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Wina Mai 2021

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HIGHLIGHTS | 02<br />

„Lecha Dodi“ in Klagenfurt<br />

Mit einem ausgesprochen jüdischen Text überzeugte die 1996 in Berlin<br />

geborene Dana Vowinckel beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb<br />

und löste damit nebenbei auch eine höchst interessante Jurydiskussion<br />

aus. Als jüngste Teilnehmerin wurde sie schließlich mit dem Deutschland-Funk-Preis<br />

ausgezeichnet, dem zweiten nach dem Sieger-Preis, den<br />

die aus dem Iran stammende Autorin Nava Ebrahimi nach Graz trug.<br />

Lecha Dodi likrat kalah“ tönte es Pandemie-bedingt<br />

über Videozuspielung<br />

in die Klagenfurter Lesearena. Es<br />

war nicht das einzige jüdische Gebetszitat,<br />

mit dem Dana Vowinckel in ihrem<br />

Text mit dem rätselhaften Titel<br />

Gewässer im Ziplock überraschte. „Jedid<br />

Nefesch“, Geliebter der Seele, und<br />

andere Teile aus der Schabbat-Liturgie<br />

breitete die junge Berlinerin ganz<br />

selbstverständlich und ohne weitere<br />

Erklärungen aus.<br />

Erzählt wird von drei Generationen<br />

einer zerrissenen jüdischen Familie<br />

in Berlin, Chicago und Jerusalem. Als<br />

Kantor betet der aus Jerusalem stammende<br />

Vater in einer Berliner Synagoge<br />

vor, innig gläubig, voller Emphase<br />

und gleichsam im Dialog mit G-tt als<br />

„Partner seiner Stimme“. Die heranwachsende<br />

Tochter Margarita verbringt<br />

derweil die Ferien bei den Großeltern<br />

in Chicago, wo sie sich maßlos<br />

langweilt. Für die abwesende Mutter<br />

hegt sie nur Hassgefühle, während<br />

sie zum alleinerziehenden Vater eine<br />

starke, liebevolle Beziehung hat.<br />

Der collagierte Text, offenbar Teil eines<br />

Romans, wechselt souverän zwischen<br />

den beiden diametralen Perspektiven<br />

von Vater und Tochter. Da<br />

das Gefühlsleben des seltsam einsamen<br />

Kantors, der seine Gemeinde<br />

eher auf Distanz hält und ganz in seinen<br />

Gebeten aufgeht, dort das offenbar<br />

pubertierende Mädchen im ersten<br />

Liebeskummer.<br />

„Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin,<br />

oder?“, hatte sie der Jüngling,<br />

auf dessen Nachrichten sie vergeblich<br />

wartet, gefragt, als sie ihm Hebräisch<br />

als „coole“ Geheimsprache der Familie<br />

verkaufen wollte.<br />

„Grandios gelungen“, „tolle Anlagen“<br />

wurde nahezu einhellig gelobt.<br />

Juryvorsitzende Insa Wilke sah in der<br />

jungen Autorin eine Vertreterin einer<br />

„neuen Generation“, die von parallelen<br />

Welten erzählt, die ohne Assimilationszwang<br />

nebeneinander existieren<br />

könnten. Mara Delius, die Dana Vowinckel<br />

zum Bewerb eingeladen hatte, entdeckte<br />

in diesem „besonderen Text“<br />

eine neue Variation des alten „Topos<br />

der gepackten Koffer“ und insofern<br />

auch eine Diaspora-Familiengeschichte.<br />

Juror Klaus Kastberger hingegen konstatierte<br />

beim Thema des orthodox jüdischen<br />

Lebens einen „Emerging Market“,<br />

den auch Fernsehserien wie Shtisel<br />

oder Unorthodox bedienten. Das Interesse<br />

am orthodoxen Judentum sei ein<br />

„neues Faszinosum“, gespeist aus der<br />

Suche nach alternativen Lebenswelten,<br />

und als mediale Zeiterscheinung eine<br />

„Art von Mode“. Fraglich sei für ihn, wie<br />

sehr die Autorin dieser Mode anhänge.<br />

Orthodoxie sei ja auch „ein Kerkersystem“,<br />

und in dem vorgetragenen Text<br />

vermisste Kastberger den Widerstand<br />

dagegen.<br />

„Religion ist nicht immer<br />

Obsession, Glaube nicht immer<br />

Orthodoxie.“ Dana Vowinckel<br />

Nur in diesem einen Aspekt fühlte<br />

sich die ansonsten überglückliche Preisträgerin<br />

missverstanden. „Religion ist<br />

nicht immer Obsession, Glaube nicht<br />

immer Orthodoxie“, erwiderte sie auf<br />

Twitter. Auf ihren Roman darf man<br />

gespannt sein. A.P.<br />

Dana Vowinckel<br />

erzählt den Topos<br />

der gepackten<br />

Koffer aus neuem<br />

Blickwinkel.<br />

© für Bachmann-Preis live im ZDF und ORF/LST Kärnten/Catharina Tews<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

sommer_doppel1.indb 19 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08

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