Wina Mai 2021
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Kein Kampf gegen Windmühlen<br />
einen wichtigen Schritt gemacht und<br />
erst kürzlich neue Materialien herausgebracht,<br />
die die Vielfalt jüdischen Lebens<br />
in Österreich vermitteln. Hier geht<br />
es um Biografien und Alltagsgeschichten<br />
von Menschen, die vor 1938 in Österreich<br />
gelebt haben. An diesen sieht man:<br />
Die Schoah ist nur ein Aspekt, es gibt viele<br />
weitere Facetten jüdischen Lebens in Geschichte<br />
und Gegenwart.<br />
Frustriert es jemanden wie Sie, der sich Tag für<br />
Tag mit dem Thema auseinandersetzt, dass der<br />
Kampf gegen Antisemitismus manches Mal wie<br />
ein Kampf gegen Windmühlen erscheint?<br />
I Mich frustriert manchmal die fehlende Einsicht, dass<br />
wir es beim Antisemitismus mit einem konkreten, aktuellen<br />
Problem zu tun haben. Auf der einen Seite gibt<br />
es ein politisches und gesellschaftliches Bekenntnis<br />
zum „Niemals wieder“, auf der anderen Seite sind es<br />
mitunter dieselben Stimmen, die meinen, Antisemitismus<br />
gäbe es doch eigentlich seit 1945 nicht mehr.<br />
Spätestens nach dem Anschlag auf die Synagoge in<br />
Halle oder dem Angriff auf den Präsidenten der Jüdischen<br />
Gemeinde Graz hätten doch alle verstanden<br />
haben müssen, dass es sich um kein abstraktes,<br />
sondern um ein sehr konkretes Problem handelt, so<br />
wie Rassismus und Homophobie konkrete Probleme<br />
sind, unter denen Menschen jeden Tag zu leiden haben.<br />
Da hoffe ich, mit der Arbeit bei _einnern.at_ etwas<br />
bewirken zu können.<br />
Gibt es auf der anderen Seite aber auch Projekte, Erfahrungen,<br />
Strategien, von denen Sie sagen können: Ja, das wirkt,<br />
ja, da gibt es Erfolgserlebnisse?<br />
I Unsere erfolgreichsten Programme im Anne Frank<br />
Zentrum waren die, bei denen es gelungen ist, Jugendliche<br />
aktiv als Mitgestalterinnen von Bildungsarbeit<br />
oder in der Umsetzung von zivilgesellschaftlichen<br />
Projekten einzubeziehen. Da geht es um<br />
Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, dass ich mit meinem<br />
Tun etwas bewirken kann. Jugendliche müssen<br />
selbst erfahren, dass es einen Unterschied macht,<br />
sich gesellschaftlich zu engagieren. Beim Anne-<br />
Frank-Botschafterprogramm setzen Jugendliche<br />
zum Beispiel Projekte in ihrer unmittelbaren Umgebung<br />
um – etwa im Sportverein. Da haben wir ermutigende<br />
Rückmeldungen, was für eine prägende<br />
Erfahrung das für diese Jugendlichen war, wie das<br />
ihren Blick auf Geschichte, auf Gesellschaft und ihr<br />
eigenes Tun verändert hat.<br />
Bisher hat _erinnern.at_ als Verein des Bildungsministeriums<br />
gearbeitet, mit Anfang 2022 wird sie Teil der OeAD GmbH,<br />
einer Agentur der Republik Österreich, die im Bereich Bildung,<br />
Wissenschaft, Forschung und Kultur vernetzt. Möchten<br />
Sie _erinnern.at_ im Zug dieses Prozesses auch inhaltlich<br />
eine neue Ausrichtung geben?<br />
I In erster Linie geht es darum, die sehr gute Arbeit<br />
von _erinnern.at_ in dieser hohen Qualität fortzuset-<br />
„Antisemitismus<br />
muss<br />
als solcher<br />
benannt und<br />
besprochen<br />
werden. (…)<br />
Antisemitismus<br />
ist viel zu<br />
lange als abstraktes<br />
Phänomen<br />
begriffen<br />
worden.“<br />
Patrick Siegele<br />
zen und den Transferprozess in den<br />
OeAD zu gestalten. Ich sehe da große<br />
Chancen, weil der OeAd eine Agentur<br />
für Bildung und Internationalisierung<br />
ist. _erinnern.at_ ist diesbezüglich<br />
schon sehr gut aufgestellt,<br />
etwa durch die Partnerschaft mit Yad<br />
Vashem, aber auch als Mitglied der<br />
International Holocaust Remembrance<br />
Alliance (IHRA). Ansonsten<br />
bin ich jemand, der zuerst zuhören<br />
möchte und sich genau anschaut,<br />
was es schon an bewährten Strukturen<br />
und Formaten gibt und wie ausgehend<br />
davon die gute Arbeit fortgesetzt<br />
und weiterentwickelt werden kann. Spannend<br />
fände ich, die Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa<br />
zu verstärken. Was ich an _erinnern.at_ toll finde,<br />
sind das Netzwerk und die Arbeit in den Bundesländern,<br />
abseits der großen Städte. Das ist wichtig, um<br />
viele Schulen und viele Jugendliche zu erreichen.<br />
Stichwort Partnerschaften: Da gibt es Nachbarländer wie<br />
Ungarn, wo Antisemitismus auch auf politischer Ebene eine<br />
Rolle spielt. Was können Sie sich da konkret an Zusammenarbeit<br />
vorstellen?<br />
I Die große Politik ist nicht unsere Aufgabe als _erinnern.at_.<br />
Was wir machen können, ist über Partnerschaften<br />
diejenigen zu unterstützen, die sich in<br />
diesen Ländern für Demokratie und gegen Antisemitismus<br />
und Rassismus einsetzen wollen. Wir beobachten,<br />
dass die Rahmenbedingungen für Bildungsangebote<br />
aufgrund fehlender Ressourcen oder<br />
eines fehlenden politischen Willens nicht dieselben<br />
sind wie in Österreich und Deutschland. Da finde ich<br />
es wichtig, sich mit Organisationen, die sich kritisch<br />
mit Antisemitismus und Rassismus in ihren Ländern<br />
beschäftigen, zu solidarisieren. Mit internationalen<br />
Kooperationen lässt sich hier viel bewegen.<br />
_erinnern.at_ soll ein Mosaikstein der Bemühungen der Regierung<br />
im Kampf gegen Antisemitismus sein. Wie beurteilen<br />
Sie die nationale Strategie gegen Antisemitismus? Und<br />
was kann _erinnern.at_ aus Ihrer Sicht hier leisten?<br />
I Ich finde die Strategie in ihrem gesamtgesellschaftlichen<br />
Anspruch gut und wichtig. Sie erkennt an, dass<br />
der Kampf gegen Antisemitismus in Österreich nur<br />
gelingen kann, wenn sich viele staatliche und zivilgesellschaftliche<br />
Instanzen dieser Aufgabe annehmen.<br />
Wichtig finde ich dabei auch die Kooperation mit der<br />
IKG. _erinnern.at_ wird in dem Papier an mehreren<br />
Stellen genannt und leistet vor allem im Bildungsbereich<br />
einen wichtigen Beitrag. Klar ist aber auch: Es<br />
geht um die konkrete Umsetzung der Strategie. Wie<br />
viele Ressourcen werden zur Verfügung gestellt und<br />
wie groß ist die Bereitschaft, auch wirklich systematisch<br />
und strukturell etwas zu verändern, etwa in der<br />
Ausbildung von Lehrkräften? Wir können also gespannt<br />
sein, wie viel die Regierung bereit sein wird,<br />
konkret in diese Arbeit zu investieren.<br />
PATRICK SIEGELE,<br />
geb. 1974 in Zams/Österreich,<br />
Studium der Musikwissenschaft<br />
und Deutschen Philologie an der<br />
Universität Innsbruck sowie der<br />
University of Bristol, später zudem<br />
Studiengang für Museumsmanagement<br />
an der Freien Universität<br />
Berlin. Seit 2001 im Anne Frank<br />
Zentrum in Berlin beschäftigt,<br />
zunächst als Bildungsreferent und<br />
Leiter der Abteilung „Ausstellung<br />
Berlin“, ab 2011 stellvertretender<br />
Direktor, ab 2014 Direktor des<br />
Anne Frank Zentrums. Nun<br />
übernimmt Siegele die Leitung<br />
von _erinnern.at_. In seiner Freizeit<br />
macht er gerne Sport und freut<br />
sich, in Österreich wieder mehr<br />
in den Bergen schifahren und<br />
wandern zu können.<br />
wına-magazin.at<br />
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sommer_doppel1.indb 17 29.06.<strong>2021</strong> 10:05:08