Wina Mai 2021
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Intuitiv & launisch<br />
Wittgensteins<br />
Familie<br />
Vor 70 Jahren starb in Cambridge der große Philosoph<br />
Ludwig Wittgenstein. Sein Wiener Vater war einer der<br />
reichsten Menschen Europas, die jüdischen Vorfahren<br />
stammten aus Deutschland.<br />
Es muss eine packend-groteske<br />
Szene gewesen sein. Im englischen<br />
Cambridge trafen 1946 bei<br />
einem Philosophieseminar zwei<br />
der führenden Philosophen der Zeit aufeinander,<br />
beide emigrierte Wiener. Doch<br />
Karl Popper und Ludwig Wittgenstein waren<br />
sich alles andere als einig, im Gegenteil.<br />
Der Disput spitzte sich derart zu, dass<br />
Wittgenstein erregt im Zimmer auf und ab<br />
ging, vom offenen Kamin einen Schürhaken<br />
nahm und mit ihm bedrohlich gestikulierte.<br />
Als ihn Popper darauf ansprach,<br />
warf er das Eisen zornig auf den Fußboden<br />
und stürmte aus dem Raum.<br />
Ludwig Wittgenstein sollte in Cambridge<br />
1951 an Prostatakrebs sterben, als<br />
letzte Worte an nicht anwesende Freunde<br />
sind überliefert: „Sagen Sie ihnen, dass<br />
ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“<br />
Ob wundervoll, sei dahingestellt, zu sehr<br />
schimmert immer wieder Leiden, quälende<br />
Sinnsuche und manische Selbsterhöhung<br />
durch. Doch ungewöhnlich,<br />
spannungsgeladen und alles andere als<br />
langweilig war sein Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit.<br />
Wittgenstein wurde 1886 in Neuwaldegg<br />
als Sohn eines der reichsten Menschen Europas,<br />
des Industriemagnaten und „österreichischen<br />
Carnegie“ Karl Wittgenstein<br />
geboren. Ludwig hatte vier Brüder und<br />
drei Schwestern. Eine auf strenge Disziplin<br />
ausgerichtete Erziehung sowie möglicherweise<br />
eine genetische Disposition<br />
sollte dazu führen, dass sich später drei<br />
seiner Brüder das Leben nahmen. Ludwig<br />
erhielt in den ersten Jahren Privatunter-<br />
Von Reinhard Engel<br />
richt im Wiener Familienpalais in der Argentinierstraße,<br />
doch er wollte eine öffentliche<br />
Schule besuchen. Für die Zulassung<br />
an Wiener Gymnasien reichten die Privatstunden<br />
nicht, also wurde er in einer Linzer<br />
Gewerbeschule eingeschrieben, übrigens<br />
in jener, die auch zur selben Zeit Adolf Hitler<br />
besuchte. Ob die beiden, die in unterschiedlichen<br />
Klassen waren, miteinander<br />
Kontakt hatten, ist nicht sicher.<br />
Ursprünglich wollte Ludwig in Wien<br />
bei Ludwig Boltzmann Physik inskribieren.<br />
Doch der berühmte Professor nahm<br />
sich auf einer Urlaubsreise in Duino das<br />
Leben, Wittgenstein musste umdisponieren.<br />
Sein Vater Karl wollte die Söhne<br />
auf spätere Positionen in seinen Industrieunternehmen<br />
vorbereiten, daher zog<br />
Ludwig nach Berlin und studierte Maschinenbau.<br />
1906 nahm er in Manchester ein<br />
Ingenieurstudium mit Schwerpunkt Luftfahrt<br />
auf, beschäftigte sich dort auch intensiv,<br />
aber kurz mit der Berechnung von<br />
Propellern, doch dann faszinierten ihn<br />
Mathematik, Logik und Philosophie immer<br />
stärker. Er übersiedelte nach Cambridge,<br />
wo ihn Bertrand Russel als Student<br />
akzeptierte.<br />
Nach einer ersten Begegnung meinte<br />
der Autor der Principia Mathematica noch,<br />
es sei Zeitverschwendung, mit dem „hitzigen<br />
Deutschen“ zu streiten, aber schon<br />
wenig später attestierte er ihm höchste Intelligenz,<br />
schnelle Auffassungsgabe und<br />
Talent, aber er erkannte bereits seine<br />
schwierige Persönlichkeit: „Seine Verfassung<br />
ist die eines Künstlers, intuitiv und<br />
launisch. Er sagt, dass er seine Arbeit jeden<br />
Morgen hoffnungsvoll beginne und jeden<br />
Abend in Verzweiflung ende.“<br />
Wittgenstein studierte intensiv, hatte<br />
seine erste – homosexuelle – Beziehung,<br />
zog sich monatelang nach Norwegen in<br />
eine einsame Hütte zurück, um an logischen<br />
Problemen zu arbeiten. 1913 starb<br />
sein Vater und Ludwig erbte ein gewaltiges<br />
Vermögen, das er allerdings in Kürze<br />
verschenkte, an seine Geschwister und an<br />
bedürftige Künstler.<br />
Der Kriegsausbruch 1914 bot ihm die<br />
Gelegenheit, aus der Welt der schwierigen<br />
Gedanken in eine grausame Welt der Realität<br />
zu wechseln. Wittgenstein meldete<br />
sich freiwillig, übernahm als vorgeschobener<br />
Artillerie-Beobachter an der russischen<br />
Front gefährlichste Einsätze, wurde<br />
auch mehrmals dekoriert. Den Krieg beendete<br />
er als Leutnant an der italienischen<br />
Front und wurde dort noch mehrere<br />
Monate gefangen gehalten.<br />
Trotz extremer Beanspruchungen hatte<br />
er während der Kampfeinsätze und Internierung<br />
an seinem ersten – und wohl bekanntesten<br />
– Werk gearbeitet, dem Tractatus<br />
logico-philosophicus. Dieser sollte dann<br />
1921 in Deutschland erstmals publiziert<br />
werden, wirklich bekannt wurde er aber<br />
erst in der englischen Übersetzung mit einem<br />
Vorwort von Bertrand Russel. Es ist<br />
ein hoch kompliziertes Werk, das sich mit<br />
den Beziehungen zwischen Sprache und<br />
Denken befasst, das mit messerscharfen,<br />
strikt durchnummerierten Dogmen die<br />
Philosophie in enge Grenzen verweist und<br />
einen Gutteil von ihr als sinnlos und spekulativ<br />
abschmettert. Es lässt aber dennoch<br />
ein breites Feld für nicht logisch erfassbare<br />
menschliche Tätigkeiten frei,<br />
etwa Religion oder Mystizismus. Darüber<br />
könne man aber nicht sprechen, das ließe<br />
sich bloß zeigen.<br />
Wittgenstein dachte, dass er mit diesem<br />
intellektuellen Paukenschlag einen Großteil<br />
Jahrhunderte alter philosophischer<br />
Probleme gelöst habe, die Wissenschaft<br />
brauche ihn nun nicht mehr. Er wandte<br />
sich ganz anderen Tätigkeiten zu. Erst arbeitete<br />
er als Gärtner in einem Kloster, erwog<br />
sogar kurzzeitig, selbst in einen Orden<br />
einzutreten. Dann nahm er mehrere Anstellungen<br />
als Dorfschullehrer in der niederösterreichischen<br />
Buckligen Welt an,<br />
galt dort als rührender Förderer begabter<br />
Kinder und ebenso brutaler Zuchtmeister<br />
dümmerer Mädel und Buben. Ohrfeigen,<br />
das Reißen an den Haaren, gar das blutig<br />
Schlagen gehörten dazu und führten letzten<br />
Endes zu seiner Entlassung.<br />
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54 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
sommer_doppel1.indb 54 29.06.<strong>2021</strong> 10:06:35