Wina Mai 2021
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Subjektive Befragungsweise<br />
99 Jahre und<br />
nehmung von deutschen Kriegsgefange-<br />
nen eingesetzt. In zahlreichen Interviews<br />
wiederholt er später immer wieder seine<br />
kein bisschen leise<br />
Enttäuschung als Jude und Wiener über das<br />
Verhalten vieler nach dem Krieg.<br />
„Das Wort Befreiung habe ich damals<br />
nie gehört. So etwas wie Freiheit und De-<br />
mokratie, das war ja überhaupt nicht im<br />
Vom Wiener Rudolfsplatz schaffte es Georg Stefan<br />
Gedankenschatz vorgesehen. Aber unser<br />
Kriegsmaterial haben sie alle bewundert,<br />
Troller, der begnadete Interviewer und Dokumendie<br />
Jeeps, die Walkie-Talkies. Und komtarfilmer,<br />
in die weite Welt. Nach seiner Vertreibung<br />
mentiert wurde das mit den Worten: ‚Kein<br />
war ihm Wien fremd geworden – seine internationale<br />
Wunder, dass ihr den Krieg gewonnen<br />
Karriere machte er von Paris aus.<br />
habt, mit dem Material‘“, erzählte Troller<br />
2005 in einem TV-Interview mit dem West-<br />
Ein Porträt von Marta S. Halpert<br />
deutschen Rundfunk.<br />
Am 1. <strong>Mai</strong> 1945 nimmt der GI Troller an<br />
der Befreiung Münchens teil, und dort beginnt<br />
er endlich seine berufliche Leidenschaft<br />
auszuleben: Kurz arbeitet er bei Ra-<br />
dio München, bevor er als Reporter bei der<br />
Um gefangene SS-Leute zu ver-<br />
die Familie lebte quasi ums Eck, nämlich<br />
Neuen Zeitung anheuert. Doch in München<br />
hören, fährt der 24-jährige jü-<br />
am Rudolfsplatz, und übersiedelte später<br />
hält ihn auch dieser Job nicht, er will zu-<br />
dische US-Soldat Georg Stefan<br />
nach Döbling. Als jüdischer Junge wird er<br />
rück nach Wien, seine Heimatstadt. „Ich<br />
Troller am 29. April 1945 mit<br />
von den Schulkameraden oft gehänselt<br />
bin damals alle Straßen abmarschiert,<br />
dem Jeep in das von US-Truppen befreite<br />
Konzentrationslager Dachau. Den grau-<br />
enhaften Anblick der Skelette, der vielen<br />
verhungerten und ermordeten Häftlinge,<br />
kann er nur mit dem distanzierten Blick<br />
durch die Kamera ertragen. Trotz dieses<br />
Schutzschildes wird ihn die Erschütte-<br />
rung dieser Erfahrung sein ganzes Leben<br />
nicht verlassen.<br />
Mit 97 Jahren, im <strong>Mai</strong> 2019, widmet<br />
ihm die berühmte Berliner Galerie Gri-<br />
sebach eine Fotoausstellung mit seinem<br />
Lebensmotto: Liebe ist das ganze Ge-<br />
heimnis. Diese Aufnahmen sind nicht<br />
mehr erschreckend, zeigen aber den-<br />
noch eine Welt, die es so nicht mehr gibt:<br />
und verspottet. „Mit sowas musste man le-<br />
ben. Und unter den Nazis wurde das noch<br />
härter“, berichtet er. Auf Druck des Vaters<br />
liest er sämtliche Klassiker und hat einzelne<br />
Monologe bis heute auswendig parat.<br />
Mit 16 leiht er sich eine alte Schreib-<br />
maschine und verfasst erste Gedichte und<br />
Gedanken – und verpasst diesen den prä-<br />
tentiösen Titel Georg Stefan Trollers Gesam-<br />
melte Werke. . Trotz dieser frühen literari-<br />
schen Bestrebungen erlernt Georg Stefan,<br />
der zweite Sohn Karl Trollers, zunächst<br />
den Beruf des Buchbinders.<br />
Mit knapp 17 Jahren flieht er 1938 vor<br />
den Nazis aus Wien: Ein Schmuggler bringt<br />
ihn über die Grenze in die Tschechoslowa-<br />
die ich kannte, tagelang, nächtelang, um<br />
mein Heimweh zu stillen. Aber schließlich<br />
fand ich für mich diesen Satz: Eine Hei-<br />
mat kann man so wenig wiederfinden wie<br />
eine Kindheit.“<br />
Troller versucht zwar, in Österreich hei-<br />
misch zu werden, aber es gelingt ihm nicht,<br />
obwohl er beim Wiener Sender Rot-Weiß-<br />
Rot die beliebte Sendereihe XY weiß alles<br />
initiiert. Er kehrt bereits 1946 in die USA<br />
zurück und studiert bis 1949 zunächst An-<br />
glistik an der University of California und<br />
anschließend Theaterwissenschaft an der<br />
Columbia University in New York. Der berufliche<br />
und private Wendepunkt in Trol-<br />
lers Leben kommt im Jahr 1949, als er mit<br />
schwarz-weiße Schnappschüsse, Kostbar-<br />
kei, von da an hat er keine Papiere, nur eine<br />
keiten aus dem Paris der 1950er-Jahre, die<br />
illegale Existenz. Die nächste<br />
Troller machte, als er im Nachkriegseu-<br />
Fluchtstation ist Frankreich,<br />
„Eine Heimat kann<br />
ropa nach seinen persönlichen Lebenswo<br />
er gleich nach Kriegsaus-<br />
spuren suchte. Er selbst hatte diese Fotos<br />
bruch interniert wird. 1941 er-<br />
man so wenig wielängst<br />
vergessen, glaubte, sie bei Umzügattert<br />
er in Marseille schließderfinden<br />
wie eine<br />
gen und Aufbrüchen verloren zu haben.<br />
lich mit viel Glück ein Visum<br />
Doch seine Tochter Fenn fand sie glück-<br />
für die USA.<br />
Kindheit.“<br />
licherweise beim Ausmisten.<br />
Bereits 1943 wird er von der<br />
Georg Stefan Troller<br />
Zwischen diesen beiden Ereignissen<br />
US-Army zum Kriegsdienst<br />
liegt ein reiches künstlerisches Leben: Der<br />
am 10. Dezember 1921 in Wien geborene<br />
Georg Stefan Troller ist seit Jahrzehnten<br />
als Schriftsteller, Fernsehjournalist, Drehbuchautor,<br />
Regisseur und Dokumentarfil-<br />
eingezogen und leistet den<br />
alliierten Truppen bei ihrem<br />
Vormarsch durch das besetzte<br />
Frankreich und Nazi-Deutschland<br />
mit seinen Sprachkenntmer<br />
erfolgreich. Doch bis zu diesem vielnissen<br />
wertvolle Dienste. Trol-<br />
fältigen Ruhm war es ein weiter Weg aus<br />
ler ist mit der Mentalität der<br />
Personenbeschreibung. Indem er ausgewählten<br />
Menschen jene zeitlosen Fragen stellte, die er an sich selbst<br />
der Neutorgasse im 1. Wiener Bezirk: Dort<br />
Nazi-Täter und Opfer vertraut<br />
hatte, konnte er damit auch seinen eigenen Erfahrungs-<br />
führte Trollers Vater Karl sein Pelzgeschäft,<br />
und wird deshalb bei der Ver-<br />
horizont als Mensch und Filmemacher erweitern.<br />
1 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 1 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:32