Wina Mai 2021
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Nicht Ihresgleichen<br />
Stresstest für Bobos<br />
„Es kann der Frömmste nicht in Friede leben, wenn es dem bösen<br />
Nachbar nicht gefällt.“ Wie ein Beweis für dieses Schiller-<br />
Zitat liest sich der Gesellschaftsroman Leute wie wir, in dem die<br />
israelische Autorin Noa Yedlin klug, witzig und ein bisschen<br />
boshaft ihre Generation der Forty-Somethings porträtiert.<br />
Von Anita Pollak<br />
Jetzt ist das Viertel zwar noch ein bisschen<br />
abgesandelt, seine Bewohner<br />
vielleicht nicht gerade Leute, mit denen<br />
man unbedingt Freundschaft schließen<br />
möchte, aber das sind doch hässliche<br />
Vorurteile, und in spätestens zehn Jahren<br />
wird das hier ein angesagtes Trendviertel<br />
sein, in dem man sich keine Wohnung wird<br />
leisten können, geschweige denn ein Haus.<br />
So denken Osnat und ihr Mann Dror, als sie<br />
mit beiden Töchtern in ihr stylish renoviertes<br />
Haus im Viertel Drei-Fünf im Süden Tel<br />
Avivs einziehen, ein urbanes, akademisch<br />
gebildetes Bobo-Paar Anfang vierzig, wie<br />
es überall in der westlichen Welt zu Hause<br />
sein könnte.<br />
Sie arbeitet in einem mächtigen Lebensmittelkonzern,<br />
er hat seine IT-Stelle gekündigt,<br />
um daheim seine Start-up-Idee zu<br />
entwickeln, ein Programm, das<br />
„pornografische Komponenten“<br />
im Internet identifiziert<br />
und gleichzeitig Eltern warnt,<br />
sobald ihre Kinder auf einschlägigen<br />
Seiten landen. Also sammelt<br />
er ganztags pornografische<br />
„Muster“ zum guten Zweck und<br />
bekocht als Hausmann nebenbei die Töchter.<br />
Möglichst gesund, wünscht sich Osnat,<br />
denn die elfjährige Hamutal ist bereits fast<br />
zu dick. Was kein Problem sein sollte, aber<br />
trotzdem. Kein Problem sollte auch Hamutals<br />
neue Freundin sein, deren Eltern<br />
Kampfhunde halten und züchten. Sogar<br />
der unmittelbare Nachbar, der alte Israel,<br />
der gefühlt 24/7 unbeweglich im Garten<br />
sitzt, alles sieht und seinen gewohnten<br />
Parkplatz notfalls militant verteidigt, sollte<br />
kein Problem sein. Doch es kann eben der<br />
Frömmste nicht in Frieden leben ... Wer hat<br />
den naiven Neuen den Briefkasten eingeschlagen,<br />
wer bei ihnen eingebrochen und<br />
auf dem blanken Badezimmerboden einen<br />
Scheißhaufen hinterlassen, und was wollte<br />
der Einbrecher damit sagen?<br />
Ressentiments. Recht bald dämmert den<br />
Eheleuten, dass ihre Nachbarn jedenfalls<br />
nicht „Ihresgleichen“ sind, obwohl<br />
sie sich für diese Gedanken politisch korrekt<br />
schämen. „Menschen tun sich nun<br />
mal mit Menschen zusammen, die ihnen<br />
ähnlich sind, was die Wertvorstellungen<br />
angeht, Kultur, Lebensstil, das ist<br />
auf der ganzen Welt so, das erscheint mir<br />
jetzt nicht unbedingt … irgendwie sensationell<br />
neu“, meint Dror, der von Anfang<br />
an lieber nach Rechovot gezogen wäre, in<br />
die Nähe des Weizmann-Instituts, wo die<br />
geistigen Eliten des Landes wohnen, sich<br />
untereinander paaren und ihre dementsprechend<br />
hochbegabten Kinder auf die<br />
„Menschen tun sich nun mal<br />
mit Menschen zusammen,<br />
die ihnen ähnlich sind.“<br />
Noa Yedlin:<br />
Leute wie wir.<br />
Aus dem<br />
Hebräischen von<br />
Markus Lemke.<br />
Kein & Aber <strong>2021</strong>,<br />
411 S., € 23,70<br />
richtigen Schulen schicken. Ja, wie für alle<br />
bildungsbürgerlichen Eltern wird die anstehende<br />
Schulauswahl ein fast existentieller<br />
Stress, denn die kleine Hannah in die<br />
nächstgelegene staatliche Schule zu schicken,<br />
bei aller gutmenschlichen Liebe,<br />
nein nicht fürs eigene Kind!<br />
Diffizil und treffend, hinterhältig,<br />
schlau und raffiniert entlarvt Noa Yedlin<br />
die Ressentiments der entsprechenden<br />
Schicht der Forty-Somethings, ihre inneren<br />
und äußeren Konflikte, ihre Ängste<br />
und Bedürfnisse.<br />
So ihre Angst vor der eigenen Spießigkeit,<br />
gepaart mit dem Bedürfnis nach Sicherheit,<br />
ihre Angst vor dem alten Nachbarn,<br />
der der Tochter Süßigkeiten zusteckt,<br />
ihre Angst davor, ihr Angst zu machen, Osnats<br />
latente Lust auf einen Seitensprung,<br />
gepaart mit ihrer Angst vor dem Zerbrechen<br />
ihrer Ehe, die seit dem Umzug in die<br />
neue Gegend ohnehin dauerkriselt. Was<br />
macht Dror eigentlich wirklich, während<br />
er stundenlang mit dem Kampfhund-Welpen<br />
unterwegs ist, der ihnen als Geschenk<br />
aufgedrängt wurde?<br />
Über ein knappes Jahr, in Monatskapitel<br />
unterteilt, entfaltet Yedlin ihren Gesellschaftsroman<br />
als eine Art Psychothriller,<br />
wobei die einzelnen Fakten schemenhaft<br />
im Dunkeln bleiben. Nicht so wichtig ist<br />
letztlich, wer was tatsächlich getan hat. Was<br />
gedacht, was angedeutet, aber nicht ausgesprochen<br />
wurde, macht die subtile Spannung<br />
aus. Wobei man ihrer Protagonistin<br />
Osnat beim Denken und Reden fast in Echtzeit<br />
folgen muss, was zuweilen auch nerven<br />
kann. So genau will man das alles vielleicht<br />
doch nicht wissen.<br />
Den Zeitgeist einer Generation hat die in<br />
Israel hoch ausgezeichnete Autorin jedenfalls<br />
exemplarisch getroffen. Mag der Immobilien-Hype<br />
in ihrer Heimat noch krasser<br />
sein als anderswo, mögen die einzelnen<br />
soziologischen Mikrokosmen, das entsprechende<br />
Lokalkolorit spezifisch israelisch<br />
sein: Insgesamt sind Osnat und Dror doch<br />
„Leute wie wir“ oder, je nachdem, wie unsere<br />
Kinder.<br />
59 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 59 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:39