Wina Mai 2021
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Dokumentarischer Essay<br />
Der Wiener Schriftsteller und<br />
Zwischenwelt-Redakteur Alexander<br />
Emanuely zeichnet<br />
in seinem jüngsten Buch Das Beispiel<br />
Colbert ausgehend von der<br />
Biorafie und dem vielfältigen<br />
Wirken Carl Colberts ein vielschichtiges<br />
Panorama des gesellschaftlichen<br />
Aufbruchs um 1900<br />
in Österreich. Er spürt dabei den<br />
Anfängen der Zivilgesellschaft<br />
nach und holt vieles inzwischen<br />
im allgemeinen Bewusstsein<br />
Vergessene wieder hervor.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Porträt einer Zeit<br />
voller Umbrüche<br />
Ein Vergessener ist auch der<br />
Titelgeber. Carl Colbert,<br />
1855 in Wien als Carl Cohn<br />
geboren, war ein Kind seiner<br />
Zeit und der Zeit doch immer<br />
wieder einen Schritt voraus. Nach dem<br />
frühen Tod ihres Vaters 1836 übernahm<br />
die Mutter, Charlotte Cohn, die Wechselstube<br />
Mercur ihres Schwagers und leitete<br />
auch das gleichnamige Lotterie-Ziehungslistenblatt.<br />
Der Sohn, der in Wien<br />
das Akademische Gymnasium und dann<br />
eine Handelsakademie besuchte, arbeitete<br />
zunächst in der Wechselstube mit<br />
und gründete später mit seinem Schwager<br />
Alexander Gut das Bankhaus C. Cohn<br />
und Gut. Nach und nach begann er sich<br />
aber weg von einem Kapitalisten, hin zu<br />
einem Medienmacher und Sozialreformer<br />
zu bewegen. Er gab das Bankhaus auf,<br />
heiratete die Pianistin Antonie Wolff, änderte<br />
seinen Familiennamen in Colbert<br />
und trat aus der Kultusgemeinde aus.<br />
1887 gründete er die Zeitschrift Wiener<br />
Mode, die nicht nur in der k.u.k. Monarchie<br />
erschien und in mehreren Sprachen<br />
veröffentlicht wurde. Spätere Publikationen<br />
wurden politischer, etwa die Wochenzeitung<br />
Morgen oder die sozialistischpazifistische<br />
Boulevardzeitung Abend. Als<br />
Freimaurer engagierte er sich zunächst<br />
für das private Hilfsprojekt eines Kinderasyls<br />
im Kahlenbergerdorf. Nach<br />
und nach wurde ihm aber klar, dass es<br />
hier grundsätzliche Reformen braucht,<br />
und er setzte sich zunehmend für Kinder<br />
und gegen Kinderarbeit, aber auch<br />
für Frauen und deren volle bürgerliche<br />
Rechte ein. Er engagierte sich im Verein<br />
Freie Schule, aus dem die Kinderfreunde<br />
hervorgingen, für eine Kunstschule für<br />
Frauen, die heutige Modeschule Hetzendorf,<br />
und begründete eine erste Sozialakademie<br />
mit. Im Alter begann er zudem,<br />
Romane zu schreiben. Den Nationalsozialismus<br />
erlebte Colbert nicht mehr, er<br />
Alexander Emanuely:<br />
Das Beispiel Colbert.<br />
Fin de siècle und<br />
Republik. Ein dokumentarischer<br />
Essay.<br />
Verlag der Theodor<br />
Kramer Gesellschaft<br />
2020, 656 S., € 36<br />
© Wien Museum, Wikipedia<br />
56 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 56 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:36