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Wina Mai 2021

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WINA KOMMENTAR<br />

Wien – Tel Aviv<br />

Als israelischer Österreicher – oder mittlerweile österreichischer Israeli in<br />

Tel Aviv – freue ich mich, dass ich zu zwei Mannschaften halten kann, mit<br />

denen ich Vertrautes assoziiere.<br />

Ich bin in Wien aufgewachsen und fühle mich in<br />

der Stadt daheim. Ich höre gerne Falco und STS,<br />

gehe Schifahren und noch lieber ins Apres-Ski,<br />

würde einen „Spritzer“ niemals „Schorle“ nennen,<br />

kenne The Sound of Music nur aus Erzählungen,<br />

und ja, das Wort Oida macht in jedem Zusammenhang<br />

Sinn.<br />

Von Itamar Gross Genau so bin ich auch meiner<br />

israelischen Seite sehr verbunden.<br />

Meine halbe Familie ist israelisch, ich wohne<br />

seit knapp zwei Jahren in Tel Aviv, stelle die Klimaanlage<br />

grundsätzlich auf -4 Grad ein, meine Pita reißt traditionell<br />

aufgrund einer Überdosis Tchina, und Prozesse, die<br />

meines Erachtens zu langsam fortschreiten, werden mit<br />

einem ungeduldigen „nu“ kommentiert.<br />

Ich bin sehr gerne israelischer Österreicher (oder<br />

mittlerweile in Tel Aviv österreichischer Israeli?) und erlebe<br />

Endrunden von Fußball-Welt- und Europameisterschaften<br />

mit einem Hauch von Ernüchterung. In dieser<br />

Zeit sind nämlich die Straßen mit Personen überfüllt,<br />

die in ihren Landesfarben geschminkt Spiele verfolgen.<br />

Bunte Fahnen wehen durch die Mengen, und jeder kleiner<br />

Pfiff des Schiris provoziert einen Aufschrei der Fans.<br />

Währenddessen musste ich in den letzten 20 Jahre zur<br />

Kenntnis nehmen, dass weder Israel noch Österreich<br />

sich in den meisten Fällen qualifiziert.<br />

Auch heuer hat sich Israel nicht qualifiziert, dafür erfreulicherweise<br />

Österreich. Mein erstes EM-Highlight<br />

hatte ich allerdings bereits in der Qualifikationsrunde,<br />

als nämlich im Ernst-Happel-Stadion Israel auf Österreich<br />

traf. Der Moment, als die israelische Hymne in<br />

Wien zu hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />

sehr gut für mich zusammengefasst. Es war<br />

ein schöner Moment des Innehaltens, für den ich sehr<br />

dankbar bin. Back to reality war ich abermals mit der<br />

Frage konfrontiert, ob ich beim Match eher zu Österreich<br />

oder Israel halte.<br />

Sobald diese Frage im Raum steht, erinnere ich mich<br />

unweigerlich an den Moment zurück, als Andi Herzog<br />

2002 ein Tor in der 92. Minute gegen Israel erzielte. Dadurch<br />

hat es Österreich auf dem letzten Drücker in die<br />

Der Moment, als die israelische<br />

Hymne im Ernst-Happel-Stadion zu<br />

hören war, hat mein duales Zugehörigkeitsverständnis<br />

sehr gut für<br />

mich zusammengefasst!<br />

Play-offs geschafft, Israel flog aus dem Turiner. Ich war<br />

damals zehn und furchtbar enttäuscht, habe ich mir<br />

doch damals das Weiterkommen Israels sehr erhofft.<br />

Bei diesem Spiel war es anders. Da rechnerisch gesehen<br />

Österreich größere Chancen hatte, bei einem Sieg<br />

an der Endrunde teilzunehmen, habe ich mich über<br />

deren Sieg gefreut. Ist das opportunistisch? Möglicherweise.<br />

Jedoch ist es auch schön, wenn man zu zwei<br />

Mannschaften halten kann, mit denen man Vertrautes<br />

assoziiert. Und wenn man nach dem Motto „Besser mit<br />

einer Mannschaft bei der EM dabei als mit keiner“ gehen<br />

möchte, dann darf man auch ein Auge zudrücken.<br />

Wenn ich mich also der eigentlichen Beantwortung<br />

des Ausgangsfrage widmen will, kann ich alles in allem<br />

sagen, dass ich sehr froh bin, mich gleichermaßen am<br />

Strand von Tel Aviv und in einem Wiener Kaffeehaus mit<br />

Melange und Kipferl zu Hause zu fühlen.<br />

Wohlgefühl<br />

mit Melange und Kipferl ebenso wie<br />

mit einer Pita, die gern mal aufgrund<br />

einer Überdosis Tchina reißt.<br />

© 123RF<br />

10 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

sommer_doppel1.indb 10 29.06.<strong>2021</strong> 10:04:53

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