen zu den sonstigen Einreisebestimmungen<br />
in die jeweiligen Länder.<br />
Aber auch für die Rückreise nach Österreich ist zu beachten,<br />
dass die Einreise nicht für jeden und auch nicht von überallher<br />
gleich möglich ist. Die tagesaktuellen Informationen dazu finden<br />
sie ebenfalls auf www.oesterreich.gv.at.<br />
Die Voraussetzungen für die Einreise nach Österreich richten<br />
sich danach, wie hoch das Infektionsrisiko in den Ländern und Gebieten<br />
ist, aus welchen die Einreise erfolgt. Derzeit wird zwischen<br />
drei Kategorien von Ländern unterschieden:<br />
• Staaten mit geringem Infektionsgeschehen (derzeit die meisten<br />
EU-/EWR-Staaten sowie Australien, Israel, Singapur und<br />
Südkorea).<br />
• Virusvariantenstaaten (derzeit Brasilien, Indien, Südafrika und<br />
das Vereinigte Königreich) und<br />
• Sonstige Staaten.<br />
Die Einreise aus Staaten mit geringem Infektionsgeschehen ist<br />
mit einem aktuellen 3-G-Nachweis möglich (also einem negativen<br />
ärztliches Zeugnis, ein Testergebnis, ein Impfzertifikat oder ein Genesungszertifikat).<br />
Die Einreise aus einem Virusvariantenstaat oder aus einem<br />
sonstigen Staat ist nach wie vor restriktiver geregelt. Diese wird zur<br />
Zeit generell nur österreichischen StaatsbürgerInnen, EU/EWR-BürgerInnen,<br />
Schweizer BürgerInnen und Personen mit Wohnsitz oder<br />
gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich, EU/EWR-Staat oder der<br />
Schweiz, Andorra , Monaco, San Marino oder dem Vatikan gestattet;<br />
Ausnahmen gibt es etwa für Einreisen zu beruflichen Zwecken.<br />
Für die Einreise aus einem sonstigen Staat benötig man ein<br />
Impfzertifikat oder ein Genesungszertifikat. Alle, die nicht geimpft<br />
oder genesen sind, benötigen ein negatives Testergebnis und<br />
müssen zusätzlich unmittelbar nach der Einreise eine zehntägige<br />
Quarantäne antreten, aus der sie sich frühestens nach 5 Tagen<br />
freitesten können; Berufsreisenden bleibt jedoch die Quarantäne<br />
erspart.<br />
Bei Einreisen aus einem Virusvariantengebiet ist generell eine<br />
zehntägige Quarantäne anzutreten, aus der man sich frühestens<br />
nach fünf Tagen freitesten kann (Ausnahmen insbesondere für<br />
Berufsreisende, diese können sich sofort freitesten).<br />
Auch müssen sich Reisende bei der Einreise nach Österreich<br />
vorab registrieren (Pre-Travel-Clearance). Das entsprechende „Pre-<br />
Travel-Clearance-Formular“ ist digital unter der Internetadresse<br />
https://entry.ptc.gv.at abrufbar. Über die erfolgreiche Registrierung<br />
erhält man dann eine (digitale) Bestätigung, die in Falle vorzuweisen<br />
ist (digital oder als Ausdruck). Wenn die Registrierung<br />
nicht über das elektronische Formular möglich ist, kann auch ein<br />
entsprechendes Papier-Formular ausgefüllt und vorgezeigt werden.<br />
Auch hier gibt es Ausnahmen, nämlich für die Einreise von<br />
nachweislich Geimpften, Getesteten oder genesenen, die aus<br />
Staaten mit geringem Infektionsgeschehen (Anlage A zur COVID-<br />
19-EinreiseVO) einreisen.<br />
Um mit einem ehemaligen Bundeskanzler zu sprechen: „Es<br />
ist alles sehr kompliziert.“ Daher, wenden Sie sich bei Fragen<br />
gerne an die RechtsexpertInnen von Lansky, Ganzer + partner<br />
(office@lansky.at).<br />
ÜBER DER AUTOR:<br />
Mag. ANDREAS BAUER<br />
ist Rechtsanwalt und Head<br />
of Environmental & Public<br />
Commercial Law bei LGP.<br />
Sein fachlicher Schwerpunkt<br />
liegt in den Bereichen Gewerberecht, Industrie- und<br />
Betriebsanlagenrecht, Bau- und Immobilienrecht, Raumordnungsrecht,<br />
Infrastrukturrecht, Umwelt- und Technikrecht,<br />
Datenschutzrecht, Verwaltungsstrafrecht sowie Europa- und<br />
Verfassungsrecht.<br />
sommer_doppel1.indb 23 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:23
Gemachte Unsicherheit<br />
Ein Mord,<br />
DER NACHWIRKT<br />
Axel Magnus ist mit dieser einen Erzählung<br />
aufgewachsen: Die Großmutter, bei der er aufwuchs,<br />
schilderte immer und immer wieder,<br />
wie ihr Vater eines Tages in der NS-Zeit abgeholt<br />
wurde und nicht mehr wiederkam. Als<br />
Erwachsener wurde ihm nach und nach klar, wie<br />
diese Familientragödie sein eigenes Leben beeinflusste<br />
– positiv wie negativ. Im Alter von 40<br />
Jahren machte er sich daher daran zu recherchieren,<br />
was dem Urgroßvater zugestoßen war.<br />
Text: Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked<br />
Wir treffen einander ganz<br />
Corona-konform im<br />
Freien, um über den Verbleib<br />
von Hugo Quittner<br />
(1875–1941) zu sprechen, über dessen Leben,<br />
Magnus’ Leben und eine Lücke, die<br />
immer da ist, die nicht zu füllen ist. Der<br />
dafür gewählte Ort ist kein zufälliger: der<br />
Leon-Zelman-Park in Wien-Landstraße.<br />
Magnus lebt im dritten Bezirk, ist in der<br />
SPÖ Landstraße aktiv, übt mehrere Funktionen<br />
in der Gewerkschaft der Privatangestellten<br />
(GPA) aus, die ebenfalls in diesem<br />
Bezirk zu finden ist.<br />
Hier, auf dem ehemaligen Areal des<br />
Aspangbahnhofes, befindet sich aber vor<br />
allem das Mahnmal, das daran erinnert,<br />
das von hier aus mehr als 47.000 Jüdinnen<br />
und Juden von den Nationalsozialisten<br />
deportiert wurden. Einer von ihnen<br />
war Hugo Quittner. Er verließ Wien am<br />
23. November 1941. Wie Magnus inzwischen<br />
recherchierte, war der an diesem<br />
Tag aus Wien abgefahrene Zug einer jener,<br />
der die gewaltsam mit ihm Beförderten<br />
direkt in den Tod im Baltikum transportierte.<br />
„Mein Urgroßvater gehörte wohl zu<br />
jenen, die nach der Ankunft im Osten sofort<br />
in eine Grube geschossen wurden.“<br />
Die Großmutter, die 1992 verstarb,<br />
wusste bis an ihr Lebensende nicht, wie<br />
das Leben ihres Vaters schließlich geendet<br />
hatte. „Damals gab es das Findbuch noch<br />
nicht, und eine Internetrecherche war<br />
auch noch nicht möglich. Wahrscheinlich<br />
hätte man die relevanten Informationen<br />
schon damals im Dokumentationsarchiv<br />
des Österreichischen Widerstands gefunden.“<br />
Doch damals war Magnus noch<br />
nicht auf die Idee gekommen nachzuforschen.<br />
Er selbst kam 1967 in Salzburg zur Welt. Die<br />
Eltern ließen sich scheiden, als er eineinhalb<br />
Jahre alt war, der Vater hatte die<br />
Mutter misshandelt, die Mutter wurde<br />
alkoholkrank. Axel und seine Schwester<br />
übersiedelten daher zu den Großeltern,<br />
die Großmutter beschreibt der Enkel<br />
heute als „Helikopteroma“. „Sie war<br />
ein Kontrollfreak, hat nie losgelassen. Wir<br />
haben auch extrem lange bei ihr im Bett<br />
geschlafen, und das ist von ihr ausgegangen.“<br />
Die Großmutter habe sich wie eine<br />
Übermutter verhalten und habe immer<br />
„zu gut aufgepasst“. Im Rückblick könnte<br />
das damit zu tun haben, dass ihr Sohn im<br />
Alter von fünf Monaten bei einem Bombenangriff<br />
starb. Es könnte aber auch daran<br />
liegen, dass sie nie erfahren habe, was<br />
mit ihrem Vater passiert ist. Immer und<br />
immer wieder habe sie jedenfalls von<br />
dem Tag erzählt, an dem der Vater abgeholt<br />
worden war. „Aber wahrscheinlich<br />
war es eine Kombination.“<br />
Was das mit ihm als Kind und auch als<br />
Erwachsenen machte, darüber wurde sich<br />
Axel Magnus erst nach Jahrzehnten klar.<br />
Hilfreich war da auch eine Psychotherapie.<br />
Heute tritt der Politik- und Kommu-<br />
24 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 24 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:26
Offene Fragen<br />
Axel Magnus, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Betriebsrat,<br />
Gewerkschaftsfunktionär und politischer Redner.<br />
„Mein Urgroßvater<br />
gehörte<br />
wohl zu jenen,<br />
die nach der Ankunft<br />
im Osten<br />
sofort in eine<br />
Grube geschossen<br />
wurden.“<br />
Axel Magnus<br />
nikationswissenschaftler selbstsicher auf,<br />
ob als Betriebsrat der Sucht- und Drogenkoordination<br />
Wien, als Gewerkschaftsfunktionär<br />
(er ist etwa Vorsitzender der<br />
GPA-Interessengemeinschaft Social sowie<br />
Mitglied im Verhandlungsteam für den<br />
Kollektivvertrag für Beschäftigte im Sozialbereich)<br />
oder als politischer Redner.<br />
„Ich bin inzwischen ein guter Schauspieler<br />
geworden. Als Kind habe ich immer<br />
das Gefühl gehabt, dass ich total unsicher<br />
bin.“ Seine spätere Schulzeit verbrachte<br />
er im Internat des heutigen Schigymnasiums<br />
Saalfelden. „In der Männerwelt dort<br />
habe ich lernen müssen, das zu überspielen.“<br />
Ob die Unsicherheit damit zusammenhänge,<br />
dass er früh von seinen Eltern<br />
getrennt wurde?<br />
Nein, sagt Axel Magnus heute, oder<br />
jedenfalls nicht hauptsächlich. Mit seinem<br />
Psychotherapeuten konnte er herausarbeiten,<br />
dass die Ursache vor allem<br />
darin lag, dass er sich als Kind keinen<br />
Reim darauf machen konnte, warum jemand<br />
einfach so abgeholt werden und<br />
verschwinden konnte. Die wiederholte<br />
Erzählung der Großmutter hatte sich<br />
fest eingeschrieben. Als Kind führte das<br />
zu einem Gefühl, dass man nie sicher<br />
sein konnte, was passieren würde, und<br />
schon gar nicht, wenn man etwas, und sei<br />
es auch nur eine Kleinigkeit, falsch ge-<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
sommer_doppel1.indb 25 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:30
Fragen zur Familiengeschichte<br />
Meldezettel.<br />
Nach der Deportation<br />
– Land: Polen.<br />
Gefühle verarbeiten.<br />
„Rauskotzen statt runterschlucken<br />
wäre besser.“<br />
macht hatte. „Einmal bin ich<br />
beim Rodeln mit einem Kind<br />
zusammengestoßen und habe<br />
dann den ganzen Tag geweint,<br />
weil ich nicht gewusst habe,<br />
was passieren würde.“<br />
Zu dieser Unsicherheit<br />
hatte auch die Übervorsicht<br />
der Großmutter beigetragen,<br />
ist sich Magnus heute sicher.<br />
Diese hatte schon seine Mutter<br />
kurz gehalten, wie es der Sohn<br />
formuliert. Dass diese dann<br />
alkoholkrank wurde, hält der<br />
Sohn daher für keinen Zufall.<br />
Aus seiner beruflichen Erfahrung,<br />
er arbeitete zunächst<br />
in Salzburg bei der Bewährungshilfe,<br />
seit 1999 dann bei<br />
den Vorläuferorganisationen<br />
der heutigen Sucht- und Drogenkoordination<br />
Wien, wisse<br />
er, dass etwa Depressionen,<br />
aber auch Suchterkrankungen<br />
häufig bei Nachkommen von<br />
NS-Opfern der zweiten, dritten,<br />
vierten Generation diagnostiziert<br />
würden.<br />
Vielleicht wäre es leichter<br />
gewesen, das, was da in der NS-Zeit passiert<br />
ist, mit jemandem zu besprechen,<br />
der überlebt hat. „Aber diese Chance<br />
hatte ich nie.“ Wie seine Recherchen ergaben,<br />
hätte es eine Schwester des Urgroßvaters<br />
gegeben, die in Wien mit einem<br />
Rechtsanwalt verheiratet war und<br />
die erst 1981 starb. Damals wusste er aber<br />
noch nichts von ihrer Existenz. Im Rückblick<br />
bedauert er es, sich mit ihr nicht unterhalten<br />
zu haben.<br />
Dafür hinterließ eine andere Begegnung<br />
großen Eindruck bei ihm. Seine<br />
Großmutter, sie kam 1914 zur Welt, hatte<br />
als Erwachsene in Wien bei einem jüdischen<br />
Brüderpaar in einem Krawattengeschäft<br />
in der Innenstadt gearbeitet. Einer<br />
der beiden war zwar in einem KZ interniert<br />
worden, überlebte aber und fand<br />
schließlich in Frankreich seine zweite<br />
Heimat. Als Magnus ein Teenager war, besuchte<br />
er mit seiner Großmutter, seiner<br />
Mutter und seiner Schwester einmal Eric<br />
Breuer in Nizza, der dort mit seiner Familie<br />
eine Krawattenproduktion betrieb.<br />
„Eric Breuer war ein weißhaariger Franzose,<br />
der immer noch Wienerisch sprach,<br />
aber sehr frankophil war, ein Mann<br />
von Welt. Es war heiß, er krempelte die<br />
Hemdsärmel hoch und ohne, dass er es<br />
selbst merkte, hat ihn ein Zucken durchfahren,<br />
als die Nummer sichtbar wurde.<br />
Dieses Erleben, wie das Grauen mehr als<br />
drei Jahrzehnte später Menschen noch<br />
beeinflusst, war für mich ein tiefes emotionales<br />
Erlebnis. Das hat mehr Bewusstsein<br />
geschaffen als hunderte Bücher.“<br />
Wichtig wurde Axel Magnus schon<br />
früh, sich für Gerechtigkeit einzusetzen<br />
– als Klassensprecher etwa zu Schulzeiten.<br />
Später, indem er in den 1990er-Jahren<br />
straffällig Gewordene im Rahmen der Bewährungshilfe<br />
betreute. „Damals war uns<br />
ganz klar – wir arbeiten auch mit Opfern.“<br />
Ja, natürlich habe es sich um Täter gehandelt,<br />
doch wer stehle, damit seine Kinder<br />
etwas zu essen haben, sei auch Opfer<br />
dieser Gesellschaft. „Ich habe auch einige<br />
junge Männer betreut, die in Pflegefamilien<br />
und Heimen groß geworden waren,<br />
und da waren viele Missbrauchte dabei.“<br />
Wenn er es sich aussuchen konnte, habe<br />
er mit zwei Gruppen allerdings nicht gearbeitet:<br />
„Mit Vergewaltigern und mit Faschos.<br />
Da habe ich immer mein Veto eingelegt.“<br />
Politik sei in seiner Familie zwar nie<br />
wirklich ein Thema gewesen. Die antifaschistische<br />
Einstellung aber schon. Der<br />
Großvater habe Zeit seines Lebens sozialdemokratisch<br />
gewählt, erzählt der Enkel.<br />
Und ja, als er 1999 nach Wien kam und<br />
sich hier von Beginn an bei den Donnerstagsdemonstrationen<br />
engagierte, da sei<br />
der Großvater schon stolz auf den Enkel<br />
gewesen. Dass die Großeltern in Salzburg<br />
landeten, war dem Krieg geschuldet. Wie<br />
auch der Urgroßvater hatten sie in Wien<br />
gelebt, der – nichtjüdische – Großvater arbeitete<br />
in einem als kriegswichtig eingestuften<br />
Metallbetrieb und wurde daher<br />
lange nicht zum Kriegsdienst eingezogen.<br />
Doch gegen Ende der NS-Zeit sollte<br />
26 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 26 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:35
Persönliche Antworten<br />
Wien. Insgesamt hatte<br />
der Urgroßvater sieben<br />
Geschwister, sie alle waren<br />
in einem kleinen Ort<br />
in der jetzigen Tschechischen<br />
Republik zur Welt<br />
gekommen. Die Familie<br />
sei zwar jüdisch, aber<br />
schon damals – in der<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht mehr<br />
besonders observant gewesen, mutmaßt<br />
Axel Magnus. „Die Mädchen hatten noch<br />
jüdische Vornamen, die aber alle, als sie<br />
nach Wien kamen, eingedeutscht wurden,<br />
da wurde etwa aus Miriam Maria.<br />
Die Brüder bekamen aber schon bei der<br />
Geburt deutsche Vornamen.“ Das Originalarchiv<br />
aus der Gegend sei zwar<br />
abgebrannt, doch einige der Familienmitglieder<br />
konnte Magnus in den Matrikenbüchern<br />
der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
Wien finden.<br />
Noch sind die Recherchen zu seinen<br />
Vorfahren nicht ganz abgeschlossen. Aber<br />
Magnus kann nun schon ein ganz gutes<br />
Bild der Lebensumstände seines Urgroßvaters<br />
zeichnen. Doch auch beruflich<br />
führten ihn Recherchen zu einem ähnlichen<br />
Thema: Suchterkrankungen wurer<br />
doch noch zum Volkssturm stoßen – er<br />
zog es jedoch vor, aus Wien in Richtung<br />
Salzburg zu entschwinden.<br />
Trugschluss. Die Großmutter konnte die<br />
NS-Zeit übrigens relativ unbehelligt<br />
überstehen, da ihr Vater und ihre Mutter<br />
nicht verheiratet gewesen waren. Die<br />
Mutter war ebenfalls nichtjüdisch gewesen,<br />
der Vater zwar jüdisch – „doch meine<br />
Großmutter dürfte als Christin gegolten<br />
haben“. Der Urgroßvater wiederum fühlte<br />
sich sicher, da er – er hatte eine Zeitlang in<br />
den USA gelebt und war dort auch verheiratet<br />
gewesen – US-Staatsbürger gewesen<br />
sei, erzählt Magnus. Das sollte sich leider<br />
als Trugschluss herausstellen.<br />
Ab den 1910er-Jahren lebte Hugo Quittner<br />
wieder fix in Wien und war hier Kinodirektor.<br />
Bei seinen Recherchen fand<br />
der Urenkel heraus, dass er bei Stummfilmen<br />
teils selbst am Klavier begleitete<br />
und dass er immer wieder aneckte: einerseits,<br />
weil er sich nicht immer an arbeitsrechtliche<br />
Bestimmungen gehalten zu haben<br />
schien. Andererseits, weil er auch in<br />
Zeiten, in denen das nicht mehr so ungefährlich<br />
war, linke pädagogische Filme<br />
etwa in Form von Sondervorführungen<br />
für die Kinderfreunde zeigte. Die Pension<br />
trat der Urgroßvater schon relativ<br />
früh an, wie Magnus in Erfahrung bringen<br />
konnte. „Es dürfte sich dabei um etwas<br />
wie eine Invaliditätspension gehandelt<br />
haben.“ Als Quittner schließlich zum<br />
Aspangbahnhof verschleppt und von dort<br />
ins Baltikum deportiert wurde, war er 66<br />
Jahre alt.<br />
Darüber, wie er schließlich zu Tod kam,<br />
gibt es kein explizites Dokument. Magnus<br />
hat aber seine letzte reguläre Meldeadresse<br />
in einem Haus in der Brigittenau gefunden,<br />
dann auch noch die Meldung in<br />
einer Sammelwohnung nahe dem Augarten<br />
und auch einen Eintrag über das Datum<br />
der Deportation. Im Findbuch der<br />
ins Baltikum Deportierten fand er einerseits<br />
einen Personeneintrag zum Urgroßvater<br />
und andererseits einen längeren<br />
Text über Erschießungen in diesem<br />
Zeitraum. „Aus der Kombination der Daten<br />
war mir klar, dass er erschossen worden<br />
ist.“ Zwei der Brüder des Urgroßvaters<br />
seien in einem Konzentrationslager gestorben<br />
– einer in Auschwitz, einer in Theresienstadt.<br />
Ein weiterer Bruder dürfte in<br />
Schweden überlebt haben, zwei Schwestern<br />
konnten sich nach England retten,<br />
eine war wahrscheinlich schon vor dem<br />
Krieg verstorben, die vierte überlebte in<br />
Urgroßvater<br />
Hugo Quittner<br />
war Kinodirektor,<br />
der Stummfilme<br />
oft selbst am Klavier<br />
begleitete.<br />
…, dass er sich<br />
als Kind keinen<br />
Reim darauf<br />
machen konnte,<br />
warum jemand<br />
einfach so abgeholt<br />
werden und<br />
verschwinden<br />
konnte.<br />
den in der Geschichte teils als körperliche<br />
Erkrankung wie Diabetes gesehen,<br />
später wurden individualpsychologische<br />
und dann gesellschaftliche Faktoren<br />
als Ursache vermutet. Er habe sich<br />
hier eingehender mit Aaron Antonovsky<br />
und dessen Modell der Salutogenese auseinandergesetzt,<br />
das sich mit Risiken und<br />
Schutzfaktoren beschäftigt und diese Erkenntnisse<br />
für die Suchthilfe adaptiert.<br />
Für den einen könne zum Beispiel die gut<br />
funktionierende Familie ein Schutzfaktor<br />
sein, für den anderen eine schlecht funktionierende<br />
Familie ein Risiko darstellen.<br />
Es gehe also immer um das Individuum,<br />
und man müsse sich jeden Fall daher auch<br />
individuell ansehen, erzählt Magnus.<br />
Warum gerade ihm hier Antonovsky,<br />
der das Modell der Salutogenese unter<br />
anderem bei Forschungen zum Gesundheitszustand<br />
ehemaliger weiblicher KZ-<br />
Überlebender 1970 entwickelte, untergekommen<br />
sei, hält Magnus für keinen<br />
Zufall. Und ebenso wenig,<br />
dass er sich von<br />
klein an für Gerechtigkeit<br />
und als Erwachsener<br />
eben als Betriebsrat und<br />
gewerkschaftlich engagiere.<br />
„Das waren keine<br />
bewussten Entscheidungen,<br />
aber ich denke,<br />
dass das Unterbewusstsein<br />
da eine große Rolle<br />
gespielt hat.“ Fein findet<br />
Magnus, der früh Vater<br />
geworden ist – die Beziehung<br />
zur Mutter hielt<br />
aber nur kurz –, dass er<br />
schon seit vielen Jahren<br />
eine sehr gute Beziehung zu seinem inzwischen<br />
35-jährigen Sohn hat. „Bei uns<br />
gibt es zwar keine regelmäßigen Sonntagstreffen,<br />
da sind wir beide nicht der<br />
Typ dafür, aber wenn wir uns treffen, verbringen<br />
wir eine gute Zeit miteinander.“<br />
Der Sohn wisse von der Geschichte des<br />
Ururgroßvaters, da er aber nicht mit diesen<br />
ständigen Erzählungen der – in seinem<br />
Fall – Urgroßmutter aufwuchs, gehe<br />
ihm das Thema wohl nicht so nahe. „Aber<br />
auch er tut sich manchmal schwer, Gefühle<br />
zu verarbeiten. Rauskotzen statt<br />
runterschlucken wäre besser.“ Das gelte<br />
für ihn ebenso, sagt Magnus. Aber er habe<br />
dank Psychotherapie hier inzwischen einen<br />
besseren Umgang erlernt. Und er<br />
weiß: Familie beeinflusst jeden. Auch jene<br />
Familienmitglieder, die man nie kennenlernen<br />
durfte.<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
sommer_doppel1.indb 27 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:35
INTERVIEW MIT WOLFGANG KOS<br />
„Das jüdische Publikum<br />
war das treueste“<br />
In seinem neuen Band Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft legt Wolfgang Kos<br />
Geschichte und Schichten des legendären Luftkurorts frei.<br />
Interview: Anita Pollak<br />
Über den Semmering hat Wolfgang Kos<br />
schon früh und viel publiziert. Bereits<br />
1982 ist der gleichnamige Band mit dem<br />
Untertitel Kulturgeschichte einer künstlichen<br />
Landschaft erschienen. Ein ganzes Arbeitsleben später,<br />
in dem der Historiker unter anderem als Radiomacher<br />
und danach als Direktor des Wien Museums<br />
tätig war, ist er im Unruhe-Stand auf den Berg seiner<br />
Jugend zurückgekehrt und beschreibt nun die Nostalgie-trächtige<br />
Gegend von den Anfängen ihrer Erschließung<br />
durch die berühmte Ghega-Bahn chronologisch<br />
bin hin in die unmittelbare Gegenwart. Die Phasen der<br />
Besiedlung, die Geschichte der Hotelpaläste, die Gründerzeit<br />
im Villenbau und ihre schillernden Protagonisten,<br />
Glanzzeiten und Abstiege, Anachronismen, Extravaganzen<br />
und Kuriositäten, Mythos und Legenden<br />
rund um den späteren „Zauberberg“ und seine viel gerühmte<br />
Luft, all das präsentiert Wolfgang Kos mit der<br />
dem Sujet entsprechenden Eleganz. Der Flair dieses<br />
„Balkon von Wien“ verdankt sich zum Gutteil seinen<br />
jüdischen Besuchern, stellt Kos fest und resümiert:<br />
„Mit der Vertreibung der Juden war der Semmering<br />
auf Dauer beschädigt und starb einen seelischen Tod.“<br />
Im Zwiegespräch über Buch und Berg treffen zwei<br />
Semmering-Fans aufeinander.<br />
WINA: Ist der Semmering für Sie so etwas wie eine „Lebensliebe“?<br />
Wolfgang Kos: Nein, es war nie Liebe, ich hab’s mir ja<br />
nicht ausgesucht, sondern bin sozusagen hinein erzogen<br />
worden. Es gibt schon eine frühe Prägung, weil<br />
mein Vater gern Eisenbahn gefahren ist. Vor allem<br />
die Semmeringbahn hat es ihm angetan, die konnte<br />
er auswendig, wie die Viadukte heißen etc. Mir blieb<br />
als Kind nichts andres übrig, als das auch zu lernen.<br />
Meine Eltern haben dann am Semmering ein Appartement<br />
gekauft, wo ich in meiner Jugend gerne war.<br />
In den 1950er-Jahren war ja noch ein gewisser Glanz<br />
da, das Panhans hat sich als Nobelhotel präsentiert,<br />
Staatsgäste sind abgestiegen, und es war aus Wiener<br />
Sicht noch ein Stück große Welt. Ich habe also die Topografie<br />
und die Gschichterln gekannt und so auch<br />
den Mythos kennengelernt. Über den Schi-Club, bei<br />
„Mit der<br />
Vertreibung<br />
der Juden<br />
war der<br />
Semmering<br />
auf Dauer<br />
beschädigt<br />
und starb<br />
einen seelischen<br />
Tod.“<br />
dem ich als Jugendlicher war, habe ich auch Freunde<br />
gewonnen, aber ich hatte nie den Wunsch, mich dort<br />
als Zweitwohner anzusiedeln und auch kein Problem,<br />
der Gegend 20 Jahre lang untreu zu sein, denn treu<br />
war ich ihr ja nie.<br />
Wie kam es dann zur neuerlichen Beschäftigung mit der<br />
Region und ihrer Geschichte?<br />
I Schon für mein erstes Buch haben mich die historischen<br />
Schichten interessiert. Es ist dann später auch<br />
meine Dissertation geworden, denn mein ursprüngliches<br />
Dissertationsthema über die Entnazifizierung in<br />
Österreich musste ich aufgeben, das war damals nicht<br />
zu machen. Vor allem ging dieses Buch nur bis 1980<br />
und die Landesausstellung 1992 überhaupt nur bis zur<br />
Arisierung 1938. Das war der Tod der ersten Semmering-Geschichte.<br />
Es ist aber seit den 1990er-Jahren unerhört<br />
viel bedeutende Literatur darüber erschienen,<br />
Architektur- und Eisenbahngeschichte und literarische<br />
Forschung, ein neuer Faktenberg also, und ich<br />
konnte die Kulturzeitgeschichte auch nach 1980 völlig<br />
neu recherchieren. 1998 wurde ja die Semmering-<br />
Bahn als Welterbe-Ort aufgenommen und ist damit<br />
weltberühmt geworden.<br />
Es gab in jeder Phase seiner Geschichte unterschiedliche jüdische<br />
Kreise, die den Semmering als temporären Wohnort<br />
in den Villen, als Gäste in den Hotels bevölkert haben. Ein<br />
Sehnsuchtsort blieb er für die meisten auch nach der Vertreibung<br />
und Arisierung. Was war das Faszinosum gerade<br />
für das jüdische Publikum?<br />
I Es hat sehr stark mit der österreichischen Gesetzgebung<br />
ab 1870 zu tun, die Juden erlaubte, Grund zu<br />
kaufen. Wie an der Ringstraße waren es überproportional<br />
jüdische Großbürger, die Aristokraten hatten<br />
ihre Palais ja bereits, vielfach Aufsteiger, die zweite Generation<br />
nach den Firmengründern, die dann auch<br />
die Prachtentfaltung gesucht und ein kulturelles Interesse<br />
hatten. Relativ gleichzeitig zu dieser Selbstverwirklichungsmöglichkeit<br />
entlang der Ringstraße<br />
ist das Reichenauer Tal mit den ersten Villen besetzt<br />
worden. „Die Ringstraßenvorstadt Wiens“ war zuerst<br />
in Reichenau. Ich habe bei den einzelnen Villenbesit-<br />
© Christine Pichler/Die Presse/picturedesk.com<br />
28 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 28 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:37
Balkon von Wien<br />
Wolfgang Kos:<br />
Der Semmering.<br />
Eine exzentrische<br />
Landschaft.<br />
Residenz Verlag,<br />
384 S., € 34<br />
Das heißt, es gab dort eine jüdische Gründerzeit und Pioniere,<br />
die eine leeres Gebiet besiedelt und daher auch niemanden<br />
verdrängt haben. Ein einzigartiges Phänomen?<br />
I Ja, denn da gab es keine Kirche, keinen Pfarrer, keinen<br />
Friedhof, es war auch kein Dorf. Als jüdischer Sommerfrischler<br />
am Semmering konnte man von null beginnen.<br />
Die Villenbesitzer, so viele sind es ja nicht, haben<br />
dort die Rolle der Aristokratie übernommen, die anderen<br />
mussten sich im Hotel einquartieren.<br />
Und der Semmering hat nicht<br />
zuletzt eine große Rolle als jüdischer<br />
Heiratsmarkt gespielt, zum Matchmaking,<br />
denn während der Sommerfrische<br />
konnten die Familien einander<br />
beobachten. Und auch nach dem Einbruch<br />
des Ersten Weltkriegs blieb das<br />
jüdische Publikum treu.<br />
© Christine Pichler/Die Presse/picturedesk.com<br />
zern natürlich nicht in die Tiefe recherchiert, ob sie Juden<br />
waren oder getaufte Juden. Dass wir alle gezwungen<br />
sind, diese Frage zu stellen, hängt ja nur mit dem<br />
Nationalsozialismus zusammen, obwohl es manchmal<br />
soziologisch wichtig ist. In dieser auch kulturell expansiven<br />
Zeit hat die Schubkraft des jüdischen Großbürgertums<br />
in Wien auch die Dynamik in Reichenau und<br />
auf dem Semmering angetrieben.<br />
Vorausgegangen ist diesem Boom aber der gigantomanische<br />
Hotelbau am Semmering mit den großen Hotelpalästen, in<br />
denen ebenso vorwiegend jüdische Gäste abstiegen.<br />
I Ja, nach dem ersten Hotel Semmering 1882 sind bald<br />
einige Villen entstanden, und die Südbahngesellschaft<br />
hat es verstanden, dieses anfängliche Niemandsland<br />
schnell als Luxus zu vermarkten, als würde man eine<br />
neue Insel besiedeln. Da gab es keine Einheimischen,<br />
nur einige wenige Waldbauern, das meiste gehörte<br />
dem Fürsten Liechtenstein. Nach dem Südbahnhotel<br />
ist relativ bald das Hotel Panhans entstanden und<br />
dazwischen der Korso. In der nächsten Phase kamen<br />
dann sehr reiche Leute aus Wien, und besonders die<br />
um die Jahrhundertwende entstandenen Villen wurden<br />
fast durchwegs von jüdischen Bauherrn in Auftrag<br />
gegeben.<br />
Wolfgang Kos,<br />
der ehemalige<br />
Direktor des Wien<br />
Museums, ist in<br />
seinem Unruhe-<br />
Stand auf den<br />
Berg seiner<br />
Jugend zurückgekehrt.<br />
Nach 1945 kamen jüdische Gäste aus dem<br />
Raum der ehemaligen Monarchie, die den<br />
Mythos Semmering nur vom Hörensagen<br />
kannten, d. h. er hat den Krieg überlebt. Es<br />
gab ein relativ kurzes Revival, eine jüdische<br />
Jeunesse dorée etwa beim Five O’Clock<br />
Tea im Panhans, ein koscheres Restaurant<br />
etc., also eine kurze Blüte bis in die späten<br />
1960er-Jahre. Man sieht es an den Semmering-Motiven<br />
der jüdischen Gesellschafts-<br />
Fotografin Margit Dobronyi. Angehörige<br />
meiner Generation haben sentimentale Erinnerungen<br />
an diese Phase. Warum kommt<br />
diese Zeit in Ihrem Buch zu kurz?<br />
I Ich bin leider aus rechtlichen Gründen<br />
an kein Foto von Margit Dobronyi<br />
gekommen. Über die Periode der späten 1950er- und<br />
1960er-Jahre habe ich auch zu wenig gewusst. Und<br />
für die Zeit von 1945 bis 1980 waren mir die politischen<br />
Themen wichtig. Aber ich fand die Geschichte<br />
der 1927 erbauten Hakoah-Hütte spannend, die nach<br />
dem Krieg nochmals jüdisch belebt wurde, nach der<br />
Arisierung und Restituierung. Ihre Geschichte ist gar<br />
nicht leicht recherchierbar. In den späten 1980er-Jahren<br />
hat niemand auf dem Semmering von der Hakoah-<br />
Hütte gesprochen.<br />
Sie geben in Ihrem Buch einen relativ optimistischen Ausblick<br />
auf die Zukunft des Semmering, dessen Wachküssung<br />
ja schon oft ausgerufen wurde. Was erwarten Sie?<br />
I Wie immer geben die Gebildeteren die Trends vor,<br />
und die entdecken den Semmering wieder. Es gibt eine<br />
neue Kultur der Nähe, und auch die Bahnkultur hat in<br />
den letzten Jahren wieder einen Aufschwung erhalten.<br />
Aber der jüdische Semmering, das ist vorbei. Das jüdische<br />
Publikum war das treueste, und von diesem Mythos<br />
lebt man nach wie vor. Ich sehe aber die Gefahr,<br />
dass diese jüdische Prägung des Semmering wie eine<br />
Folklore behandelt wird, ähnlich wie Wien um 1900.<br />
Das Jüdische ist ein Teil der DNA dieser Region, aber es<br />
bleibt in einer ungreifbaren Vergangenheit.<br />
wına-magazin.at<br />
29<br />
sommer_doppel1.indb 29 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:39
INTERVIEW MIT FLORIAN KRUMPÖCK<br />
„In die Nostalgie kann man<br />
auch hineinwachsen“<br />
WINA: Anders als Ihre Vorgänger setzen Sie weniger auf<br />
Theater und eher auf musikalisch-literarische und kabarettistische<br />
Schwerpunkte sowie auf Stars, die oft mit ihren<br />
eigenen Programmen kommen. Wie sehr können Sie da<br />
bei der Gestaltung mitwirken?<br />
Florian Krumpöck: Mittlerweile entwickeln wir<br />
tatsächlich die meisten Programme in enger Zusammenarbeit<br />
mit den jeweiligen Künstlerinnen<br />
und Künstlern. Viele Programmpunkte entstehen<br />
dabei im Zusammenspiel mit dem Ambiente und<br />
der faszinierenden Geschichte der Spielstätte und<br />
sind deshalb auch nur exklusiv am Semmering zu<br />
erleben. Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Hugo von<br />
Hofmannsthal und viele andere Autoren der Jahrhundertwende<br />
waren ja im Südbahnhotel Semmering<br />
auf Sommerfrische, haben an diesem wundervollen<br />
Ort viel Zeit verbracht und das Gebäude sogar<br />
als Schauplatz für ihre Dramen und Novellen ausgewählt.<br />
Seit 2015 wird der Kultursommer<br />
Semmering unter der Intendanz des<br />
Pianisten und Dirigenten Florian<br />
Krumpöck zunehmend erfolgreich<br />
geführt. Und ist nun, nach dem vorläufigen<br />
Aus des Theatersommers in<br />
Reichenau, das einzige Festival der<br />
Region. Sein besonderer Reiz ist wohl<br />
die historische Spielstätte des Südbahnhotels,<br />
die als Genius loci bei<br />
der Programmplanung mitspielt,<br />
wie Florian Krumpöck betont.<br />
Interview: Anita Pollak<br />
KULTUR.SOMMER.<br />
SEMMERING <strong>2021</strong><br />
9. Juli bis 5. September<br />
Info und Kartenbestellungen:<br />
tourismus@semmering.<br />
gv.at , +43/(0)266 42 00 25<br />
Von der Nostalgie allein kann man aber nicht ewig leben<br />
bzw. sterben auch die entsprechenden Publikumsschichten<br />
irgendwann aus. Gelingt es Ihnen, auch jüngeres Publikum<br />
anzuziehen?<br />
I Nostalgie ist auch etwas, in das Zuschauer langsam<br />
hineinwachsen können. Ich persönlich habe<br />
zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass gerade<br />
auch jüngeres Publikum beginnt, sich zunehmend<br />
für den Semmering zu interessieren. Indem wir die<br />
einstige Künstlerkolonie in die Neuzeit übersetzen<br />
und zudem auch jüngere Ensembles engagieren,<br />
ziehen wir auch wieder jüngeres Publikum an. Immer<br />
wieder erlebe ich zudem, dass gerade die jüngere<br />
Generation bei unserem Menu à la Belle Époque<br />
besonders gerne in historisch angehauchten Kostümen<br />
erscheint und am Semmering ein nostalgisches<br />
Wochenende verbringen möchte.<br />
Das jüdische Erbe, die jüdische Vergangenheit, ist ein wesentlicher<br />
Teil der Tradition am Semmering. Wie sehr nehmen<br />
Sie in Ihrer Programmgestaltung darauf Bezug?<br />
I Fast alle namhaften Künstler der österreichischen<br />
Belle Époque waren jüdischer Herkunft, man denke<br />
nur an Schnitzler, Zweig, Polgar, Altenberg und viele<br />
andere, die bei uns gespielt und gelesen werden. Das<br />
jüdische Erbe spielt bei unserer Programmgestaltung<br />
daher selbstredend eine große Rolle. Darüber<br />
hinaus gibt es auch weitere Programmpunkte, die<br />
auf das jüdische Leben Bezug nehmen: Die Musiker<br />
© Herbert Lehmann/picturedesk.com<br />
30 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 30 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:41
Thema<br />
© Herbert Lehmann/picturedesk.com<br />
von Klezmer Reloaded treten heuer gleich zweimal<br />
am Semmering auf und begleiten beispielsweise einen<br />
Lesenachmittag zu Ephraim Kishon und Friedrich<br />
Torberg. Auch Timna Brauer wird mit einem<br />
Abend voller Erinnerungen an ihren Vater zu erleben<br />
sein.<br />
Im Vorjahr, dem ersten Corona-Sommer, haben Sie mit<br />
12.000 verkauften Karten einen Besucher-Rekord verzeichnet.<br />
Wie ist das Corona entsprechende Sicherheitskonzept<br />
für diese Saison geplant?<br />
I Unsere Sicherheitsmaßnahmen richten sich immer<br />
nach der aktuellen Verordnung und lassen sich<br />
in einem so großen, weitläufigen Gebäude wie dem<br />
Südbahnhotel Semmering glücklicherweise besonders<br />
gut umsetzen. So können wir auf drei Ebenen<br />
und zwei großen Terrassen mit Panoramablick in<br />
den Pausen sogar eine kulinarische Verköstigung<br />
anbieten. Wichtig ist uns, dass maximale Sicherheit<br />
gewährleistet wird und wir dem Publikum dabei<br />
ein angenehmes Kulturerlebnis bieten können.<br />
Glauben Sie an ein nachhaltiges Comeback der Region, insbesondere<br />
des Semmering, und welche Rolle soll da die<br />
Kultur für die Sommerzeit spielen? Im Winter gibt es ja eher<br />
sportliche Prioritäten.<br />
I Daran glaube ich auf jeden Fall! Mit wachsenden<br />
Projekten wie dem Kultur.Sommer.Semmering<br />
wurde hierfür ja schon eine ausgezeichnete Basis<br />
geschaffen. Besonders die ganzjährige Wiederbelebung<br />
der Region wäre meines Erachtens wichtig,<br />
nicht nur durch den Wintertourismus, sondern<br />
auch mit einem attraktiven ganzjährigen Kunstund<br />
Kulturangebot.<br />
„Das jüdische<br />
Erbe spielt bei<br />
unserer Programmgestaltung<br />
eine<br />
große Rolle.“<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
sommer_doppel1.indb 31 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:43
Zarte Bühnenbilder<br />
Kirishima Open Air Museum.<br />
Eine für Japan typische Environmental<br />
Sculpture aus Sonnenlicht, Kirschholz,<br />
Stahl und Glas (1998–2002).<br />
© flash 90/Hadas Parush © 123RF<br />
Beton und Poesie<br />
In Tel Aviv starb 90-jährig der begnadete Bildhauer<br />
Dani Karavan, bekannt vor allem für seine begehbaren<br />
Kunstwerke und Erinnerungsdenkmäler.<br />
Von Reinhard Engel<br />
© danikaravan.com<br />
Toskana. Im Garten von Daniel<br />
Spoerri steht Adam and Eve (For<br />
God created Man and Woman<br />
together) aus dem Jahr 2002, zwei<br />
in Gold gefasste Olivenbäume.<br />
Das Negev Brigade<br />
Monument in Erinnerung<br />
an die Palmach-Negev-<br />
Brigade, 1963–1968.<br />
32 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 32 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:55
Water, grass, flowers, trees, granite, iron, glass,<br />
text, sound<br />
Massive Skulpturen<br />
Tiergarten, Berlin: das unter anderem<br />
aus Wasser, Bäumen und Text bestehende<br />
Sinti und Roma Memorial (2000–2012).<br />
© danikaravan.com<br />
© Wikimedia Commons/Yair Talmor)<br />
„Ich habe Grenzen überschritten,<br />
Disziplinen<br />
gesprengt und mich zwischen<br />
Minimalismus und<br />
Konzeptkunst, Figuration<br />
und Abstraktion, Skulptur<br />
und Architektur, Land Art<br />
und Landschaftsdesign<br />
hin- und herbewegt.“<br />
Dani Karavan<br />
© flash90/Tomer Neuberg<br />
© Michael Kappeler / dpa / picturedesk.com<br />
Jerusalem Knesset: die Wandskulptur<br />
Jerusalem, City of Peace (1965–1966).<br />
Er konnte zart und hart. Kaum jemand,<br />
dem Dani Karavans monumentale<br />
Kunstwerke aus Beton,<br />
Stein und Stahl geläufig sind,<br />
wusste auch über seine ganz anderen, früheren<br />
Arbeiten Bescheid. Über Jahre entwarf<br />
er Bühnenbilder für eine der delikatesten<br />
Kunstformen der Bühne, das Ballet.<br />
Und er kooperierte mit ganz großen Truppen,<br />
mit Martha Graham, mit der Bat Sheva<br />
Dance Company oder auch mit dem Komponisten<br />
Gian Carlo Menotti. Karavan starb<br />
im <strong>Mai</strong> 90-jährig in Tel Aviv.<br />
Er war als Kind polnischer Einwanderer<br />
1930 in Palästina geboren worden, sein Vater<br />
Abraham zeichnete als Landschaftsarchitekt<br />
von den Vierziger- bis zu den Sechzigerjahren<br />
für das Aussehen eines Gutteils<br />
von Tel Aviv verantwortlich. Dani Karavan<br />
studierte erst in Tel Aviv Malerei, im Atelier<br />
von Yehezkel Streichman und Avigdor Steimatzky,<br />
später bei Mordechai Ardon in Jerusalem.<br />
Einige Jahre malte Karavan im Kibbuz<br />
Harel bei Latrun am Weg von Tel Aviv<br />
nach Jerusalem, wo er 1948 zu den Grün-<br />
dungsmitgliedern gehörte. 1956 reiste er<br />
nach Florenz, um an der Accademia delle<br />
Belle Arti Freskomalerei zu erlernen, dann<br />
ging es nach Paris an die Académie de la<br />
Grande Chaumière.<br />
Nun kamen die Jahre als Bühnenbildner<br />
am Tanztheater, bis er seine Liebe zu massiveren<br />
Materialien entdeckte. Einem steinernen<br />
Relief an der Knesset in Jerusalem<br />
folgte seine erste große begehbare Skulptur,<br />
das Denkmal für die Negev-Brigade in Beer<br />
Sheva. Es überragt von einem Hügel die Wüstenstadt<br />
und ist eine komplexe Anordnung<br />
unterschiedlicher mächtiger Betonteile mit<br />
symbolischen Bedeutungen, vom hoch aufragenden<br />
Wachturm bis zur – gerade in dieser<br />
Gegend so notwendigen – Wasserleitung.<br />
Karavan wollte schon bei dieser Land-<br />
Art-Skulptur, dass sie nicht nur von außen<br />
betrachtet wird, sondern sich die Besucher<br />
auch hineinwagen, das Kunstwerk<br />
im wahrsten Sinn des Wortes begehen.<br />
Bei späteren Arbeiten integrierte er zunehmend<br />
Elemente der Natur in seine<br />
Skulpturen: Bäume und Blumenbeete,<br />
Grasflächen und Pergolas. So hat er etwa<br />
den Platz vor dem israelischen Nationaltheater<br />
Habima in Tel Aviv gestaltet, der<br />
täglich aktiv von Jung und Alt in Besitz genommen<br />
wird.<br />
Ähnliches gilt für sein Mahnmal, das<br />
in Berlin an die von den Nationalsozialisten<br />
ermordeten Sinti und Roma erinnert<br />
und über das die Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
schrieb: „Dessen Kern bildet ein kreisrundes<br />
Wasserbecken; in seinem dunklen<br />
Wasser spiegeln sich Betrachter, Bäume und<br />
das Reichstagsgebäude. Inszeniert als Idyll<br />
im Großstadttrubel, setzt das Mahnmal darauf,<br />
den zufälligen Passanten ins Gedenken<br />
an die Zusammenhänge von Natur,<br />
Mensch und Geschichte hineinzuziehen.“<br />
Vor den Düsseldorfer Landtag von Nordrhein-Westfalen<br />
hat Karavan eine symbolträchtige<br />
Großplastik gesetzt. Die tonnenschwere<br />
runde, rostige Stahlplatte nimmt<br />
die bogenförmige Architektur des Gebäudes<br />
dahinter auf, aber sie wird in der Mitte<br />
geteilt von zwei Schienen: Die Wege nach<br />
Auschwitz haben in jeder deutschen Stadt<br />
begonnen.<br />
Eine der eindrucksvollsten Arbeiten<br />
Karavans erinnert an die Flucht und den<br />
Selbstmord des deutschen linken Intellektuellen<br />
Walter Benjamin an der französischspanischen<br />
Grenze in Portbou nahe Girona:<br />
Ein beklemmender stählerner Korridor<br />
führt steil hinunter an das blaue Mittelmeer<br />
– an jenes Meer, über das heute Flüchtlinge<br />
aus Afrika nach Europa streben.<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
sommer_doppel1.indb 33 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:03
Durchbrechen der Grenzen<br />
Cherchez la femme –<br />
auf der Suche nach der Frau<br />
Auf den Spuren der vergessenen Architektinnen, die<br />
einen unverzichtbaren Beitrag zur modernen architektonischen<br />
Planung in Palästina geleistet haben.<br />
Von Daniela Segenreich-Horsky<br />
Kaete Dan<br />
Hotel an der Küstenstraße<br />
von Tel<br />
Aviv, wo heute das<br />
Dan Hotel steht.<br />
Wer waren Lotte Cohen,<br />
Elsa Gidoni-Mandelstamm<br />
oder Genia<br />
Averbuch? Außer einigen<br />
Architekturfreaks<br />
wird wohl kaum jemand in Israel<br />
diese Frage beantworten können. Sie gehörten<br />
zu den erfolgreichen Architektinnen<br />
im Palästina der Zwanziger und Dreißigerjahre,<br />
deren Einfluss vor allem in Tel<br />
Aviv bis heute spürbar ist. Diejenigen ihrer<br />
Bauten, die noch bestehen, wurden zu<br />
Ikonen des internationalen Stils. Doch sie<br />
selbst sind völlig in Vergessenheit geraten.<br />
Der Dizengoff-Platz, ein Wahrzeichen<br />
Tel Avivs, wurde erst kürzlich nach beinahe<br />
fünfzig Jahren der Verunstaltung<br />
wieder in seine ursprüngliche Form zurückversetzt.<br />
Die in den 1970er-Jahren<br />
errichtete Unterführung, die laut dem<br />
damaligen Bürgermeister Shlomo Lahat<br />
„den Verkehr erleichtern“ sollte, den<br />
Platz jedoch für Fußgänger schwer zugänglich<br />
machte, wurde abgebaut und<br />
die harmonische, runde Form mit den<br />
Grünflächen wiederhergestellt. Damit<br />
zog wieder Leben in das Stadtviertel am<br />
südlichen Teil der Dizengoff-Straße ein,<br />
Cafés und Geschäfte rund um den Platz<br />
florieren, der Kreisverkehr regelt den<br />
Verkehr.<br />
Levant Fair. Elsa<br />
Gidoni-Mandelstamm<br />
entwarf für die Messe<br />
unter anderem das<br />
Café Galina.<br />
Die Place Etoile von Tel Aviv. Der anfangs<br />
auch „Etoile von Tel Aviv“ genannte Platz<br />
wurde 1936 von Genia Averbuch entworfen<br />
und zwei Jahre später eröffnet.<br />
Averbuch plante auch zahlreiche Wohnhäuser,<br />
private Villen, Gebäude für Frauenorganisationen<br />
und drei Synagogen<br />
und wurde in der internationalen Fachliteratur<br />
ihrer Zeit hoch gelobt. Doch in<br />
Israel ist sie, wie auch ihre Berufskolleginnen,<br />
die in Palästina bedeutende Projekte<br />
entworfen haben, kaum bekannt.<br />
34 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 34 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:06
Perspektiven von Frauen<br />
hen und soll maßgeblich<br />
zur Durchsetzung des internationalen<br />
Stils beigetragen<br />
haben. (Das Werbeplakat<br />
für die Messe von<br />
1934 wurde übrigens vom<br />
österreichischen Grafiker<br />
Franz Krausz designt.) Die<br />
Aufträge für die Dutzenden<br />
Pavillons und Einrichtungen<br />
der Messe wurde durch<br />
teilweise anonyme Ausschreibungen<br />
vergeben,<br />
an denen die jungen Architektinnen<br />
gegen führende<br />
Berufskollegen im Land<br />
antraten – und gewannen. „Der Beitrag<br />
dieser Frauen zur Architektur im Land<br />
ist nicht weniger wichtig als jener ihrer<br />
männlichen Kollegen jener Zeit“, meint<br />
Davidi, „doch ihre Namen sind teilweise<br />
aus der Geschichte ausradiert.“<br />
Elsa Gidoni-Mandelstamm entwarf für<br />
die Levant Fair unter anderem das Café<br />
Galina, das, wie viele ihrer Projekte, viel<br />
internationalen Beifall erntete. In Folge<br />
ihrer Arbeit für die Messe wurde sie zu<br />
Ausschreibungen für öffentliche Gebäude<br />
eingeladen und gewann die Aufträge<br />
für die Haushaltschule im Neve-<br />
Jizhak-Viertel in Tel Aviv und für das Beit<br />
HaHaluzot, das einstige Haus der Pionierinnen,<br />
in der King-George-Straße. Die<br />
erst 1933 aus Berlin eingewanderte Architektin<br />
eröffnete ihr eigenes Büro und<br />
wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.<br />
Einige ihrer im internationalen<br />
Stil erbauten Häuser im alten Norden<br />
Tel Avivs sind erhalten geblieben und stehen<br />
unter Denkmalschutz. „Ich konnte zu<br />
Anfang nichts über Gidoni finden“, berichtet<br />
Davidi: „Erst nach und nach habe<br />
ich Material zusammengetragen und verstand,<br />
wie signifikant ihre Arbeit war. Sie<br />
hat hier einen wichtigen Beitrag zur Architektur<br />
geleistet, doch sie ist im Ausland<br />
viel bekannter als hier in Israel.“ Gidoni<br />
blieb nur fünf Jahre und ging dann<br />
„Der Beitrag<br />
dieser Frauen<br />
zur Architektur<br />
im Land<br />
ist nicht weniger<br />
wichtig<br />
als jener ihrer<br />
männlichen<br />
Kollegen jener<br />
Zeit.“<br />
Dr. Sigal Davidi<br />
Die Architektin Sigal Davidi hat mehr<br />
als ein Jahrzehnt damit verbracht, die<br />
Werke und den Werdegang dieser „vergessenen<br />
Architektinnen“ in mühsamer<br />
Puzzle-Arbeit zu recherchieren. In ihrem<br />
kürzlich erschienen Buch Ein neues Land<br />
erbauen, Architektinnen und Frauenorganisationen<br />
in Palästina unter dem Britischen Mandat<br />
(erschienen auf Hebräisch in der Open<br />
University Press) beschreibt sie die signifikante<br />
Rolle der Frauen in der Architektur<br />
jener Zeit: „Diese erste Generation von<br />
Architektinnen im Land durchbrach die<br />
Grenzen des weiblichen Stereotyps der<br />
‚unterstützenden Gefährtin‘, der in der<br />
zionistischen Utopie üblich war, und es<br />
ist bemerkenswert, wie sie sich in einer<br />
bis dahin rein männlichen Arbeitswelt<br />
durchsetzten. Sie führten ihre eigenen<br />
Architekturbüros und waren professionell,<br />
unabhängig und total auf ihre Arbeit<br />
fokussiert. Das Niveau ihrer Erfolge<br />
und Errungenschaften war sehr hoch und<br />
kann kaum mit der Situation von Architektinnen<br />
in anderen Ländern jener Epoche<br />
verglichen werden. Ihr Beitrag ist von<br />
großer Bedeutung, vor allem in Tel Aviv.“<br />
Frauen wurden erst nach und nach zu<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts zum Architekturstudium<br />
zugelassen, in Deutschland<br />
und Österreich im Jahr 1919. Dieses<br />
hundertjährige Jubiläum wurde in Berlin<br />
mit der großen Ausstellung Frau Architekt<br />
gewürdigt. Das Technion eröffnete seine<br />
Fakultät erst später, und so kamen zu Beginn<br />
der 1920er-Jahre und bis zur Machtübernahme<br />
der Nationalsozialisten in<br />
Deutschland über ein Dutzend gut ausgebildete<br />
und begabte junge Architektinnen<br />
aus Europa, vor allem aus dem deutschsprachigen<br />
Raum, in das Land und erbauten<br />
hier ganze Wohnviertel, Schulen<br />
und sogar Synagogen. Hier konnten<br />
sie zu jener Zeit relativ leicht große Aufträge<br />
bekommen, was in Europa damals<br />
für Frauen noch schwierig war.<br />
„Der Bauboom in der Zeit vor der<br />
Staatsgründung versorgte alle mit ausreichend<br />
Arbeit“, erläutert Davidi. Sie<br />
wurde auf das Phänomen der „vergessenen<br />
Architektinnen“ aufmerksam, als<br />
sie ihre Doktorarbeit über die Levant-<br />
Fair, die Orient-Messe, recherchierte.<br />
Diese in den 1930er-Jahren regelmäßig<br />
in Palästina abgehaltene internationale<br />
Architekturausstellung, an der sich<br />
zahlreiche europäische Staaten beteiligten,<br />
war in Fachkreisen hoch angesenach<br />
New York ging, wo sie Wolkenkratzer<br />
an prominenten Adressen in Manhattan<br />
entwarf und Teil der Architektengruppe<br />
rund um Walter Gropius und dem Österreicher<br />
Richard Neutra wurde, die an einem<br />
Projekt von modularen, vorgefertigten<br />
Häusern arbeitete.<br />
Die gebürtige Wienerin<br />
Dora Gad war zwar „nur“<br />
Innenarchitektin, zeichnet<br />
aber für viele prestigeträchtige<br />
Projekte verantwortlich,<br />
darunter die Innenausstattungen<br />
des Israel<br />
Museums, der Knesset, des<br />
Tel Aviver Hilton Hotels sowie<br />
der Hotels Accadia und<br />
Sharon in Herzlia. Sie entwarf<br />
auch die Einrichtung<br />
der ZIM-Passagierschiffe.<br />
Dass alle diese Frauen<br />
einfach vergessen wurden,<br />
führt Davidi auf zwei mögliche<br />
Gründe zurück: „Geschichte<br />
wird zumeist von<br />
Männern geschrieben,<br />
‚HerStory‘ wird dabei nicht so sehr berücksichtigt.<br />
Und außerdem spielt es vielleicht<br />
auch eine Rolle, dass viele dieser<br />
erfolgreichen Architektinnen keine Kinder<br />
und keine eigene Familie hier hatten,<br />
sodass es niemanden gab, dem es wichtig<br />
gewesen wäre, ihr Andenken zu bewahren.“<br />
Die erste bedeutende Architektin im<br />
Land war übrigens Lotte Cohn. Sie kam<br />
aus Deutschland und plante schon in den<br />
1920er-Jahren zahlreiche Projekte und<br />
ganze Stadtviertel im modernen internationalen<br />
Stil oder Bauhaus-Stil, darunter<br />
die Landwirtschaftsschule für Frauen<br />
in Nahalal, das Rasco-Viertel und das Kaete<br />
Dan Hotel an der Küstenstraße von Tel<br />
Aviv, an dessen Stelle heute das Dan Hotel<br />
steht. Sie war es auch, die die erste mit<br />
Elektrizität betriebene moderne öffentliche<br />
Küche entwarf. „Sie schrieb interessante<br />
Texte über architektonische Planung<br />
und das Leben hier im Land, vieles<br />
aus der Perspektive einer Frau, die Architektur<br />
für Frauen macht“, ergänzt Davidi.<br />
Lotte Cohn soll auch einen ausgeprägten<br />
Sinn für Humor gehabt haben. In Anspielung<br />
auf ihre männlichen Berufskollegen<br />
soll sie gesagt haben: „Im Gegensatz<br />
zu meinen Kollegen habe ich das Privileg,<br />
eine Küche nicht nur zu entwerfen,<br />
sondern dann auch in ihr zu kochen.“<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
sommer_doppel1.indb 35 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:06
Positive Streitkultur<br />
Zwischen Antisemitismus<br />
und heimischer Hühnersuppe<br />
Mit Freitagnacht Jews gelingt es Schauspieler und Producer Daniel Donskoy,<br />
junge Menschen für jüdische Themen zu interessieren.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
sche Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen,<br />
um mit ihnen beim gemeinsamen<br />
Essen über das Leben als Jude in<br />
Deutschland zu reden. „Ich spreche mit<br />
meinen Gästen über eine nicht einfache<br />
Thematik, über das Verständnis der jüdischen<br />
Identität in Deutschland, einem<br />
Land, wo diese leider nicht unbelastet ist.<br />
Wie also geht man in guter jüdischer Tradition<br />
an die heikelsten Sachen heran?<br />
Mit einer Balance aus Humor, Streitlust<br />
im besten Sinne und gutem Essen. Eine<br />
Show zwischen Antisemitismus und Hühnersuppe.“<br />
Daniel Donskoy wurde 1990 in Moskau<br />
geboren, seine Mutter ist gebürtige<br />
Ukrainerin, sein Vater Russe. Kurz nach<br />
seiner Geburt zogen die Eltern als jüdische<br />
Kontingentflüchtlinge nach Berlin.<br />
Daniel fing mit fünf Jahren an, Klavier zu<br />
spielen, später brachte er sich das Gitarre-<br />
Spiel selbst bei. Nach der Trennung seiner<br />
Eltern zog er mit seiner Mutter 2002 nach<br />
Tel Aviv, daher zählt er Russisch, Ivrith,<br />
Deutsch und Englisch zu seinen Muttersprachen.<br />
2008 ging er zurück nach Berlin<br />
und wollte zuerst Medizin studieren,<br />
entschied sich dann doch für Biologie und<br />
Medienmanagement. Um sich das mit 18<br />
Jahren finanzieren zu können, jobbte er<br />
als Barkeeper im Berliner Kulturzentrum<br />
Tacheles und nahm nebenbei Aufträge als<br />
Model an.<br />
Mit 20 Jahren nahm er Ballettunterricht,<br />
erst danach fand er seine Bestimmung:<br />
Von 2011 bis 2014 absolvierte<br />
Donskoy eine Schauspiel- und Musicalausbildung<br />
an der Arts Educational School<br />
Wie schaffen wir jüdische Bürgerinnen<br />
und Bürger endlich, unseren<br />
nicht-jüdischen Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürgern „das Jüdische“<br />
positiv rüberzubringen? Also: jüdisches<br />
Leben, Inhalte, Denkweise, Gefühle. Das<br />
ist uns ja sehr wichtig, denn wir buhlen seit<br />
Jahrtausenden nicht nur um existenzielle,<br />
verständnisvolle Akzeptanz, sondern sehnen<br />
uns auch unentwegt danach, ein klein<br />
wenig geliebt zu werden. Trotzdem ist dieser<br />
hartnäckige, scheinbar unausrottbare<br />
Antisemitismus noch immer da. Ok, werden<br />
Sie sagen, da gibt es schon hunderte<br />
private und öffentliche Initiativen, Institutionen<br />
und Plattformen, die sich damit<br />
beschäftigen. Stimmt, aber schaffen sie einen<br />
Geist der Normalität im Umgang miteinander?<br />
Die Herzen der 18- bis 38-Jährigen<br />
erreichen sie jedenfalls kaum: Bücher<br />
darüber lesen ist mühsam, an Dialogforen<br />
teilnehmen ist aufwendig, und über Social-Media-Kanäle<br />
kommt kaum etwas<br />
Poppiges, Humorvolles, das ihr Lebensgefühl<br />
ansprechen könnte.<br />
Der 31-jährige deutsche Schauspieler,<br />
Musiker und Regisseur Daniel Donskoy ändert<br />
das seit Ende April durch seine WDR-<br />
Talkshow Freitagnacht Jews in acht Folgen,<br />
wöchentlich um 17 Uhr, in der ARD-Mediathek<br />
sowie auf dem WDR-YouTube-Kanal.<br />
Bereits seine Sendungssignation beginnt<br />
mit dem provokanten Song: Jude, Jude, Jude<br />
ist einfach nur ein Wort, aber in Deutschland ist<br />
Antisemitismus Sport. In den Strophen zwischen<br />
diesem Refrain benennt er selbst<br />
alle gängigen Vorurteile gegen Juden, fordert<br />
seine Zuschauer und Seherinnen<br />
zum Fragestellen auf und endet mit Willkommen<br />
und Schabbat Schalom. Donskoy<br />
empfängt als Gastgeber interessante jüdiin<br />
London, die er mit einem Bachelor in<br />
Musical/Theatre abschloss. Gleichzeitig<br />
studierte er 2012 ein Semester in New York<br />
am angesehenen Lee Strasberg Institute.<br />
Es folgten mehrere Theaterengagements<br />
in London, u. a. am Andrew Lloyd Webber<br />
Foundation Theatre, am Garrick Theatre<br />
und am St. James Theatre. 2016 spielte<br />
„Jude, Jude, Jude ist einfach nur ein Wort, aber<br />
in Deutschland ist Antisemitismus Sport.“<br />
Intro-Song zu Daniel Donskoys WDR-Talkshow<br />
er am Nottingham Playhouse die Rolle des<br />
Jim O’Connor in Tennessee Williams’ Erfolgsstück<br />
Die Glasmenagerie. Ab 2015 arbeitete<br />
das Multitalent in London, seinem<br />
zweiten Wohnsitz nach Berlin, auch<br />
als Theaterregisseur, Theaterproduzent<br />
und Theaterautor.<br />
Ab 2016 verlagerte Donskoy seinen<br />
künstlerischen Schwerpunkt auf Film und<br />
Fernsehen. Er spielte Haupt- und Gastrollen<br />
in diversen britischen Serien und war<br />
im Februar 2017 zum ersten Mal im deutschen<br />
Fernsehen zu sehen. Da legte er einen<br />
fulminanten Senkrechtstart als vielseitiger<br />
Schauspieler hin: In der ZDF-Serie<br />
SOKO Leipzig spielte er den israelischen Soldaten<br />
Avi Cohen, der nach Leipzig kommt,<br />
um den Tod seiner ermordeten Mutter zu<br />
rächen. Darauf folgten im gleichen Jahr<br />
Episodenrollen in diversen ZDF-Produktionen.<br />
Für die Hauptrolle des Kleinkriminellen<br />
und Priesters wider Willen <strong>Mai</strong>k<br />
Schäfer in der RTL-Serie Sankt <strong>Mai</strong>k von<br />
2018 bis 2020 wurde Donskoy als „Bester<br />
Schauspieler“ für den Bayerischen Fernsehpreis<br />
nominiert.<br />
© Christoph Hardt/Action Press/picturedesk.com<br />
36 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 36 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:09
Spannender Newcomer<br />
© Christoph Hardt/Action Press/picturedesk.com<br />
Den absoluten Ritterschlag, den das<br />
deutsche Fernsehen zu vergeben hat, eine<br />
Rolle in einer Tatort-Folge, erhielt der großgewachsene<br />
Rothaarige 2018 als attraktiver,<br />
selbstsicherer Jungunternehmer, der<br />
am Ende als Mörder entlarvt wird. Im<br />
Jahr darauf übernahm Donskoy den Part<br />
des neuen Rechtsmediziners bei Charlotte<br />
Lindholm alias Maria Furtwängler.<br />
Der Tagespiegel schrieb über ihn: „Eine Bildschirmpräsenz,<br />
die es hierzulande lang<br />
nicht mehr gab”, und titelte Donskoy 2018<br />
zu einem der spannendsten Newcomer des<br />
deutschen Films. Als übereifrigen Violinisten<br />
Ron, der sich einem israelisch-palästinensischen<br />
Jugendorchester anschließt,<br />
war Donskoy in dem Kinofilm Crescendo an<br />
der Seite des Österreichers Peter Simonischek<br />
zu sehen.<br />
In einer The Crown-Staffel spielt Daniel<br />
Donskoy den Liebhaber von Lady Diana:<br />
„Lady Di hätte ich schon sehr gerne kennengelernt,<br />
sie muss faszinierend gewesen<br />
sein.“ An seinem 30. Geburtstag hatte<br />
er intensive Drehtage, aber er arbeite sehr<br />
gerne an diesen Tagen. Diesmal wurde ihm<br />
eine großer Wunsch erfüllt: „Ich durfte<br />
beim Mittagessen zwischen Helena Bonham<br />
Carter und Olivia Colman sitzen und<br />
dachte mir: ‚Pretty cool. I’m happy!‘“<br />
Schabbat mit Daniel: Vom Digitalformat direkt<br />
ins WDR-Fernsehen. Der WDR hatte die<br />
Idee, das Projekt Freitagnacht Jews mit dem<br />
beliebten Schauspieler zu machen. Was<br />
hat Daniel Donskoy daran gereizt? „Natürlich<br />
die Thematik. Die jüdische Identitätsfrage,<br />
die ich selbst versuche, seit gut<br />
20 Jahren für mich zu beantworten. Es ist<br />
die erste jüdische Late Night Show Deutschlands.<br />
Eine geile Chance, mit dem Publikum<br />
und meinen Gästen gemeinsam auf<br />
eine Reise zu gehen.“ Er bemühe sich, mit<br />
einem ehrlichen journalistischen Ansatz<br />
zu verstehen, was die Menschen bewegt.<br />
„Es hat verdammt viel Spaß gemacht, vor<br />
allem, weil es so wichtig ist. Jude ist ein<br />
Wort, das Menschen hier immer noch nicht<br />
gerne in den Mund nehmen. Von Normalität<br />
sind wir weit entfernt. Es ist ein erster<br />
wagemutiger Schritt in eine hoffentlich<br />
bessere Richtung“, so der Host der 25-Minuten-Sendung.<br />
„Es wäre schön, wenn sich die Leute<br />
durch Empathie verstehen lernen“, so<br />
Donskoy, „denn die positive Streitkultur<br />
geht gerade verloren. Ich würde provokant<br />
behaupten, sie ist vom Aussterben<br />
bedroht. Nicht bei uns“, lacht er. Kurz bevor<br />
das Gespräch losgeht, kocht der Gastgeber<br />
ein kulinarisch passendes Gericht für<br />
seinen Gast: zum Beispiel für den muslimischen<br />
Psychologen Ahmad Mansour eine<br />
riesige Lammkeule. Oder er teilt mit Sascha<br />
Chaimowicz, dem Chefredakteur des ZEIT-<br />
Magazins, beim Fischeintopf seine Gedanken<br />
über Herkunft und Identität. Der angehenden<br />
Rabbinerin Helène Braun bestellt<br />
er speziell koscheres Essen, das er persönlich<br />
im Studio serviert. Das Essen ist eher<br />
Mittel zum Zweck, um einander näher zu<br />
kommen und eine ungezwungene Atmosphäre<br />
zu schaffen. „Das Essen spielt in<br />
der jüdischen Kultur eine wichtige Rolle.<br />
Die meisten Feiertage erklären sich so:<br />
Sie wollten uns umbringen, sie haben es<br />
nicht geschafft, lasst uns essen.“ Wonach<br />
wählt er seine Gäste aus? Donskoy betont,<br />
dass das Jüdischsein nur einen Aspekt einer<br />
vielfältigen Identität ausmacht. „Alle<br />
Gäste sind jüdisch, legen aber Wert darauf<br />
zu sagen, dass sie ‚nicht nur jüdisch‘<br />
sind, sondern eben auch Mutter oder Feministin,<br />
Musiker oder Journalist.“ Zum<br />
Dinner und Diskurs waren bis jetzt schon<br />
interessante Persönlichkeiten wie der Publizist<br />
Max Czollek, die Schauspielerin Susan<br />
Sideropoulos, die Autorin Mirna Funk<br />
oder auch der Rapper Ben Salomo geladen.<br />
Die Freitagnacht Jews-Show ist ein Hit geworden,<br />
und „weil es sich viele User*innen<br />
gewünscht haben“, schreibt der WDR,<br />
werde das neue digitale Format mit Daniel<br />
Donskoy zusätzlich zur Verbreitung im<br />
WDR-YouTube-Kanal und der ARD-Mediathek<br />
ab dem 18. Juni <strong>2021</strong> auch wöchentlich<br />
im WDR-Fernsehen ausgestrahlt: Immer<br />
freitags um 23.30 Uhr nach dem Kölner<br />
Treff. Aufgezeichnet wird die Sendung wegen<br />
Schabbat aber schon um 17 Uhr. Neben<br />
überwiegend positiven Reaktionen schlugen<br />
Daniel Donskoy in den sozialen Medien<br />
auch Hass-Kommentare entgegen.<br />
Donskoy reagierte darauf musikalisch:<br />
Er veröffentlichte<br />
seinen provokanten<br />
Song Jude, der in<br />
Daniel Donskoy:<br />
„Wie geht man in Kurzform auch der<br />
guter jüdischer Tradition<br />
an die heikelsten Opener von Freitagnacht<br />
Jews ist, auf den<br />
Sachen heran?“<br />
gängigen Streaming-<br />
Portalen. Die Erträge<br />
des Songs spendet er an hassmelden.de, eine<br />
gemeinnützige, ehrenamtliche Organisation,<br />
bei der Hate Speech im Internet anonym<br />
angezeigt werden kann.<br />
„Wichtig ist mir besonders, dass alle, die<br />
zuschauen, ihre Angst verlieren, jene Fragen<br />
zu stellen, die sie wirklich interessieren.“<br />
Daher fordert Donskoy dazu auf, sich<br />
ungeniert zu melden. Und ja, es gebe auch<br />
Denkanstöße, die mal wehtun. Die Sendung<br />
sei anders und werde sicher manche<br />
aufrütteln oder irritieren. „Trotzdem<br />
ist es für mich ein Geschenk, mit einem<br />
Team von Menschen, von denen ich viele<br />
meine Freunde nennen darf, unser Herzblut<br />
in ein gemeinsames Projekt stecken<br />
zu können, das die realistische Möglichkeit<br />
hat, etwas zu bewegen.“<br />
Donskoys Mutter wohnt in Israel, der<br />
Vater in der Schweiz, der Bruder in England,<br />
und die beiden Schwestern leben in<br />
Amerika. „Ich bin nirgendwo und überall<br />
zu Hause“, erklärt er. In der internationalen<br />
Film- und Fernsehwelt ist der selbstbewusste<br />
Jude Donskoy jedenfalls gut beheimatet.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
sommer_doppel1.indb 37 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:17
LEBENS ART<br />
Grandioses Gummi<br />
Ein Sackerl voller Liebe, magischer Einhörner und farbenfroher Regenbogen. Das ganz vegan,<br />
ohne Gluten oder Palmöl und auch noch klimaneutral produziert. Wüssten wir es nicht besser,<br />
würden wir die „Wunderland Rainbow-Edition“ von Katjes direkt auf die Ernährungspyramide<br />
der WHO setzen. katjes.de<br />
Hava nagila!<br />
Wenn es wieder einmal einer Extraportion<br />
guter Laune bedarf: Dinge, die den Dopamin-<br />
Spiegel steigen lassen ...<br />
Flotte Sohlen<br />
Handgemacht in Marrakesch, werden die<br />
Slippers des Wiener Labels Tassel Tales aus<br />
Vintage-Teppich-Stoffen nach dem Upcycling-Prinzip<br />
gefertigt. So ist jedes Paar ein fein<br />
verarbeitetes Unikat, das sowohl das örtliche<br />
Handwerk wie die fair entlohnte Arbeit<br />
von Frauen unterstützt. Wermutstropfen:<br />
Die tollen Mules gibt es in so<br />
vielen Mustern und Farben, dass man<br />
direkt in Entscheidungsnotstand kommt.<br />
tassel-tales.com<br />
Die Unzerbrechlichen<br />
Wenn eine Brille unkaputtbar ist, bedeutet das<br />
nicht nur, dass man sich ohne Konsequenzen<br />
auch einmal patschert auf sie draufsetzen<br />
kann. Es bedeutet ebenso, dass man die Bügel<br />
einfach selbst in die optimale Position biegen<br />
kann. Bei gloryfy ermöglicht der flexible Spezialkunststoff<br />
NBFX die perfekte Kaltanpassung<br />
der Brillenbügel an die anatomischen Bedürfnisse<br />
des Trägers. Passt!<br />
gloryfy.at<br />
Hauch von Hut<br />
Ob Picasso-Muse Dora Maar für diesen feinen<br />
Kopfputz Namenspatin war? So lässig und<br />
extravagant wie die Französin ist das sommerliche<br />
Haarband aus luftigem Tüll allemal.<br />
„Dora“ aus der Wiener Hutmanufaktur Mühlbauer<br />
kann dank der Einarbeitung eines biegsamen<br />
Drahtes nach Lust und Laune gebunden,<br />
geknotet und geformt werden. Achtung:<br />
Das Model mag – wie wir – nur sonniges, warmes<br />
Wetter und einen behutsamen Umgang.<br />
muehlbauer.at<br />
Kein Kater<br />
Was für eine Rezeptur: Für den bittersüßen<br />
Bio-Aperitif „Bitterschön“ werden Kräuter,<br />
Chinarindenbaumrinde, Holunder,<br />
Kurkuma und Zitronenverbene mit handgepflückten<br />
sizilianischen Zitrusfrüchten und<br />
österreichischem Gebirgsquellwasser zusammengebracht.<br />
Selbstverständlich alkoholfrei<br />
– so muss man sich beim Genuss<br />
auch keinen Kopf über den nächsten Tag<br />
machen.<br />
wonderfuldrinks.com<br />
Hand drauf!<br />
Fußball-Allstar Maradonna sprach von<br />
„la mano de Dios“ (der Hand Gottes), die Beatles<br />
sangen „I want to hold your hand“, und die<br />
Design-Manufaktur Wiener Times macht aus<br />
bunten Stoffen ein kultiges Greiforgan, das<br />
über zwei Meter lang lässig auf der Couch liegt.<br />
Wer sich in guten Händen wähnen will,<br />
braucht diese extrem(itäten) tollen<br />
Sofakissengiganten!<br />
wienertimes.com<br />
Glücklich satt<br />
Man kann sich vorstellen, warum Elior<br />
Molcho sein neues Gastro-Brand KVETCH<br />
genannt hat ( = eine Person, die sich<br />
dauernd beschwert). Schließlich liefert er notorischen<br />
Nörglern ein perfektes Gegengift:<br />
saftige Gute-Laune-Burgers! Geplant ist ein eigenes<br />
Lokal, bis das steht, werden Kvetch<br />
Smashed Burgers im Food-Truck vor dem NENI<br />
Tel Aviv Beach am Donaukanal gebraten.<br />
Visuelle Appetithappen liefert der Insta-Account:<br />
@kvetch.smashedburgers.<br />
Fotos: © Nuriel Molcho/NENI, Hersteller<br />
38 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 38 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:22
WINAKOCHT<br />
Alles in Butter mit der Butter?<br />
Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso.<br />
Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte:<br />
Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Servus <strong>Wina</strong>-ExpertInnen,<br />
ich bin ein wenig verwirrt. Einige meiner Bekannten<br />
kaufen nur Milch, die als „Chalaw Israel“ produziert<br />
wurde. Ihre Butter hingegen besorgen sie<br />
sich in jedem herkömmlichen Supermarkt. Sie<br />
scheint also auch für „Chalaw Israel“-Essende koscher<br />
zu sein, obwohl die Milch, aus der sie hergestellt<br />
wurde, nur „Chalav Stam“ ist. Wie kann<br />
das sein?<br />
<strong>Mai</strong>k M., Wien<br />
HONIG-ZIMT-<br />
BUTTER<br />
ZUTATEN<br />
(für 1 Einmachglas):<br />
200 g weiche Teebutter<br />
250 g Honig<br />
1 EL gemahlener Zimt<br />
1 Prise Salz<br />
Koscher ist nicht gleich koscher. Die Regeln,<br />
die beim Kauf von Lebensmitteln<br />
zur Anwendung kommen, sind nicht<br />
nur vielfältig, sondern auch durchaus unterschiedlich<br />
– je nachdem, welcher rabbinischen<br />
Autorität man folgt. Wie das allerdings<br />
Ihre Bekannten im Speziellen<br />
handhaben, darüber können auch wir nur<br />
spekulieren. Befragen wir zum allgemein<br />
besseren Verständnis stattdessen unsere jüdischen<br />
Quellen.<br />
Grundsätzlich stellt der Talmud fest, dass<br />
es unmöglich ist, aus der Milch unkoscherer<br />
Tiere Butter herzustellen. Sie koaguliert<br />
oder gerinnt nämlich nicht. Dieser Logik<br />
nach wäre es also kein Problem, Butter<br />
– oder auch andere fertige feste Milchprodukte<br />
wie etwa Crème fraîche oder Sauerrahm<br />
– zu kaufen, die nicht unter spezieller<br />
Koscher-Aufsicht hergestellt werden.<br />
Kann man Butter also bedenkenlos kaufen?<br />
Jein. In manchen Ländern wird Butter<br />
aus Molke produziert, die nach der Produktion<br />
von Hartkäse mit tierischem Lab<br />
übrigbleibt. Das Österreichische Lebensmittelbuch,<br />
Codexkapitel B32, definiert Butter als ein ausschließlich<br />
aus Milch stammendes und durch das Verfahren<br />
der kontinuierlichen Verbutterung von Rahm hergestelltes<br />
Streichfett vom Typ einer homogenen Wasser-in-Fett-Emulsion.<br />
Zudem garantieren die Verordnungen, dass Milch von<br />
koscheren Tieren nicht mit der Milch von nichtkoscheren<br />
Tieren vermischt wird.<br />
Man sollte auch nicht vergessen, dass die gesamten Vorschriften<br />
über „Chalaw Israel“ den meisten Juden nicht als<br />
rabbinisches Verbot gelten, sondern als Minhag. „Chalaw Israel“<br />
zu kaufen, ist mehr ein guter Brauch.<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Butter in eine Schüssel geben<br />
und mit dem Handrührgerät<br />
für zirka zwei Minuten schlagen,<br />
bis sie cremig ist. Honig,<br />
Zimt und Salz zufügen und<br />
weiterrühren, bis eine gleichmäßige<br />
Masse entstanden<br />
ist. In ein steriles Einmachglas<br />
abfüllen, mit dem Ablaufdatum<br />
der Ursprungsbutter beschriften<br />
und im Kühlschrank<br />
aufbewahren. Die Honig-<br />
Zimt-Butter schmeckt köstlich<br />
auf Brioche, Toast oder<br />
Palatschinken.<br />
Liebe Kulinarik-Redaktion,<br />
beim Einkauf wundere ich mich regelmäßig über<br />
den Begriff „Teebutter“. Wären wir in England,<br />
könnte ich das ja noch verstehen. Dort hat das<br />
Stückchen Butter auf dem Gebäck zum Fünf-Uhr-<br />
Tee Tradition. Aber bei uns trinkt man ja eher Kaffee<br />
– ob zur süßen Nachmittagsjause oder zum Frühstück.<br />
Woher kommt denn die Bezeichnung „Teebutter“?<br />
<br />
Nina B., Wien<br />
Die Bezeichnung „Teebutter“ hat nichts<br />
mit dem Verzehrzeitpunkt zu tun, und<br />
auch die Getränkebegleitung spielt keine<br />
namensgebende Rolle. Vielmehr handelt es<br />
sich um einen Austriazismus aus dem Lebensmittelkodex.<br />
In ihm wird Butter der<br />
höchsten Güteklasse als „Teebutter“ bezeichnet<br />
– gefolgt von der weniger qualitätsvollen<br />
Tafel- und der Kochbutter. Was sich Marketingstrategen<br />
sonst noch ausgedacht haben<br />
– von der Alm- über die Land- bis zur Sommerbutter<br />
– hat keinerlei Aussagekraft über<br />
die Qualitätsstufe.<br />
Woher der Ausdruck „Teebutter“ allerdings<br />
etymologisch rührt, darüber streiten<br />
die Experten noch. Fakt ist: 1901 wurde die<br />
Teebutter auf Kochkunst- und Nahrungsmittelausstellungen<br />
in London und Paris mit<br />
dem „Großen Preis" und einer Goldmedaille<br />
ausgezeichnet und begründete damit den<br />
Ruf der österreichischen Teebutter international.<br />
Sogar bis an den Englischen Königshof<br />
schaffte es die Butter. Kaum Wahrheitsgehalt<br />
hat hingegen die schmalzige Legende, nach<br />
der die Royals sie als Zutat für ihr Teegebäck<br />
entdeckten und die Butter folglich „Teebutter“ nannten. Auch<br />
die Erklärung, wonach TEE eine Abkürzung sei, die für Teschener<br />
Erzherzögliche Butter stehe und also ein Markenname aus<br />
dem Kaiserreich wäre, der sich bis heute gehalten habe, darf<br />
bezweifelt werden. Weit wahrscheinlicher ist dagegen folgende<br />
butterweiche Ableitung aus der Zeit der Donaumonarchie: „Tee“<br />
kommt von „Tej“, was auf Ungarisch so viel wie Milch bedeutet.<br />
Welcher Erklärung Sie auch immer folgen möchten: Lassen<br />
Sie sich nicht die Teebutter vom Brot nehmen. Erst recht<br />
nicht in der köstlichen Variante, die wir Ihnen in unserem Rezept<br />
vorstellen.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />
office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
sommer_doppel1.indb 39 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:22
WINA YOGA<br />
Über die Liebe<br />
Um zu lieben, benötigt es Präszenz. Und vor allem benötigen wir<br />
Selbstliebe. Bedingungslose Selbstliebe.<br />
ie gut ist es, wenn wir<br />
zu nahe beieinander<br />
stehen? Wie viel Platz<br />
und Raum braucht ein<br />
Mensch? Und ist das ein individuelles<br />
oder allgemeines ungeschriebenes<br />
(Liebes-)Gesetz?<br />
Nähe und Distanz sind allgemein<br />
wichtige Themen. Gerade in<br />
der letzten Zeit, in der wir viel soziale<br />
Distanz erlebt haben, ist es sinnvoll,<br />
sich mit Fragen wie den folgenden<br />
zu beschäftigen: Wie drücken<br />
wir aus, wenn wir Raum brauchen,<br />
und wie, wenn wir Nähe suchen?<br />
Wie, wenn wir Zurückweisung erleben?<br />
Und wann bemerken wir, wenn wir jemanden<br />
dazu bringen, uns zurückzuweisen, zum Beispiel, indem<br />
wir selbst eine bestimmte Stimmung mitbringen<br />
und dann aufgrund unserer Erwartungshaltung an unser<br />
Gegenüber enttäuscht sind, wenn darauf nicht die erwartete<br />
Resonanz folgt?<br />
Was dadurch entsteht, ist ein Ungleichgewicht zwischen<br />
zwei Menschen. Etwa, wenn ein Mensch viel Energie<br />
mitbringt und der andere gerade weniger davon hat.<br />
Dann folgen gerne Worte wie: Immer ist das so. Er/ Sie<br />
wird sich nie ändern. Das hat einen immer schon gestört<br />
...<br />
Wenige nehmen sich den Moment, um zu realisieren,<br />
was man selbst gerade braucht, damit wir uns<br />
selbst verstehen können und es so auch unserem Gegenüber<br />
ausdrücken können, statt es zu kritisieren.<br />
Und wenn das mit dem Partner, der Partnerin gerade<br />
nicht möglich ist, ist es das dann vielleicht allein?<br />
Wir bleiben meist nicht im Moment, obwohl das doch<br />
so hilfreich wäre, um zu erkennen, dass der/die andere<br />
gerade etwas anderes braucht als wir selbst.<br />
In diesen Momenten weiß ich, dass ich Rückzug auf<br />
meiner Matte finde. Ich setze mich auf die Weise, wie<br />
ich sie in meinem letzten Beitrag beschrieben habe,<br />
und schließe entweder die Augen oder fokussiere einen<br />
Punkt. Dann beobachte ich die Gefühle, die gerade<br />
wahrnehmbar sind, bevor ich auf mein Gegenüber gedankenlos<br />
in der Emotion reagiere. Und dabei handelt<br />
es sich um ein Reflektieren und nicht um ein Reagieren!<br />
Um zu lieben, braucht es Präsenz. Was bedeutet Präsenz?<br />
Das Da-Sein für uns selbst und andere. Einfach<br />
da sein. Dazu benötigt jedes Individuum etwas anderes,<br />
Die Liebe wird mit sich selbst und mit dem<br />
Auserwählten Umfeld geteilt<br />
aber vor allem benötigen wir bedingungslose<br />
Selbstliebe.<br />
Aus einem Seminar habe ich mitgenommen,<br />
dass wir jeden Tag neu<br />
beginnen, jeden Tag mit unseren<br />
Gedanken, unseren Worten und unseren<br />
Taten selbst beeinflussen können.<br />
Alles weitere ist Übung. Dann<br />
kommt alles zu dir, und zwar zum<br />
richtigen Zeitpunkt.<br />
Bald ist Tu B’Av, das Fest der<br />
Liebe, und dieser kleine, feine Feiertag<br />
beinhaltet das Erinnern an<br />
die Liebe, an das große Ganze.<br />
Wie wäre es, dieses Jahr das Fest<br />
der Liebe so zu gestalten, dass die Präsenz im Vordergrund<br />
steht? Dabei geht es weniger um Materialismus<br />
und Konsum und mehr um das Miteinander der<br />
Liebenden. Wer es gerne mit anderen feiern möchte,<br />
kann planen, etwas Gemeinnütziges zu tun oder jemand<br />
anderen mit Präsenz zu beschenken. Und wer<br />
es allein feiert, beschenkt sich eben selbst mit Liebe.<br />
Wie drücken wir aus, wenn wir<br />
Raum brauchen? Und wie, wenn<br />
wir Nähe suchen?<br />
Es kann auch eine Meditation, eine Yoga-Einheit, etwas<br />
mit Liebe Zubereitetes, Selbstgekochtes, eine Wanderung<br />
und so vieles mehr sein.<br />
Wichtig dabei ist, alles andere – die 19 Hochzeiten, auf<br />
denen wir alle immer gleichzeitig tanzen wollen – an diesem<br />
Tag auf später zu vertrösten. Es geht darum, die Präsenz<br />
und Liebe mit uns selbst und unserem Umfeld für<br />
einen bestimmten Zeitraum zu teilen. Selbstverständlich<br />
zählen dazu keine Notfälle, den gesunden Menschenverstand<br />
behalten wir uns tagtäglich.<br />
Zum Abschluss ein Aufruf des Malers und Dichters<br />
Khalil Gibran: Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur<br />
Fessel: Lasst sie eher ein wogendes Meer zwischen den Ufern<br />
eurer Seelen sein. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich,<br />
aber lasst jeden von euch allein sein. So wie die Alten einer<br />
Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern.<br />
Und steht zusammen, doch nicht zu nah. Denn die Säulen des<br />
Tempels stehen für sich. Und die Eiche und die Zypresse wachsen<br />
nicht im Schatten der anderen.<br />
wına-magazin.at<br />
40<br />
sommer_doppel1.indb 40 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:23
HIGHLIGHTS | 03<br />
Keine Tatsachenberichte<br />
Eine Ausstellung in Stuttgart zeigt einen<br />
düsteren Grafikzyklus Fred Uhlmans<br />
Ist das nun – ja was? Pikant? Täppisch? Verunglückt?<br />
Da nennt die Staatsgalerie Stuttgart ihre<br />
Ausstellung des Künstlers Fred Uhlman (1901–<br />
1985) Trotz allem, weil er, der gebürtige Stuttgarter,<br />
einstmals genau diese Worte nach einer Lesung<br />
in seiner Geburtsstadt als Widmung in ein<br />
Buch schrieb.<br />
Eine Fred-Uhlman-Straße in Stuttgart gibt<br />
es, im südlichen Bezirk Sillenbuch. Schwäbisch<br />
nüchtern, schwäbisch sauber ist das unauffällige<br />
Sträßchen. Dabei wäre es wohl naheliegender<br />
gewesen, die Hölderlinstraße nach ihm umzubenennen.<br />
Dort wuchs er auf. Dort (Nr. 57) sind<br />
heute Stolpersteine zu finden, die an seine fast<br />
vollständig ermordete Familie erinnern. Er, der<br />
Jude, Jurist und Sozialdemokrat, konnte 1933 gerade<br />
noch nach Paris fliehen, 1936 dann weiter<br />
nach England. 1940 wurde er wie viele andere<br />
„enemy aliens“ auch, etwa der Exilant und Avantgardist<br />
Kurt Schwitters, auf der Isle of Man harsch<br />
kaserniert. Dort fing er zu zeichnen<br />
an. Und zu schreiben.<br />
Eine Fred-Uhlman-Ausstellung<br />
gab es bisher nicht in Stuttgart.<br />
Vor seinem Tod schenkte er der<br />
Staatsgalerie einen Grafikzyklus.<br />
Düster ist er, auch beißend, auch<br />
bitter. Ein Totentanz auf Ruinen<br />
und hinter Stacheldraht. Ein Blatt<br />
aus der Serie Captivity (Gefangenschaft)<br />
heißt etwa Landschaft mit<br />
Erhängtem. Starke Werke eben des<br />
20. Jahrhunderts. A.K.<br />
FRED UHLMAN<br />
Staatsgalerie Stuttgart<br />
bis 12. September <strong>2021</strong><br />
staatsgalerie.de<br />
FAHIMA #1<br />
Wer die israelische Koloratursopranistin<br />
Hila Fahima an der Wiener Staatsoper<br />
in der Titelpartie von Verdis Rigoletto<br />
als Gilda gehört hat, kann sich<br />
jetzt erneut auf die Künstlerin freuen:<br />
Bei den Bregenzer Festspielen singt<br />
sie wieder die Gilda. Über ihre immer<br />
wieder neuen Aufgaben verrät<br />
sie: „Ich setze mich sehr gerne mit<br />
Neuem, Unbekanntem auseinander<br />
– es ist, als würde man ein neues Kleid<br />
tragen, dessen Schnitt und Farbe man<br />
selbst entworfen hat.“ (MH)<br />
Die toten Feldherrn<br />
(1940) aus Fred Uhlmans<br />
(19011985) Serie<br />
Captivity.<br />
Aliza Nisenbaums farbenprächtige<br />
Hommagen an<br />
die Heldinnen und Helden<br />
der Corona-Krise.<br />
ALIZA NISENBAUM<br />
Tate Gallery Liverpool<br />
bis 5. September <strong>2021</strong><br />
tate.org.uk<br />
Alle Augenfutter<br />
Die Tate Gallery Liverpool zeigt Aliza<br />
Nisenbaums bunte Pflegemenschen-<br />
Hommagen<br />
Momenterl mal. Halt. Ist das nicht – das<br />
ist doch?!? Aber nein. Das ist nicht Xenia<br />
Hausner in Liverpool (deren Gemälde sind<br />
derzeit in der Wiener Albertina zu sehen). Diese<br />
strahlend bunten, intensiv leuchtenden, hellen<br />
wie optimistischen Arbeiten stammen von<br />
Aliza Nisenbaum, in Mexiko geboren, seit Längerem<br />
in New York City ansässig und dort auch<br />
Malerei an der Columbia University lehrend.<br />
Die Tate Gallery Liverpool zeigt nun Nisenbaums<br />
jüngste, in den vergangenen Monaten<br />
entstandene großformatige neue Ölgemälde.<br />
Und zwar: Porträts. Genauer: Gemeinschaftsund<br />
Gruppenporträts von Mitarbeitern, hauptberuflichen<br />
wie ehrenamtlichen, des National<br />
Health Service, des staatlichen englischen Gesundheitsdienstes<br />
in Groß-Liverpool. Eine feine<br />
Hommage an all jene, die zur Hoch-Zeit der Pandemie<br />
besonders exponiert waren, besonders<br />
Ergreifendes direkt vor Augen hatten. Natürlich<br />
hielt die sympathische wie offene Nisenbaum<br />
die geforderte Distanz ein,<br />
kommunizierte mit den zu Porträtierenden<br />
digital und ließ auch, was so<br />
mancher, von der Krankenschwester<br />
bis zum Ordinarius, ihr erzählte<br />
oder zeigte, vom Musikinstrument<br />
bis zum Trost spendenden Haustier,<br />
in ihre von David Hockneys Stil<br />
wie vom barock überschwänglich<br />
erzählerischen mexikanischen muralismo<br />
eines Diego Rivera inspirierten<br />
Werke einfließen. A.K.<br />
MUSIKTIPPS<br />
ARGERICH<br />
Über die Pianistin Martha Argerich<br />
zu schwärmen, ist so einfach wie auf<br />
der Hand liegend. Auf den 20 CDs<br />
der Warner Classics Recordings, die es nun<br />
zum Sonderpreis gibt, sind Einspielungen aus<br />
unglaublichen 41 Jahren zusammengefasst.<br />
Unter ihren musikalischen Partnern bei Mozart,<br />
Schumann, Chopin, Debussy, Kodály oder<br />
Bartók sind neben anderen Mischa <strong>Mai</strong>sky und<br />
Gidon Kremer, Itzhak Perlman, Nelson Freire,<br />
Nikolaus Harnoncourt und Charles Dutoit.<br />
FAHIMA #2<br />
Ab 2013 gehörte Hila Fahima mit<br />
ihrem mehrfach preisgekrönten<br />
hellen Koloratursopran sieben Jahre lang dem<br />
Ensemble der Wiener Staatsoper an. Auf Doni-<br />
zetti/Verdi (Orfeo) interpretiert sie nun mit Michele<br />
Gamba und dem ORF Radio-Sympho-<br />
nieorchester Wien Bekannteres (Lucia und<br />
Gilda), aber auch weniger bekannte Arien aus<br />
selten auf die Bühne gehobenen Opern Doni-<br />
zettis wie Rosmonda d’Inghilterra oder Emilia<br />
di Liverpool. . Und das zum Dahinschmelzen.<br />
WEINBERGER<br />
Wenn Musikdramaturgen Unterhaltsames<br />
suchen, dann graben<br />
sie die leichte Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer<br />
von Jaromir Weinberger aus. Aber seine<br />
Orchesterwerke? Diese legt nun das Label cpo<br />
neu vor, eingespielt mit raffiniertem Elan von<br />
der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-<br />
Pfalz unter Karl-Heinz Steffens und fast noch<br />
unterhaltsamer und amüsanter. Schwungvoll,<br />
dabei kunstvoll lyrisch sind etwa die sieben Böhmischen<br />
Lieder und Tänze. A.K.<br />
© Marco Borggreve; Aliza Nisenbaum. Photography by Jeff McLane, courtesy the artist and Anton Kern Gallery, New York; The Estate of Fred Uhlman<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
sommer_doppel1.indb 41 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25
Belastete Ehe<br />
„Menschliche<br />
Größe hat Grenzen,<br />
Kleinheit nicht“<br />
Zwei Künstlerleben:<br />
die wiederentdeckte Marta Karlweis<br />
und der fast vergessene Jakob<br />
Wassermann.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Jakob Wassermann<br />
zählte neben Hermann<br />
Hesse und Thomas Mann,<br />
der ihn als „Weltstar des<br />
Romans“ bezeichnete, zu<br />
den meistgelesenen deutschen<br />
Autoren seiner Zeit.<br />
Arthur Schnitzler mochte<br />
sie anfangs gar nicht: Er<br />
beschrieb Marta Karlweis<br />
in seinen Tagebüchern als<br />
„begabtes, künstliches, unwahres<br />
hartes Geschöpf“, denn ihn irritiere<br />
„ihr socialer Ehrgeiz“. Trotzdem,<br />
vielleicht von typisch weiblichen Selbstzweifel<br />
geplagt, legte ihm die bereits erfolgreiche<br />
Schriftstellerin immer wieder<br />
eigene Texte vor, die er vorerst abschätzig<br />
als „ein Simili Wassermann stellenweise<br />
von täuschendem Glanz“ nannte,<br />
und noch mit dem Zusatz, „ihre Äfferei<br />
geht ins Geniale“, versah. Wenn man<br />
dieses harsche menschliche und literarische<br />
Urteil liest, sollte man wissen, dass<br />
Schnitzler in das Privatleben des Schriftsteller-Ehepaares<br />
Marta Karlweis-Jakob<br />
Wassermann verstrickt war und daher<br />
nicht als unparteiisch gelten darf.<br />
Die für Marta Karlweis und Jakob Wassermann<br />
beglückende Liebesgeschichte,<br />
die für beide in der jeweils zweiten Ehe<br />
kulminierte, war dennoch nicht unbeschwert:<br />
Ein bitter geführter siebenjähriger<br />
Scheidungskrieg mit Julie Speyer,<br />
der ersten Frau Wassermanns, wurde<br />
zur schweren Belastung, psychisch und<br />
finanziell. Zuerst ergriff Arthur Schnitzler<br />
Partei für Julie und mahnte zur Rücksichtnahme<br />
auf die Verlassene. Erst im Laufe<br />
© S.M./SZ-Photo/picturedesk.com<br />
42 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 42 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25
Wiederzuentdeckendes Literaturpaar<br />
© S.M./SZ-Photo/picturedesk.com<br />
„Vom gesellschaftlichen<br />
Standpunkt<br />
aus sind wir<br />
bereits heute<br />
vogelfrei.“<br />
Jakob Wassermann<br />
1921 in Mein Weg<br />
als Deutscher<br />
und Jude.<br />
bende Kollegin Maria Lazar die Schule der<br />
berühmten Pädagogin Eugenie Schwarzwald<br />
am Wiener Franziskanerplatz. Dort<br />
unterrichten einige prominente Vertreter<br />
des Wiener kulturellen Lebens,<br />
darunter Adolf Loos<br />
und Oskar Kokoschka. Aus<br />
ihren frühen literarischen<br />
Texten liest Karlweis auch<br />
im stadtbekannten Salon<br />
der Berta Zuckerkandl den<br />
illustren Gästen vor.<br />
Als Marta 12 Jahre alt ist,<br />
stirbt ihr Vater, und obwohl<br />
der Vormund ihr das Studium<br />
nach der Matura verbietet,<br />
beginnt sie, an der<br />
Universität Wien Psychologie<br />
zu studieren. 1907 heiratet<br />
sie den westböhmischen<br />
Industriellen Walter<br />
Stross und bricht das Studium<br />
ab. Nach der Geburt<br />
der zwei Töchter, Bianca (1908) und<br />
Emmy (1910) widmet sich Karlweis-Stross<br />
wieder verstärkt dem Schreiben: 1912 erscheint<br />
die Erzählung Der Zauberlehrling,<br />
1913 wird am Münchner Residenztheater<br />
ihre Komödie Der Herrenmensch aufgeführt<br />
und erntet positiven Widerhall.<br />
Es folgt Ein österreichischer Don Juan im<br />
Jahr 1929, den die Germanisten Albert C.<br />
Eibl und Johann Sonnleitner vor Kurzem<br />
sachkundig neu herausgegeben haben.<br />
Erzählt wird darin scharfsinnig und spitzzüngig<br />
ein Reigen der Lieblosigkeiten vor<br />
dem Hintergrund der letzten Jahrzehnte<br />
der Habsburgermonarchie. „Dieser Abgesang<br />
auf die gar nicht so gute alte Zeit<br />
erinnert ein wenig an Joseph Roth, mehr<br />
aber noch an den gegen Nostalgie resistenteren<br />
Ödön von Horváth. Kunstvoll<br />
der Zeit beschlichen ihn<br />
Zweifel an seiner charakterlichen<br />
Einschätzung:<br />
Durch einen infamen<br />
Schlüsselroman Speyers<br />
fühlte sich Schnitzler hintergangen<br />
und rächte sich<br />
in dem Roman Therese, in<br />
dem er sie in der Figur der<br />
Julie Fabiani als eine „pathologische<br />
Person“ porträtierte.<br />
Doch wer ist diese Marta<br />
Karlweis, die bereits 1912 mit der viel beachteten<br />
Erzählung Der Zauberlehrling in<br />
den Süddeutschen Monatsheften hervortritt,<br />
in der sie das wienerische künstlerische<br />
Milieu zwischen Bohème und Großbürgertum<br />
klarsichtig und expressionistisch<br />
schildert?<br />
Marta Karlweis wird 1889 als Tochter<br />
des Direktors der Südbahn-Gesellschaft<br />
Carl Karlweis in Wien geboren. Der Vater<br />
schreibt nebenbei überaus erfolgreich<br />
Theaterstücke, u. a. im Wiener Dialekt.<br />
Wenige Tage vor der Geburt seiner Tochter<br />
konvertiert er gemeinsam mit seiner<br />
jüdischen Frau Emilie zum Protestantismus.<br />
Martas jüngerer Bruder Oskar<br />
beginnt eine erfolgreiche Karriere als<br />
Schauspieler, 1938 emigriert er in die<br />
USA. Marta besucht wie auch ihre schreiverwoben<br />
hat die Autorin in diesem Sittenbild<br />
jede Menge bitterböse Geschichten<br />
aus der Wienerstadt“, urteilt Literaturwissenschaftler<br />
Franz Haas.<br />
Doch der private Wendepunkt in Marta<br />
Karlweis’ Leben ereignet sich im Sommer<br />
1915 in Altaussee, als sie im Haus ihrer<br />
Schwägerin Emmy, Frau des angesehenen<br />
Musikwissenschafters Egon Wellesz, den<br />
16 Jahre älteren, bereits sehr erfolgreichen<br />
jüdischen Schriftsteller Jakob Wassermann<br />
kennenlernt. Dieser ist seit 1901<br />
mit der wohlhabenden, exzentrischen Julie<br />
Speyer, Tochter eines Textilfabrikanten<br />
und Kaiserlichen Rates, verheiratet,<br />
doch die Ehe läuft schlecht. Marta und Jakob<br />
gehen nach ihrem Treffen eine Liebesaffäre<br />
ein und verlegen 1919 ihren<br />
Wohnsitz ganz nach Altaussee.<br />
Zu diesem Zeitpunkt zählt Wassermann<br />
neben Hermann Hesse und Thomas<br />
Mann, der ihn als „Weltstar des<br />
Romans“ bezeichnet, bereits zu den<br />
meistgelesenen deutschsprachigen Autoren.<br />
Zu seinen engen Freunden gehörten<br />
Hugo von Hofmannsthal, Arthur<br />
Schnitzler sowie Alfred Döblin Nach Wassermanns<br />
Erstling Melusine eine Liebesgeschichte<br />
(1896) folgt der Roman Die Juden<br />
von Zirndorf (1897), eine Chronik aus dem<br />
17. Jahrhundert über das Leben des Shabtai<br />
Zvi mit einer anschließenden Beschreibung<br />
der jüdischen Gemeinde in<br />
der fränkischen Kleinstadt im 19. Jahrhundert.<br />
Mit dem Fortsetzungsroman<br />
Die Geschichte der jungen Renate Fuchs sowie<br />
Caspar Hauser (1907), Das Gänsemännchen<br />
(1915) und Christian Wahnschaffe (1919)<br />
schafft er große Publikumserfolge. „Hätte<br />
es vor Wassermann den Roman nicht gegeben,<br />
er wäre bestimmt gewesen, ihn<br />
zu erfinden“, schwärmte auch Heinrich<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
sommer_doppel1.indb 43 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:25
Beschämendes Desinteresse<br />
„Kunstvoll verwoben hat<br />
die Autorin in diesem<br />
Sittenbild jede Menge<br />
bitterböse Geschichten<br />
aus der Wienerstadt.“<br />
Franz Haas<br />
Marta Karlweis: Die österreichische Schriftstellerin, die<br />
beeindruckende expressionistische Arbeiten schuf, war<br />
ab 1926 Wassermanns zweite Frau.<br />
ren Not, Asyllosigkeit und auch die innere<br />
Unrast der Antrieb dazu“, schrieb<br />
Jakob Wassermann. In München, wo er<br />
fast drei Jahre wohnte, gewann Wassermann<br />
die Freundschaft Thomas Manns<br />
und Rainer Maria Rilkes. Ende 1897 begann<br />
er, Feuilletons und Theaterberichte<br />
für die Frankfurter Zeitung zu schreiben, in<br />
deren Auftrag er später nach Wien übersiedelte,<br />
wo er sich den Dichtern der<br />
Gruppe Jung-Wien anschloss, besonders<br />
Arthur Schnitzler.<br />
Bereits 1921 beurteilt er in seinem autobiografischen<br />
Rückblick Mein Weg als<br />
Deutscher und Jude die gesellschaftliche<br />
Perspektive für die Juden vernichtend.<br />
„Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus<br />
Mann. Einen Romancier von Geblüt“<br />
nennt er Wassermann, den 1873 im deutschen<br />
Fürth geborenen Sohn des jüdischen<br />
Spielwarenfabrikanten Adolf Wassermann.<br />
Die Familie verarmt nach dem<br />
Brand der Fabrik; Jakob ist neun Jahre alt,<br />
als seine Mutter stirbt. In dem frühen Text<br />
Schläfst du Mutter? verarbeitete er dieses<br />
Trauma. Das Verhältnis zur Stiefmutter ist<br />
so schlecht, dass ihn sein Vater nach Wien<br />
schickt, wo er eine kaufmännische Lehre<br />
absolvieren soll. Diese bricht er bald ab,<br />
versucht sich in München als Student, arbeitet<br />
u. a. als Lektor in der Redaktion des<br />
Simplicissimus. „Von meinem zwanzigsten<br />
Jahr an war das Wandern ein Teil meiner<br />
Existenz und bis ins dreißigste wasind<br />
wir bereits heute vogelfrei“, ist sein<br />
Fazit. In seiner Essayistik setzt er sich immer<br />
wieder auch mit der Existenzform<br />
des Juden in nichtjüdischer Umgebung<br />
auseinander, zuletzt noch in den Selbstbetrachtungen<br />
im Jahr 1933, nach dem Ausschluss<br />
aus der Preußischen Akademie<br />
der Künste. Gleichzeitig mit der Bücherverbrennung<br />
1933 in Deutschland werden<br />
seine Bücher verboten.<br />
Wassermann, der sich durch seine psychologische<br />
Prosa und die realistische Erzählweise<br />
von Dostojewski inspirieren<br />
ließ, war ein Idealist, der absolute moralische<br />
Werte suchte und unablässig Kritik<br />
an der „moralischen Trägheit des Herzens“<br />
der bürgerlichen Gesellschaft übte. Sein<br />
ständiges Streben nach Gerechtigkeit bewies<br />
er hervorragend in seinem berühmtesten<br />
Prosawerk Der Fall Maurizius (1928), in<br />
dem er den sechzehnjährigen Etzel Andergast<br />
in jugendlicher Überschwänglichkeit<br />
einen alten Justizirrtum aufdecken lässt.<br />
Autorin im Schatten der männlichen Konkurrenten.<br />
Zurück zur Liebesgeschichte, die<br />
in Altaussee begann, dem Ort, der von Jakob<br />
Wassermann so beschrieben wurde:<br />
„Altaussee ist kein Dorf, sondern eine<br />
Krankheit, die man nie mehr los wird!“<br />
Während Marta Karlweis mit Stross<br />
zu einer einvernehmlichen Scheidung<br />
kommt, erreicht Wassermann erst nach<br />
langen Streitereien und vielen Prozessen<br />
die Trennung: Mithilfe zahlloser Anwälte<br />
versucht Julie Wassermann-Speyer, ihren<br />
Mann finanziell zu ruinieren. Ein Echo<br />
dieser unglücklichen Erfahrungen klingt<br />
in Wassermanns Roman Laudin und die Seinen<br />
(1925) nach. Erst 1926 können Marta<br />
und Jakob ihre Ehe legalisieren, der gemeinsame<br />
Sohn Carl Ulrich kommt bereits<br />
1924 zur Welt.<br />
„Am gründlichsten vergessen werden<br />
in der Literaturgeschichte jene Frauen,<br />
© DVB Verlag<br />
44 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 44 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26
Männerdominierte (Literatur)Welt<br />
© DVB Verlag<br />
deren Werke der Nationalsozialismus<br />
zunichtemachte. So ein eklatanter Fall<br />
ist auch Marta Karlweis, deren teils böse<br />
funkelnden Romane nach 1945 in Vergessenheit<br />
gerieten“, konstatiert der Literaturwissenschaftler<br />
Franz Haas.<br />
Die Buchfassung ihrer Erzählung Der<br />
Zauberlehrling erscheint 1913 in München.<br />
1919 erscheint bei S. Fischer der 440 Seiten<br />
starke Roman Die Insel der Diana, der<br />
ebenso wie der historische Roman Das<br />
Gastmahl auf Dubrowitza 1921 von der Kritik<br />
überaus positiv aufgenommen wird.<br />
Albert C. Eibl, dem Gründer des Verlages<br />
Das vergessene Buch (DVB) und dem<br />
Germanisten Johannes Sonnleitner als<br />
Herausgeber ist es zu danken, dass dieses<br />
Buch 2017 wieder aufgelegt wurde.<br />
Bereits 2015 wagte sich das Duo Eibl-<br />
Sonnleiter an eines der Spitzenwerke<br />
der Autorin: Ein österreichischer Don Juan.<br />
Florian Welle meint dazu in der Süddeutschen<br />
Zeitung: „Der bitterböse Roman handelt<br />
davon, wie ‚das Judenmädl‘ Cecile ins<br />
Verderben gestürzt wird. Karlweis’ Interesse<br />
liegt am Untergang der Monarchie.<br />
Doch liegt ihr jede Nostalgie fern. Großartig<br />
entlarvt wird eine bigotte, misogyne<br />
Operettengesellschaft.“<br />
Dass Marta Karlweis nach 1945 dennoch<br />
nicht mehr literarisch rehabilitiert<br />
wurde, sei hingegen vor allem der<br />
Nachkriegsgermanistik anzulasten, die<br />
„dezidiertes und aus heutiger Sicht beschämendes<br />
Desinteresse an der Literatur<br />
der Vertriebenen manifestierte“, stellt<br />
der Herausgeber fest. Auch der amüsante<br />
Roman Schwindel (1931) wurde 2017 im<br />
DVB Verlag wiederaufgelegt und mit einem<br />
kundigen Nachwort von Sonnleitner<br />
bereichert. Darin zeichnet die Autorin<br />
exemplarisch und parallel zum Zerfall<br />
der Donaumonarchie den Niedergang einer<br />
kleinbürgerlichen bis proletarischen<br />
Familie in drei Generationen auf. Der<br />
scharfsinnige Roman muss den Vergleich<br />
mit Ödön von Horváths zeitgleich erschienenen<br />
Geschichten aus dem Wiener Wald keinesfalls<br />
scheuen.<br />
Aktuell ist der vierte Band der von Verleger<br />
Albert C. Eibl und Germanist Johann<br />
Sonnleitner lobenswert betriebenen<br />
Karlweis-Renaissance erschienen,<br />
ihre Erzählung Der Zauberlehrling zusammen<br />
mit zwei späteren Novellen. Der Zauberlehrling<br />
ist der leichtsinnige Bonvivant<br />
Georg Hübner im Wien des Fin de Siècle,<br />
der Theater- und Kaffeehausbesuche,<br />
der „süßen Mädl“, der soignierten älteren<br />
Herren und der ungestümen Künstler.<br />
Es ist eine Gesellschaft im Aufbruch,<br />
die noch wenig von der nahen Katastrophe<br />
ahnt, jedoch insgeheim das Ende<br />
schon in sich trägt.<br />
Marta Karlweis, eine österreichische<br />
Schriftstellerin, die beeindruckende expressionistische<br />
Arbeiten schuf, war nicht<br />
nur ab 1926 Wassermanns zweite Frau,<br />
sondern auch seine erste Biografin. Wie<br />
sehr sie trotz ihrer literarischen Erfolge<br />
in der männerdominierten Welt eines Arthur<br />
Schnitzler, Hermann Bahr, Hugo von<br />
Hofmannsthal u. v. a. nicht gebührend<br />
zur Kenntnis genommen wurde, zeigt ein<br />
Auszug aus dem im Juli <strong>2021</strong> erscheinenden<br />
Buch der Historikerin Marie-Theres<br />
Arnbom mit dem Titel Die Villen vom Ausseerland:<br />
1929 erhält Jakob Wassermann<br />
Besuch von Egon Michael Salzer, einem<br />
Journalisten des Neuen Wiener Journals,<br />
der in zauberhafter Weise Einblick in die<br />
Idylle gewährt: Dort trifft der Journalist<br />
auf Marta Karlweis:„Inmitten eines Rosenbeetes<br />
steht die hübsche junge Hausfrau<br />
im kleidsamen Dirndl mit Schere<br />
und Korb bewaffnet, um die Rosenstöcke<br />
zu beschneiden, Unkraut auszujäten.<br />
Sie spricht von der Arbeit ihres Mannes:<br />
‚Und Sie, gnädige Frau, leben hier in diesem<br />
Paradies ganz weltabgeschieden?‘,<br />
frage ich. ‚Was fällt Ihnen ein!‘, repliziert<br />
die schöne Frau. Weist auf die Rosen hin,<br />
denen so viel Liebe gilt, erinnert an ihren<br />
entzückenden Jungen, der eben mit dem<br />
Vater einen Spaziergang macht. ‚Wohl ist<br />
hier unser Heim, die Arbeitsstätte meines<br />
Gatten.‘“<br />
Ist Karlweis zu bescheiden, oder passt<br />
sie sich nur den gängigen und von ihr<br />
erwarteten gesellschaftlichen Konventionen<br />
an? Leider können wir sie nicht<br />
mehr fragen.<br />
Nach der Machtergreifung Hitlers distanzierte<br />
sich die neue Verlagsleitung unter<br />
Samuel Fischers Schwiegersohn von<br />
seinem Erfolgsautor Wassermann. Außerdem<br />
ließ die erste Frau noch Wassermanns<br />
Verlagskonto sperren, daher muss<br />
er auch befürchten, das Haus in Altaussee<br />
zu verlieren. Am 1. Januar 1934 starb<br />
Wassermann an einem Schlaganfall, nachdem<br />
er vergeblich versucht hatte, einen<br />
Vorschuss für seine schriftstellerische Tätigkeit<br />
zu bekommen. Noch im Jänner zog<br />
Marta Wassermann nach Zürich, wo sie bei<br />
C. G. Jung ihr unterbrochenes Psychologiestudium<br />
fortsetzte. Von Julie Wassermann-Speyer,<br />
die in den Besitz des Hauses<br />
zu kommen versuchte, wurde sie mit<br />
Klagen überzogen. 1938 ebenfalls nach Zürich<br />
emigriert, mietete sich diese im gleichen<br />
Haus wie Karlweis ein, die nach ihrem<br />
Studienabschluss nach Kanada floh.<br />
1939 übernahm sie einen Lehrauftrag an<br />
der McGill-Universität in Montreal. Bis zu<br />
ihrem Tod arbeitete sie in ihrer psychiatrischen<br />
Praxis in Ottawa. Am 2. November<br />
1965 starb Marta Karlweis auf einer Reise<br />
nach Lugano, von wo aus sie ihre im Tessin<br />
lebende Tochter Bianca besuchen wollte.<br />
Als letztes Buch hatte die damal 45-Jährige<br />
bereits 1935 die Biografie ihres Mannes<br />
im Amsterdamer Querido Verlag herausgebracht.<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
sommer_doppel1.indb 45 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26
Ukrainisches Schtetl<br />
Viele große Karrieren beginnen<br />
mit einem veritablen Misserfolg.<br />
A Dangerous <strong>Mai</strong>d hieß das<br />
Musical von Chat B. Well, für<br />
das die beiden Brüder George und Ira acht<br />
Songs beisteuerten, George die Kompositionen,<br />
Ira – noch unter dem Pseudonym Arthur<br />
Francis – die Texte. Lang sollte sich die<br />
leichte Komödie vom ehemaligen Showgirl,<br />
das sich einen reichen jungen Mann<br />
angelt, nicht auf den Bühnenbrettern halten.<br />
Zwischen der Premiere in Atlantic City<br />
und der letzten Aufführung in Pittsburgh<br />
lag im Frühling 1921 nicht einmal ein Monat.<br />
Jahre später feierte das Musical unter<br />
dem Titel Elsie eine Wiedergeburt, freilich<br />
mit Liedern aus anderen Federn. Nur<br />
einige wenige der Original-Songs sahen<br />
später noch einmal das Scheinwerferlicht,<br />
etwa in den späten 1950er-Jahren mit Ella<br />
Fitzgerald.<br />
Die beiden Brüder ließen sich freilich<br />
nicht entmutigen, und einige Jahre später<br />
begannen sie, erste Erfolge einzufahren:<br />
Lady, Be Good sollte 1924 am Broadway<br />
einschlagen, darauf folgte eine fruchtbare<br />
Zusammenarbeit bei mehr als zwei Dutzend<br />
Produktionen für die Bühne und für<br />
Hollywood. Strike up the Band, Let Them Eat<br />
Cake oder die Oper Porgy and Bess gehörten<br />
dazu und zahlreiche unvergessliche<br />
Melodien, die weltweit gespielt wurden:<br />
Summertime, The Man I Love, I Got Rhythm<br />
und viele mehr.<br />
Die beiden wurden bereits in Amerika<br />
geboren, Ira 1896 und George, eigentlich<br />
Jacob, 1898. Sein Name sollte an Jakov<br />
Gershowitz erinnern, den Großvater. Dieser<br />
kam aus einem ukrainischen Schtetl<br />
und arbeitete als Mechaniker für die zaristische<br />
russische Armee. Das erlaubte<br />
ihm dann auch als Jude, nach dem Ab-<br />
rüsten seinen Wohnort zu wählen, und er<br />
zog in die Nähe der Hauptstadt St. Petersburg.<br />
Sein Sohn Moishe, ein Zuschneider<br />
für Damenschuhe, verliebte sich in ein jüdisches<br />
Mädchen aus Vilnius, Roza Bruskina.<br />
Vor der immer wiederkehrenden<br />
Bedrohung antijüdischer Pogrome wanderte<br />
sie mit ihrer Familie nach Amerika<br />
aus, Moishe folgte wenig später, nicht zuletzt<br />
auch, weil ihm die Einberufung in<br />
der Armee drohte. Die beiden heirateten<br />
1895 New York, Gershowitz änderte<br />
seinen Namen erst in Morris Gershwine,<br />
dann in Gershwin, und aus Roza wurde<br />
Rose.<br />
Morris hatte die unterschiedlichsten<br />
Geschäftsideen und zog mit seiner Familie<br />
deshalb quer durch die New Yorker Boroughs.<br />
Sie begannen in Brooklyn, lebten<br />
dann in Harlem, um schließlich auf der<br />
Lower East Side im jüdischen Theaterdi-<br />
© ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com<br />
Zwei Brüder<br />
mit Swing<br />
Im Frühjahr 1921 arbeiteten die<br />
Brüder George und Ira Gershwin<br />
erstmals zusammen – und produzier-<br />
ten einen Flop. Doch bald wurden<br />
sie zu einem der erfolgreichsten<br />
Teams der Musical-Branche.<br />
Von Reinhard Engel<br />
46 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 46 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:26
Lower East Side<br />
© ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com<br />
Man importierte<br />
kaum mehr<br />
Operettennoten,<br />
setzte<br />
dagegen auf<br />
amerikanische<br />
Ware und auf<br />
die Suche nach<br />
einem eigenen<br />
nationalen Ton.<br />
strikt zu bleiben. Dort betrieb Morris ein<br />
türkisches Bad, Ira sollte eine Zeitlang bei<br />
ihm arbeiten.<br />
Song Plugger. Entscheidend für die Zukunft<br />
der Söhne sollte einen Anschaffung<br />
werden, die ursprünglich für Ira gedacht<br />
war: ein Klavier. Doch schnell hatte es der<br />
jüngere George für sich okkupiert, nahm<br />
auch ernsthaft Unterricht. Er verließ die<br />
Schule mit 15 und verdiente sein erstes<br />
Geld bereits mit Musik, als so genannter<br />
Song Plugger. Dabei ging es darum, Noten<br />
zu verkaufen, indem man den prospektiven<br />
Kunden die Stücke vorspielte und sie<br />
eventuell auch für unterschiedliche Stimmen<br />
tonartmäßig versetzte.<br />
Eine weitere Einnahmequelle erschloss<br />
sich George, indem er Walzen für<br />
automatische Klaviere aufnahm. Darunter<br />
war nun schon die eine oder andere<br />
Geniales Duo.<br />
Das Klavier wur-<br />
de eigentlich für<br />
Ira angeschafft,<br />
der schrieb aber<br />
lieber Songtexte,<br />
während Geor-<br />
ge bereits mit<br />
15 Jahren sein<br />
erstes Geld mit<br />
Musik verdiente.<br />
eigene Komposition, freilich unter Phantasienamen.<br />
Und er begleitete Sängerinnen auf<br />
der Bühne bei leichten Vaudeville-Programmen.<br />
1919 schrieb er seinen ersten Hit, Swanee,<br />
kassierte erstmals Tantiemen. Und auch<br />
das Komponieren fürs Musical begann in diesen<br />
Jahren.<br />
Obwohl Ira der Ältere war, begann er später<br />
mit seiner Arbeit für die Unterhaltungsbranche.<br />
Er hatte wohl einen Schulabschluss, das<br />
College aber geschmissen und dann bei seinem<br />
Vater mitgearbeitet. Doch auch er konnte<br />
sich der Faszination des Yiddish Theater District<br />
nicht entziehen. Sein Talent für das Textschreiben<br />
wurde Anfang der 1920er-Jahre erkannt,<br />
als sein Bruder bereits am Weg nach<br />
oben war. Und um diesem nicht in die Quere<br />
zu kommen, lieferte Ira seine ersten Songtexte<br />
unter Pseudonym ab, eben als Arthur Francis.<br />
Doch ab dem großen Erfolg von Lady, Be Good<br />
brauchte er sich nicht mehr zu verstecken und<br />
wurde mit seinem Bruder zum kongenialen<br />
Dream Team der Musicalbühne.<br />
Der Erfolg der beiden war sicher ihren außergewöhnlichen<br />
Talenten geschuldet, so Amy<br />
C. Baumgartner. Sie analysierte in ihrer Master-Arbeit<br />
an der University of Virginia den<br />
Aufstieg der Gershwins etwas umfassender.<br />
Was die musikalische Seite anging, so integrierte<br />
George erfolgreich Jazz-Elemente, die<br />
wohl in Städten wie New Orleans oder Chicago<br />
bereits <strong>Mai</strong>nstream waren, New York hinkte<br />
aber noch etwas hinterher. Die internationale<br />
Politik spielte ebenfalls eine Rolle: Die<br />
USA hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg<br />
in eine selbstgewählte Isolation zurückgezogen,<br />
und diese betraf auch die kulturelle Produktion.<br />
Man importierte kaum mehr Operettennoten,<br />
setzte dagegen auf amerikanische<br />
Ware und auf die Suche nach einem eigenen<br />
nationalen Ton.<br />
Diesem spürte George Gershwin auch abseits<br />
der Musical-Bühnen nach, eine Etage<br />
höher auf der Prestigeskala, zwischen Unterhaltungsmusik<br />
und so genannter ernster<br />
Musik. Schon 1924 komponierte er sein erstes<br />
klassisches Stück, die Rhapsody in Blue, beeinflusst<br />
von zeitgenössischen französischen<br />
Komponisten wie Maurice Ravel oder Claude<br />
Debussy, aber schon mit genuin amerikanischem<br />
Schwung und voller Elemente von Jazz<br />
und Blues. Das Werk machte ihn nun auch in<br />
der „seriösen“ Musikwelt bekannt. Und er verfolgte<br />
diesen Weg weiter, parallel zu neuen,<br />
wieder erfolgreichen Musicals. Bei einem Aufenthalt<br />
in Paris Mitte der 1920er-Jahre entstand<br />
An American in Paris.<br />
Dort traf er auch auf Ravel, und von diesen<br />
Begegnungen gibt es mehrere – nicht ganz<br />
seriös belegte – Zitate. So soll Ravel die Bitte<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
sommer_doppel1.indb 47 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:27
Hollywood<br />
GERSHWIN IN WIEN<br />
Der Andrang für die Werkeinführung war<br />
so groß, dass diese vom Palais Pálffy in<br />
den Schubert Saal des Konzerthauses verlegt<br />
werden musste. Das war 1965, und Marcel<br />
Prawy stellte als Chefdramaturg der Wiener<br />
Volksoper das Ensemble von Porgy und Bess<br />
dem begeisterten Publikum vor – unter anderem<br />
Olive Moorefield und William Warfield. Bereits<br />
Anfang der 1950er-Jahre hatte es in Wien<br />
eine gefeierte Tourneevorstellung der amerikanischen<br />
Everyman Opera Company mit Leontyne<br />
Price und ebenfalls William Warfield gegeben.<br />
Porgy und Bess sollte in Wien auch bis in die<br />
jüngste Zeit populär bleiben. Zuletzt präsentierte<br />
etwa die Volksoper 2019 eine konzertante<br />
Aufführung, das Theater an der Wien trotz Corona-Widrigkeiten<br />
im Herbst 2020 eine moderne<br />
mit Flüchtlingsthemen angereicherte<br />
Bühnenversion.<br />
Doch Gershwin hatte in Wien schon vor der<br />
NS-Zeit und dem Krieg seine Fans. Bereits 1924<br />
brachte das Neue Wiener Journal einen Korrespondentenbericht<br />
aus New York mit dem Titel<br />
Wie der Jazz in New York die Konzertsäle erobert.<br />
In den Zeitungen der Zwischenkriegszeit<br />
liest man immer wieder in den Radioprogrammen<br />
den Namen Gershwin, etwa 1937 in der<br />
Kleinen Volkszeitung erst am Nachmittag das<br />
klassische Stück Ein Amerikaner in Paris, dann<br />
am Abend unter „Tanzmusik“ They Can’t Take<br />
That Away from Me.<br />
Wirklich Bewegung kam in die Gershwin-Rezeption<br />
allerdings erst nach dem Krieg, unter anderem<br />
mit den US-Soldaten. 1945 konnte man<br />
schon im Rex (Stadttheater), dem „Theater für<br />
die amerikanischen Truppen“, die Rhapsody in<br />
Blue hören. 1950 berichtet die Weltpresse von<br />
zwei weihnachtlichen Gershwin-Konzerten im<br />
Konzerthaus, in denen neben der Rhapsody<br />
auch Ein Amerikaner in Paris und das Klavierkonzert<br />
in F-Dur gespielt wurden. Ab 1954 bot<br />
Marcel Party, zunächst noch unter der Patronanz<br />
der Amerikaner, im Kosmostheater Musical-Programme<br />
an. An der Volksoper sollte er<br />
dann für ein wahres Feuerwerk an Premieren<br />
sorgen.<br />
George Gershwin besuchte übrigens im Jahr<br />
1928 Wien. Er hatte ein größere Europareise unternommen<br />
und in Paris bereits Komponisten-<br />
Kollegen wie Maurice Ravel und Igor Strawinsky<br />
gesehen. In Wien sprach er mit Alban Berg, Arnold<br />
Schönberg und Emmerich Kálmán, und er<br />
ließ es sich auch nicht nehmen, die Witwe des<br />
Walzerkönigs Johann Strauss, Adele, zu treffen.<br />
„Porgy and Bess“: Die<br />
Schöpfer des Musicals, der<br />
Komponist George Gershwin,<br />
der Librettist DuBose Heyward<br />
und der Autor der Songs, Ira<br />
Gershwin.<br />
So soll Ravel die<br />
Bitte Gershwins,<br />
ihn zu unterrichten,<br />
mit den<br />
Worten abgelehnt<br />
haben, er<br />
solle kein zweitklassiger<br />
Ravel<br />
werden, wenn er<br />
doch schon ein<br />
erstklassiger<br />
Gershwin sei.<br />
Gershwins, ihn zu unterrichten, mit den<br />
Worten abgelehnt haben, er solle kein<br />
zweitklassiger Ravel werden, wenn er<br />
doch schon ein erstklassiger Gershwin<br />
sei. Und bei einem anderen Gespräch soll<br />
Ravel gefragt haben, was Gershwin mit<br />
seiner Musik in den USA verdiene. Als er<br />
hörte, wie viel das sei, soll er gesagte habe,<br />
dann müsse eigentlich er bei Gershwin<br />
Unterricht nehmen.<br />
1935 wurde die moderne amerikanische<br />
Oper Porgy and Bess in Boston uraufgeführt,<br />
unmittelbar darauf am Broadway.<br />
Das Libretto hatten DuBose Heyward<br />
und Ira Gershwin verfasst. Fürs Kino<br />
schrieben die Gershwins dann noch Shall<br />
We Dance mit Ginger Rogers und Fred Astaire.<br />
Doch bald darauf begann George,<br />
über Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen<br />
zu klagen, bei ihm<br />
wurde ein Hirntumor diagnostiziert, an<br />
dem er im Sommer 1937 starb.<br />
Ira konnte drei Jahre lang nicht arbeiten,<br />
so sehr bedrückte ihn der Tod des<br />
Bruders. Doch dann nahm er einen neuen<br />
Anlauf und schrieb für Komponisten wie<br />
Jerome Kern, Kurt Weill oder Harold Arlen<br />
wieder Songtexte, war damit weiter<br />
erfolgreich auf den Bühnen und auf der<br />
Filmleinwand, etwa mit Billy Wilder. Und<br />
auch für Judy Garlands Film A Star is Born<br />
lieferte er die Texte. Ira Gershwin starb<br />
1983 in Beverly Hills 86-jährig.<br />
© akg-images/picturedesk.com<br />
48 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 48 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:27
Thema<br />
Zurückgehend auf eine Initiative unseres langjährigen Kultusvorstehers<br />
in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Herrn<br />
Dipl. Ing. Edmund Reiss s. A., wurde 1995 die Wohnheimverwaltungsgesellschaft<br />
mbH. als eine Tochtergesellschaft der Israelitischen<br />
Kultusgemeinden Wien gegründet.<br />
Die Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. betreibt gegenwärtig<br />
23 Wohnheime an verschieden Standorten in Wien. Darunter<br />
finden sich rund 800 Wohnungen und nahezu 500<br />
Garagenstellplätze. Unser Leitspruch – Wohnen all inclusive –<br />
bietet in der Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. die unbefristete<br />
Anmietung von Wohneinheiten in einer speziellen Angebotsvielfalt<br />
von Standorten und Dienstleistungen, die weit über<br />
das übliche Maß hinausgehen. Darunter fallen individuelles und<br />
komfortables Wohnen mit günstigem Energiebezug, sowohl für<br />
Strom, Heizung und Warmwasser, als auch den uneingeschränkten<br />
Zugang zu Internet in jeder Wohneinheit, sowie ein Reparaturservice<br />
durch unsere Mitarbeiter, natürlich während der<br />
gesamten Nutzungsdauer. Die Ausstattung der Einheiten ist je<br />
nach Ausführung mit Einbaukomplettküchen mit Kochgelegenheit,<br />
Backrohr, Geschirrspüler Abwäsche und Kühlschrank, Fliesen-Bad<br />
oder Dusche, WC, Vorraum und Abstellraum gegeben.<br />
Die Beheizung erfolgt durch Fernwärme oder auch Gas-Kombithermen.<br />
Die Wohnheimverwaltungsgesellschaft mbH. führt<br />
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hauptsächlich im zweiten Bezirk. Unser Wohnraumangebot<br />
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49<br />
sommer_doppel1.indb 49 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:28
Theateridol seiner Zeit<br />
Ein Budapester Ritter<br />
am Wiener Burgtheater<br />
Adolf von Sonnenthal war einer der populärsten<br />
und bestbezahlten Schauspieler seiner Zeit – und<br />
spielte während seiner Zeit am Wiener Burgtheater<br />
nicht weniger als 400 Rollen.<br />
Von Gábor Dombi, Übersetzung von Karl Pfeifer<br />
lang befanden sich auch ein jüdisches Spital,<br />
eine jüdische Schule sowie ein jüdisches<br />
Restaurant und ein Buchladen im<br />
Gebäudekomplex. Und es wohnten nicht<br />
nur Juden hier, sondern auch nichtjüdische<br />
Geschäftsleute, Drucker, Rechtsanwälte,<br />
Architekten, von denen wohl die<br />
meisten eine berufliche Verbindung zur<br />
Familie des Barons Orczy hatten.<br />
Der Vater von Adolf Sonnenthal, Hermann<br />
Sonnenthal, wurde 1802 in Óbuda<br />
geboren und war Textilhändler. 1846 ging<br />
er in Konkurs, die Familie wohnte aber<br />
weiterhin im Haus. Hermann und dessen<br />
Frau Charlotte Weiss (1806–1864) hatten<br />
sieben Kinder, und Adolf (1834–1909)<br />
Adolf von<br />
Sonnenthal<br />
in seiner oppulenten<br />
Wiener<br />
Wohnung um<br />
1900.<br />
Das „Orczy’sche Haus“ war das<br />
bekannteste Gebäude in der<br />
Stadtmitte des alten Pest, dem<br />
späteren Budapest. Im „pro<br />
Stunde ein Goldstück“ bringenden Zinshaus<br />
wohnten bis zu seiner Demolierung<br />
1937 zahllose Familien, darunter der zu<br />
seiner Zeit wohl bekannteste Schauspieler<br />
der Monarchie, Adolf Sonnenthal.<br />
Das Orczy’sche Haus war damals das<br />
Zentrum der Pester Juden, in dem es außer<br />
Wohnungen auch Geschäfte und Büros<br />
gab. Im Hof standen zwei Synagogen,<br />
es fanden die Zusammenkünfte der Leitung<br />
der jüdischen Gemeinde statt, und<br />
der Oberrabbiner wohnte hier. Eine Zeitwar<br />
das zweite des Ehepaars, das bis zuletzt<br />
in Budapest lebte. Die Geschwister<br />
Sonnenthals aber zogen, angezogen vom<br />
enormen Erfolg ihres Bruders, mit der Zeit<br />
alle ebenfalls nach Wien.<br />
Adolf Sonnenthal besuchte bis 1846<br />
die jüdische „Normalschule“, die damals<br />
deutschsprachig war, und zählte dort<br />
bald zu den besten Schülern. Nach Ausbruch<br />
der Revolution am 15. März 1848<br />
kam es im April in Pest zu einer antijüdischen<br />
Zusammenrottung. Aufgehetzte<br />
Gesellen zerschlugen in der Gegend des<br />
Orczy’schen Hauses die Schaufenster und<br />
Geschäfte der Juden. Sonnenthal nahm<br />
eine Axt in die Hand und verteidigte als<br />
Anführer einer kleinen Gruppe von Jugendlichen<br />
den elterlichen Besitz gegen<br />
die besoffene, nach Beute gierende Meute.<br />
Bald darauf beschlossen die Eltern, dass<br />
Adolf Schneider werden müsse. Nach zwei<br />
Jahren als Lehrling erhielt er den Gesellenbrief,<br />
ging, wie es damals üblich war,<br />
auf Wanderung und begann am 25. November<br />
1850, bei Josef Peschek in Wien zu<br />
arbeiten. In der „Kaiserstadt“ wurde Sonnenthal<br />
rasch zu einem begeisterten The-<br />
© Charles Scolik sen. / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
50 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 50 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:30
Abkehr von der Deklamation<br />
© Charles Scolik sen. / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
aterbesucher und sammelte bald schon<br />
den Mut, den bekannten Schauspieler Bogumil<br />
Dawison eines Tages früh am Morgen<br />
zu besuchen, um diesem privat vorzusprechen.<br />
Er trug seinen Monolog aus<br />
Schillers Die Räuber mit derartigem Pathos<br />
und Schwung vor, dass, als er sich auf einen<br />
Stuhl warf, dieser in Stücke brach.<br />
Der überraschte Dawison lächelte und<br />
sagte: „Es ist nicht unbedingt notwendig,<br />
bei dieser Szene einen Stuhl zu zerbrechen,<br />
aber sonst haben Sie ganz geschickt<br />
vorgetragen.“<br />
Dawison stellte den jungen Enthusiasten<br />
dem damaligen Burgtheater-Direktor<br />
Heinrich Laube vor, und da dieser das Talent<br />
Sonnenthals sofort erkannte, gab er<br />
ihm den Rat, an kleineren Theatern seine<br />
Fähigkeiten weiterhin zu beweisen.<br />
So begann Adolf Sonnenthal seine Theaterlaufbahn<br />
zuerst in Temesvár (Timisoara),<br />
ging von dort an das Theater von<br />
Hermannstadt (Sibiu), wo er von 1852 bis<br />
1854 blieb, und war danach in Graz in<br />
der Saison 1854–1855 engagiert, von wo<br />
er schließlich ins ferne Königsberg (Kaliningrad)<br />
zog. Am 18. <strong>Mai</strong> 1856 spielte Adolf<br />
Sonnenthal das erste Mal in Wien – vorerst<br />
noch als Gast und in der Rolle des Mortimer<br />
in Schillers Maria Stuart. Da der Erfolg<br />
auch in Wien nicht ausblieb, wurde<br />
er 1859 an das Burgtheater engagiert, Im<br />
Jahr darauf heiratete er Pauline Pappenheim,<br />
mit der er fünf Kinder hatte: Felix,<br />
Hermine, Edmund, Sigmund und Paul.<br />
Adolf Sonnenthal wurde rasch zum<br />
großen Vorbild seiner Generation: Die<br />
Kleider, die er trug, beeinflussten die<br />
Wiener Mode, Zeitungen publizierten<br />
seine Sprüche und berichteten über alles,<br />
was ihn betraf – von seinem Beinbruch<br />
über den frühen Tod seiner Ehefrau<br />
1872 bis zu den Geschichten seiner<br />
Kinder und Enkelkinder.<br />
nig Lear, Hamlet, Nathan,<br />
Macbeth und Clavigo zählten<br />
zu seinen legendärsten<br />
Rollen, er war aber auch in<br />
Komödien erfolgreich und<br />
galt als einer der ersten<br />
großen „Konversationsschauspieler“.<br />
Er war einer<br />
der ersten Schauspieler,<br />
der die pathetische Bühnendeklamation<br />
durch natürliches<br />
Sprechen und realistischen<br />
Gestus ersetzte,<br />
sein Name war auf der<br />
ganzen Welt bekannt und<br />
man lud ihn mehrmals<br />
zu Gastspielen, darunter<br />
nach Russland (1884, 1900)<br />
und in die USA (1885, 1899, 1902), ein.<br />
Deutsch war Sonnenthals Muttersprache,<br />
doch auch seine Französischkenntnisse<br />
waren beachtlich, und so übersetzte<br />
der Schauspieler, Regisseur und spätere<br />
Intendant in seiner kargen Freizeit eine<br />
beachtliche Anzahl an damals populären<br />
französischen Stücken.<br />
1870 wurde er Hauptregisseur und Direktor<br />
des Burgtheaters, 1884 dessen Generaldirektor.<br />
1881 wurde der hochgerühmte<br />
Künstler von Kaiser Franz Joseph<br />
mit der „Eisernen Krone“ und dem Ritter-Titel<br />
ausgezeichnet, 1906 folgte das<br />
Offizierskreuz des Franz-Joseph-Ordens,<br />
weitere Ehrungen erhielt er vom Badener<br />
Großherzog und vom bulgarischen Fürsten.<br />
Doch nicht nur Publikum und Adel<br />
verehrten ihn, sondern auch seine Kollegen:<br />
So wurde Sonnenthal zum ersten<br />
Präsidenten des Verbandes österreichischer<br />
Schauspieler ernannt, und zu seinem<br />
40-jährigen Bühnenjubiläum überraschten<br />
ihn seine Kollegen mit einem aus<br />
reinem Gold gefertigten Lorbeerkranz,<br />
der die Aufschrift „Dem Meister des deutschen<br />
Schauspiels – die Schauspielkünstler<br />
der Burg 1. Juni 1896“ trug; auf einem<br />
der äußeren Blätter kann man heute noch<br />
die Jahresangaben „1856–1896“ erkennen.<br />
Mit seinem Elternhaus und seiner Geburtsstadt<br />
Budapest blieb Adolf Sonnenthal<br />
sein Leben lang eng verbunden,<br />
verzichtete aber dennoch 1889 auf seine<br />
ungarische Staatsbürgerschaft, was eine<br />
Reihe von Budapestern damals auch verärgerte.<br />
Solange es existierte, war er Mitglied<br />
des Ensembles des Deutschen Theaters in<br />
Pest, und sein gelegentliches Auftreten<br />
galt für seine Verehrer stets als vielbeachtetes<br />
Fest. Und so war es nur einem glücklichen<br />
Zufall des Schicksals geschuldet, dass<br />
„Es ist nicht<br />
unbedingt<br />
notwendig, bei<br />
dieser Szene<br />
einen Stuhl zu<br />
zerbrechen,<br />
aber sonst<br />
haben Sie<br />
ganz geschickt<br />
vorgetragen.“<br />
Bogumil Dawison<br />
Realistischer Gestus. Berühmt wurde Sonnenthal<br />
unter anderem für sein großes Erinnerungsvermögen,<br />
das ihm das Erlernen<br />
immer neuer Rollen erleichterte.<br />
Während der 53 Jahre, die er am Burgtheater<br />
verbrachte, spielte er nicht weniger<br />
als 400 Rollen, die er alle später stolz<br />
in seinen Memoiren auflistete. Selten gab<br />
es einen Monat, in dem er lediglich eine<br />
Rolle spielte – in seinen ersten vier Bühnenjahren<br />
trat er während der Theatersaison<br />
monatlich in drei bis vier Neuinszenierungen<br />
auf. Sonnenthal zeichnete sich<br />
in allen Sparten des Theaters aus, Faust,<br />
Wallenstein, Karl Moor, Don Carlos, Köer<br />
am 20. Dezember 1889,<br />
dem Tag, an dem das Theater<br />
durch einen Brand zerstört<br />
wurde, trotz der vorherigen<br />
Ankündigung seines<br />
Besuchs nicht auftrat.<br />
Als einer der bestbezahlten<br />
Schauspieler der Monarchie<br />
nahm Sonnenthal<br />
immer wieder an damals<br />
populären Benefizveranstaltungen<br />
teil, zu denen<br />
auch solche für jüdische<br />
Wohltätigkeitsvereine gehörten.<br />
Sein Judentum war<br />
kein Geheimnis, und seine<br />
Popularität wurde vorerst<br />
durch den aufkommenden<br />
Antisemitismus nicht gemindert. Doch<br />
zur Jahrhundertwende war der Antisemitismus<br />
in Wien bereits derart erstarkt,<br />
dass seine Ernennung zum Ehrenbürger<br />
der Stadt nicht mehr durchgesetzt werden<br />
konnte.<br />
Sein 50-jähriges Berufsjubiläum feierte<br />
das Burgtheater mit einer Aufführung<br />
von Nathan der Weisen; und während<br />
seiner letzten Lebensjahre bearbeitete er<br />
Shakespeares Kaufmann von Venedig mit<br />
dem Wunsch, durch eine neue Interpretation<br />
des Shylock als dem in seinen Rechten<br />
verletzten wahren Helden des Stücks<br />
dem Antisemitismus auf seine Weise entgegenzutreten.<br />
Adolfs Sonnenthal starb am 4. April<br />
1909 während eines Gastspiels am Deutschen<br />
Theater in Prag. Alle Zeitungen der<br />
Monarchie brachten ausführliche Nachrufe,<br />
Kaiser Franz Joseph lud Sonnenthals<br />
Kinder zu sich ein, um persönlich sein<br />
Beileid auszudrücken, und am 5. November<br />
1911 wurde ihm zu Ehren eine Büste<br />
im Burgtheater aufgestellt. Heute erinnert<br />
eine Gasse in Ottakring an den einst vielgeliebten<br />
Charakterdarsteller.<br />
Von seinen Nachfahren folgte ihm zwei<br />
Frauen auf Bühne: Seine Enkelin Helene<br />
von Sonnenthal (1893–1953) wurde Theaterschauspielerin<br />
und trat in Tschechien,<br />
Deutschland und Österreich auf. Eine<br />
weitere Enkelin, die sieben Jahre jüngere<br />
Sängerin und Schauspielerin Luise „Luzi“<br />
von Sonnenthal, heiratete 1924 keinen Geringeren<br />
als den weltberühmten Komponisten<br />
Erich Wolfgang Korngold (1897–<br />
1957). 1932 emigrierte sie mit ihrem Mann<br />
in die USA, wo sie 1962 in Hollywood starb.<br />
In der Datenbank von Yad Vashem findet<br />
man unter den ermordeten Juden 13-<br />
mal den Namen Sonnenthal.<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
sommer_doppel1.indb 51 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:31
Subjektive Befragungsweise<br />
99 Jahre und<br />
nehmung von deutschen Kriegsgefange-<br />
nen eingesetzt. In zahlreichen Interviews<br />
wiederholt er später immer wieder seine<br />
kein bisschen leise<br />
Enttäuschung als Jude und Wiener über das<br />
Verhalten vieler nach dem Krieg.<br />
„Das Wort Befreiung habe ich damals<br />
nie gehört. So etwas wie Freiheit und De-<br />
mokratie, das war ja überhaupt nicht im<br />
Vom Wiener Rudolfsplatz schaffte es Georg Stefan<br />
Gedankenschatz vorgesehen. Aber unser<br />
Kriegsmaterial haben sie alle bewundert,<br />
Troller, der begnadete Interviewer und Dokumendie<br />
Jeeps, die Walkie-Talkies. Und komtarfilmer,<br />
in die weite Welt. Nach seiner Vertreibung<br />
mentiert wurde das mit den Worten: ‚Kein<br />
war ihm Wien fremd geworden – seine internationale<br />
Wunder, dass ihr den Krieg gewonnen<br />
Karriere machte er von Paris aus.<br />
habt, mit dem Material‘“, erzählte Troller<br />
2005 in einem TV-Interview mit dem West-<br />
Ein Porträt von Marta S. Halpert<br />
deutschen Rundfunk.<br />
Am 1. <strong>Mai</strong> 1945 nimmt der GI Troller an<br />
der Befreiung Münchens teil, und dort beginnt<br />
er endlich seine berufliche Leidenschaft<br />
auszuleben: Kurz arbeitet er bei Ra-<br />
dio München, bevor er als Reporter bei der<br />
Um gefangene SS-Leute zu ver-<br />
die Familie lebte quasi ums Eck, nämlich<br />
Neuen Zeitung anheuert. Doch in München<br />
hören, fährt der 24-jährige jü-<br />
am Rudolfsplatz, und übersiedelte später<br />
hält ihn auch dieser Job nicht, er will zu-<br />
dische US-Soldat Georg Stefan<br />
nach Döbling. Als jüdischer Junge wird er<br />
rück nach Wien, seine Heimatstadt. „Ich<br />
Troller am 29. April 1945 mit<br />
von den Schulkameraden oft gehänselt<br />
bin damals alle Straßen abmarschiert,<br />
dem Jeep in das von US-Truppen befreite<br />
Konzentrationslager Dachau. Den grau-<br />
enhaften Anblick der Skelette, der vielen<br />
verhungerten und ermordeten Häftlinge,<br />
kann er nur mit dem distanzierten Blick<br />
durch die Kamera ertragen. Trotz dieses<br />
Schutzschildes wird ihn die Erschütte-<br />
rung dieser Erfahrung sein ganzes Leben<br />
nicht verlassen.<br />
Mit 97 Jahren, im <strong>Mai</strong> 2019, widmet<br />
ihm die berühmte Berliner Galerie Gri-<br />
sebach eine Fotoausstellung mit seinem<br />
Lebensmotto: Liebe ist das ganze Ge-<br />
heimnis. Diese Aufnahmen sind nicht<br />
mehr erschreckend, zeigen aber den-<br />
noch eine Welt, die es so nicht mehr gibt:<br />
und verspottet. „Mit sowas musste man le-<br />
ben. Und unter den Nazis wurde das noch<br />
härter“, berichtet er. Auf Druck des Vaters<br />
liest er sämtliche Klassiker und hat einzelne<br />
Monologe bis heute auswendig parat.<br />
Mit 16 leiht er sich eine alte Schreib-<br />
maschine und verfasst erste Gedichte und<br />
Gedanken – und verpasst diesen den prä-<br />
tentiösen Titel Georg Stefan Trollers Gesam-<br />
melte Werke. . Trotz dieser frühen literari-<br />
schen Bestrebungen erlernt Georg Stefan,<br />
der zweite Sohn Karl Trollers, zunächst<br />
den Beruf des Buchbinders.<br />
Mit knapp 17 Jahren flieht er 1938 vor<br />
den Nazis aus Wien: Ein Schmuggler bringt<br />
ihn über die Grenze in die Tschechoslowa-<br />
die ich kannte, tagelang, nächtelang, um<br />
mein Heimweh zu stillen. Aber schließlich<br />
fand ich für mich diesen Satz: Eine Hei-<br />
mat kann man so wenig wiederfinden wie<br />
eine Kindheit.“<br />
Troller versucht zwar, in Österreich hei-<br />
misch zu werden, aber es gelingt ihm nicht,<br />
obwohl er beim Wiener Sender Rot-Weiß-<br />
Rot die beliebte Sendereihe XY weiß alles<br />
initiiert. Er kehrt bereits 1946 in die USA<br />
zurück und studiert bis 1949 zunächst An-<br />
glistik an der University of California und<br />
anschließend Theaterwissenschaft an der<br />
Columbia University in New York. Der berufliche<br />
und private Wendepunkt in Trol-<br />
lers Leben kommt im Jahr 1949, als er mit<br />
schwarz-weiße Schnappschüsse, Kostbar-<br />
kei, von da an hat er keine Papiere, nur eine<br />
keiten aus dem Paris der 1950er-Jahre, die<br />
illegale Existenz. Die nächste<br />
Troller machte, als er im Nachkriegseu-<br />
Fluchtstation ist Frankreich,<br />
„Eine Heimat kann<br />
ropa nach seinen persönlichen Lebenswo<br />
er gleich nach Kriegsaus-<br />
spuren suchte. Er selbst hatte diese Fotos<br />
bruch interniert wird. 1941 er-<br />
man so wenig wielängst<br />
vergessen, glaubte, sie bei Umzügattert<br />
er in Marseille schließderfinden<br />
wie eine<br />
gen und Aufbrüchen verloren zu haben.<br />
lich mit viel Glück ein Visum<br />
Doch seine Tochter Fenn fand sie glück-<br />
für die USA.<br />
Kindheit.“<br />
licherweise beim Ausmisten.<br />
Bereits 1943 wird er von der<br />
Georg Stefan Troller<br />
Zwischen diesen beiden Ereignissen<br />
US-Army zum Kriegsdienst<br />
liegt ein reiches künstlerisches Leben: Der<br />
am 10. Dezember 1921 in Wien geborene<br />
Georg Stefan Troller ist seit Jahrzehnten<br />
als Schriftsteller, Fernsehjournalist, Drehbuchautor,<br />
Regisseur und Dokumentarfil-<br />
eingezogen und leistet den<br />
alliierten Truppen bei ihrem<br />
Vormarsch durch das besetzte<br />
Frankreich und Nazi-Deutschland<br />
mit seinen Sprachkenntmer<br />
erfolgreich. Doch bis zu diesem vielnissen<br />
wertvolle Dienste. Trol-<br />
fältigen Ruhm war es ein weiter Weg aus<br />
ler ist mit der Mentalität der<br />
Personenbeschreibung. Indem er ausgewählten<br />
Menschen jene zeitlosen Fragen stellte, die er an sich selbst<br />
der Neutorgasse im 1. Wiener Bezirk: Dort<br />
Nazi-Täter und Opfer vertraut<br />
hatte, konnte er damit auch seinen eigenen Erfahrungs-<br />
führte Trollers Vater Karl sein Pelzgeschäft,<br />
und wird deshalb bei der Ver-<br />
horizont als Mensch und Filmemacher erweitern.<br />
1 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 1 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:32
Empathisch-kritische Methode<br />
einem Fulbright-Stipendium für die Sor-<br />
bonne in Paris nach Europa zurückkehrt.<br />
Die quicklebendige Stadt an der Seine<br />
mit ihrem französischen Esprit lenkt Trol-<br />
ler vom Studium ab, dafür entdeckt er eine<br />
neue Welt. Mit 28 Jahren entwickelt er sich<br />
zum Flaneur, zum feinsinnigen Beobach-<br />
ter der französischen Lebenskunst, genießt<br />
sie und eignet sie sich spielend an. In Pa-<br />
ris findet er Anfang der 1960er-Jahre die<br />
zukünftige Stätte seiner bemerkenswerten<br />
Karriere: das Fernsehen. Als Kulturkorres-<br />
pondent für den Westdeutschen Rundfunk<br />
in Köln produziert er in neun Jahren 50<br />
Folgen der Sendung Pariser Journal. . Er zeigt<br />
dabei ein Paris, das man zu dieser Zeit in<br />
Deutschland so nicht kannte: höchst einfühlsame<br />
Menschenporträts und einzigar-<br />
tige Milieustudien.<br />
Die Kamera als Schutzschild. 1971 wirbt ihn<br />
das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) ab,<br />
dies wird zu einer weiteren bedeutenden<br />
Weichenstellung in Trollers Leben: 22 Jahre<br />
lang wird er dort in den 70 Folgen seines<br />
legendären Interviewformats Personenbe-<br />
schreibung Fernsehgeschichte schreiben.<br />
Trotz seiner direkten und meist unkonventionellen<br />
Fragen stehen ihm Stars wie Mar-<br />
lon Brando, Romy Schneider, Alain Delon,<br />
Brigitte Bardot, Woody Allen, Kirk Doug-<br />
las sowie die Box-Legende Mohammed Ali<br />
Rede und Antwort. Coco Chanel und Edith<br />
Piaf unterhalten sich ebenso freimütig mit<br />
ihm wie der Regisseur und Schauspieler<br />
Erich von Stroheim, der häufig Nazis darstellte<br />
und eigentlich der Sohn eines Wie-<br />
ner jüdischen Hutmachers war.<br />
„Journalist zu sein, war für mich ein Mit-<br />
tel der Selbstheilung und Lebensrettung“,<br />
erinnert sich Troller. „Meine Seele als jüdischer<br />
Emigrant, der dem Holocaust entkommen<br />
war und der 19 Angehörige verlo-<br />
ren hatte, war verletzt“, sagte er in einem<br />
Interview 2017. „Ich nenne meinen Job<br />
heute: Gesundung durch andere.“ Er ver-<br />
suche nämlich ständig und noch immer,<br />
seine natürliche und durch Flucht und<br />
Verfolgung gesteigerte Menschenscheu zu<br />
überwinden. Indem er ausgewählten Men-<br />
schen jene zeitlosen Fragen stellte, die er<br />
an sich selbst hatte, konnte er damit auch<br />
seinen eigenen Erfahrungshorizont als<br />
Mensch und Filmemacher erweitern.<br />
Zwischen 1.200 und 1.500 Interviews<br />
hat er nach eigenen Angaben geführt. Anfänglich<br />
war seine betont subjektive Be-<br />
fragungsweise von Berufskollegen nur<br />
geduldet, dennoch wurde später seine<br />
empathische wie kritische Methode der<br />
Befragung zum Vorbild für viele Journalisten.<br />
Troller drehte anspruchsvolle biogra-<br />
fische Filme über Rimbaud, Gauguin, B.<br />
Traven, Karl Kraus u. v. a. Er schrieb 15 Bü-<br />
cher, zuletzt Das fidele Grab an der Donau, Paris<br />
geheim, Selbstbeschreibung. . Fernsehfilme, Do-<br />
kumentationen, Fotobände und Essays für<br />
Zeitschriften kamen später dazu.<br />
„Angst war mein ständiger Lebensbe-<br />
gleiter, einmal fürchtete ich um meine<br />
Existenz, einmal um meine Identität“, of-<br />
fenbarte Troller seinem engen Freund,<br />
dem Regisseur Axel Corti. „Die Angst hängt<br />
mir in den Knochen, ich muss mich verstellen,<br />
um natürlich zu sein.“ Die Drehbü-<br />
cher für die zeitkritische Filmtrilogie Wohin<br />
und zurück schrieben die Freunde zwischen<br />
1979 und 1985 gemeinsam. Axel Corti, 1933<br />
in Paris geboren, war mit 23 Jahren bereits<br />
Leiter der Literatur- und Hörspielabtei-<br />
lung von Studio Tirol. Seit 1960 lauschte<br />
eine riesige Fan-Gemeinde seinem gesellschaftspolitischen<br />
regelmäßigen Ra-<br />
diofeuilleton Der Schalldämpfer. . Corti, der<br />
überdies als Dramaturg und Regisseur am<br />
Wiener Burgtheater und am Berliner Schillertheater<br />
tätig war, führte auch aufregende<br />
und tiefsinnige Gespräche mit Trol-<br />
ler für den NDR in der beliebten Talkshow<br />
3 nach 9. . Seit 1986 wurde Wohin und zurück<br />
häufig wiederholt. Die drei Filme heims-<br />
ten in vielen Ländern und Festivals Preise<br />
ein und liefen in Wien und Paris im Kino.<br />
Auch mit 99 Jahren geht Georg Stefan<br />
Troller gerne auf Lesereise, wenn man ihn<br />
einlädt: Fotos von seinem Auftritt im Feb-<br />
ruar 2020 im Kölner Literaturhaus zeugen<br />
davon. Sein Humor, gespickt mit Selbstironie,<br />
hat ebenso wenig unter der Zeit ge-<br />
litten wie seine immer noch üppige<br />
Künstlermähne. Er versichert auch<br />
schmunzelnd, dass er wie bisher<br />
jedes Manuskript auf seiner al-<br />
ten<br />
Hermes-Schreibmaschine<br />
tippt. „Ich habe keinen Compu-<br />
ter und kein Internet“, erzählte<br />
er lachend während der Lesung<br />
in Köln. „Meine Manuskripte faxe<br />
oder schicke ich meinem Verleger<br />
per Post. Anmerkungen mache<br />
ich mit einem vierfarbigen Kugel-<br />
schreiber.“ Seine zahlreichen Preise<br />
sowie Ehrenurkunden hat eine Putzfrau<br />
aus Versehen im Pariser Studio ent-<br />
sorgt. Das bekümmert ihn heute wenig.<br />
© Robert Newald/picturedesk.com<br />
wına-magazin.at<br />
2<br />
sommer_doppel1.indb 2 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:34
Intuitiv & launisch<br />
Wittgensteins<br />
Familie<br />
Vor 70 Jahren starb in Cambridge der große Philosoph<br />
Ludwig Wittgenstein. Sein Wiener Vater war einer der<br />
reichsten Menschen Europas, die jüdischen Vorfahren<br />
stammten aus Deutschland.<br />
Es muss eine packend-groteske<br />
Szene gewesen sein. Im englischen<br />
Cambridge trafen 1946 bei<br />
einem Philosophieseminar zwei<br />
der führenden Philosophen der Zeit aufeinander,<br />
beide emigrierte Wiener. Doch<br />
Karl Popper und Ludwig Wittgenstein waren<br />
sich alles andere als einig, im Gegenteil.<br />
Der Disput spitzte sich derart zu, dass<br />
Wittgenstein erregt im Zimmer auf und ab<br />
ging, vom offenen Kamin einen Schürhaken<br />
nahm und mit ihm bedrohlich gestikulierte.<br />
Als ihn Popper darauf ansprach,<br />
warf er das Eisen zornig auf den Fußboden<br />
und stürmte aus dem Raum.<br />
Ludwig Wittgenstein sollte in Cambridge<br />
1951 an Prostatakrebs sterben, als<br />
letzte Worte an nicht anwesende Freunde<br />
sind überliefert: „Sagen Sie ihnen, dass<br />
ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“<br />
Ob wundervoll, sei dahingestellt, zu sehr<br />
schimmert immer wieder Leiden, quälende<br />
Sinnsuche und manische Selbsterhöhung<br />
durch. Doch ungewöhnlich,<br />
spannungsgeladen und alles andere als<br />
langweilig war sein Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit.<br />
Wittgenstein wurde 1886 in Neuwaldegg<br />
als Sohn eines der reichsten Menschen Europas,<br />
des Industriemagnaten und „österreichischen<br />
Carnegie“ Karl Wittgenstein<br />
geboren. Ludwig hatte vier Brüder und<br />
drei Schwestern. Eine auf strenge Disziplin<br />
ausgerichtete Erziehung sowie möglicherweise<br />
eine genetische Disposition<br />
sollte dazu führen, dass sich später drei<br />
seiner Brüder das Leben nahmen. Ludwig<br />
erhielt in den ersten Jahren Privatunter-<br />
Von Reinhard Engel<br />
richt im Wiener Familienpalais in der Argentinierstraße,<br />
doch er wollte eine öffentliche<br />
Schule besuchen. Für die Zulassung<br />
an Wiener Gymnasien reichten die Privatstunden<br />
nicht, also wurde er in einer Linzer<br />
Gewerbeschule eingeschrieben, übrigens<br />
in jener, die auch zur selben Zeit Adolf Hitler<br />
besuchte. Ob die beiden, die in unterschiedlichen<br />
Klassen waren, miteinander<br />
Kontakt hatten, ist nicht sicher.<br />
Ursprünglich wollte Ludwig in Wien<br />
bei Ludwig Boltzmann Physik inskribieren.<br />
Doch der berühmte Professor nahm<br />
sich auf einer Urlaubsreise in Duino das<br />
Leben, Wittgenstein musste umdisponieren.<br />
Sein Vater Karl wollte die Söhne<br />
auf spätere Positionen in seinen Industrieunternehmen<br />
vorbereiten, daher zog<br />
Ludwig nach Berlin und studierte Maschinenbau.<br />
1906 nahm er in Manchester ein<br />
Ingenieurstudium mit Schwerpunkt Luftfahrt<br />
auf, beschäftigte sich dort auch intensiv,<br />
aber kurz mit der Berechnung von<br />
Propellern, doch dann faszinierten ihn<br />
Mathematik, Logik und Philosophie immer<br />
stärker. Er übersiedelte nach Cambridge,<br />
wo ihn Bertrand Russel als Student<br />
akzeptierte.<br />
Nach einer ersten Begegnung meinte<br />
der Autor der Principia Mathematica noch,<br />
es sei Zeitverschwendung, mit dem „hitzigen<br />
Deutschen“ zu streiten, aber schon<br />
wenig später attestierte er ihm höchste Intelligenz,<br />
schnelle Auffassungsgabe und<br />
Talent, aber er erkannte bereits seine<br />
schwierige Persönlichkeit: „Seine Verfassung<br />
ist die eines Künstlers, intuitiv und<br />
launisch. Er sagt, dass er seine Arbeit jeden<br />
Morgen hoffnungsvoll beginne und jeden<br />
Abend in Verzweiflung ende.“<br />
Wittgenstein studierte intensiv, hatte<br />
seine erste – homosexuelle – Beziehung,<br />
zog sich monatelang nach Norwegen in<br />
eine einsame Hütte zurück, um an logischen<br />
Problemen zu arbeiten. 1913 starb<br />
sein Vater und Ludwig erbte ein gewaltiges<br />
Vermögen, das er allerdings in Kürze<br />
verschenkte, an seine Geschwister und an<br />
bedürftige Künstler.<br />
Der Kriegsausbruch 1914 bot ihm die<br />
Gelegenheit, aus der Welt der schwierigen<br />
Gedanken in eine grausame Welt der Realität<br />
zu wechseln. Wittgenstein meldete<br />
sich freiwillig, übernahm als vorgeschobener<br />
Artillerie-Beobachter an der russischen<br />
Front gefährlichste Einsätze, wurde<br />
auch mehrmals dekoriert. Den Krieg beendete<br />
er als Leutnant an der italienischen<br />
Front und wurde dort noch mehrere<br />
Monate gefangen gehalten.<br />
Trotz extremer Beanspruchungen hatte<br />
er während der Kampfeinsätze und Internierung<br />
an seinem ersten – und wohl bekanntesten<br />
– Werk gearbeitet, dem Tractatus<br />
logico-philosophicus. Dieser sollte dann<br />
1921 in Deutschland erstmals publiziert<br />
werden, wirklich bekannt wurde er aber<br />
erst in der englischen Übersetzung mit einem<br />
Vorwort von Bertrand Russel. Es ist<br />
ein hoch kompliziertes Werk, das sich mit<br />
den Beziehungen zwischen Sprache und<br />
Denken befasst, das mit messerscharfen,<br />
strikt durchnummerierten Dogmen die<br />
Philosophie in enge Grenzen verweist und<br />
einen Gutteil von ihr als sinnlos und spekulativ<br />
abschmettert. Es lässt aber dennoch<br />
ein breites Feld für nicht logisch erfassbare<br />
menschliche Tätigkeiten frei,<br />
etwa Religion oder Mystizismus. Darüber<br />
könne man aber nicht sprechen, das ließe<br />
sich bloß zeigen.<br />
Wittgenstein dachte, dass er mit diesem<br />
intellektuellen Paukenschlag einen Großteil<br />
Jahrhunderte alter philosophischer<br />
Probleme gelöst habe, die Wissenschaft<br />
brauche ihn nun nicht mehr. Er wandte<br />
sich ganz anderen Tätigkeiten zu. Erst arbeitete<br />
er als Gärtner in einem Kloster, erwog<br />
sogar kurzzeitig, selbst in einen Orden<br />
einzutreten. Dann nahm er mehrere Anstellungen<br />
als Dorfschullehrer in der niederösterreichischen<br />
Buckligen Welt an,<br />
galt dort als rührender Förderer begabter<br />
Kinder und ebenso brutaler Zuchtmeister<br />
dümmerer Mädel und Buben. Ohrfeigen,<br />
das Reißen an den Haaren, gar das blutig<br />
Schlagen gehörten dazu und führten letzten<br />
Endes zu seiner Entlassung.<br />
© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com<br />
54 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 54 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35
Verfassung eines Künstlers<br />
© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com<br />
Ende der 1920er-Jahre kehrte Wittgenstein<br />
dann wieder nach Cambridge zurück.<br />
Nicht zuletzt kritische Artikel zu seinem<br />
Tractatus hatten ihn einsehen lassen, dass<br />
er als junger Mann doch nicht so viele Probleme<br />
endgültig gelöst hatte, wie er damals<br />
dachte, er müsse sich wohl weiter schwierigen<br />
philosophischen Fragen widmen. Für<br />
den korrekten Einstieg in die englische akademische<br />
Welt brauchte er eine Dissertation,<br />
Russel akzeptierte den Tractatus als<br />
solche. Bald nach seiner akademischen Akzeptanz<br />
erhielt Wittgenstein 1939 mit Hilfe<br />
des Ökonomen John Maynard Keynes auch<br />
die britische Staatsbürgerschaft.<br />
Das jüdische Vermächtnis. Das war für ihn<br />
die Absicherung gegenüber dem Zugriff<br />
der Nationalsozialisten, nicht aber für<br />
seine Geschwister. Nach den NS-Rassengesetzen<br />
hatten sie nämlich drei jüdische<br />
Großeltern, das machte sie zu Volljuden.<br />
Die Eltern von Ludwig<br />
Wittgenstein: Karl und<br />
Leopoldine Wittgenstein,<br />
geb. Kallmus.<br />
Wittgenstein<br />
dachte, dass<br />
er mit diesem<br />
intellektuellen<br />
Paukenschlag<br />
einen Großteil<br />
Jahrhunderte<br />
alter<br />
philosophischer<br />
Probleme<br />
gelöst<br />
habe.<br />
Mit langwierigen Verhandlungen – und<br />
angeblich unter direkter Beteiligung Hitlers<br />
– gelang es, einen Deal mit den Behörden<br />
zu erreichen. Der Status wurde auf<br />
Halbjuden heruntergesetzt, das ermöglichte<br />
Ludwigs Geschwistern die Ausreise.<br />
Dafür sollen aber astronomisch hohe Summen<br />
aus Schweizer Tresoren an die Nazis<br />
geflossen sein.<br />
Diese Reichtümer hatte Ludwigs Vater<br />
Karl Otto Clemens in einer einzigen Generation<br />
angehäuft, wiewohl bereits dessen<br />
Vater, Herrmann Christian Wittgenstein,<br />
ein ostdeutscher Wollhändler und späterer<br />
Immobilieninvestor in Wien, der gemeinsam<br />
mit seiner ebenfalls jüdischen Frau<br />
zum Protestantismus übergetreten war, es<br />
schon zu einem gewissen Wohlstand gebracht<br />
hatte. Dessen Vater, Moses Meyer,<br />
hatte im Dienst der Westfälischen Sayn-<br />
Wittgenstein-Hohenstein Güter verwaltet<br />
und nach einem Dekret der französischen<br />
Besatzungsmacht als Nachname den seiner<br />
Grundherren angenommen.<br />
Karl Otto Clemens Wittgenstein war<br />
mindestens so unruhig, wie es später sein<br />
Sohn Ludwig werden sollte. Er schmiss die<br />
Schule hin, ging in die USA, wo er sich als<br />
Musik- und Sprachlehrer, als Kellner, Barmusiker<br />
und Matrose auf einem Binnenschiff<br />
verdingte. Nach seiner Rückkehr<br />
studierte er in Wien ein knappes Jahr an<br />
der Technischen Hochschule, ehe er wieder<br />
abbrach. Über Vermittlung eines Verwandten<br />
begann er dann in einem Walzwerk<br />
in Nordböhmen als technischer<br />
Zeichner zu arbeiten.<br />
Von da an ging es steil bergauf.<br />
1876 war er schon Direktor in<br />
diesem Werk, bald auch Hauptaktionär.<br />
Wieder einige Jahre<br />
später hatte er bereits einen integrierten<br />
Industriekonzern geformt,<br />
von der Stahlschmelze<br />
bis zu Endprodukten wie Sensen.<br />
Und seine Fabriken standen<br />
längst nicht mehr nur in Böhmen,<br />
sondern auch in Niederösterreich<br />
und in der Steiermark,<br />
wo ihm die Alpine Montangesellschaft<br />
gehörte. Wittgenstein galt<br />
als Kombi-Talent von Techniker<br />
und Manager, er modernisierte<br />
seine Werke, erhöhte stetig Effizienz<br />
und Betriebsleistung. Ökonomische<br />
Weitsicht brachte ihn<br />
auch dazu, in den USA, in den Niederlanden<br />
und in der Schweiz zu investieren, das<br />
sollte seinen Erben dann einen Gutteil ihres<br />
Vermögens in der Zeit der Depression<br />
und Hyperinflation sichern.<br />
Und Wittgenstein genoss seinen Reichtum<br />
auch. Er hatte mehrere Palais und<br />
Landhäuser, gemeinsam mit seiner Frau<br />
Leopoldine, einer geborenen Kalmus mit<br />
jüdischem Vater und slowenisch-katholischer<br />
Mutter, führte er einen eleganten<br />
Salon, in dem Künstler wie Johannes<br />
Brahms, Gustav Mahler, Bruno Walter<br />
oder Pablo Casals zu Gast waren. Er förderte<br />
auch die Wiener Sezessionisten und<br />
besaß wertvolle Gemälde, etwa französischer<br />
Impressionisten.<br />
Ludwig wurde katholisch getauft, sah<br />
sich aber stets als areligiös, obwohl ihn<br />
Rituale, Metaphysik und Mystiker interessierten.<br />
Und auch wenn er keine formale<br />
jüdische Bildung erhalten hatten, sagte er<br />
einmal: „Meine Gedanken sind hundert<br />
Prozent hebräisch.“ Ob er damit nur die<br />
jüdische oder auch die christliche Tradition<br />
gemeint hatte, ist nicht eindeutig belegt.<br />
wına-magazin.at<br />
55<br />
sommer_doppel1.indb 55 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35
Dokumentarischer Essay<br />
Der Wiener Schriftsteller und<br />
Zwischenwelt-Redakteur Alexander<br />
Emanuely zeichnet<br />
in seinem jüngsten Buch Das Beispiel<br />
Colbert ausgehend von der<br />
Biorafie und dem vielfältigen<br />
Wirken Carl Colberts ein vielschichtiges<br />
Panorama des gesellschaftlichen<br />
Aufbruchs um 1900<br />
in Österreich. Er spürt dabei den<br />
Anfängen der Zivilgesellschaft<br />
nach und holt vieles inzwischen<br />
im allgemeinen Bewusstsein<br />
Vergessene wieder hervor.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Porträt einer Zeit<br />
voller Umbrüche<br />
Ein Vergessener ist auch der<br />
Titelgeber. Carl Colbert,<br />
1855 in Wien als Carl Cohn<br />
geboren, war ein Kind seiner<br />
Zeit und der Zeit doch immer<br />
wieder einen Schritt voraus. Nach dem<br />
frühen Tod ihres Vaters 1836 übernahm<br />
die Mutter, Charlotte Cohn, die Wechselstube<br />
Mercur ihres Schwagers und leitete<br />
auch das gleichnamige Lotterie-Ziehungslistenblatt.<br />
Der Sohn, der in Wien<br />
das Akademische Gymnasium und dann<br />
eine Handelsakademie besuchte, arbeitete<br />
zunächst in der Wechselstube mit<br />
und gründete später mit seinem Schwager<br />
Alexander Gut das Bankhaus C. Cohn<br />
und Gut. Nach und nach begann er sich<br />
aber weg von einem Kapitalisten, hin zu<br />
einem Medienmacher und Sozialreformer<br />
zu bewegen. Er gab das Bankhaus auf,<br />
heiratete die Pianistin Antonie Wolff, änderte<br />
seinen Familiennamen in Colbert<br />
und trat aus der Kultusgemeinde aus.<br />
1887 gründete er die Zeitschrift Wiener<br />
Mode, die nicht nur in der k.u.k. Monarchie<br />
erschien und in mehreren Sprachen<br />
veröffentlicht wurde. Spätere Publikationen<br />
wurden politischer, etwa die Wochenzeitung<br />
Morgen oder die sozialistischpazifistische<br />
Boulevardzeitung Abend. Als<br />
Freimaurer engagierte er sich zunächst<br />
für das private Hilfsprojekt eines Kinderasyls<br />
im Kahlenbergerdorf. Nach<br />
und nach wurde ihm aber klar, dass es<br />
hier grundsätzliche Reformen braucht,<br />
und er setzte sich zunehmend für Kinder<br />
und gegen Kinderarbeit, aber auch<br />
für Frauen und deren volle bürgerliche<br />
Rechte ein. Er engagierte sich im Verein<br />
Freie Schule, aus dem die Kinderfreunde<br />
hervorgingen, für eine Kunstschule für<br />
Frauen, die heutige Modeschule Hetzendorf,<br />
und begründete eine erste Sozialakademie<br />
mit. Im Alter begann er zudem,<br />
Romane zu schreiben. Den Nationalsozialismus<br />
erlebte Colbert nicht mehr, er<br />
Alexander Emanuely:<br />
Das Beispiel Colbert.<br />
Fin de siècle und<br />
Republik. Ein dokumentarischer<br />
Essay.<br />
Verlag der Theodor<br />
Kramer Gesellschaft<br />
2020, 656 S., € 36<br />
© Wien Museum, Wikipedia<br />
56 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 56 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:36
Wegbereiter<br />
Wiener Mode. 1887 von<br />
Carl Colbert gegründet,<br />
erschien das Blatt in mehreren<br />
Sprachen nicht nur<br />
in der k. u. k. Monarchie.<br />
Er zeichnet vielmehr das Entstehen von<br />
Zivilgesellschaft nach und verfolgt die<br />
Lebenswege etwa von Teilnehmern der<br />
1848er-Revolution bis in die USA.<br />
Der Morgen. Die Wiener<br />
Wochenzeitung erschien<br />
von 1910 bis 1938 und war<br />
eine etwas politischere<br />
Gründung Colberts.<br />
starb 1929 in Wien. Sein Sohn Ernst Colbert<br />
wurde 1943 in Auschwitz ermordet.<br />
Emanuely geht es in seinem umfassenden<br />
Tableau aber nicht nur um Colbert.<br />
Er zeichnet vielmehr das Entstehen<br />
von Zivilgesellschaft nach und verfolgt<br />
die Lebenswege etwa von Teilnehmern<br />
der 1848er-Revolution bis in die USA,<br />
wie jenen des Arztes Joseph Goldmark,<br />
dem Bruder des bekannten Komponisten<br />
Karl Goldmark. Er und andere sogenannte<br />
„Forty-Eighters“ hätten der<br />
Demokratie in den Vereinigten Staaten<br />
neue Impulse gegeben, schreibt Emanuely<br />
etwa, „weil sie Abraham Lincoln in<br />
seinem Kampf gegen die Sklaverei nicht<br />
nur unterstützt haben, sondern maßgeblich<br />
am Erfolg seiner Politik beteiligt waren“.<br />
So habe Goldmark beispielsweise in<br />
Brooklyn 1860 den King’s County Republican<br />
Club mitbegründet, der Lincoln bei<br />
den Präsidentschaftswahlen unterstützen<br />
sollte.<br />
Partizipation an der Mitgestaltung. Die<br />
bürgerlichen Revolutionen des 18. und<br />
19. Jahrhunderts bedeutete für viele Europäer<br />
und Nordamerikaner einen Befreiungsschlag<br />
gegen die Herrschaft absolutistischer<br />
und feudaler Monarchien.<br />
Und Colbert kam mit genau diesen Ideen<br />
und Idealen der Aufklärung schon<br />
früh in Berührung und entwickelte<br />
daraus sein soziales Engagement,<br />
sein Eintreten für Frauenrechte,<br />
für Kinderrechte. Denn, so Emanuely,<br />
„Freiheit und Zurückdrängen<br />
der staatlichen Herrschaft<br />
bedeutete noch lange nicht den<br />
Beginn einer neuen Gleichheit aller<br />
Menschen bzw. deren Partizipation<br />
an der Mitgestaltung von Gesellschaft<br />
und Politik und schon gar nicht das<br />
Ende von Armut und Ausbeutung.“<br />
Und so ist Emanuelys „dokumentarischer<br />
Essay“ viel mehr als das: Ihm ist<br />
hier eine umfassende Betrachtung des<br />
Kampfes um eine gerechtere Gesellschaft<br />
gelungen, des Strebens nach sozialem<br />
Ausgleich, nach Reformen, die<br />
Frauen unabhängiger machten, die Kindern<br />
eine bessere Zukunft ermöglichten.<br />
Colbert war einer jener, die dem Roten<br />
Wien den Weg bereiteten und es vorantrieben.<br />
wına-magazin.at<br />
57<br />
sommer_doppel1.indb 57 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39
Israelisch & jüdisch<br />
„Es gibt kein Vorher<br />
und kein Nachher“<br />
Liebesleben, Mann und Frau, Späte Familie, Schmerz: Zeruya Shalevs Romantitel führen durch<br />
ein Lebenswerk im wahrsten Sinn. Wie die Geschichte zweier Frauen mit der Geschichte ihres<br />
Landes verknüpft ist, zeigt Schicksal, das jüngste Buch der israelischen Bestseller-Autorin.<br />
Von Anita Pollak<br />
Vom „Gründerhügel“ aus, in einer<br />
jüdischen Siedlung im Westjordanland,<br />
blickt Rachel hinab in<br />
die Wüste und zurück auf ihr Leben. In<br />
den 1970er-Jahren ist sie mit ihrer Familie<br />
und einigen wenigen Gleichgesinnten<br />
hoffnungsfroh hierhergezogen, nun<br />
wohnen hier viele Tausende und müssen<br />
immer noch mit „gezogenen Waffen“ bewacht<br />
werden. Nein, so hat sich die Neunzigjährige<br />
ihr Leben nicht vorgestellt. Dem<br />
Kampf um das Land, dem Kampf gegen die<br />
britische Mandatsmacht in Palästina, hat<br />
sie in ihrer Jugend fast alles geopfert, nun<br />
ist Rachel eine der letzten Zeuginnen, die<br />
von der Untergrundorganisation Lechi berichten<br />
kann. Von ihren toten Helden, ihren<br />
spektakulären Aktionen und ihrem<br />
Scheitern. Denn im Gegensatz zur vielgerühmten<br />
Haganah wurde die Rolle der Lechi,<br />
die als Terrororganisation nach der<br />
Staatsgründung Israels 1948 sogar verboten<br />
wurde, lange verschwiegen. Und auch<br />
Rachel wird nicht mehr zugehört. Bis sich<br />
eines Tages eine viel jüngere Frau, Atara,<br />
für ihre Geschichte interessiert. Aus sehr<br />
persönlichen Gründen. Denn Rachel war,<br />
wie Atara nach dem Tod ihres Vaters, des<br />
Hirnforschers Meno Rubin, herausfindet,<br />
dessen erste Frau. Nur ein Jahr dauerte die<br />
„unreife Ehe“ der beiden zwanzigjährigen<br />
Untergrundkämpfer, beide gründeten danach<br />
eigene Familien und trafen einander<br />
nie wieder. Und doch hat sie ihr Vater, unter<br />
dessen grausamer Kälte sie als Kind so<br />
gelitten hatte, dass sie seinen Tod herbeisehnte,<br />
auf seinem Sterbebett ungewohnt<br />
zärtlich Rachel genannt.<br />
Schuld ohne Sühne. „Es gibt kein Vorher<br />
und Nachher in der Tora“, hat Meno die<br />
kleine Atara einmal belehrt, und dieser<br />
talmudische Grundsatz könnte auch als<br />
Motto über Zeruya Shalevs Roman stehen.<br />
Vorher und Nachher, Vergangenheit<br />
und Gegenwart scheinen in der Geschichte<br />
der beiden Frauen genauso wie<br />
Zeruya Shalev:<br />
Schicksal.<br />
Aus dem Hebräischen<br />
von Anne Birkenhauer.<br />
Berlin Verlag <strong>2021</strong>,<br />
416 S., € 24,70<br />
„Verhängnisvolle Familiendramatik,<br />
das kann Shalev<br />
eben am besten.“<br />
in der Geschichte Israels schicksalhaft<br />
miteinander verknüpft. Als Architektin<br />
hat sich Atara bezeichnenderweise auf<br />
die sensible Restaurierung alter Gebäude<br />
spezialisiert. Ihre erste Begegnung mit Rachel<br />
wird durch deren Sohn gestört, der<br />
ein ultraorthodoxer Kabbalist geworden<br />
ist. Mit ihrem zweiten Besuch macht<br />
sich Atara unschuldig schuldig am plötzlichen<br />
Tod ihres Ehemannes Alex, eine Erkenntnis,<br />
die sie besonders im Gefolge der<br />
Schiva, der Trauerwoche mit ihren vielen<br />
ungebetenen Gästen, zu Boden wirft. Szenen<br />
ihrer spannungsreichen zweiten Ehe<br />
mit Alex, für die beide ihre ersten Familien<br />
verließen, Schuldgefühle den erwachsenen<br />
Kindern gegenüber, Unsühnbares<br />
und Ungesühntes verdunkeln Ataras Bewusstsein.<br />
Über viele Dutzende Seiten seziert<br />
Shalev die umwölkte Psyche der zur<br />
Witwe gewordenen Frau, quälend auch<br />
für den empathischen Leser.<br />
An den eigenen Ansprüchen, den eigenen<br />
Erwartungen scheitern Partner, scheitern<br />
Eltern, scheitern Idealisten. Und selbst<br />
das Schuldgefühl ist eine Hybris, eine „Unglück<br />
bringende Überheblichkeit“. Zeichenhaft<br />
blitzt immer wieder das Bild des<br />
biblischen Sündenbocks auf.<br />
Verhängnisvolle Familiendramatik, das<br />
kann Shalev eben am besten. Und so universal,<br />
so allgemein menschlich Beziehungen,<br />
Verfehlungen und Konflikte<br />
auch sind: Shalevs Szenarien spielen immer<br />
vor der unverwechselbaren Kulisse<br />
Israels. Diesmal kommt dem Land selbst<br />
aber eine wesentliche Rolle zu. Auch ihr<br />
eigener Vater, so die Autorin in einem Interview,<br />
war in seiner Jugend kurze Zeit<br />
Kämpfer in der Lechi gewesen. Zeit seines<br />
Lebens wollte sie seine Erzählungen<br />
nicht hören, nach<br />
seinem Tod jedoch begann sie<br />
die Geschichte zu faszinieren,<br />
und sie begann zu recherchieren.<br />
Rachel ist ihr Sprachrohr<br />
für die Heldensaga der mutigen<br />
Pioniere geworden. Sie, die alte unentwegte<br />
Idealistin, muss das Pathos nicht<br />
scheuen, wenn sie wie ein Mantra immer<br />
wieder die Namen der jungen Opfer vor<br />
sich hersagt, wenn sie daran erinnert, mit<br />
welch hohem Blutzoll Israels Freiheit erkämpft<br />
wurde. Ein Pathos, das zumindest<br />
in der deutschen Übersetzung oft seltsam<br />
archaisch anmutet.<br />
Aber Schicksal ist nicht nur Shalevs bisher<br />
israelischster Roman, er ist auch ihr<br />
jüdischster. Und da kann die studierte Bibelwissenschaftlerin<br />
aus dem Vollen der<br />
heiligen Schriften, Gebetstexte und Rituale<br />
schöpfen. Wodurch wird „Tikkun“, die<br />
„Reparatur“ der Welt, die Verbesserung<br />
des Landes, die Erlösung der Menschen<br />
erreicht? Shalevs Figuren sind Suchende,<br />
ihre Wege sind verschieden. „Gott?! Seit<br />
wann ist Gott ein Teil unseres Lebens? Unserer<br />
Familie?“, schleudert Atara entsetzt<br />
ihrem Sohn Eden entgegen, dem Elitesoldaten,<br />
der sich plötzlich der Orthodoxie<br />
zuwenden will.<br />
Er ist nur ein Teil des Spektrums der israelischen<br />
Gesellschaft, das Zeruya Shalev<br />
in ihrem breit angelegten Erzählpanorama<br />
altmeisterlich entfaltet. Wie bei<br />
einem guten Bild kann darin jede und jeder<br />
seine Sicht darauf einbringen, andere<br />
Geschichten aus diesem vieldeutigen Buch<br />
herauslesen.<br />
wına-magazin.at<br />
58<br />
sommer_doppel1.indb 58 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39
Nicht Ihresgleichen<br />
Stresstest für Bobos<br />
„Es kann der Frömmste nicht in Friede leben, wenn es dem bösen<br />
Nachbar nicht gefällt.“ Wie ein Beweis für dieses Schiller-<br />
Zitat liest sich der Gesellschaftsroman Leute wie wir, in dem die<br />
israelische Autorin Noa Yedlin klug, witzig und ein bisschen<br />
boshaft ihre Generation der Forty-Somethings porträtiert.<br />
Von Anita Pollak<br />
Jetzt ist das Viertel zwar noch ein bisschen<br />
abgesandelt, seine Bewohner<br />
vielleicht nicht gerade Leute, mit denen<br />
man unbedingt Freundschaft schließen<br />
möchte, aber das sind doch hässliche<br />
Vorurteile, und in spätestens zehn Jahren<br />
wird das hier ein angesagtes Trendviertel<br />
sein, in dem man sich keine Wohnung wird<br />
leisten können, geschweige denn ein Haus.<br />
So denken Osnat und ihr Mann Dror, als sie<br />
mit beiden Töchtern in ihr stylish renoviertes<br />
Haus im Viertel Drei-Fünf im Süden Tel<br />
Avivs einziehen, ein urbanes, akademisch<br />
gebildetes Bobo-Paar Anfang vierzig, wie<br />
es überall in der westlichen Welt zu Hause<br />
sein könnte.<br />
Sie arbeitet in einem mächtigen Lebensmittelkonzern,<br />
er hat seine IT-Stelle gekündigt,<br />
um daheim seine Start-up-Idee zu<br />
entwickeln, ein Programm, das<br />
„pornografische Komponenten“<br />
im Internet identifiziert<br />
und gleichzeitig Eltern warnt,<br />
sobald ihre Kinder auf einschlägigen<br />
Seiten landen. Also sammelt<br />
er ganztags pornografische<br />
„Muster“ zum guten Zweck und<br />
bekocht als Hausmann nebenbei die Töchter.<br />
Möglichst gesund, wünscht sich Osnat,<br />
denn die elfjährige Hamutal ist bereits fast<br />
zu dick. Was kein Problem sein sollte, aber<br />
trotzdem. Kein Problem sollte auch Hamutals<br />
neue Freundin sein, deren Eltern<br />
Kampfhunde halten und züchten. Sogar<br />
der unmittelbare Nachbar, der alte Israel,<br />
der gefühlt 24/7 unbeweglich im Garten<br />
sitzt, alles sieht und seinen gewohnten<br />
Parkplatz notfalls militant verteidigt, sollte<br />
kein Problem sein. Doch es kann eben der<br />
Frömmste nicht in Frieden leben ... Wer hat<br />
den naiven Neuen den Briefkasten eingeschlagen,<br />
wer bei ihnen eingebrochen und<br />
auf dem blanken Badezimmerboden einen<br />
Scheißhaufen hinterlassen, und was wollte<br />
der Einbrecher damit sagen?<br />
Ressentiments. Recht bald dämmert den<br />
Eheleuten, dass ihre Nachbarn jedenfalls<br />
nicht „Ihresgleichen“ sind, obwohl<br />
sie sich für diese Gedanken politisch korrekt<br />
schämen. „Menschen tun sich nun<br />
mal mit Menschen zusammen, die ihnen<br />
ähnlich sind, was die Wertvorstellungen<br />
angeht, Kultur, Lebensstil, das ist<br />
auf der ganzen Welt so, das erscheint mir<br />
jetzt nicht unbedingt … irgendwie sensationell<br />
neu“, meint Dror, der von Anfang<br />
an lieber nach Rechovot gezogen wäre, in<br />
die Nähe des Weizmann-Instituts, wo die<br />
geistigen Eliten des Landes wohnen, sich<br />
untereinander paaren und ihre dementsprechend<br />
hochbegabten Kinder auf die<br />
„Menschen tun sich nun mal<br />
mit Menschen zusammen,<br />
die ihnen ähnlich sind.“<br />
Noa Yedlin:<br />
Leute wie wir.<br />
Aus dem<br />
Hebräischen von<br />
Markus Lemke.<br />
Kein & Aber <strong>2021</strong>,<br />
411 S., € 23,70<br />
richtigen Schulen schicken. Ja, wie für alle<br />
bildungsbürgerlichen Eltern wird die anstehende<br />
Schulauswahl ein fast existentieller<br />
Stress, denn die kleine Hannah in die<br />
nächstgelegene staatliche Schule zu schicken,<br />
bei aller gutmenschlichen Liebe,<br />
nein nicht fürs eigene Kind!<br />
Diffizil und treffend, hinterhältig,<br />
schlau und raffiniert entlarvt Noa Yedlin<br />
die Ressentiments der entsprechenden<br />
Schicht der Forty-Somethings, ihre inneren<br />
und äußeren Konflikte, ihre Ängste<br />
und Bedürfnisse.<br />
So ihre Angst vor der eigenen Spießigkeit,<br />
gepaart mit dem Bedürfnis nach Sicherheit,<br />
ihre Angst vor dem alten Nachbarn,<br />
der der Tochter Süßigkeiten zusteckt,<br />
ihre Angst davor, ihr Angst zu machen, Osnats<br />
latente Lust auf einen Seitensprung,<br />
gepaart mit ihrer Angst vor dem Zerbrechen<br />
ihrer Ehe, die seit dem Umzug in die<br />
neue Gegend ohnehin dauerkriselt. Was<br />
macht Dror eigentlich wirklich, während<br />
er stundenlang mit dem Kampfhund-Welpen<br />
unterwegs ist, der ihnen als Geschenk<br />
aufgedrängt wurde?<br />
Über ein knappes Jahr, in Monatskapitel<br />
unterteilt, entfaltet Yedlin ihren Gesellschaftsroman<br />
als eine Art Psychothriller,<br />
wobei die einzelnen Fakten schemenhaft<br />
im Dunkeln bleiben. Nicht so wichtig ist<br />
letztlich, wer was tatsächlich getan hat. Was<br />
gedacht, was angedeutet, aber nicht ausgesprochen<br />
wurde, macht die subtile Spannung<br />
aus. Wobei man ihrer Protagonistin<br />
Osnat beim Denken und Reden fast in Echtzeit<br />
folgen muss, was zuweilen auch nerven<br />
kann. So genau will man das alles vielleicht<br />
doch nicht wissen.<br />
Den Zeitgeist einer Generation hat die in<br />
Israel hoch ausgezeichnete Autorin jedenfalls<br />
exemplarisch getroffen. Mag der Immobilien-Hype<br />
in ihrer Heimat noch krasser<br />
sein als anderswo, mögen die einzelnen<br />
soziologischen Mikrokosmen, das entsprechende<br />
Lokalkolorit spezifisch israelisch<br />
sein: Insgesamt sind Osnat und Dror doch<br />
„Leute wie wir“ oder, je nachdem, wie unsere<br />
Kinder.<br />
59 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 59 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39
WINA WERK-STÄDTE<br />
Tina Blaus „Frühling im<br />
Prater“ aus dem Jahr<br />
1882 befindet sich heute<br />
im Wiener Belvedere.<br />
Wien<br />
Auch die Wiener Bevölkerung<br />
zieht es wieder ins Ausland.<br />
Dabei hat die Stadt herrliche<br />
Naturerlebnisse zu bieten,<br />
wie die Landschaften von<br />
Tina Blau beweisen.<br />
Von Esther Graf<br />
ina Blau zählt zu den bedeutendsten<br />
österreichischen Malerinnen<br />
des 19. Jahrhunderts.<br />
1845 als Tochter des jüdischen<br />
k. k. Militärarztes Simon Blau<br />
geboren, offenbarte sich bereits<br />
in jungen Jahren ihr künstlerisches Talent,<br />
das die Eltern förderten. Ihre Ausbildung<br />
erhielt sie unter anderem von August<br />
Schaeffer von Wienwald, dem späteren Direktor<br />
des Kunsthistorischen Museums. Stilistisch<br />
zählt sie zu den Hauptvertreter:innen<br />
des Stimmungsimpressionismus, der die österreichische<br />
Freilichtmalerei von 1870 bis<br />
1900 bezeichnet. Der Begriff stammt aus der<br />
späteren Kunstgeschichtsschreibung in Abgrenzung<br />
zur heroisierenden Landschaftsmalerei<br />
des Historismus. Möglicherweise<br />
aus Karrieregründen konvertierte Tina<br />
Blau 1883 zum Protestantismus und heiratete<br />
den deutschen Pferde- und Schlachtenmaler<br />
Heinrich Lang. Das Paar zog nach<br />
München, wo Blau ab 1889 an der „Damenakademie“<br />
des Münchner Künstlerinnenvereins<br />
Landschafts- und Stilllebenmalerei<br />
unterrichtete und 1890 im Kunstverein<br />
ausstellte. Nach dem Tod ihres Mannes unternahm<br />
sie ausgedehnte Studienreisen und<br />
kehrte anschließend nach Wien zurück, wo<br />
sie unweit der Prater-Rotunde ihr Atelier einrichtete.<br />
Zusammen mit Rosa Mayreder und<br />
anderen Künstler:innen gründete sie 1897<br />
eine Kunstschule für Frauen und Mädchen<br />
in Wien und leistete damit einen wichtigen<br />
Beitrag zur Förderung von Frauen in der österreichischen<br />
Kunst. 1916 starb sie an Herzstillstand.<br />
Ihr Ehrengrab befindet sich auf<br />
dem Wiener Zentralfriedhof, Tor 3.<br />
© https://digital.belvedere.at/objects/8033/fruhling-im-prater (Commons Wikimedia); 123RF<br />
60 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
WIEN<br />
In der österreichischen Hauptstadt entstand die erste jüdische Gemeinde ab etwa 1200<br />
und bestand bis zum landesweiten Pogrom (Wiener Gesera) 1420/21. Trotz eines Ansiedlungsverbots<br />
bis 1624 und weiteren Vertreibungen etablierten sich eine aschkenasische<br />
und eine sefardische Gemeinde. Die rechtliche Gleichstellung 1867 führte zur Blütezeit<br />
des jüdischen Lebens in Wien bis zum „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Dem Großteil<br />
der über 185.000 Jüdinnen und Juden gelang die Flucht. Von den ca. 65.000 Verbliebenen<br />
überlebten nur etwa 2.000. Heute leben um die 8.000 in Wien. ikg-wien.at<br />
sommer_doppel1.indb 60 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:40
URBAN LEGENDS<br />
Wenn sich<br />
Gräben auftun<br />
Der Nahostkonflikt ist seit Langem globaler Spielball<br />
verschiedenster Interessen. Traurig ist, wenn Jugendliche, die<br />
tausende Kilometer entfernt von Israel und Gaza leben,<br />
dadurch gegeneinander aufgehetzt werden.<br />
ocial Media at their worst: Wenn Raketen Richtung<br />
Israel fliegen und Israel seinerseits militärische<br />
Ziele in Gaza bombardiert, entstehen im<br />
Nu zig Memes, die geteilt und geteilt und geteilt<br />
werden. Meine Tochter zeigte mir dieser Tage<br />
ein besonders heftiges: In Comic-Manier gezeichnet,<br />
ist darauf zu sehen, wie auf einen Israeli eine TV-Kamera<br />
gehalten wird, während über der Grenze die Leichen<br />
von Palästinensern – sehr blutig<br />
Von Alexia Weiss dargestellt, etwa mit abgetrenntem<br />
Kopf – am Boden liegen. Solche Darstellungen<br />
werden dann auch von Jugendlichen hier in<br />
Österreich weitergepostet, und der Hinweis, dass hier<br />
doch auch einmal ein Blick auf Nachrichtenportale gut<br />
wäre, wird weggewischt. Man habe schon seine verlässlichen<br />
Quellen. Und „die Medien“ würden ja nicht objektiv<br />
berichten.<br />
Nun ist es ja tatsächlich so, dass auch aus jüdischer<br />
Perspektive so manche Berichterstattung über<br />
Vorkommnisse in Israel etwas biased erscheint. Aber<br />
dennoch: Wer anerkannten Zeitungen und Fernsehstationen,<br />
die sich grundsätzlich um objektive Berichterstattung<br />
bemühen, nicht mehr glaubt, sondern sich<br />
nur mehr über Memes, die via WhatsApp und Instagram<br />
weitergereicht werden, informiert, ist am Ende eben<br />
nicht informiert und im schlechtesten Fall gebrainwasht.<br />
Ähnliches war in den vergangenen Monaten<br />
auch in Sachen Corona-Pandemie zu beobachten.<br />
In Israel selbst sorgten diesen <strong>Mai</strong> nicht nur die Raketenangriffe<br />
für Aufregung, sondern auch Ausschreitungen<br />
arabischer Israelis gegen ihre jüdischen Nachbarn.<br />
Keine Rede mehr von friedlicher Koexistenz, da<br />
wurde geplündert und niedergebrannt. Eran Singer,<br />
der sich im israelischen Fernsehen (Channel 11) und<br />
Radio (Kann Reshet Bet) seit Jahren für ein friedliches<br />
Miteinander einsetzt, beklagte nun, dass vor allem die<br />
jüngere Generation nur mehr auf Basis dessen handle,<br />
was sie auf Social Media erfahre. Und wenn dort Hass<br />
geschürt wird, führt das dann auch zu Gewalt auf der<br />
Straße.<br />
Was positiv stimmt: Sofort gab es in Israel zig Demonstrationen,<br />
bei denen Israelis – jüdisch und arabisch<br />
– gemeinsam für Frieden und vor allem für ein<br />
friedliches Miteinander auf die Straße gingen. Und<br />
dennoch bleibt: Dieses gute Miteinander wird sehr<br />
rasch sehr brüchig.<br />
Wer anerkannten Zeitungen und<br />
Fernsehstationen nicht mehr<br />
glaubt, sondern sich nur mehr über<br />
Memes informiert, ist am Ende eben<br />
nicht informiert und im schlechtesten<br />
Fall gebrainwasht.<br />
Das zeigte sich bei den Ausschreitungen in Lod in<br />
Israel. Das zeigte sich aber auch tausende Kilometer<br />
entfernt bei einer Kundgebung in Wien, bei der Hamas-Fahnen<br />
zu sehen und antisemitische Sprechchöre<br />
zu hören waren. Mit dabei auch Wiener Jugendliche,<br />
mobilisiert via WhatsApp und Instagram, die meinen,<br />
sie gehen hier für die gerechte Sache auf die Straße.<br />
Die gar nicht merken, wie sie hier instrumentalisiert<br />
werden und dass sich das eine Unrecht nicht gutmachen<br />
lässt, indem man selbst anderes Unrecht begeht.<br />
Da zerbrechen dann auch vom einen auf den anderen<br />
Tag Freundschaften, da entsteht in so manchem Klassenzimmer<br />
eine vergiftete Atmosphäre. Einfach nur<br />
zum Verzweifeln.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
61<br />
sommer_doppel1.indb 61 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:40
JUNI/JULI KALENDER<br />
KONZERT<br />
18.30 Uhr, Floridsdorfer Brücke/<br />
Schulschiff, 1210 Wien<br />
kultursommerwien.at<br />
23. JULI<br />
ALLES MIT GEFÜHL<br />
Im Rahmen des Wiener Kultursommers<br />
spielt auch Scheiny’s All Star Yiddish<br />
Revue endlich wieder öffentlich in Wien:<br />
Nuch amol mit Feeling heißt das aktuelle<br />
Programm, noch einmal mit Gefühl, und<br />
präsentiert frechen Swing, modernen<br />
Klezmer und musikalische Comedy aus<br />
dem pulsierenden Herzen des Mid-century-„Borsht<br />
Belt“. Let’s sing!<br />
UNGER BEI SEELIGER<br />
Am 20. Juni war Filmregisseurin, Drehbuchautorin,<br />
Journalistin und Moderatorin, kurz:<br />
das selbstbewusste Wiener weibliche Multimedientalent<br />
Mirjam Unger bei Chuzpe<br />
zu Gast. Unger, die Hauptabendmainstreamserien<br />
wie die Vorstadtweiber, den<br />
österreichischen „Landkrimi“ und den ZDF-<br />
Weihnachtsfilm Alle Nadeln an der Tanne<br />
ebenso zu ihrem Repertoire zählt wie unter<br />
die Haut gehende Dokumentationen, wie<br />
Armut ist kein Kinderspiel oder Die Frau an<br />
der Waffe, und vielbeachtete Kinofilme wie<br />
<strong>Mai</strong>käfer flieg!, reiht sich damit bruchlos in<br />
die hochkarätige und vielstimmige Gästeschar<br />
der von Journalistin<br />
Avia Seeliger gestalteten<br />
erfolgreichen Podcast-<br />
Reihe der IKG.Kultur ein<br />
und erzählt ihre Sicht auf<br />
jüdische Themen unserer<br />
Zeit. Heiß zum Nachhören!<br />
PODCAST<br />
https://anchor.fm/chuzpe<br />
THEATERWANDERUNG<br />
8.45 Uhr, Treffpunkt<br />
Büro Krimml Tourismus,<br />
Oberkrimml 37, 5743 Krimml<br />
teatro-caprile.at<br />
25. JUNI BIS 4. JULI <strong>2021</strong><br />
FLUCHT-SPUREN<br />
1993 gegründet, hat sich teatro caprile in den<br />
letzten Jahren auf innovative Theaterprojekte<br />
spezialisiert, die mit ungewöhnlichen szenischen<br />
Mitteln mitten hineinführen in historisch<br />
aufgeladene österreichische Landschaften.<br />
<strong>2021</strong> setzt das freie Ensemble seine erfolgreiche<br />
Reihe der „Krimmler Theaterwanderungen“<br />
mit dem Projekt Flucht über die Berge fort<br />
und begibt sich „in Memoriam Marko Feingold“<br />
auf die „Spuren des jüdischen Exodus<br />
von 1947“. Marko Feingold (1913–2019) verhalf<br />
in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs über 5.000 jüdischen Holocaust-<br />
Überlebenden, die die Schoah zwar überstanden<br />
hatten, in einem Europa der Verfolgung,<br />
Ermordung und Ausgrenzung aber nicht<br />
mehr ihre Heimat sahen, zur Flucht. Er plante<br />
die Fluchtroute über den Krimmler Tauern gemeinsam<br />
mit dem jüdischen Bergführer Viktor<br />
Knopf, von dort aus ging es für viele über<br />
Italien weiter nach Palästina und „Eretz Israel“.<br />
teatro caprile folgt einer Teilstrecke der beschwerlichen<br />
und gefährlichen Route mit einer<br />
Reihe von Szenen, die tiefe Einblicke in die<br />
politische und gesellschaftliche Situation jener<br />
Jahre liefern und die traumatische persönliche<br />
Situation Überlebender sensibel beleuchtet.<br />
Konzept, Text, Regie: Andreas Kosek; Bergcoaching:<br />
Hans Nerbl; mit: Heide Maria Hager, Andreas Kosek,<br />
Céline Nerbl, Astrid Perz, Gabi Schall, András Sosko,<br />
Ivana Stojkovic u. a.; Aufführungstermine: 25., 27.06.<br />
sowie 2., 3. u. 4.07.<strong>2021</strong>; Buchungen über teatro.caprile@aon.at<br />
MUSIKTHEATER<br />
20 Uhr<br />
Porgy & Bess,<br />
Riemergasse 11, 1010 Wien<br />
porgy.at/events/10512/<br />
28. JUNI <strong>2021</strong><br />
MAHOGONNY –<br />
THE ORIGINAL<br />
Im Pay-as-you-wish-Stream – man kann<br />
aber auch vorbeikommen und live dabei<br />
sein! – präsentiert Musiktheater<br />
Wien e.V. in der Regie von Bruno Berger-Gorski<br />
und musikalisch geleitet von<br />
Anna Sushon die 1927 uraufgeführte<br />
Kammeroper von Kurt Weill und Bertolt<br />
Brecht Mahagonny – ein Songspiel.<br />
Niemand ahnte damals, bei der<br />
ersten Zusammenarbeit von Brecht,<br />
Weill und Caspar Neher als Ausstatter,<br />
dass hier neue Musiktheatergeschichte<br />
geschrieben werden würde. Die Uraufführung<br />
wurde Triumph und Skandal<br />
zugleich – die Partitur wurde kurz<br />
darauf zurückgezogen, und Weill und<br />
Brecht begannen, aus dem Stoff gemeinsam<br />
ihre monumentale abendfüllende<br />
Oper Aufstieg und Fall der Stadt<br />
Mahagonny zu entwickeln. Mit der<br />
Aufführung des ursprünglichen Songspiels<br />
bietet diese Produktion ein seltenes<br />
historisches Zeugnis, das man sich<br />
nicht entgehen lassen sollte. Vor Ort<br />
oder zu Hause: eine Empfehlung!<br />
Mit: Ethel Merhaut, Victoria Hotjanov, Franz<br />
Gürtelschmied, Wolfgang Resch, Shlomi Wagner,<br />
Ognjen Milivojsa, Zoryana Kushpler, Gail<br />
Gilmore<br />
© MichaelaKrauss-Boneau, Adrian Leiter, IKG.Kultur, Scheiny/Presse, Porgy&Bess/Presse, INJOEST<br />
62 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 62 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:46
Von Angela Heide<br />
KOCHEN & MORE<br />
ikg-wien.at/delicious-dishes-<br />
jewish-cooking-class/<br />
JÜDISCHES<br />
„WECK & REX“<br />
Farbige Gaumenfreuden gewiss!<br />
Barbara Herscovici, Gesundheitswissenschaftlerin<br />
und Essensforscherin,<br />
(ver)führt auch in der<br />
neuen Folge der beliebten Reihe<br />
Delicious Dishes – Jewish cooking<br />
class in die Kunst des Kochens und<br />
Genießens. Dieses Mal geht es –<br />
passend zur Jahreszeit mit ihren<br />
wunderbaren frischen, fruchtigen<br />
Gemüse- und Obstsorten, von denen<br />
man sich zwar nie satt essen<br />
kann, aber dann doch merkt, dass<br />
nicht alles in den Bauch geht und<br />
etwas von den farbenfrohen Mengen<br />
aufbewahrt werden sollte für<br />
die grauen Tage, die einigermaßen<br />
prognostiziert werden können –,<br />
diesmal also geht es ums Fermentieren.<br />
Ob Obst, ob Gemüse, ob<br />
Curry, Gurken oder Paradeiser: Was<br />
diese Kunst des glasigen Haltbarmachens<br />
so alles in sich birgt, davon<br />
erzählt Barbara Herscovici nicht<br />
nur, sondern zeigt so manches Rezept,<br />
auf das wir uns alle schon einigermaßen<br />
gespannt einwecken<br />
können. Lassen wir also die Bakterien<br />
für uns arbeiten, für alles andere<br />
ist es derzeit eh zu heiß!<br />
THEATER (7+)<br />
Innenhof des Volkskundemuseums,<br />
Gartenpalais Schönborn,<br />
Laudongasse 15–19, 1080 Wien<br />
volkskundemuseum.at<br />
23. JUNI BIS 18. JULI <strong>2021</strong><br />
MÄRCHENHAFTE STADT-<br />
MUSIKANTEN IN WIEN<br />
Mit ihren poetischen, immer auch gesellschaftlich<br />
brisante Themen aufgreifenden Freilufttheaterproduktionen<br />
für alle haben sich Zenith Productions<br />
für Theater und Musik in den letzten<br />
Jahren einen veritablen Namen gemacht und<br />
sind aus dem Wiener Sommer eigentlich nicht<br />
mehr wegzudenken. <strong>2021</strong> widmen sie sich einem<br />
der bekanntesten und schönsten Märchen aus<br />
der Sammlung der Brüder Grimm, den Bremer<br />
Stadtmusikanten. Selbstbewusst verlegt Autor<br />
und Regisseur Kari Rakkola das Märchen nach<br />
Wien und lässt die vier von der Ermordung bedrohten<br />
alten Tiere, einen Esel, einen Hund, eine<br />
Katze und einen Hahn, in die heiße Donaustadt<br />
ziehen, um hier eine Band zu gründen und ihren<br />
Lebensunterhalt endlich selbstbestimmt zu verdienen.<br />
Es ist ein Märchen, das über Hoffnung<br />
und Mut erzählt, darüber, dass man stärker wird,<br />
wenn man sich „zusammentut“, und darüber,<br />
dass man in jedem Alter die Chance bekommen<br />
soll, neu anzufangen und Freund*innen zu finden.<br />
Entstanden ist eine fantasievolle, liebevolle,<br />
lebensbejahende Inszenierung von und für alle<br />
Generationen mit viel Musik, die neben aller Tiefe<br />
auch mit viel Humor die Geschichte in den barocken<br />
Innenhof des wunderbaren Gartenpalais<br />
Schönborn zaubert.<br />
15 Vorstellungen von 23. Juni bis 18. Juli; freiwillige<br />
Spende (die Hälfte geht an UNICEF); Reservierungen<br />
über +43/(0)677/614 05 081<br />
facebook.com/zenithproductionsvienna<br />
TAGUNG<br />
Volkskundemuseum,<br />
Laudongasse 15–19, 1080 Wien<br />
volkskundemuseum.at<br />
7. BIS 9. JULI <strong>2021</strong><br />
30. INTERNATIONALE<br />
SOMMERAKADEMIE<br />
Unter dem Titel Antisemitismus als Code.<br />
Forschung – Prävention – Intervention findet<br />
von 7. bis 9. Juli im Wiener Volkskundemuseum<br />
die 30. Internationale Sommerakademie<br />
des Instituts für jüdische Geschichte<br />
Österreichs statt. Diskutiert werden judenfeindliche<br />
Codes und Stereotype, die im kollektiven<br />
Gedächtnis fest verankert sind und<br />
in den letzten Jahren aus unterschiedlichen<br />
Gründen verstärkt wieder auftauchen. Diese<br />
„unbewusste Wiedererkennung“ erzeugt<br />
„Vertrautheit und damit eine Bereitwilligkeit<br />
zur Rezeption bis hin zur Anerkennung der<br />
Faktizität“. Wie kann man, ist eine der Frage<br />
der hochkarätig besetzten Tagung, diesem<br />
Phänomen wissenschaftlich begegnen, wie<br />
aber auch Programme für unterschiedliche<br />
Gruppen entwickeln, um sich damit auch<br />
im Alltag, in Bildung, Zusammenleben und<br />
Kommunikation auseinanderzusetzen? Die<br />
Vortragenden der diesjährigen Sommerakademie<br />
sind Expert*innen zu Themen wie<br />
Judenhass und Antisemitismus vom Mittelalter<br />
bis in unsere Gegenwart wie auch<br />
Expert*innen, wenn es darum geht, „Maßnahmen<br />
zur Prävention und Intervention bei<br />
antisemitischen Haltungen und Handlungen“<br />
zu entwickeln und zu implementieren.<br />
Fragen & Anmeldungen unter office@injoest.ac.at<br />
injoest.ac.at/de/aktuelles<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
63<br />
sommer_doppel1.indb 63 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:47
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich reisen wollte, aber doch nicht<br />
durfte, war wenige Wochen nach der Geburt<br />
meines Kindes. Es ist ein Baby für<br />
Fortgeschrittene – ich bin Anfängerin.<br />
Diese Lautstärke bei gleichzeitig fehlendem<br />
Schlaf hat mich trotz der Freude hart<br />
erwischt. Da kam der Satz aus mir: „Wie<br />
schön wäre es, einfach für ein Wochenende<br />
auf Erholung zu fahren.“ Ich meinte<br />
natürlich ohne Baby.<br />
Das letzte Mal, dass ich mich gerne mit<br />
einem Wochenendurlaub belohnt hätte,<br />
ist eigentlich jetzt. Jetzt bin ich an einem<br />
Punkt, an dem ich uns gern dafür belohnen<br />
würde, wie gut wir mittlerweile mit den<br />
Grenzerfahrungen des Elternseins umgehen.<br />
Unser Baby dürfte jetzt sogar mit.<br />
Das letzte Mal, dass ich von einer Reise<br />
am liebsten nicht wieder zurückgekommen<br />
wäre, war – wenn ich etwas antworten<br />
muss – Pula in Kroatien. Eigentlich freue<br />
ich mich nämlich immer aufs Zurückkommen<br />
zu unseren Katzen. Aber dieser Urlaub<br />
war der perfekte Sommer: ein Mobile<br />
Home direkt am Meer. Der Morgenkaffee im<br />
Schlafgewand am Strand. Eine Wespe beobachten,<br />
wie sie sich Stück für Stück vom<br />
Schinken schneidet. Eine Reisegemeinschaft,<br />
die ich ins Herz geschlossen habe.<br />
Das letzte Mal, dass ich etwas unfrisiert<br />
gemacht habe, war heute: ein Spaziergang<br />
im Prater mit dem Haarknoten von vorm<br />
Schlafengehen am Vorabend. Für die Lesebühne<br />
bin ich dann doch zu eitel für keine<br />
Frisur, aber privat bin ich für eine Frisur, die<br />
sitzt, oft zu faul.<br />
Das letzte Mal, dass ich auf einer Veranstaltung<br />
mit perfekt frisierten Menschen<br />
war, war vielleicht bei meiner Sponsion.<br />
Außerdem war ich die einzige Frau mit<br />
Hose. Das hat mich doch etwas schockiert.<br />
Das war viel auffälliger als jegliche Haartracht.<br />
VOM WEGFAHREN<br />
UND WESPEN<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem Monat<br />
berichtet Autorin Nadine Kegele aus der Baby-Nachtschicht von<br />
einem Urlaub, der niemals hätte zu Ende gehen müssen.<br />
Die Vorarlbergerin Nadine Kegele, 40, debütierte 2013 mit dem Buch Annalieder,<br />
im selben Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen und gewann<br />
dort den Publikumspreis. 2017 erschien ihre Protokollsammlung Lieben muss man<br />
unfrisiert über das Selbstverständnis von Frauen. Im Text für das Theaterstück Bin<br />
noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse beschäftigte sie sich mit Therese Zauser,<br />
geboren 1910, die als 19-Jährige Feldkirch verließ und als Artistin arbeitete. In<br />
Nordafrika und den Mittelmeerländern trat sie als Sängerin und Tänzerin (oder,<br />
wie sie es nannte, „danseuse et chanteuse fantaisiste“) auf. Nach einem Auftritt in<br />
Deutschland wurde Zauser wegen feindlicher Äußerungen gegenüber dem Naziregime<br />
denunziert, verhaftet und im Oktober 1941 in das KZ Ravensbrück transportiert.<br />
Dort verliert sich ihre Spur. Die Sterbeurkunde des KZ Ravensbrück ist auf<br />
den 11. Februar 1942 datiert.<br />
Bin noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse:<br />
30.6., 20 Uhr, Theater Hamakom,<br />
hamakom.at<br />
© www.detailsinn.at<br />
64 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 64 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:48