Wina Mai 2021
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Persönliche Antworten<br />
Wien. Insgesamt hatte<br />
der Urgroßvater sieben<br />
Geschwister, sie alle waren<br />
in einem kleinen Ort<br />
in der jetzigen Tschechischen<br />
Republik zur Welt<br />
gekommen. Die Familie<br />
sei zwar jüdisch, aber<br />
schon damals – in der<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht mehr<br />
besonders observant gewesen, mutmaßt<br />
Axel Magnus. „Die Mädchen hatten noch<br />
jüdische Vornamen, die aber alle, als sie<br />
nach Wien kamen, eingedeutscht wurden,<br />
da wurde etwa aus Miriam Maria.<br />
Die Brüder bekamen aber schon bei der<br />
Geburt deutsche Vornamen.“ Das Originalarchiv<br />
aus der Gegend sei zwar<br />
abgebrannt, doch einige der Familienmitglieder<br />
konnte Magnus in den Matrikenbüchern<br />
der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
Wien finden.<br />
Noch sind die Recherchen zu seinen<br />
Vorfahren nicht ganz abgeschlossen. Aber<br />
Magnus kann nun schon ein ganz gutes<br />
Bild der Lebensumstände seines Urgroßvaters<br />
zeichnen. Doch auch beruflich<br />
führten ihn Recherchen zu einem ähnlichen<br />
Thema: Suchterkrankungen wurer<br />
doch noch zum Volkssturm stoßen – er<br />
zog es jedoch vor, aus Wien in Richtung<br />
Salzburg zu entschwinden.<br />
Trugschluss. Die Großmutter konnte die<br />
NS-Zeit übrigens relativ unbehelligt<br />
überstehen, da ihr Vater und ihre Mutter<br />
nicht verheiratet gewesen waren. Die<br />
Mutter war ebenfalls nichtjüdisch gewesen,<br />
der Vater zwar jüdisch – „doch meine<br />
Großmutter dürfte als Christin gegolten<br />
haben“. Der Urgroßvater wiederum fühlte<br />
sich sicher, da er – er hatte eine Zeitlang in<br />
den USA gelebt und war dort auch verheiratet<br />
gewesen – US-Staatsbürger gewesen<br />
sei, erzählt Magnus. Das sollte sich leider<br />
als Trugschluss herausstellen.<br />
Ab den 1910er-Jahren lebte Hugo Quittner<br />
wieder fix in Wien und war hier Kinodirektor.<br />
Bei seinen Recherchen fand<br />
der Urenkel heraus, dass er bei Stummfilmen<br />
teils selbst am Klavier begleitete<br />
und dass er immer wieder aneckte: einerseits,<br />
weil er sich nicht immer an arbeitsrechtliche<br />
Bestimmungen gehalten zu haben<br />
schien. Andererseits, weil er auch in<br />
Zeiten, in denen das nicht mehr so ungefährlich<br />
war, linke pädagogische Filme<br />
etwa in Form von Sondervorführungen<br />
für die Kinderfreunde zeigte. Die Pension<br />
trat der Urgroßvater schon relativ<br />
früh an, wie Magnus in Erfahrung bringen<br />
konnte. „Es dürfte sich dabei um etwas<br />
wie eine Invaliditätspension gehandelt<br />
haben.“ Als Quittner schließlich zum<br />
Aspangbahnhof verschleppt und von dort<br />
ins Baltikum deportiert wurde, war er 66<br />
Jahre alt.<br />
Darüber, wie er schließlich zu Tod kam,<br />
gibt es kein explizites Dokument. Magnus<br />
hat aber seine letzte reguläre Meldeadresse<br />
in einem Haus in der Brigittenau gefunden,<br />
dann auch noch die Meldung in<br />
einer Sammelwohnung nahe dem Augarten<br />
und auch einen Eintrag über das Datum<br />
der Deportation. Im Findbuch der<br />
ins Baltikum Deportierten fand er einerseits<br />
einen Personeneintrag zum Urgroßvater<br />
und andererseits einen längeren<br />
Text über Erschießungen in diesem<br />
Zeitraum. „Aus der Kombination der Daten<br />
war mir klar, dass er erschossen worden<br />
ist.“ Zwei der Brüder des Urgroßvaters<br />
seien in einem Konzentrationslager gestorben<br />
– einer in Auschwitz, einer in Theresienstadt.<br />
Ein weiterer Bruder dürfte in<br />
Schweden überlebt haben, zwei Schwestern<br />
konnten sich nach England retten,<br />
eine war wahrscheinlich schon vor dem<br />
Krieg verstorben, die vierte überlebte in<br />
Urgroßvater<br />
Hugo Quittner<br />
war Kinodirektor,<br />
der Stummfilme<br />
oft selbst am Klavier<br />
begleitete.<br />
…, dass er sich<br />
als Kind keinen<br />
Reim darauf<br />
machen konnte,<br />
warum jemand<br />
einfach so abgeholt<br />
werden und<br />
verschwinden<br />
konnte.<br />
den in der Geschichte teils als körperliche<br />
Erkrankung wie Diabetes gesehen,<br />
später wurden individualpsychologische<br />
und dann gesellschaftliche Faktoren<br />
als Ursache vermutet. Er habe sich<br />
hier eingehender mit Aaron Antonovsky<br />
und dessen Modell der Salutogenese auseinandergesetzt,<br />
das sich mit Risiken und<br />
Schutzfaktoren beschäftigt und diese Erkenntnisse<br />
für die Suchthilfe adaptiert.<br />
Für den einen könne zum Beispiel die gut<br />
funktionierende Familie ein Schutzfaktor<br />
sein, für den anderen eine schlecht funktionierende<br />
Familie ein Risiko darstellen.<br />
Es gehe also immer um das Individuum,<br />
und man müsse sich jeden Fall daher auch<br />
individuell ansehen, erzählt Magnus.<br />
Warum gerade ihm hier Antonovsky,<br />
der das Modell der Salutogenese unter<br />
anderem bei Forschungen zum Gesundheitszustand<br />
ehemaliger weiblicher KZ-<br />
Überlebender 1970 entwickelte, untergekommen<br />
sei, hält Magnus für keinen<br />
Zufall. Und ebenso wenig,<br />
dass er sich von<br />
klein an für Gerechtigkeit<br />
und als Erwachsener<br />
eben als Betriebsrat und<br />
gewerkschaftlich engagiere.<br />
„Das waren keine<br />
bewussten Entscheidungen,<br />
aber ich denke,<br />
dass das Unterbewusstsein<br />
da eine große Rolle<br />
gespielt hat.“ Fein findet<br />
Magnus, der früh Vater<br />
geworden ist – die Beziehung<br />
zur Mutter hielt<br />
aber nur kurz –, dass er<br />
schon seit vielen Jahren<br />
eine sehr gute Beziehung zu seinem inzwischen<br />
35-jährigen Sohn hat. „Bei uns<br />
gibt es zwar keine regelmäßigen Sonntagstreffen,<br />
da sind wir beide nicht der<br />
Typ dafür, aber wenn wir uns treffen, verbringen<br />
wir eine gute Zeit miteinander.“<br />
Der Sohn wisse von der Geschichte des<br />
Ururgroßvaters, da er aber nicht mit diesen<br />
ständigen Erzählungen der – in seinem<br />
Fall – Urgroßmutter aufwuchs, gehe<br />
ihm das Thema wohl nicht so nahe. „Aber<br />
auch er tut sich manchmal schwer, Gefühle<br />
zu verarbeiten. Rauskotzen statt<br />
runterschlucken wäre besser.“ Das gelte<br />
für ihn ebenso, sagt Magnus. Aber er habe<br />
dank Psychotherapie hier inzwischen einen<br />
besseren Umgang erlernt. Und er<br />
weiß: Familie beeinflusst jeden. Auch jene<br />
Familienmitglieder, die man nie kennenlernen<br />
durfte.<br />
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sommer_doppel1.indb 27 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:35