Wina Mai 2021
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Verfassung eines Künstlers<br />
© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com<br />
Ende der 1920er-Jahre kehrte Wittgenstein<br />
dann wieder nach Cambridge zurück.<br />
Nicht zuletzt kritische Artikel zu seinem<br />
Tractatus hatten ihn einsehen lassen, dass<br />
er als junger Mann doch nicht so viele Probleme<br />
endgültig gelöst hatte, wie er damals<br />
dachte, er müsse sich wohl weiter schwierigen<br />
philosophischen Fragen widmen. Für<br />
den korrekten Einstieg in die englische akademische<br />
Welt brauchte er eine Dissertation,<br />
Russel akzeptierte den Tractatus als<br />
solche. Bald nach seiner akademischen Akzeptanz<br />
erhielt Wittgenstein 1939 mit Hilfe<br />
des Ökonomen John Maynard Keynes auch<br />
die britische Staatsbürgerschaft.<br />
Das jüdische Vermächtnis. Das war für ihn<br />
die Absicherung gegenüber dem Zugriff<br />
der Nationalsozialisten, nicht aber für<br />
seine Geschwister. Nach den NS-Rassengesetzen<br />
hatten sie nämlich drei jüdische<br />
Großeltern, das machte sie zu Volljuden.<br />
Die Eltern von Ludwig<br />
Wittgenstein: Karl und<br />
Leopoldine Wittgenstein,<br />
geb. Kallmus.<br />
Wittgenstein<br />
dachte, dass<br />
er mit diesem<br />
intellektuellen<br />
Paukenschlag<br />
einen Großteil<br />
Jahrhunderte<br />
alter<br />
philosophischer<br />
Probleme<br />
gelöst<br />
habe.<br />
Mit langwierigen Verhandlungen – und<br />
angeblich unter direkter Beteiligung Hitlers<br />
– gelang es, einen Deal mit den Behörden<br />
zu erreichen. Der Status wurde auf<br />
Halbjuden heruntergesetzt, das ermöglichte<br />
Ludwigs Geschwistern die Ausreise.<br />
Dafür sollen aber astronomisch hohe Summen<br />
aus Schweizer Tresoren an die Nazis<br />
geflossen sein.<br />
Diese Reichtümer hatte Ludwigs Vater<br />
Karl Otto Clemens in einer einzigen Generation<br />
angehäuft, wiewohl bereits dessen<br />
Vater, Herrmann Christian Wittgenstein,<br />
ein ostdeutscher Wollhändler und späterer<br />
Immobilieninvestor in Wien, der gemeinsam<br />
mit seiner ebenfalls jüdischen Frau<br />
zum Protestantismus übergetreten war, es<br />
schon zu einem gewissen Wohlstand gebracht<br />
hatte. Dessen Vater, Moses Meyer,<br />
hatte im Dienst der Westfälischen Sayn-<br />
Wittgenstein-Hohenstein Güter verwaltet<br />
und nach einem Dekret der französischen<br />
Besatzungsmacht als Nachname den seiner<br />
Grundherren angenommen.<br />
Karl Otto Clemens Wittgenstein war<br />
mindestens so unruhig, wie es später sein<br />
Sohn Ludwig werden sollte. Er schmiss die<br />
Schule hin, ging in die USA, wo er sich als<br />
Musik- und Sprachlehrer, als Kellner, Barmusiker<br />
und Matrose auf einem Binnenschiff<br />
verdingte. Nach seiner Rückkehr<br />
studierte er in Wien ein knappes Jahr an<br />
der Technischen Hochschule, ehe er wieder<br />
abbrach. Über Vermittlung eines Verwandten<br />
begann er dann in einem Walzwerk<br />
in Nordböhmen als technischer<br />
Zeichner zu arbeiten.<br />
Von da an ging es steil bergauf.<br />
1876 war er schon Direktor in<br />
diesem Werk, bald auch Hauptaktionär.<br />
Wieder einige Jahre<br />
später hatte er bereits einen integrierten<br />
Industriekonzern geformt,<br />
von der Stahlschmelze<br />
bis zu Endprodukten wie Sensen.<br />
Und seine Fabriken standen<br />
längst nicht mehr nur in Böhmen,<br />
sondern auch in Niederösterreich<br />
und in der Steiermark,<br />
wo ihm die Alpine Montangesellschaft<br />
gehörte. Wittgenstein galt<br />
als Kombi-Talent von Techniker<br />
und Manager, er modernisierte<br />
seine Werke, erhöhte stetig Effizienz<br />
und Betriebsleistung. Ökonomische<br />
Weitsicht brachte ihn<br />
auch dazu, in den USA, in den Niederlanden<br />
und in der Schweiz zu investieren, das<br />
sollte seinen Erben dann einen Gutteil ihres<br />
Vermögens in der Zeit der Depression<br />
und Hyperinflation sichern.<br />
Und Wittgenstein genoss seinen Reichtum<br />
auch. Er hatte mehrere Palais und<br />
Landhäuser, gemeinsam mit seiner Frau<br />
Leopoldine, einer geborenen Kalmus mit<br />
jüdischem Vater und slowenisch-katholischer<br />
Mutter, führte er einen eleganten<br />
Salon, in dem Künstler wie Johannes<br />
Brahms, Gustav Mahler, Bruno Walter<br />
oder Pablo Casals zu Gast waren. Er förderte<br />
auch die Wiener Sezessionisten und<br />
besaß wertvolle Gemälde, etwa französischer<br />
Impressionisten.<br />
Ludwig wurde katholisch getauft, sah<br />
sich aber stets als areligiös, obwohl ihn<br />
Rituale, Metaphysik und Mystiker interessierten.<br />
Und auch wenn er keine formale<br />
jüdische Bildung erhalten hatten, sagte er<br />
einmal: „Meine Gedanken sind hundert<br />
Prozent hebräisch.“ Ob er damit nur die<br />
jüdische oder auch die christliche Tradition<br />
gemeint hatte, ist nicht eindeutig belegt.<br />
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sommer_doppel1.indb 55 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35