Zukunft Forschung 02/2019
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Ausgabe 2/2019, 11. Jg.
zukunft forschung 02 | 19
zukunft
forschung
GEMEINSAM
ZUKUNFT
DENKEN
thema: zukunft denken I pharmazie: heilende pilze I italien: kino der migration
gesundheitswesen: die vermessung der heilkunst I geotechnik: gefahr gebannt
geographie: digitalisierung der landschaft I politik: mediale stimmungsschwankungen
DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK
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2 zukunft forschung 02/19
Foto: Andreas Friedle
EDITORIAL
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Das vergangene Jahr war vom 350-Jahr-Jubiläum unserer
Universität geprägt. Unser Dank gilt allen, die die vielen
Veranstaltungen, Diskussionen, Führungen und Ausstellungen
einerseits vorbereitet und andererseits besucht und so
das Jubiläumsjahr zu einem großen Erfolg gemacht haben. Wir
haben in den vergangenen Monaten neue Dinge ausprobiert
und werden die eine oder andere Veranstaltungsform wohl
auch beibehalten, denn der Wunsch, mit Ihnen in Kontakt zu
kommen und zu bleiben, endet nicht mit dem Jubiläumsjahr.
Vielmehr verstehen wir das als Beginn eines Dialogs zur positiven
Weiterentwicklung unseres Standortes.
Dieser Dialog stand auch im Zentrum der großen Abschlussveranstaltung
unseres Jubiläumsjahres, dem „Diskussionsforum:
Zukunft denken“, bei dem wir gemeinsam mit der Tiroler
Bevölkerung an drei Tagen Ende November über die Entwicklung
der Gesellschaft und der Region diskutiert und neue Ideen
und Ansätze für die Zukunft entwickelt haben. Einen kleinen
Einblick in diese inhaltlichen Auseinandersetzungen geben wir
Ihnen im Schwerpunkt dieser Ausgabe unseres Forschungsmagazins.
Ausgewählte Beiträge, zusammengefasste Ergebnisse
und Bilder von der Veranstaltung sollen Ihnen einen Eindruck
von diesem allseits als überaus gelungen bezeichneten, neuen
Format geben.
Minion
Darüber hinaus finden Sie in dieser
DE
Ausgabe wieder zahlreiche
Beiträge zu aktuellen Forschungsprojekten aus der Grundlagenforschung
und der angewandten Forschung, in denen unsere
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tagtäglich am Fundament
für unsere gemeinsame Zukunft arbeiten.
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Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und freuen Wäldern und uns
über Ihre Fragen und Anregungen!
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TILMANN MÄRK, REKTOR
ULRIKE TANZER, VIZEREKTORIN FÜR FORSCHUNG
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IMPRESSUM
Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns bruck, www.uibk.ac.at
Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Dr. Christian Flatz (cf); public-relations@uibk.ac.at
Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Inns bruck, www.kultig.at
Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Eva Fessler (ef), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh),
Lisa Marchl, MSc (lm), Daniela Pümpel, MA (dp), Mag. Susanne Röck (sr)
Layout & Bildbearbeitung: Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz
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Foto: Uni Inns bruck
zukunft forschung 02/19 3
BILD DER
WISSENSCHAFT
INHALT
TITELTHEMA
8
GESELLSCHAFT. Die Angst vor der Zukunft prägt aktuell westliche
Gesellschaften. Daher wurde an der Universität Innsbruck die Frage
diskutiert, wie eine wünschenswerte Zukunft aussehen könnte. 8
DIGITALISIERUNG. Die digitale Transformation beeinflusst die
Arbeitswelt und birgt Chancen, mit der Klimakrise umzugehen. 14
ENERGIE. Sonne, Wasser, Holz und Umweltwärme sind in
Tirol vorhandene Ressourcen, die das Land der Vision von
Energieautonomie im Jahr 2050 näherbringen. 16
NACHHALTIGKEIT. Das Klimabewusstsein in Tirol ist grundsätzlich
groß, die Bereitschaft zu nachhaltigem Handeln ausbaufähig.18
INTERVIEW. „Wir leben“, sagt Isolde Charim, „in einer Gesellschaft
neuen Typs, die nicht mehr alle umfasst.“ Einen Ausweg sieht sie in
einem Umgang mit Unterschieden.22
TITELTHEMA. Das „Diskussionsforum: Zukunft denken“
bildete den Abschluss der Feierlichkeiten rund
um das 350-Jahr-Jubiläum der Universität Innsbruck.
ZUKUNFT FORSCHUNG blickt auf die drei spannenden
Tage zurück.
30
FORSCHUNG
GEOGRAPHIE. Die Laserscanner des Instituts für Geographie liefern
hochgenaue Daten über Wälder, Berghänge, Gletscher
und Permafrostgebiete, seit Neuestem auch aus der Luft. 26
GEOTECHNIK. Menschen und Siedlungsraum vor Naturgefahren
zu schützen, ist eine der Aufgaben von Robert Hofmann. 30
ROMANISTIK. Mit dem engagierten cinema di migrazione antworten
italienische Filmemacher auf Fremdenfeindlichkeit. 32
GEOTECHNIK. Robert Hofmann arbeitet an Schutzmaßnahmen
vor Naturgefahren, so sollen etwa Wildbachsperren
das Eingraben des Baches in den Boden,
aber auch das Rutschen von Hängen verhindern..
36
PHARMAZIE. Bianka Siewert forscht zur ökologischen Bedeutung
der Farbstoffe in Pilzen und untersucht ihre lichtaktivierbaren Stoffe
für neue Möglichkeiten in der Krebstherapie. 36
GESUNDHEITSWISSENSCHAFT. Inns brucker Forscher untersuchen
die Entwicklung und Anwendung der Qualitätsmessung für
stationäre Krankenhausaufenthalte in Österreich. 38
POLITIKWISSENSCHAFT. Kohei Watanabe interessiert sich für
veröffentlichte Meinung und die darin ausgedrückte Stimmung. 42
PHARMAZIE. Bianca Siewert forscht an neuen Möglichkeiten
in der Lichttherapie, nutzt dazu Kreativität
und Vielfalt der Natur und verbindet sie mit bestehendem
Wissen zu lichtaktivierbaren Stoffen.
RUBRIKEN
EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: QUASIKRISTALLINES LICHTMUSTER 4 | NEUBERUFUNG: EVELINE CHRISTOF 6 | FUNDGRUBE VERGANGEN HEIT: SAMMLUNG AM
INSTITUT FÜR KUNSTGESCHICHTE 7 | MELDUNGEN 29 + 41 | WISSENSTRANSFER 34 + 35 | UNIHOLDING 44 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: CHRISTIANE OPITZ
48 | SPRUNGBRETT INNS BRUCK: ELISABETH KUGLER 49 | ESSAY: ZUKUNFT – ZWISCHEN CHANCE UND BEDROHUNG von Claudia Paganini 50
In den von Nobelpreisträger Dan Shechtman entdeckten Quasikristallen
sind Atome oder Moleküle in einer geordneten, aber aperiodischen
Struktur angeordnet. Ultrakalte Atome in optischen Resonatoren sind
ein vielseitiges und sehr präzise kontrollierbares System zur Simulation
von solchen komplexen Festkörperphänomenen. In einem von Farokh
Mivehvar vom Institut für Theoretische Physik untersuchten vierfach
gekreuzten, optischen Resonator bildet das Licht spontan ein emergentes
quasikristallines, optisches Potenzial, wie im Bild dargestellt. Die
eingeschlossenen Atome ordnen sich dann aufgrund dieses entstehenden
Potenzials selbst in einem quasikristallinen Muster an.
Fotos: Uni Inns bruck (1), Robert Hofmann (1), Andreas Friedle (1); COVERFOTO: AdobeStock/greenbutterfly; BILD DER WISSENSCHAFT: Farokh Mivehvar
zukunft forschung 02/19 5
NEUBERUFUNG
GUTE SCHULE MACHEN
Sie lehrt und erforscht das Lehren: Als Professorin für Allgemeine Didaktik arbeitet
Eveline Christof an einer wichtigen Schaltstelle im Bildungssystem.
Schule kann nur dann moderner
und besser werden, wenn sich angehende
Lehrerinnen und Lehrer
auch mit ihren eigenen Schulerfahrungen
auseinandersetzen, sagt Eveline Christof.
Sie ist seit Mai 2019 Universitätsprofessorin
für Allgemeine Didaktik und leitet
seit knapp drei Jahren das Institut für
Leh rerInnenbildung und Schulforschung.
„Der Lehrberuf ist jener, in dem die Personen,
die den Beruf erlernen wollen, die
längs te Zeit auch selbst Teilnehmer in diesem
Berufsfeld waren“, erklärt Christof:
„Die Studierenden haben viele Bilder im
Kopf, die ihr zukünftiges Verhalten im
Unterricht oft stärker beeinflussen als
das, was sie über Didaktik bei uns gelernt
haben.“ Neben der fachlichen Ausbildung
und den didaktischen Kompetenzen sind
die persönlichen Erfahrungen und deren
Reflexion mit ausschlaggebend dafür, ob
aus Studierenden gute Lehrerinnen und
Lehrer werden. Die Reflexion der eigenen
Prägung muss daher einen festen Platz in
der PädagogInnenbildung haben, findet
Eveline Christof. In ihrer Forschung beschäftigt
sie sich immer wieder mit der
Rollenwerdung von Lehrpersonen, besonders
intensiv im Zuge ihrer 2017 abgeschlossenen
Habilitation: Darin hat sie die
Überzeugungen von angehenden Lehrern
in Hinblick auf Faktoren wie Leistungsbeurteilung,
Macht oder auch Lehren und
Lernen ermittelt und Formate entwickelt,
mit denen man diese im Rahmen der Ausbildung
aufarbeiten und reflektieren kann.
Jahrhundert-Chance
Die PädagogInnenbildung ist aber nicht
nur zentraler Forschungsgegenstand von
Eveline Christof, sondern schon seit vielen
Jahren in jeglicher Hinsicht Teil ihrer
täglichen Arbeit an der Universität Innsbruck,
an die sie bereits 2011 als Universitätsassistentin
gekommen ist. An der Fakultät
für LehrerInnenbildung hat sie die
Reform der LehrerInnenbildung im Verbund
West maßgeblich mitgestaltet und
die bildungswissenschaftlichen Anteile
der Curricula für die Lehramtsstudien
in Kooperation mit der Pädagogischen
Hochschule Tirol, der Katholischen Pädagogischen
Hochschule Edith Stein und der
Pädagogischen Hochschule Vorarlberg
„von der Pike auf“ entwickelt. „Das war
in den vergangenen Jahren eine meiner
Hauptaufgaben. Ich sehe die ganze Entwicklung
als Jahrhundertchance“, zieht
Eveline Christof Bilanz und verdeutlicht
die Bedeutung der LehrerInnenbildung:
„Wenn wir keine guten Lehrer haben, haben
wir auch keine guten Schüler und im
Weiteren keine guten Studierenden.“
Die laufende Verbesserung der Lehramtsausbildung
auf allen Stufen sieht sie
als große persönliche und gesellschaftliche
Herausforderung der nächsten Jahre.
Im vergangenen Sommersemester haben
an der Uni Inns bruck die ersten Studierenden
das neue Bachelor-Studium
Lehramt abgeschlossen, das nun im Rahmen
einer Absolventenbefragung evaluiert
wird. Neben der Ausbildung will
Christof gemeinsam mit ihren Kolleginnen
und Kollegen auch die Erforschung
der LehrerInnenbildung weiterentwickeln,
fokussieren und international
sichtbar machen. Ein Aspekt, der ihrer
EVELINE CHRISTOF, geboren 1966 in
Wien, studierte Pädagogik an der Universität
Wien. Am Institut für Bildungswissenschaft
war sie im Rahmen einer
wissenschaftlichen Stelle in Lehre und
Forschung tätig und promovierte 2008
an der Universität Wien. Von 2008 bis
2011 leitete sie den Bereich Weiterbildung
an der Universität für Bodenkultur
in Wien. 2011 kam Eveline Christof als
Universitätsassistentin an die Universität
Inns bruck, an der sie sich im Rahmen
einer Qualifizierungsstelle 2017 habilitierte
und die Leitung des Instituts für
LehrerInnenbildung und Schulforschung
übernahm. Im Mai 2019 wurde sie zur
Universitätsprofessorin für Allgemeine
Didaktik (Sekundarstufe Allgemeinbildung)
berufen.
Ansicht nach aufgrund der Neuausrichtung
der Lehramtsstudien ein wenig zu
kurz gekommen ist. Über den erfolgreichen
Beginn eines Forschungsprojekts
in Kooperation mit der Humboldt-Universität
zu Berlin im Frühjahr 2020 kann
sich Eveline Christof jedenfalls schon jetzt
freuen. Darin geht es um Ethos im Lehrberuf
und dessen Erlernbarkeit. ef
6 zukunft forschung 02/19
Foto: Eva Fessler
FUNDGRUBE VERGANGENHEIT
SAMMLUNGSSTÜCKE: Nachlass Hans Semper, Goldenes Dachl; Hilde Nöbl, Selbstporträt, 1954; Lois Weinberger, o. T., um 1983
KUNST FÜR DIE LEHRE
Kunst aus Tirol im 20. und frühen 21. Jahrhundert bildet den
Schwerpunkt der Sammlung am Institut für Kunstgeschichte.
Betritt man das Büro von Martina
Baleva, Leiterin der Sammlung
am Institut für Kunstgeschichte,
nimmt man einen Teil dieser Sammlung
in die Hand. Seit dem Jahr 2000 schmücken
kunstvolle Türschnallen die ansonsten
kühlen Bürotüren am Institut, die
Installation von Jeannot Schwartz ist
Teil der Artothek des Bundes. Alljährlich
erwirbt Österreich im Rahmen der
Kunstförderungsankäufe Kunstwerke,
seit 1986 verbleiben die Tiroler Ankäufe
als Dauerleihgaben am Institut für Kunstgeschichte.
„Als einziges Bundesland in
Österreich “, weiß Sammlungsbetreuerin
Claudia Mark. Der Verdienst geht auf den
Kunsthistoriker Christoph Bertsch zurück,
der lange Zeit Mitglied der Ankaufjury
war. Neuland war eine Sammlung
nicht für das Kunstgeschichte-Institut,
Otto Lutterotti hatte nach 1945 mit einer
solchen begonnen. „Künstlerinnen und
Künstler stellten Selbstporträts zur Verfügung“,
erzählt Mark. Lutterotti setzte diese
in der Lehre ein, um die Studierenden
mit Material, Techniken etc. vertraut zu
machen. 73 solcher Werke zählte man in
den 1970er-Jahren, das große Wachstum
der Sammlung begann dann ab 1986.
Kuratorische Praxis
„Das Prinzip, die Sammlung als Teil der
Lehre einzusetzen, blieb bestehen. Dazu
kam die kuratorische Praxis mit einem eigenen
Ausstellungsraum, der von 1981 bis
2008 bespielt wurde“, erklärt Mark. Teile
der Sammlung wurden immer wieder in
Ausstellungen präsentiert, aktuell etwa in
„Schönheit vor Weisheit“ anlässlich des
350-Jahr-Jubiläums der Universität Innsbruck.
Seit einigen Jahren läuft auch das
Projekt KIDS – Kunst in die Schule. „Wir
gehen mit Wanderausstellungen an Schulen,
um Kinder mit zeitgenössischer Kunst
DIE SAMMLUNG des Instituts für Kunstgeschichte
geht auf Otto Lutterotti zurück,
der von 1945 bis 1979 als Kunstgeschichte-Professor
in Inns bruck lehrte. Die
anfängliche kleine Sammlung von Selbstporträts
wächst seit 1986 kontinuierlich
durch die Kunstförderungsankäufe des
Bundes in Tirol, die als Dauerleihgaben die
Sammlung – derzeit rund 1.000 Werke –
erweitern. Teil der Sammlung sind auch
Nachlässe, unter anderem jener von Hans
Semper, ab 1885 erster Professor am Institut
für Kunstgeschichte in Inns bruck.
in Kontakt zu bringen“, erläutert Mark das
Konzept. Um Teile der Sammlung öfters
der Öffentlichkeit präsentieren zu können,
setzen Mark und Baleva auf einen angedachten
neuen Ausstellungsraum, Sammlungsleiterin
Balevea denkt dabei überhaupt
an ein Schaudepot, um die Werke
für Studienzwecke zugänglich zu machen.
Baleva wurde im Frühjahr 2019 als Professorin
für Kunstwissenschaft nach Innsbruck
berufen, seither stöbert sie immer
wieder in den Kellerdepots und stieß dabei
„per Zufall auf Fotografien aus den
70er-Jahren des 19. Jahrhunderts – ein Forschungsschwerpunkt
von mir“. Bei genauer
Durchsicht zeigte sich, dass es sich
dabei um den Nachlass von Hans Semper,
den ersten Inns brucker Kunstgeschichte-
Ordinarius, handelt. Semper nutzte Ende
des 19. Jahrhunderts das neue Medium
Fotografie und sammelte solche von
Kunstwerken, um sie in der Lehre einzusetzen.
Derzeit werden sie digitalisiert,
um sie wissenschaftlich aufzuarbeiten.
Baleva geht von knapp 10.000 Stück aus,
in dieser „Fundgrube Vergangenheit“ befinden
sich auch Raritäten, etwa von den
Brüdern Alinari, den Gründungsvätern
der italienischen Fotografie. ah
Fotos: Fotohandlung Groß (1), Institut für Kunstgeschichte/Jörg Moser (1), Institut für Kunstgeschichte (1)
zukunft forschung 02/19 7
GEMEINSAM ZUKUNFT
DENKEN
Zum Abschluss ihre 350-Jahr-Jubiläums lud die Universität Inns bruck die Bevölkerung zu einem
Diskussionsforum ein, um gemeinsam mit Expertinnen und Experten über die Zukunft der
Region und der Gesellschaft nachzudenken. Kuratiert wurde die Veranstaltung vom ehemaligen
Wissenschaftsminister und Rektor Karlheinz Töchterle. ZUKUNFT FORSCHUNG fasst einige der
diskutierten Themen zusammen und gibt Einblick in die dargelegten Standpunkte.
8 zukunft forschung 02/19
Foto: Andreas Friedle
Foto: Uni Inns bruck
zukunft forschung 02/19 9
TITELTHEMA
Ein Teil des Programms beim Diskussionsforum
stand unter dem
Motto: „Leben – Vielfalt – Teilhabe“.
Die KuratorInnen dieses Themenblocks
– Michaela Ralser, Martina Kraml
und Timo Heimerdinger – betonten, dass
bei aller Komplexität eine zukunftsweisende
Gegenwartsbeschreibung zutrifft:
die der Vielheit, der Pluralisierung von
Biografien, von Zugehörigkeiten und damit
von Herkünften und Zukünften jeder
Art. „Wir sind überzeugt, dass uns diese
Pluralität ändert, und zwar alle: ob wir es
wollen oder nicht. Und, dass sie unhintergehbar,
also nicht rückgängig machbar
ist. Mehr noch, wir sind überzeugt, dass
die gegenwärtige Geschwindigkeit der
Pluralisierung einschließlich ihrer migrationsgesellschaftlichen
Mobilisierung,
die ohne Zweifel eine Epochenschwelle
darstellt, letztlich bloß deutlicher anzeigt,
was auch sonst vonstatten geht und auch
schon früher und ohne diese eine machtvolle
Illusion war: die Homogenität von
Kulturen und Gesellschaften“, so die
ProgrammmacherInnen. Deshalb luden
sie die Sozialphilosophin und Publizistin
Isolde Charim ein, ihre Gedanken über
die Pluralisierung der Gesellschaft und
den damit einhergehenden Zukunftsherausforderung
dazulegen.
Von der Angst zum
guten Leben für alle
Angst vor der Zukunft ist eines der prägendsten
Phänomene aktueller westlicher
Gesellschaften: Soziale Ungleichheiten,
instabile politische und ökonomische
Verhältnisse, rasante technische
Entwicklungen und schwer kalkulierbare
populistische Strömungen bewirken Unsicherheit.
Dadurch gewinnen Bedrohungsszenarien,
Sicherheitsdiskurse
und ein Forcieren gesellschaftlicher Spaltungen
politisch zunehmend an Gewicht.
Die auch daraus erwachsende angstvolle
„Die mittel- und langfristige
Zukunft wird sich nicht einfach
schicksalshaft ereignen,
sondern sie wird mit unseren
gegenwärtigen Vorstellungen
und Entscheidungen angebahnt,
vorbereitet und vorentschieden.“
Michaela Ralser, Institut für Erziehungswissenschaft
10
zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle (1), AdobeStock/greenbutterfly (1)
TITELTHEMA
Sorge lähmt: kollektiv wie individuell.
Zu beobachten ist einerseits ein Rückgriff
auf Vergangenes und andererseits
ein Festhalten an der Gegenwart, so als
wäre sie vor einer unsicheren Zukunft zu
schützen oder selbst schon die denkbar
beste Zukunftshoffnung.
Dem gegenüber stellte die Erziehungswissenschaftlerin
Michaela Ralser
in ihrer Einführung die Frage nach dem
„guten Leben“. Die Frage, wie wir möglicherweise
leben werden, was auf uns gesellschaftlich
und individuell zukommt,
verdrängt oft das Nachdenken darüber,
wie wir eigentlich leben wollen. Die Gespräche
beim Diskussionsforum drehten
sich deshalb vor allem auch um die Frage,
wie eine wünschenswerte Zukunft
aussehen könnte.
Zukunftskräfte entfesseln
Zukunft ist nicht eigentlich morgen: Sie
beginnt schon jetzt und sie beginnt in unseren
Köpfen, sagte der Ethnologe Timo
Heimerdinger. Es sei an uns, denn wir
gestalten die Zukunft durch unsere Vorstellungskraft
schon heute maßgeblich
mit. Die Gegenwart legt dabei Bahnen
für das zukünftig Mögliche, aber Zukunft
stößt uns nicht einfach bloß zu. Michaela
Ralser betonte, dass eine passive und
bloß reaktive Haltung womöglich dazu
führen kann, den günstigen Zeitpunkt,
der Veränderung möglich macht und von
uns eine Entscheidung fordert, ungenutzt
verstreichen lässt. „Wir denken also: Die
mittel- und langfristige Zukunft wird
sich nicht einfach schicksalshaft ereignen,
sondern sie wird mit unseren gegenwärtigen
Vorstellungen und Entscheidungen
angebahnt, vorbereitet und vorentschieden“,
so Ralser.
Nach dem Vortrag von Isolde Charim
luden die Gestalterinnen und Gestalter
des Programms die Anwesenden zu acht
Thementischen, an denen sehr konkret
darüber gesprochen wurde, wie die Zukunft
in unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bereichen gestaltet werden kann,
wie wir zusammenleben wollen, wenn
wir alt und pflegebedürftig sind, welches
Verhältnis von Mensch und Maschine wir
zulassen, fördern und eingehen wollen,
welche Barrieren und Grenzen wir abschaffen
wollen und welche geistigen
Inspirationen wir dafür benötigen (siehe
Boxen „Zukunftsthema“).
Solidarität jenseits
der Gemeinschaft
Am zweiten Tag des Diskussionsforums
sprach die österreichische Philosophin
und Publizistin Isolde Charim über die
Möglichkeit, Gesellschaft neu zu denken
(ein ausführliches Interview finden
Sie auf den Seiten 22 und 23). Der Begriff
der Gesellschaft sei zentral, wenn
man von Zukunft spreche, sagte Charim
in Inns bruck: In den vergangenen
ZUKUNFTSTHEMA
ZUKUNFTSTHEMA
ZUKUNFTSTHEMA
R E L I
GION
In Hinblick auf RELIGION waren sich die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig,
dass diese vor allem das Verhältnis der
Menschen untereinander und zueinander
mitgestalten, da Religion vor allem Werte,
Orientierung oder Handlungsoptionen
anbiete, die wesentlich zum Verhältnis der
Menschen beitragen. Es wurde auch festgestellt,
dass Religion gerade heute immer
wieder auch als destruktiv oder konfliktschürend
wahrgenommen wird. Es brauche
daher Räume für geteilte Erfahrungen, um
jenes Positive sichtbar und erfahrbar zu
machen, das Religionen zu Gesellschaft
beitragen können.
H E I
M A T
Mit dem Kunstwort „mehrheimisch“
wurde auf eine gewisse Unvollständigkeit
von „einheimisch“ verwiesen. Der Begriff
HEIMAT wurde allerdings nicht in Bausch
und Bogen verabschiedet. Damit sich jeder
heimisch fühlen kann, müssen entsprechende
Strukturen gestärkt werden: „Wir
haben eine Heimat für alle und wir wollen
mehr davon.“ Auf dieser Basis stellten die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Beispiel
die Frage, wie eine Stadtgesellschaft
organisiert sein kann, so dass sie mit Vielfalt
umgehen kann. Wie müssen diese Städte
also gebaut sein und welche Strukturen
braucht es dafür?
ROBO
T E R
Der künftige Einsatz von ROBOTERN in der
Pflege ist eine Entwicklung, die heute noch
in den Kinderschuhen steckt, die uns in
Zukunft aber sicher beschäftigen wird. Hier
sei weder naiver Technikoptimismus noch
vorschnelle Maschinenstürmerei am Platz.
Es gehe vielmehr darum, die Potenziale, die
sinnvollen Einsatzmöglichkeiten dieser Technologien
zu ermessen. Gleichzeitig müssten
auch die Gefahren, die gesellschaftspolitisch
damit einhergehen können, im Blick behalten
werden. Die Diskussion habe aber auch
eine gender- und geschlechterpolitische
Dimension, denn der Pflegebereich ist ein
Bereich, in dem sich auch gesellschaftliche
Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln. Wie
sich diese Verhältnisse durch die Automatisierung
transformieren, müsse ebenfalls
diskutiert werden.
Fotos: unsplash/Alex Knight (1), Tirol Werbung/Aichner Bernhard (1), AdobeStock/1STunningART (1)
zukunft forschung 02/19 11
TITELTHEMA
DER BEGRIFF der Gesellschaft sei zentral, wenn man von Zukunft spreche, sagte die Philosophin Isolde Charim in Innsbruck.
ZUKUNFTSTHEMA
KRAFT
Jahrzehnten habe sich die ökonomische
Globalisierung durchgesetzt, aber keine
Gesellschaft hervorgebracht, weder
national noch international. Ein Verhältnis,
wo völlig autonome, vereinzelte
Individuen in Konkurrenz zueinander
stehen, erzeugte Fliehkräfte für die Gesellschaft.
Zum einen ökonomische, was
sich am deutlichsten an der Sezession
der Reichen zeige, die sich abtrennen,
distanzieren, vom Gemeinwohl zurücktreten.
„Kurzum: Die ökonomischen
Eliten kündigen den Gesellschaftsvertrag
einseitig auf und damit auch jede
Vorstellung von Gleichheit“, so Charim.
Eine zweite Fliehkraft bilden für Isolde
Charim die Identitäten. Den Unterschied
zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft
macht sie für den Einzelnen am Unterschied
zwischen Teil sein und teilhaben
fest. „In einer Gemeinschaft ist man eil
des Ganzen, in einer Gesellschaft hat
man teil“, sagt die Philosophin. „Und
Demokratie zielt auf Gesellschaft, auf
die Vergesellschaftung des Einzelnen.“
Heute haben wir es laut Charim mit
Um Gesellschaft zu verändern, benötigen wir
KRAFT. Nach Meinung der Diskutierenden
bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit
für die jeweils eigene Inspirationsquelle, gerade
auch in Diskussionen mit anderen Menschen,
die vielleicht eine andere Inspirationsquelle
haben. Für diese Gespräche brauche
es wiederum Räume, in denen „gefährliche
Begegnung“ – um es mit Isolde Charim zu
sagen – möglich ist, wo wir uns trauen, über
das zu reden, was uns Kraft gibt, und wo wir
akzeptieren können, dass die oder der Andere
eine andere Kraftquelle hat. So bleiben
wir offen für neue Ergebnisse.
einem Ausschluss neuen Typs zu tun: Die
Ausgeschlossenen sind nicht einfach die
Unterschicht, sondern auch die Zurückgelassenen,
die Abgehängten.
Zukunftskräfte
Gegen diese Entwicklungen präsentierte
Isolde Charim vier Strategien, die nicht
nur eine Zukunft, sondern eine andere
Zukunft denkbar und möglich machen:
Erstens erinnerte sie daran, dass Demokratie
die institutionalisierte Möglichkeit
darstellt, Konflikte auszutragen. „Das
Besondere an der Demokratie ist das
Verständnis jenes Potenzials, das durchgefochtene
Konflikte für die Gesellschaft
haben. Uns verbindet nicht nur der Konsens,
sondern ebenso sehr der gemeinsam
durchgestandene Konflikt.“ Die Wirkung
dieser Strategie sei heute aber begrenzt:
„In einer Gesellschaft mit Tendenzen zum
Auseinanderdriften, in einer Gesellschaft
mit massiver Gemeinschaftsbildung büßt
der Konflikt sehr schnell sein produktives
Moment ein.“ Für Charim braucht
es nicht mehr Zugehörigkeitsgefühl, sondern
Vorstellungen, wie man Solidarität
befördert in einer Gesellschaft, wo die
Leute einander eben nicht mehr alle ähn-
12
zukunft forschung 02/19
Fotos: www.vervievas.com (1) , pixabay/klimkin (1)
TITELTHEMA
lich sind. „Es braucht keine neue Heimat,
sondern vielmehr eine vermehrte soziale
Durchmischung in einer Gesellschaft, die
immer mehr zu allerlei Arten von Separatismus
tendiert.“ Es brauche geteilte
Praxis, geteilte Erfahrungen, und dafür
Orte der Durchmischung, Bereiche der
Kooperation statt Ghettoisierung und soziale
Abkoppelung.
„Wenn man heute den Eliten eine Rede
hält, wenn man sie überzeugen, bekehren,
verführen will, dann nicht, indem
man an ihr Gewissen appelliert, sondern
indem man ihnen ihren eigenen Diskurs
entgegenhält. Anders gesagt: Die neuen
Eliten werden nicht durch Moral gewonnen,
sondern durch ihr eigenes Prinzip“,
sagt Charim und verweist auf empirische
Studien, die zeigen, dass gerechte Gesellschaften
besser funktionieren – und zwar
für alle Beteiligten. Auch für Privilegierte
sind gerechtere Gesellschaften besser.
Gleichheit sei daher ein Gebot der Effizienz.
Die letzte und vielleicht wichtigste
Strategie aber ist für Isolde Charim jene,
ZUKUNFTSTHEMA
BARRI
EREN
welche die Fridays-for-Future-Bewegung
eröffnet hat. „Es sind Ansätze eines neuen
Denkens jenseits der neoliberalen Enthemmung,
ohne Rückgriff auf alte Konzepte.
Es ist dies eine Alternative, die
nicht über den Rückgriff auf Gemeinschaft
funktioniert.“ Gleichzeitig eröffnet
es auch die Möglichkeit einer Solidarität
jenseits von Fragen der Ähnlichkeit.
An einem weiteren Thementisch wurde über
den Abbau von BARRIEREN diskutiert: Wie
kann Zugänglichkeit für alle Menschen erreicht
werden? Dabei ging es um die Frage,
wie sind Institutionen, Einrichtungen und
Alltag zu gestalten, so dass Zugänglichkeit
gewahrt ist. Schon heute gibt es Strukturpläne,
mit denen man diese Zugänglichkeit
überprüfen kann. Zum anderen wurde in
der Diskussion aber auch klar, dass niemand
glauben dürfe, nicht von dieser Frage betroffen
zu sein. Denn Barrieren sind keine Frage
für eine kleine Minderheit, im Laufe des
Lebens sind eigentlich alle davon betroffen.
Denn die Gemeinsamkeit beruht weder
auf Herkunft noch auf Moral, sondern
auf der reinen Existenz. „Es geht um Zukunftskräfte,
die mehr sind als der Erhalt
des Gegenwärtigen. Denn um das Gegenwärtige
auch nur zu erhalten, muss es
auf neue Füße gestellt werden. Und das
heißt nichts anderes als Gesellschaft neu
denken.“
cf
ZUKUNFTSTHEMA
R E S
SOUR
C E N
Wir leben in einer vollen Welt, in der wir
die RESSOURCEN oft schon über deren
Grenzen hinaus nutzen. Dem setzt das
Konzept der Donut-Ökonomie ein Handeln
gegenüber, wo einerseits soziale und politische
Bedürfnisse erfüllt und andererseits
die planetarischen Grenzen eingehalten
werden. In der Diskussion wurde betont,
dass es für einen Wandel ganz viele Orte der
Veränderung brauche, zunächst auf individueller
Ebene. Aber auch auf der Ebene des
Marktes seien neue Regeln und Bewertungsmaßstäbe
notwendig, so wie es auch einen
übergeordneten Rahmen und entsprechende
Regeln brauche. Ein Wandel verlangt Veränderung
auf allen diesen Ebenen, es sind aber
auch Schnittstellen zwischen den Ebenen
nötig, um die Aktivitäten zu verhandeln und
mögliche Risiken zu verteilen.
ZUKUNFTSTHEMA
ZUSAM
M E N
LEBEN
Auch über mögliche Formen des ZUSAM-
MENLEBENS haben die TeilnehmerInnen
gesprochen, ausgehend von der Literatur
als Darstellungsraum von verschiedenen
Lebens- und Verbundenheitsmodellen, von
gelungenen bis hin zu tragischen. Dabei
zeigte sich, wie jede Zeit mit bestimmten
Familien- oder Partnerschaftsmodellen
haderte. Auch gegenwärtig haben wir uns
die Frage zu stellen, wie wir die Menschen
zusammenbringen, wie Begegnungszonen
oder Begegnungsräume beschaffen sein
müssen. Und für manche war gerade dieses
Diskussionsforum der Universität Innsbruck
eine sehr gelungene Form einer solchen
Begegnungszone.
ZUKUNFTSTHEMA
ALTER
Die persönliche Angst vor Abhängigkeit im
ALTER war für die TeilnehmerInnen gar
nicht zentral, wichtig waren ihnen zwei andere
Aspekte: Einerseits in Isolation zu geraten
und soziale Beziehungen zu verlieren
und andererseits den Familienmitgliedern
zur Last zu fallen. Es müsse gesellschaftlich
anerkannt werden, dass die Pflege von
Angehörigen eine enorme Last darstelle.
Wichtig sei auch, wie in der Gesellschaft
und in Familien mit Themen wie Tod,
Alterung und Gebrechlichkeit umgegangen
werde. Hier werden diese Themen oft
einfach weggeschoben, weil sie nicht in die
Idealvorstellung vom körperlich und/oder
geistig aktiven Leben passen. Diese Teile
des Lebens sollten deshalb stärker zu einer
Realität gemacht werden, besonders in den
Familien.
Fotos: unsplash/Andreea Popa (1), unsplash/William White (1), unsplash/Dominik Vanyi (1), AdobeStock/gradt (1)
zukunft forschung 02/19 13
TITELTHEMA
ARBEIT IM ZEICHEN
DER KLIMAKRISE
Der digitalen Wertschöpfung in Zeiten der Klimakrise war ein Themennachmittag
beim „Diskussionsforum: Zukunft denken“ gewidmet.
Die digitale Transformation und
ihr Einfluss auf unsere Arbeitsund
Lebenswelt stand im Mittelpunkt
des zweiten Themenblocks beim
„Diskussionsforum: Zukunft denken“,
kuratiert von Annette Ostendorf, Leonard
Dobusch und Martin Stuchtey. Die
Digitalisierung befördert neue Formen
des Wirtschaftens, des Arbeitens und des
Lernens. Beim Diskussionsforum ging es
deshalb auch um die Frage, welche der
historisch gewachsenen und kulturell in
Tirol verankerten Strukturen in der neu
anbrechenden Zeit erhaltenswert, ausbaufähig,
veränderbar erscheinen und
was gänzlich neu gedacht werden muss:
Eine Wanderung zwischen Bewahrung
des Bewährten und Denken des radikal
Neuen, zwischen Tradition und Disruption.
Die Keynote hielt mit der ehemaligen
dänischen Umweltministerin Ida Auken
eine Expertin aus der politischen Praxis:
Sie plädierte für ein Europa der grünen
Regionen und zeigte auf, wie man digitale
Werkzeuge sinnvoll zur Bewältigung
der Klimakrise nutzen könnte.
Im Anschluss wurden insgesamt drei
Themenkreise in mehreren Untergruppen
diskutiert: Teilnehmerinnen und
Teilnehmer des Diskussionsforums haben
die Themengebiete „Zukunft der
Arbeit“, „Wie wir zukünftig wirtschaften“
und die „Zukunft von Bildung
und Beruf“ anhand provokanter Thesen
besprochen und ihre Kernbotschaften
in kurzen Tweets zusammengefasst: So
identifizierten die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer dieser Diskussionen Wege
zu nachhaltigem Leadership – „Toleranz,
Vielfalt und Chancengleichheit
ermöglichen einen neuen Stil von nachhaltigem
Leadership. Wir brauchen digitale
Stories, um diesen Ansatz weltweit
verbreiten zu können“, heißt es etwa als
Fazit eines der Themenkreise zum zukünftigen
Wirtschaften. Unternehmen
müssten radikal anders entscheiden und
agieren, wenn sie in der „Klimafrage“ eine
Rolle spielen wollten – und wir alle
unseren Konsum ändern, so lautet die
Zusammenfassung einer zweiten Runde.
Auch die Zukunft von Bildung und
Beruf sahen viele Teilnehmerinnen und
Teilnehmer in der Vielfalt: Unter anderem
sollten Bildungsmöglichkeiten und
-angebote an die Vielfalt heutiger Arbeitsformen
angepasst werden. Und ein
kritisch-ethischer Diskurs über Digitalisierung
und Energiefragen müsste schon
in den Schulen stattfinden.
14 zukunft forschung 02/19
Fotos: Uni Inns bruck (1), www.vervievas.com (1)
TITELTHEMA
Klimakrise & Digitalisierung
In ihrer Keynote „Ein Europa der grünen
Regionen – Gedanken zu einem neuen
Wohlstandsbegriff im Zeichen veränderter
Anforderungen und technologischer Möglichkeiten“
schlug die dänische Politikerin
Ida Auken einen Bogen zwischen den beiden
großen Herausforderungen der Gegenwart:
Der Klimakrise und der digitalen Disruption.
Dabei bietet die Digitalisierung auch Chancen
und Möglichkeiten, mit der Klimakrise
umzugehen. Themenkurator Martin Stuchtey
bezeichnete Ida Auken in seiner Einführung
als „Mutmacherin par excellence“: Die studierte
Theologin und Autorin ist seit 2007
gewählte Politikerin, erst für die links-grüne
„Socialistisk Folkeparti“, seit Anfang 2014
für die links-liberale „Radikale Venstre“. Von
2011 bis 2014 war sie dänische Umweltministerin,
davor und seither Parlamentarierin.
„Ida Auken gilt als die Architektin der
Energiewende, der Circular-Economy-Wende
in Dänemark, aber auch in Europa“, betonte
Martin Stuchtey in seiner Vorstellung. Hier
ihr Vortrag in einigen Auszügen:
„Die Integration der Energiemärkte steht
an erster Stelle, wenn wir erneuerbare
Energien einsetzen wollen. Ein Beispiel:
Dänemark produziert Windenergie und
nutzt Norwegen als Batterie, weil sie dort
mit Pumpspeicherkraftwerken die Energie
speichern können. Das ist ein guter
Deal für Dänemark und für Norwegen,
da Norwegen die Energie von uns auch
billig bekommt. Österreich mit dem hohen
Wasserkraftanteil hat die Chance,
„Wenn wir ein Geschäftsmodell
für nicht ausgelastete Produkte
entwickeln können, können wir
neues Wachstum ermöglichen,
das vom Material- und
Energieverbrauch entkoppelt ist.“
Ida Auken, Umweltministerin Dänemark 2011 bis 2014
ES GIBT VIELE Möglichkeiten, unseren Lebensstil nachhaltiger zu gestalten.
ebenfalls eine Batterie für die ganze Region
zu werden. Erneuerbare Energien sind
heute sehr viel billiger als die meis ten anderen
Energieformen, wir haben aber ein
Problem der Speicherung, und da kommen
die integrierten Märkte ins Spiel.
Wir sollten auch die Verbraucher dazu
bringen, Energie zum richtigen Zeitpunkt
zu konsumieren: Ziel ist, Stromsicherheit
zu haben und keine Energie dadurch
zu verlieren, dass niemand Strom verbraucht,
etwa nachts. Wenn wir die Leute
dazu bringen könnten, ihre Elektrofahrzeuge
nachts aufzuladen, weil es auch
dort Windkraft gibt, ist das eine Lösung.
Auch mit dem Internet der Dinge und der
Maschine-zu-Maschine-Kommunikation
könnte man das so gestalten – der Kühlschrank
muss nicht um vier bis fünf Uhr
nachmittags kühlen, wenn man Strom für
andere Dinge braucht, er könnte damit
bis später in der Nacht warten. Die Leute
müssen sich darüber nicht einmal selbst
kümmern, die Maschinen machen das
von selbst. Man könnte auch Geschirrspüler
und Waschmaschinen so programmieren,
dass sie zu Zeiten laufen, in denen
Stromnetze wenig ausgelastet sind.“
(…)
„Auch die Mobilität ist ein großer Teil:
Mein Traum wäre, dass wir uns in Richtung
Mobilität bewegen, im Gegensatz
dazu, Autos zu besitzen. Ich habe immer
noch keine dänische Stadt gefunden, die
sich freiwillig dafür einsetzt. Aber ich
bin überzeugt: Wenn man die private
Autonutzung in einer Stadt verbieten
würde, hätte man sehr schnell Mobilitätslösungen,
die auch technologisch unterstützt
würden, etwa durch Rideshare-Anbieter
und automatisch berechnete Routen.
Wir müssen die Menschen auch dazu
bringen, Fahrräder oder Roller zu benutzen.
So eine Stadt wäre sehr attraktiv, es
gäbe keinen Lärm, keinen Stau, Parkplätze
könnten in Grünflächen umgewandelt
werden. Das sind die Dinge, mit denen
wir jetzt anfangen müssen. Wir können
das jetzt schon umsetzen und wir haben
die Technologie dazu.“
(…)
„Ein weiterer Trend ist Konsum und Verbrauch:
In Schweden haben die Leute
vielfach aufgehört, Dinge zu kaufen, sie
weigern sich einfach. Das wird zu einem
großen Trend. Wie gestalten wir Produkte
für diese Welt? Entweder wir konzentrieren
uns auf High-End-Produkte,
von denen man eines statt zehn kauft
und es für eine lange Zeit hat, oder man
geht zu Leasing- oder Leih-Lösungen
über, bei dem man kein Produkt besitzt,
aber für eine Weile Zugang dazu hat.
Denken Sie an Dinge, die Sie besitzen
und die Sie eine Zeit lang nicht benutzen,
wie z.B. eine Bohrmaschine, wenn Sie eine
zu Hause haben – sie läuft insgesamt
drei Minuten, aber sie liegt die ganze Zeit
bei Ihnen zu Hause. Denken Sie über all
die Dinge nach, die Sie nicht benutzen.
Uber hat das mit dem Auto gemacht: Ihr
Auto läuft fünf Prozent der Zeit, das ist
extrem wenig Auslastung. Wenn wir ein
Geschäftsmodell für die nicht ausgelasteten
Produkte entwickeln können, können
wir neues Wachstum ermöglichen,
das vom Material- und Energieverbrauch
entkoppelt ist.“
sh
zukunft forschung 02/19 15
TITELTHEMA
ERNEUERBARE ENERGIE
NÜTZEN
Sonne, Wasser, Holz und Umweltwärme sind in Tirol vorhandene Ressourcen, die das Land der Vision
von Energieautonomie im Jahr 2050 näherbringen.
Eine vernetzte Welt, verflochtene
Wirtschaftssysteme, steigender Bedarf
an Wohnraum und eine hochmotorisierte
Gesellschaft fordern einen
hohen Energiebedarf. Noch wird dieser
zum größten Teil durch den Einsatz von
fossilen Energieträgern gedeckt. Die steigenden
Treibhausgasemissionen und
der dadurch verursachte Klimawandel
zeigen deutlich, dass sich das System
radikal verändern muss, um auch den
zukünftigen Generationen eine weiterhin
lebenswerte Umwelt zu hinterlassen.
Welche Chancen neue Technologien und
IT bieten, um diese Herausforderungen
zu bewältigen, sollte beim „Diskussionsforum:
Zukunft denken“ zum Thema
„Siedlungsraum – Verkehr – Energie“
diskutiert werden. Ruth Breu, Leiterin
des Instituts für Informatik, Markus Mailer,
Professor am Institut für Infrastruktur
im Arbeitsbereich Intelligente Verkehrssysteme
und Wolfgang Streicher, Professor
am Institut für Konstruktion und
Materialwissenschaft im Arbeitsbereich
Energieeffizientes Bauen, waren als Kuratorin
und als Kuratoren für die Gestaltung
des Themenblocks verantwortlich.
Unter anderem präsentierten Streicher
und Mailer eine Studie, in der Wasser
Tirol, die Universität Inns bruck und das
MCI gemeinsam untersucht haben, ob
Tirol 2050 ein fossilfreies Energiesystem
haben kann.
Aus Potenzialen schöpfen
Tirol bietet viele erneuerbare Potenziale,
die genutzt werden können, um das Land
fit für die kommenden Generationen zu
machen. Die untersuchten Technologieeinsatzszenarien
zeigen, dass die verfügbare
Wasserkraft, Biomasse, Sonnen- und
Windenergie sowie Umweltwärme in
Kombination mit einer höheren Energieeffizienz
in den Sektoren Gebäude,
MIT WASSERKRAFT, Biomasse, Sonnen- und Windenergie hat Tirol viele erneuerbare
Potenziale, mit denen das Land fit für kommende Generationen gemacht werden könnte.
Mobilität und Industrie die Möglichkeiten
bieten, das Ziel der Energieautonomie
und die Energiewende zu erreichen.
Da Technologien besonders im Gebäudebereich
langlebig sind und das Treibhausgas-Emissionsbudget
zur Erreichung des
2 -°C-Klimaziels nur mehr sehr begrenzt
ist, muss mit dem Umbau des Energiesystems
sofort begonnen werden. Wege, um
dieses Ziel zu erreichen, gibt es viele. „Die
Vision ist vorgegeben. Die Aufgabe der
Studie war es, abzuschätzen, mit welchen
Technologien und Strategien das Ziel erreicht
werden kann“, verdeutlicht Mailer.
Dazu ist es notwendig, das aktuelle Energiesystem
in den nächsten Jahrzehnten so
umzubauen, dass die derzeit eingesetzten
fossilen Energieträger vollständig durch
erneuerbare, vorzugsweise heimische,
Energieträger ersetzt werden.
„Im Rahmen der Studie haben wir
auch untersucht, wie weit der Energiebedarf
im Jahr 2050 reduziert werden kann
und wie wir diesen Bedarf durch in Tirol
vorhandene erneuerbare Energien decken
können“, so Streicher. Insgesamt zeigt
sich, dass die erneuerbaren Ressourcen in
Tirol theoretisch ausreichend zur Verfü-
16 zukunft forschung 02/19
Fotos: AdobeStock/Alberto Masnovo (1), www.vervievas.com (1)
TITELTHEMA
gung stehen, um den Bedarf im Jahr 2050
decken zu können. Die Realisierbarkeit
der Vision wurde von den Wissenschaftlern
durch den Einsatz unterschiedlicher
Energieträger geprüft. „In der Studie haben
wir vier Grenzwertszenarien und ein
Energiemix-Szenario erstellt“, so Streicher.
Neben der Möglichkeit, in der zukünftigen
Energieversorgung hauptsächlich
auf Strom zu setzen, wurden auch
Szenarien mit dem verstärkten Einsatz
von Wasserstoff oder Methan untersucht.
Dabei war das Strom-Szenario das effizienteste.
Das Energiemix-Szenario beinhaltet
sowohl Strom als auch Wasserstoff
und Methan in der Bedarfsdeckung.
Mit Strom in die Zukunft
„In allen von uns durchgerechneten Szenarien
ist die Erreichung des Ziels möglich.
Die Frage ist nur, mit welchen Maßnahmen“,
erläutert Mailer. Alle betrachteten
Szenarien zeigen, dass dem Strom
zukünftig eine wesentliche Rolle zukommen
wird und dass der Ausbau der Stromerzeugung
notwendig ist. „Dafür ist es
jedenfalls erforderlich, die Wasserkraft
weiter um 50 Prozent auszubauen, zu
beginnen, das Windpotenzial zumindest
in beschränktem Maße zu nutzen, nahezu
alle nutzbaren Dachflächen mit Photovoltaik-Modulen
zu bestücken sowie die
gesamte heimisch nachwachsende und
für energetische Nutzung zur Verfügung
stehende Biomasse zu verwenden“, führt
Streicher aus. Ergänzend müssten bei
dem Wasserstoff- und Methan-Szenario
auch beträchtliche Freiflächen mit Photovoltaikanlagen
errichtet werden. In der
Raumwärme wird es künftig statt Öl und
Gas vor allem Wärmepumpen zur Nutzung
der Umweltwärme aus Luft, Erde
und Wasser, aber auch Biomasse und
Fernwärme aus erneuerbaren Energieträgern
geben. Aber auch Bio gas spielt eine,
wenn auch aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit
geringe, Rolle in der zukünftigen
Energiebedarfsdeckung.
„Im Bereich von Gebäuden können wir
den Energiebedarf um fast ein Drittel reduzieren,
wenn wir den Gebäudebestand
hochwertig sanieren und im Neubau
höchste Qualitätsstandards – wie etwa
Passivhausstandard – ansetzen, die sich
wesentlich über dem heutigen Niveau
befinden“, so Streicher. In der Mobilität
bietet der Wechsel von Verbrennungsmotoren
auf Elektromobilität die Chance,
den Energiebedarf um fast 70 Prozent zu
reduzieren. Die geringsten Einsparungen
sehen die Autoren in der Industrie, da
hier der Umstieg auf Strom und erneuerbare
Energieträger bereits eine sehr große
Herausforderung darstellt.
Eine gute Mischung
Für am ehesten politisch umsetzbar halten
die beiden Wissenschaftler das von ihnen
berechnete Energiemix-Szenario. Den
Hauptanteil an eingesetzten erneuerbaren
Energien sollen Strom und Umweltwärme
bilden, unterstützt von Wasserstoff
und Methan. In gewissen Bereichen wird
es nicht möglich sein, nur auf Strom zu
setzen. So sind in der Industrie prozessbedingt
manchmal eine Flamme oder
kohlenstoffhaltige Energieträger notwendig.
Auch der E-Mobilität sind Grenzen
gesetzt, selbst wenn Autobahnen für
den Güter- und Personenfernverkehr
mit Oberleitungen elektrifiziert werden
könnten. Doch im Flugverkehr erscheinen
flüssige Treibstoffe noch lange unverzichtbar
zu sein, wenn auch zukünftig
erzeugt aus erneuerbarem Strom und CO 2
aus der Atmosphäre.
Neben den neuen Antrieben werden
neue Konzepte zur gemeinsamen Nutzung
von Fahrzeugen oder neue Möglichkeiten
der Vernetzung im öffentlichen
Verkehr die Mobilität verändern. „Unumstritten
ist, dass sich Mobilität verändern
wird. Damit Verkehr dabei auch nachhaltiger
wird, muss sich das Verhalten auch
entsprechend ändern, das heißt beispielsweise
vermehrt Autos so zu teilen, dass
der Besetzungsgrad steigt, aber auch
Kurzstrecken wieder zu Fuß oder mit dem
Rad zurückzulegen“, sagt Mailer. „Wenn
wir all die uns zur Verfügung stehenden
erneuerbaren Energien nützen und gleichzeitig
alle Effizienzmaßnahmen voll ausschöpfen,
dann geht sich die Realisierung
der Energieautonomie im Jahr 2050 für
Tirol gerade aus“, so Streicher. Es wird
aber wesentlich von den Rahmenbedingungen
und der Akzeptanz der Menschen
abhängen. Jede zusätzliche Verhaltensänderung
der Bevölkerung in Richtung weniger
Energiebedarf ist zudem hilfreich.
„Es geht uns so gut wie noch nie. Dieses
Leben sollten wir auch unseren Kindern
und Enkeln ermöglichen“, sind sich die
Wissenschaftler einig.
dp
www.VerVieVas.com
„ES GEHT ZU LANGSAM!“, ruft Jonas Buchholz, Sprecher der „Fridays for Future“, Zukunft auf. denken
Impulsvortrag
21.-22.11.2019
Als Vertreter der Bewegung hielt er einen Impulsvortrag zum Auftakt der Veranstaltung
„Diskussionsforum: Zukunft Denken“ und vertrat somit die Meinungen, Ängste und Sorgen
der jungen Generation, die unzufrieden mit den derzeitigen Entwicklungen ist. „Die
jungen Menschen sind so unzufrieden, dass sie jede Woche auf die Straße gehen, um mit
einem gewaltfreien Protest radikale Veränderungen in der Klimapolitik zu erreichen“, so
Buchholz. Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Berichten des IPCC betonte
er die Notwendigkeit des Handelns der „Fridays for Future“-Bewegung. „Wir sind der
Meinung, dass eine umfassende Veränderung in der Klimapolitik sofort nötig ist, um eine
Klimakatastrophe noch irgendwie verhindern zu können“, verdeutlichte der junge Aktivist.
Mit den Forderungen nach sofortigem Handeln ist er nicht allein. In Österreich haben sich
über 150.000 Menschen beim letzten Earth Strike beteiligt. Buchholz bedankte sich auch
für das große Interesse in Inns bruck.
zukunft forschung 02/19 17
TITELTHEMA
18 zukunft forschung 02/19
Fotos: AdobeStock/smolaw11 (1), Uni Innsbruck (1)
TITELTHEMA
KLIMASCHUTZ ALS DIÄT
Das Klimabewusstsein im Tourismusland Tirol ist grundsätzlich groß, die Bereitschaft
zu nachhaltigem Handeln – wie anderswo auch – ausbaufähig: Warum das so ist und
wie man das ändern könnte, versuchte der Psychologe Claus Lamm beim letzten Panel
des Diskussionsforums zu erklären.
„Wir müssen den Klimawandel
als unmittelbares, lokales
und persönliches Risiko
veranschaulichen und seine
emotionale und greifbare
Erlebbarkeit steigern.“
Claus Lamm, Universität Wien
Nachhaltigkeit war das dominierende
Schlagwort beim Diskussionsforum
am Nachmittag des 22. November:
Das letzte Panel war dem Themenbereich
„Tourismus – Klima(wandel)
– Konsum“ gewidmet, und bereits die
Eingangsreferate der Kuratorin und der
Kuratoren Kerstin Neumann, Mike Peters
und Mathias Rotach machten deutlich,
dass nachhaltiges Handeln auf allen
gesellschaftlichen Ebenen erforderlich ist,
um dem Klimawandel entgegenzutreten.
„Die Begrenzung des Klimawandels erfordert
eine substanzielle nachhaltige Reduktion
von Treibhaus-Gasen“, verdeutlichte
Mathias Rotach, Universitätsprofessor
für Dynamische Meteorologie an
der Universität Innsbruck, bei seiner Präsentation
von Daten und Fakten über den
Klimawandel. Ein nicht ganz unwichtiges
Detail daraus: Die Österreicherinnen und
Österreich stehen, was die Pro-Kopf-
Emission von Treibhausgasen betrifft, auf
europäischer Ebene eher schlecht da. So
zeigen die Zahlen aus dem europäischen
Sachstandsbericht 2018, dass Österreich
mit 8,24 Tonnen CO 2 -Ausstoß pro Kopf
und Jahr deutlich über dem EU-28-Schnitt
von 6,97 liegt.
Nachhaltigkeit als Wert
Immerhin lässt sich jedoch ein gewisser
Bewusstseinswandel feststellen: Nachhaltigkeit
sei, so formulierte es Mike Peters
– Universitätsprofessor am Institut
für Strategisches Management, Marketing
und Tourismus – nicht mehr nur ein
Wort, sondern mittlerweile auch ein Wert,
der „ganz stark in unser Wertesys tem
aufgenommen wurde“. Das untermauerten
auch die Aussagen der im Vorfeld
des Diskussionsforums befragten Tirolerinnen
und Tiroler und die Beiträge des
anwesenden Publikums.
Auch Kerstin Neumann, Universitätsprofessorin
für Corporate Sustainability,
bekräftigte das theoretisch hohe Klimabewusstsein,
stellte diesem in ihren einleitenden
Worten aber ein eindringliches
Beispiel unseres tatsächlichen Konsumverhaltens
im Bereich Mode gegenüber:
Bei einer repräsentativen Umfrage in
Deutschland gaben zwar über 50 Prozent
der Befragten an, dass sie bereit wären, für
nachhaltige Mode mehr Geld auszugeben
als für konventionelle. Eine weitere Studie
mit mehr als 1.000 Teilnehmerinnen und
Teilnehmer ergab jedoch, dass Nachhaltigkeit
beim Kaufentscheid letztendlich
nur eine marginale Rolle spielt. Ausschlaggebend
sind letztendlich Preis und
Design – und das obwohl mittlerweile
bekannt ist, dass die Textilbranche, was
den sozialen und ökologischen Einfluss
betrifft, eine der schmutzigsten Produktionszweige
ist.
Warum wir beim Kleiderkauf und in
vielen anderen Situationen wider besseres
Wissen handeln und weitermachen wie
bisher, thematisierte Claus Lamm, Universitätsprofessor
für Soziale, Kognitive
und Affektive Neurowissenschaften an
der Universität Wien, in seiner Keynote
Speech mit dem Titel „Wir wissen es und
haben sogar Mitgefühl – und trotzdem
munter weiter wie immer?“.
Die mangelnde menschliche Fähigkeit
zur Verhaltensänderung in Bezug auf den
Klimawandel begründete Lamm aus kognitionswissenschaftlicher
Sicht mit einer
Reihe von individuellen, evolutionär entstandenen
Denk- und Verhaltensmustern:
WARUM SOLLTEN wir nachhaltig handeln
und wie? Menschen mit unterschiedlichsten
Hintergründen und Motivationen
haben beim Diskussionsforum ihre persönlichen
Antworten dazu geben. Per Videobotschaft,
im Rahmen einer Mentimeter-
Umfrage und in der Abschlussdiskussion.
Hier ein kleiner Einblick:
Maureen Habermann (Initiative Nachhaltige
Uni Innsbruck): „Nachhaltigkeit ist für
mich, mein Konsumverhalten zu überdenken,
weil die Ressourcen auf dieser Welt
nicht unendlich sind.“
Marcus Hofer (Geschäftsführer Standortagentur
Tirol): „Für uns als Standortagentur
ist es wichtig, (... ) die Unternehmen gerade
im Bereich Energie – Klimaanpassung –
Energieeffizienz bestmöglich zu betreuen,
damit wir Tirol als saubere alpine Region
entwickeln können.“
Tilmann Märk (Rektor): „Nachhaltigkeit
ist – glaube ich – eine selbstverständliche
Lebenshaltung. Alles andere wäre Verschwendung.“
Florian Phleps (Geschäftsführer Tirol
Werbung): „Ein nachhaltiges regionales
Handeln ist die Basis für unser Tun, um
auch in Zukunft ein Leben und Wirtschaften
mit der alpinen Natur abzusichern.“
zukunft forschung 02/19 19
TITELTHEMA
WORDCLOUD AUS DER MENTIMETER-UMFRAGE: Beim Diskussionsforum startete Mike Peters, Professor am Institut für Strategisches
Management, Marketing und Tourismus, eine Mentimeter-Umfrage, um den TeilnehmerInnen und Teilnehmern die Möglichkeit zu geben,
zu sagen, was sie tun, um dem Klimawandel zu begegnen: Jene Argumente, die groß sichtbar sind, wurden am meisten genannt: Neben
der Vermeidung von Plastik betreffen die meisten nachhaltigen Aktionen die Mobilität, den Konsum, häufig auch den Fleischkonsum.
So bewerten Menschen beispielsweise Situationen
grundsätzlich intuitiv und nicht
faktenbasiert. Was den Menschen in der
Evolution weitergebracht hat, funktioniert
jedoch angesichts der Komplexität
des Klimawandels nicht mehr.
Klimaschutz-Diät
Ein weiteres Beispiel sei die sogenannte
menschliche Verlustaversion, also die Tatsache,
dass der Großteil von uns Verluste
emotional stärker bewertet als potenzielle
Gewinne: Der Verzicht aufs Auto wird also
emotional stärker wahrgenommen als
die Vorstellung, welchen positiven Effekt
dieser aufs Klima hat. Hinzu kommt, dass
der subjektive Wert für etwas, das man
gleich haben kann, höher ist, als wenn
der positive Effekt zu einem späteren
Zeitpunkt eintritt, vielleicht sogar erst die
Nachkommen betrifft.
„Wir müssen deshalb den Klimawandel
als unmittelbares, lokales und persönliches
Risiko veranschaulichen und
seine emotionale und greifbare Erlebbarkeit
steigern“, ist einer der Vorschläge,
die Lamm am Schluss seines Vortrags
machte, den er mit der Idee einer Klimaschutz-Diät
abschloss. Er sieht viele Analogien
zwischen einem wirksamen Abnehmprogramm
und einem Programm
für mehr Nachhaltigkeit. Wie bei einer
Diät müsse man klare persönliche Ziele
definieren, diese niederschreiben, in regelmäßigen
Abständen überwachen und
bei Fehlverhalten Ausgleichsmaßnahmen
IN BEWEGUNG GESETZT
Um unser Verhalten zu reflektieren und zu
hinterfragen, lud Theaterpädagoge und
Politologe Armin Staffler nach der Pause
das Publikum zu einem Experiment ein,
bei dem er Anweisungen gab, welche die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst
befolgen sollten, in einer weiteren Runde
sollten sie das Gegenteil des Kommandos
tun. In einer öffentlichen Feedbackrunde
konnten alle Interessierten ihre Beobachtungen
teilen.
setzen. Sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen
ist eine weitere Möglichkeit,
die es erleichtern kann, persönliche
Ziele zu erreichen. „Natürlich muss man
das Vorhaben auch positiv framen“, verdeutlichte
Lamm eine weitere Parallele
zur Diät.
Diese Diät will der Neuropsychologe
nicht nur jedem einzelnen Menschen verordnen,
sondern auch dem politischen
System. Alle EntscheidungsträgerInnen
in den Institutionen müssten sich zu dieser
Klima-Diät verpflichten. „Denn die
beschriebenen Handlungsmechanismen
können wir nicht nur auf individueller
Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher
und politischer Ebene anwenden“,
sagte Lamm: „Entscheidend ist allerdings,
dass wir jetzt damit beginnen!“ Denn
sonst ist irgendwann in naher Zukunft jener
Punkt erreicht, an dem das Klima der
Erde kippt und Mechanismen in Gang
gesetzt werden, die jeder möglichen Kontrolle
durch den Menschen entzogen sind.
Lamm legte mit seinem Vortrag beim
Diskussionsforum klar dar, dass der Klimawandel
keineswegs nur ein physikalisches,
sondern vor allem auch ein zutiefst
soziales Phänomen ist. ef
20 zukunft forschung 02/19
Foto: Uni Innsbruck; Screenshot: mentimeter.com
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WWW.STARTUP.TIROL
TITELTHEMA
GESELLSCHAFT NEU DENKEN
„Wir leben“, sagt Isolde Charim, „in einer Gesellschaft neuen Typs, die nicht mehr alle umfasst.“ Einen
Ausweg sieht sie nicht in einem neuen Wir-Gefühl, sondern in einem Umgang mit Unterschieden.
ZUKUNFT: Als wirtschaftliches Modell haben
sich freier Markt und ökonomische
Globalisierung durchgesetzt und gesellschaftliche
Institutionen wie z.B. Sozialstaat
oder Gewerkschaften geschwächt
bis aufgelöst. Hat dieses Modell aber eine
neue Gesellschaft hervorgebracht? Wenn
nein, warum nicht?
ISOLDE CHARIM: 1987 sagte Margaret
Thatcher ihren legendären Satz: „There
is no such thing as society.“ Heute, mehr
als 30 Jahre später, zeigt sich: Thatchers
Diktum war Drohung und Prophezeiung
in einem. Der enthemmte Markt, die
ökonomische Globalisierung ist tatsächlich
das Modell, das sich durchgesetzt
hat. Es ist dies ein Modell, das keine Gesellschaft,
die ihm entsprechen würde,
hervorgebracht hat. Weder national noch
international. Eben weil diesem Modell
keine Gesellschaft entspricht.
Denn Gesellschaft ist kein Ding, sondern
ein Verhältnis – das Verhältnis zwischen
Individuen. Wenn es nur Individuen
und keine Gesellschaft gibt – was
ist dann deren Verhältnis? Für Thatcher
war klar: Das Verhältnis zwischen den Individuen
soll nicht eines der Gesellschaft,
sondern eines des Marktes sein – also ein
Verhältnis von Angebot und Nachfrage,
ein Verhältnis, wo völlig autonome, vereinzelte
Individuen in Konkurrenz zueinander
stehen. Das alte Verhältnis ist also
zu einem Nicht-Verhältnis geworden.
ZUKUNFT: Statt einer Gesellschaft beobachten
Sie einen Zerfall in Gemeinschaften.
Was hat dies für Konsequenzen?
CHARIM: Gemeinschaften sind Gruppierungen
mit einer eigenen Verbundenheit
– durch Emotion, durch Tradition –, eine
Verbundenheit, die als „natürliche“, organische
erlebt wird. Eine Gesellschaft
hingegen ist eine wesentlich losere Verbindung,
in der die Individuen miteinander
in Austausch treten, interagieren,
kooperieren – aber doch getrennt bleiben.
Für den Einzelnen bedeutet das den Unterschied
zwischen Teil-Sein und Teil-
Haben: In einer Gemeinschaft ist man
Teil des Ganzen – in einer Gesellschaft
hat man teil.
Die Erosion der Gesellschaft erzeugt
heute einen Ausschluss neuen Typs: Die
Ausgeschlossenen sind nicht einfach die
Unterschicht, sondern die Zurückgelassenen,
die Abgehängten. Ob dem reale
Entwertungen zugrunde liegen – etwa
„Das gesellschaftliche Band
der Demokratie ist kein
konsensuales, sondern ein
konfliktuelles. Das heißt: Uns
verbindet nicht (nur) der
Konsens, sondern ebenso
sehr der gemeinsam
durchgestandene Konflikt.“
22 zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle
TITELTHEMA
von Ausbildungen – oder ob dies „nur“
empfunden wird, macht da keinen Unterschied.
In Reaktion darauf gibt es nun
die Tendenz dieser „Ausgeschlossenen“,
sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen.
Auf der anderen Seite stehen die liberalen
Eliten. Diese werden von den
„Ausgeschlossenen“ aber nicht als Gesellschaft,
sondern als eine andere Gemeinschaft
erlebt. Eine Gemeinschaft, zu
der sie nicht dazugehören. Selbst wenn
dies nur eine perspektivische Illusion
wäre – so hat das alleine schon enorme
Auswirkungen. Denn Demokratie wird
damit als Elitenprojekt erfahren. Und das
ist eine katastrophale Entwicklung.
ZUKUNFT: Sie sagen, um eine andere Zukunft
denkbar zu machen, müsse man
dem Missverständnis, Demokratie sei
Harmonie, entgegentreten. Benötigt eine
demokratische Gesellschaft Diskussion
und Streit, aber auch Kompromiss und
Konsens?
CHARIM: Das Besondere an der Demokratie
ist, dass sie nicht über Harmonie
funktioniert. Ihr Ziel ist eben nicht eine
versöhnte Gesellschaft, denn das wäre eine
völlige gesellschaftliche Stillstellung.
Das Besondere an der Demokratie ist
das Verstehen, das Erkennen, das Handhaben,
das Institutionalisieren des Potenzials,
das durchgefochtene Konflikte
für die Gesellschaft haben. Das gesellschaftliche
Band der Demokratie ist kein
konsensuales, sondern ein konfliktuelles.
Das heißt: Uns verbindet nicht (nur) der
Konsens, sondern ebenso sehr der gemeinsam
durchgestandene Konflikt.
Zugleich aber muss man sagen, dass
die gesellschaftliche Produktivität von
Konflikten natürlich nicht unendlich ist.
Sie bedarf vieler Voraussetzungen, um
sich entfalten zu können. So muss der
Konflikt eingehegt – also eingeschränkt
werden. Das heißt, es braucht eine wechselseitige
Anerkennung der Streitparteien
als gesellschaftliche Akteure – sie
müssen sich als Gegner und nicht als
Feind akzeptieren. Das heißt, es braucht
eine grundlegende Akzeptanz der gesellschaftlichen
Ordnung – das ist das Minimum
an gemeinsamem gesellschaftlichen
Boden, auf dem man steht.
ZUKUNFT: Sie sprechen von einer Verschärfung
des Gegensatzes oben-unten
und einem neuen Gegensatz innen und
außen. Wie ist dies zu verstehen?
CHARIM: Wir haben nicht nur eine rasante
Verschärfung des Gegensatzes oben-unten
– sondern eine Situation, die zugleich auch
einen neuen Gegensatz hervorbringt: den
Gegensatz zwischen innen und außen. Der
Begriff der „Ungleichheit“ reicht nicht aus,
um das heutige soziale und gesellschaftliche
Defizit zu benennen. Das Problem ist
zugleich umfassender und diffuser.
Wir haben es heute mit einem Ausschluss
neuen Typs zu tun: Die Ausgeschlossenen
sind, wie gesagt, nicht
einfach die Unterschicht. Neben den
ökonomischen ist noch ein anderer Typ
von Ausschluss getreten: Jener der Abgehängten,
die in vielfältiger Weise – kulturell,
technisch, geografisch – nicht Anschluss
finden an eine völlig veränderte
Welt. Deshalb ist ein neuer Gegensatz hinzugekommen:
jener zwischen innen und
außen. Damit ist nicht die nationale oder
völkische Zugehörigkeit der Populisten
gemeint. Das Innen wird nicht durch die
äußeren Landesgrenzen bestimmt. Menschen
in strukturschwachen Regionen etwa
fühlen sich von der Politik vergessen,
von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das
gesellschaftliche Außen sind soziale oder
geografische Räume an der Peripherie. Eine
andere Art von No-go- Area: Nicht eine,
wo keiner sich hintraut – sondern eine,
wo keiner hin will. Wir leben in einer Gesellschaft
neuen Typs: eine „Gesellschaft“,
die nicht mehr alle umfasst.
ZUKUNFT: Wie kann diesen Gegensätzen
entgegnet werden?
CHARIM: Die Gesellschaft, wenn sie eine
Gesellschaft sein möchte, müsste sich
heute dort versammeln, wo die neue Demarkationslinie
verläuft: an der Trennung
zwischen innen und außen. Diese Trennlinie
gilt es zu bearbeiten. Dazu braucht
es kein neues Wir-Gefühl, sondern einen
Umgang mit Unterschieden – mit unterschiedlichen
Gemeinschaften, mit unterschiedlichen
Vorstellungen vom guten
Leben. Es braucht nicht mehr Zugehörigkeitsgefühle,
sondern Vorstellungen, wie
man Solidarität befördert in einer Gesellschaft,
wo die Leute einander eben nicht
mehr alle ähnlich sind. Es braucht keine
neue Heimat, sondern vielmehr eine vermehrte
soziale Durchmischung in einer
Gesellschaft, die immer mehr zu allerlei
Arten von Separatismen tendiert.
ZUKUNFT: Sie sehen in Fridays for Future
eine Möglichkeit, Gesellschaft neu zu denken.
Warum?
CHARIM: Man kann hier Ansätze eines neuen
Denkens jenseits der neoliberalen Enthemmung
ausmachen – ohne Rückgriffe
auf alte Konzepte. Es ist dies das Angebot,
eine Alternative zur kapitalistisch usurpierten
Gesellschaft zu konzipieren, die
nicht über den Rückgriff auf Gemeinschaft
funktioniert. Es sind Konzepte für ein Gemeinwohldenken,
das nicht auf unhinterfragtem
Wachstum basiert. Es ist dies ein
doppelter Einspruch: gegen die Vorstellung
eines Immer-mehr ebenso wie gegen
die Vorstellung eines Immer-weiter-so.
ZUKUNFT: Können auch Universitäten ihren
Teil dazu beitragen? Wenn ja wie?
CHARIM: Universitäten können durch ihre
ureigenste Aufgabe, der Begriffsarbeit, dazu
beitragen. Gleichzeitig aber können sie
nur dann eine gesellschaftliche Wirksamkeit
entfalten, wenn sie ihre Mauern verlassen
und aktiver Teil des öffentlichen
Diskurses werden.
ah
ISOLDE CHARIM (* 1959 in Wien) studierte
Philosophie in Wien und Berlin und
arbeitet als freie Publizistin und ständige
Kolumnistin der „taz“ und des „FALTER“.
Charim war über lange Jahre Lehrbeauftragte
an der philosophischen Fakultät
der Universität Wien mit Schwerpunkt
Ideologietheorie, sie war auch Gastprofessorin
für Politische Theorie am Institut
für Politikwissenschaft der Universität
Wien. Seit 2007 ist sie am „Bruno Kreisky
Forum“ wissenschaftliche Kuratorin der
Reihen „Demokratie reloaded“, „Fundamentalismus
und Moderne“ sowie der
Reihe „Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells“,
die sich mit den Problemen
und Fragen der Pluralisierung beschäftigt.
Beim Diskussionsforum: Zukunft denken
der Universität Inns bruck hielt Isolde Charim
die Keynote „Gesellschaft denken“.
zukunft forschung 02/19 23
ZUM JUBILÄUM
Das „Diskussionsforum: Zukunft denken“ bildete den Abschluss
des Jubiläumsjahrs 2019 und war eine Einladung der Universität
Inns bruck an ihre Region und deren Bevölkerung. Expertinnen
und Experten stellten mögliche Szenarien, Denkansätze und
Perspektiven für die Zukunft unserer Gesellschaft vor. Interaktive
Formate luden die Menschen aus der Region zur Diskussion ein.
Vier verschiedene Themenschwerpunkte wurden behandelt. Für
jeden dieser vier Themenblöcke hatte die Universität aus dem
Kreis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Kuratoren
bestellt, welche die Halbtage ausgestalteten. Namhafte Rednerinnen
und Redner wie die Philosophin und Publizistin Isolde
Charim, der Neuropsychologe Claus Lamm und die ehemalige
dänische Umweltministerin Ida Auken luden zum Zuhören und
Mitdiskutieren ein.
Fotos: Universität Inns bruck
24
zukunft forschung 02/19
GEOGRAPHIE
MULTICOPTER-LASERSCANNING ermöglicht Inns brucker Geografen Einblicke mit einem bisher nicht möglichen Detaillierungsgrad.
26
zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle (1), Thomas Zieher (1)
GEOGRAPHIE
DIE DIGITALISIERUNG
DER LANDSCHAFT
Die Laserscanner des Instituts für Geographie liefern hochgenaue Daten über Wälder, Berghänge,
Gletscher und Permafrostgebiete, seit Neuestem auch aus der Luft. Mit dem Multicopter-Laserscanner
können schwer zugängliche Gebiete beflogen werden, die gewonnenen Informationen erlauben
Aussagen über große Flächen und kleinste Details, über ganze Blockgletscher und Blätter im Wald.
Am Anfang“, gibt Magnus Bremer
lachend zu, „konnte ich mir nicht
mal vorstellen, dass er fliegen
kann.“ Er – das ist eine 25 Kilo schwere
Kombination aus einem Unmanned Aerial
Vehicle, kurz UAV genannt, und einem
Laserscanner, und dass das Ding fliegen
kann, weiß Bremer in der Zwischenzeit.
Zwar habe es noch einigen Feinschliff
gebraucht, um den Octocopter für seine
Forschungsaufgaben im Gebirge fit zu
machen, inzwischen liefert er aber Daten
über Wälder, Berghänge, Gletscher und
Permafrostgebiete. „Und das in einem Detaillierungsgrad,
der zuvor nicht möglich
war“, erläutert Martin Rutzinger, der am
Institut für Geographie die Forschungsgruppe
Laserscanning leitet. Bremer etwa
erstellt mit den Laser-Aufnahmen aus
der Luft und nach intensiver Rechenzeit
exakte 3D-Modelle von Waldflächen, die
als Basis weiterer wissenschaftlicher Analysen
dienen können – z.B. wie viel Sauerstoff
hier durch Photosynthese erzeugt
wird.
Seit über 15 Jahren forschen Inns brucker
Geografen im Bereich Laserscanning, Ausgangspunkt
war das EU-Projekt OMEGA,
bei dem die Volumensänderungen von
österreichischen und norwegischen Gletschern
untersucht wurden. 2006 wurde
der erste eigenständige terrestrische Laserscanner
angeschafft, heute zählen vier
Hightech-Messgeräte zur Infrastruktur
des Instituts, die von Forscherinnen und
Forschern rund um Johann Stötter genutzt
werden. Die letzte Neuanschaffung,
der 2017 erworbene Octocopter, wurde im
Rahmen des Projekts 4D-LAMB (4D Lidar
mountAin Monitoring laB) über Infrastruktur-
und Hochschulraumstrukturmittel
des Bundes finanziert. Als Partner sind
die TU Wien, die Uni Graz und das Institut
für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften
dabei – gemeinsam will man die
neuen Laserscann-Möglichkeiten nutzen.
Laserscanning in den Alpen
„Laserscanning ist ein aktives Fernerkundungsverfahren
zur berührungslosen Erfassung
der Erdoberfläche. Aktiv bedeutet,
dass das Verfahren sich sein eigenes
Licht macht. Im Gegensatz zur Fotografie
braucht es kein Sonnenlicht“, beschreibt
Rutzinger die Methode. „Laserscanning ist
auch das einzige Verfahren, mit dem man
Informationen über das Gelände unter hoher
Vegetation erhalten kann, da der Laserstrahl
die Vegetationsdecke durchdringt“,
schildert Rutzinger. Die Auswertung der
Daten erlaubt somit einen „Blick unter den
Wald“ und dort die Untersuchung von geomorphologischen
Strukturen und Prozessen.
Ermöglicht wird dies alles durch Laserpulse,
die von einer Quelle ausgesendet
und von Objekten oder Oberflächen zur
Quelle zurück reflektiert werden. Über
die Laufzeit des Laserpulses kann die Entfernung
berechnet werden, mit dem Wissen
über den Standort der Quelle und den
Aussendewinkel lassen sich Objekte und
Oberflächen in geografischen Koordinaten
als 3D-Punktwolken abbilden.
„Beim Laserscanning mit unserem Octocopter
kommt noch dazu, dass wir für
jeden Laserpuls die Raumlage des Copters
wissen müssen“, erklärt Bremer. Mithilfe
von Trägheitssensoren und GNSS (Global
Navigation Satellite System) wird der
Octocopter lokalisiert, um den Ausgangspunkt
der 820.000 pro Sekunde abgegebene
Laserpulse exakt zu verorten. Die
Datenmengen, die dabei anfallen, sind
„Laserscanning ist das einzige
Fernerkundungsverfahren, mit
dem man Informationen über
das Gelände unter hoher
Vegetation erhalten kann, da der
Laserstrahl die Vegetationsdecke
durchdringt.“
Martin Rutzinger
enorm, Projektgrößen von bis zu 1,5 Milliarden
Punkten sind möglich. „Anfangs
gab es noch kaum Methoden, um diese
3D-Daten auszuwerten, am Institut ist
daher ein Schwerpunkt entstanden, solche
Methoden zu entwickeln“, sagt Rutzinger.
Verwendet wird Laserscanning vor
allem in urbanen Gebieten operationell
als 3D-Datenerfassungsmethode, für den
Einsatz im Umweltmonitoring hat sich
erst in den letzten Jahren eine eigene Community
herausgebildet. Die Inns brucker
Geografen spezialisierten sich dabei auf
zukunft forschung 02/19 27
GEOGRAPHIE
MAGNUS BREMER: „Mit dem Octocopter können wir ein Waldstück mit der Größe von 200 mal 200 Meter in zehn Minuten aufnehmen.“
alpines Gelände, die Durchführung und
Auswertung der Messungen führe dabei,
so Rutzinger, zu besonderen Herausforderungen:
„Dafür haben wir als eine der wenigen
Gruppen das entsprechende Knowhow.“
Auch für den Octocopter-Einsatz
galt es, einige Schwierigkeiten zu überwinden.
So benötigt es etwa für den Transport
ins Gelände ein vierköpfiges Team, das
Gerät samt Zubehör und Ersatzakkus an
den Einsatzort bringt. „Wir machten die
Erfahrung, dass Thermik und Fallwinde
nicht gut für das Flugverhalten sind“,
nennt Magnus Bremer einen weiteren
Punkt – geflogen wird daher meist direkt
nach Sonnenaufgang. Auch die Höhenlage
muss berücksichtigt werden, pro 1.000
Höhenmeter braucht es um einen Zoll
größere Propeller. „Wir können derzeit bis
3.000 Meter Seehöhe fliegen“, berichtet der
Geo graf, der auf einen im ganzen DACH-
Raum gültigen „Drohnen-Führerschein“
verweisen kann. Gemeinsam mit dem
Hersteller wurde das System so weiterentwickelt,
dass mit stärkeren Motoren und
30-Zoll-Propellern im nächsten Jahr 4.000
Meter möglich sein werden.
Gletscher, Hänge & Wälder
Die Effektivität, mit der die Forscher
nun Daten erheben können, hat durch
den fliegenden Laserscanner extrem zugenommen.
Bremer: „Wir können einen
ganzen Blockgletscher in einer Stunden
aufnehmen und sind in der Lage, jeden
einzelnen Block zu erkennen und zu verfolgen“
Trotz beschwerlicher Arbeit, weil
Fußmarsch, ist der organisatorische und
finanzielle Aufwand geringer als eine
Flugzeugbefliegung. Im Gegensatz zur
klassischen punktuellen Vermessung können
auch flächenbezogene Aussagen getroffen
werden. „Wir haben jetzt erste Gebiete,
die schon mehrmals aufgenommen
wurden, um Veränderungen fest- und
darstellen zu können“, sagt Bremer. „Wir
untersuchen z.B. tiefgründige gravitative
Massenbewegungen, also Hangrutschungen,
die sich langsam, aber kontinuierlich
nur um wenige Zentimeter bis zu einem
Meter im Jahr verändern“, führt Rutzinger
ein Beispiel an, mit dem wichtige
Aussagen bezüglich Naturgefahrenmanagement
getroffen werden können. Das
1
2
3
4
MIT LASERSCANNING kann man durch
das Vegetationsdach hindurch Informationen
über den Boden erhalten (1,2)
bzw. detaillierte 3D-Modelle von Wäldern
erstellen – mit Belaubung und ohne (3,4).
Scannen flachgründiger Rutschungen, zu
denen es z.B. nach extremen Niederschlägen
kommt, dient mehr der Dokumentation,
Aufnahmen dieses Geländes über
einen längeren Zeitraum hinweg geben
Einblick, wie und ob sich Flächen wieder
begrünen oder nicht. Diese Dynamik
wollen die Forscher besser verstehen. Rutzinger:
„Mit dem freien Auge sind Entwicklungen
solcher Erosionszonen kaum
erkennbar, wir sehen Veränderungen im
Zentimeterbereich.“
Magnus Bremer wiederum hat sich in
seinem Bereich der Landschaftsdigitalisierung
auf Wälder konzentriert. In zehn
Minuten wird eine 200 mal 200 Meter
große Waldfläche aufgenommen, die anschließende
automatisierte Rechenzeit
beträgt oft mehrere Tage, das Ergebnis ist
ein 3D-Modell des Waldstücks mit Informationen
über Anzahl, Größe und Holzvolumen
der Bäume, über die Dichte der
Blätter etc. Bremer entwickelte dafür die
entsprechenden Algorithmen, „um zu erkennen,
dass ein bestimmter Punkt haufen
in der riesigen Punktwolke ein Stamm,
ein anderer ein Blatt ist.“ Seine 3D-Modelle
bieten nun einzigartige Informationen
für diverse Fachdisziplinen. „Über das
Modell bekommt man z.B. Informationen
über das Holzvolumen der Bäume. In
Richtung Klimawandel ist dies von Interesse,
weil man damit weiß, wieviel Kohlenstoff
im Wald gespeichert ist. In Richtung
Forstwirtschaft wiederum, wie viel
Holz im Wald vorhanden ist“, sagt Bremer.
Ähnlich verhält es sich mit der Blattfläche.
Bremer: „Kennt man deren Größe,
kann man Aussagen treffen, was der
Wald zur Abkühlung beiträgt oder wie
viel Sauerstoff er durch Photosynthese
produziert.“
ah
Ein Video zum Projekt des Innsbrucker
Forscherteams finden sie auf Youtube:
www.youtube.com/watch?v=F1Nb0JB6eGE
28 zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle (1), Thomas Zieher (2); Renderings: Magnus Bremer (4)
KURZMELDUNGEN
QUANTENCOMPUTER
VERGLEICHEN
Physiker der Universität Inns bruck und des kanadischen Institute for
Quantum Computing haben eine Methode vorgestellt, mit der die
Leistungsfähigkeit von Quantencomputern gemessen werden kann.
Im Vergleich zu einem herkömmlichen
Computer können Quantencomputer
bestimmte Arten von Problemen effizienter
lösen. Allerdings sind Quantenbits
sehr fragil; jede Unvollkommenheit
oder Rauschquelle im System verursacht
Fehler, die zu falschen Lösungen führen.
„Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg
zu einem skalierbaren Quantencomputer
ist, die Kontrolle über einen kleinen
MEHRJÄHRIGE ÜBERREAKTION IM ÖKOSYSTEM
Quantencomputer mit nur wenigen
Quantenbits zu realisieren“, sagt Alexander
Erhard aus dem Team der Experimentalphysiker
um Rainer Blatt und
Thomas Monz. Die Forscher an der Universität
Inns bruck entwickeln Prototypen
von Quantencomputern auf Basis von
gespeicherten Ionen, die mit Hilfe von
Laserpulsen manipuliert werden. Ihre
kanadischen Kollegen Joseph Emerson
und Joel Wallman am Institute for Quantum
Computing sind auf stringente mathematische
Methoden zur Quantifizierung
und Verifizierung von Fehlern in
Quantencomputern spezialisiert. Gemeinsam
haben sie nun ein Verfahren zur
Charakterisierung aller Fehlerraten entwickelt,
die in einem Quantencomputer
entstehen können. Sie implementierten
diese neue Technik für den Ionenfallen-
Quantencomputer an der Universität
Inns bruck und fanden heraus, dass die
Fehlerraten nicht zunehmen, wenn die
Anzahl der Quantenbits im Quantencomputer
vergrößert wird.
S
eit mehr als 50 Jahren beobachten Forscher in Island die Erwärmung von Böden aufgrund
geothermischer Aktivität. Ein internationales Team unter Beteiligung von Michael Bahn
vom Institut für Ökologie untersuchte nun, wie subarktisches Grasland auf die Erwärmung der
Erde reagiert. „Es zeigte sich, dass fünf- bis achtjährige Erwärmung zu einer Überreaktion des
Ökosystems führte und sich nach mehreren Jahrzehnten ein neues Gleichgewicht einstellte“,
erklärt Bahn. „Verringerter
Artenreichtum, geänderte
Artenzusammensetzung, eine
deutlich geringere Biomasse und
drastisch weniger Kohlenstoffspeicherung
im Boden waren
die Folge“, ergänzt Andreas
Richter von der Uni Wien. Hier
werde klar, so die Forscher, dass
sich natürliche Ökosysteme mit
langfristiger Erwärmung nachhaltig
verändern.
INS HERZ DER CHEMIE
GETROFFEN
Die unter dem Namen Ribozyme zusammengefassten
RNA-Moleküle
beschleunigen chemische Reaktionen
in der Zelle. Vor einigen Jahren wurden
vier neue Klassen dieser Moleküle
entdeckt, an deren funktioneller Aufklärung
die Arbeitsgruppe um Ronald
Micura (Institut für Organische Chemie)
federführend mitwirkt. 2016 war
es dem Inns brucker Wissenschaftler
gelungen, die funktionelle Struktur
des Pistol-Ribozyms erstmals zu beschreiben
und somit ein dynamisches
Bild des Moleküls zu liefern. Ein Jahr
später konnten die Forscher jene Nukleotide
und ein Metallion identifizieren,
deren chemische Reaktion für die
Aufspaltung des Ribozyms verantwortlich
zeichnet. Diese Moleküle aktivieren
sich nämlich, in dem sie sich selbst entzweischneiden.
In einer Arbeit in der Fachzeitschrift
Angewandte Chemie International Edition
gehen die Forscher um Micura gemeinsam
mit Kollegen in den USA und in
China nun noch einen Schritt weiter.
Während die Strukturaufklärung von
Ribozymen in der Regel an Molekülen
direkt vor dem Auseinanderschneiden
erfolgt, konnten sie jetzt auch den
Übergangszustand mimetisch nachbilden
und damit den gesamten mechanistischen
Ablauf der chemischen Reaktion
dokumentieren. „Diese Übergange
sind hochenergetische Zustände,
die im Allgemeinen nicht direkt untersucht
werden können. Deshalb haben
wir eine Anleihe in der anorganischen
Chemie genommen und mit einem sogenannten
Vanadat-System den chemischen
Übergangszustand nachgebildet.
Auf diese Weise konnten wir den
chemischen Mechanismus aufklären“,
erzählt Micura. Das Pistol-Molekül ist
erst das dritte Ribozym, das auf diese
Weise beschrieben werden konnte.
Fotos: IQOQI Inns bruck/Harald Ritsch (1), Olga Krasheninina (1), Andreas Richter (1)
zukunft forschung 02/19 29
GEOTECHNIK
GEFAHR GEBANNT
Menschen, Infrastruktur und Siedlungsraum vor Naturgefahren zu schützen, ist eine der Aufgaben von
Robert Hofmann, Professor am Institut für Infrastruktur am Arbeitsbereich Geotechnik und Tunnelbau.
Muren, Wildbäche, Steinschläge,
Überschwemmungen oder
Hangrutschungen – Robert
Hofmann arbeitet gemeinsam mit seinem
Team und in Kooperation mit der Wildbach-
und Lawinenverbauung, Agentur
für Bevölkerungsschutz-Südtirol, der ÖBB
und der ASFINAG daran, Siedlungsräume
und Infrastruktur vor Naturgefahren,
wie die sogenannten Massenbewegungen,
zu sichern. Vor seiner Berufung an die Uni
Inns bruck hat sich der Wissenschaftler
als Ziviltechniker mit Schutzbauwerken
beschäftigt. Basierend auf seinen umfangreichen
Erfahrungen in der Praxis ist
ihm die Verbindung zwischen den theoretischen
Berechnungen, Modellversuchen,
Messungen und den Beobachtungen in
der Natur besonders wichtig. Dämme,
Wildbachsperren, Steinschlag- und Lawinenschutz
oder die Sicherung von Massenbewegungen
sind Gegenstand seiner
Forschungen an der Uni Inns bruck.
Wildbäche zähmen
Um zu verhindern, dass sich Wildbäche
weiter in die Bachsohle eingraben
und damit auch die Hänge ins Rutschen
kommen, sollen sogenannte Wildbachsperren
helfen. „Diese, meist aus Beton
hergestellten Querbauwerke in Wildbächen,
sollen genau diese Bewegungen
stoppen oder reduzieren. Als Murbrecher
oder Konsolidierungssperren sind sie ein
wichtiges Instrument, um Menschen vor
diesen Gefahren zu schützen“, erläutert
Hofmann. Berechnungen deuten in der
Theorie darauf hin, dass der enorme Erdund
Wasserdruck auf die Bauwerke diese
langfristig schädigen wird. „Die Beobachtungen
in der Natur widersprechen den
Berechnungen auf dem Papier. Wenn der
Druck von Boden und Wasser tatsächlich
so groß wäre, wie das die Berechnungen
zeigen, dann wären viele Bauwerke schon
eingestürzt. Diese Diskrepanz zwischen
Theorie und den tatsächlichen Beobachtungen
in der Natur werden wir genauer
untersuchen“, so Hofmann.
ROBERT HOFMANN: „Die Beobachtungen in der Natur widersprechen den Berechnungen
auf dem Papier. Diese Diskrepanz werden wir genauer untersuchen.“
Je höher der Druck auf die Bauwerke,
umso weiter müssen sie auch in die Hänge
eingebunden werden, um sie zu stabilisieren.
Zu große seitliche Einschnitte in
den Hang führen aber zu einem erhöhten
Risiko, dass gerade in rutschgefährdeten
Bereichen eine Massenbewegung entsteht.
Insbesondere im Bauzustand sind somit
die Gefahren für die Arbeiterinnen und
Arbeiter, aber auch die Gefahr einer Massenbewegung
besonders groß.
Hofmann und sein Team arbeiten deshalb
daran, den Druck auf die Bauwerke
besser zu berechnen, um die Notwendigkeit
des Einschneidens in die Böschung zu
minimieren. Dazu werden die Wildbach-
30
zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle (1), Robert Hofmann (2)
GEOTECHNIK
sperren mit Porenwasserdruckgebern
und Erddruckmessgebern instrumentiert.
„Diese Messungen führen wir derzeit
an unterschiedlichen Standorten in Tirol
durch. Es ist wichtig, die Einwirkungen
auf diese Schutzbauwerke zu kennen,
damit man sie standsicher dimensionieren
und die Notwendigkeit des Einschneidens
in die Böschung minimieren
kann“, so Hofmann. „Im Lattenbach im
Tiroler Oberland befindet sich der ‚Friedhof
der Wildbachsperren‘. Über 30 Sperren
wurden bei Murgängen zerstört. Bei
der Entwicklung neuer Bauwerke sollen
unsere neuen Berechnungen berücksichtigt
werden“, betont der Wissenschaftler.
Ziel der Forschungen ist es, mithilfe der
Berechnungen, standsichere und wirtschaftlichere
Bauwerke, die über einen
längeren Zeitraum die enormen Beanspruchungen
schadlos überstehen sollen,
zu entwickeln. So wird nicht nur das Eingraben
des Baches in die Sohle reduziert,
sondern auch die Kriechbewegung des
Hanges aufgehalten.
ROBERT HOFMANN arbeitet gemeinsam
mit seinem Team an Schutzmaßnahmen
vor Naturgefahren, wie hier am Eiblschrofen
in Schwaz, wo es im Jahr 1999
zu einer Massenbewegung gekommen ist.
WILDBACHSPERREN sollen das Eingraben
des Baches in den Boden, aber auch
das Rutschen von Hängen verhindern.
Brückenschlag
Die Verbindung von Wissenschaft und
Praxis ist dem Ziviltechniker ein großes
Anliegen. Neben den unterschiedlichen
Druckeinwirkungen auf Wildbachsperren
arbeiten Hofmann und sein Team
auch daran, beispielsweise Sturzbahnen
von Felsstürzen genauer zu berechnen
und auch so neue Schutzbauwerke zu
entwickeln. „Wir untersuchen, wie weit
Auslaufbereiche reichen müssen und wie
groß die Drücke auf Schutzbauwerke wie
Dämme oder Stahlbetonbauwerke sein
werden“, verdeutlicht der Wissenschaftler,
der unter anderem an Berechnungen
von Schutzbauwerken in Tirol beteiligt
war. Neben der Wahl des geeigneten Ortes
für eine solche Maßnahme, Berechnungen
für die Transportzone und Auslaufbereiche,
ist auch der Vergleich zwischen
Modellversuch, der Berechnung und
der Beobachtung in der Natur wichtig.
„Auch hier sind die Beobachtungen eine
wesentliche Ergänzung zur Theorie. Für
Parameterstudien arbeiten wir aber auch
mit Modellversuchen, um Schutzdämme
bestmöglich zu dimensionieren“, so Hofmann.
So geschehen auch im Jahr 1999
nach dem Steinschlag am Eiblschrofen in
Schwaz.
Robert Hofmann war damals schon für
die Beratung zur Errichtung des Schutzdamms
im Einsatz. „Die Möglichkeiten
zur Bemessung solcher Schutzbauwerke
sind heute ganz andere. Mithilfe einer
Schussanlage können Steinschlagschutznetze
oder Dämme in einem Eins-zueins-Versuch
überprüft werden. Diese
aufwendige Möglichkeit haben wir aber
nur selten“, erläutert der Experte, der
normalerweise auf Modellversuche angewiesen
ist. „In über 200 Modellversuchen
haben wir untersucht, wie hoch das
Freibord von der Blockoberkante bis zur
Dammkrone sein muss, damit der Block
bei dem Steinschlag den Schutzdamm
nicht überspringt. Zudem haben wir auch
die maximale Neigung berechnet, damit
ein Damm auch nicht zur Sprungschanze
wird“, erläutert der Wissenschaftler. Basierend
auf den Ergebnissen hat Hofmann
ein Diagramm entwickelt, mit dem eine
einfache und schnelle Ermittlung der Eindringtiefe
von Blöcken in unterschiedliche
Dammtypen ermittelt werden kann. Mit
der Entwicklung von Ö-Norm-Regeln für
Wildbachsperren, Steinschlag und Lawinen
nimmt Österreich eine Vorreiterrolle
im Bereich der Naturgefahren ein.
Wandernde Hänge
Mit den Klimaveränderungen beobachtet
Hofmann auch eine Zunahme an Massenbewegungen.
„Der Motor von Massenbewegungen
ist oft das im Schuttstrom
vorhandene Wasser“, so Hofmann. Ein
heikles Beispiel zur raschen Stabilisierung
eines sich bewegenden Hanges ist die
Kerschbaumsiedlung in Navis. „82 Häuser
haben sich mit dem Hang etwa vier
Zentimeter pro Jahr nach unten bewegt.
Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten
von zwei Schuttzungen haben zu Schäden
an den Häusern geführt“, erläutert der Experte.
Mithilfe von 50 Brunnen ist es den
Beteiligten gelungen, das Wasser auszuleiten
und den Wasserdruck abzubauen,
die Bewegung deutlich zu reduzieren
und so den Hang zu stabilisieren. „Durch
die Notwendigkeit rasch zu handeln und
durch fehlende Theorien ist es schwierig,
die Wirksamkeit der Maßnahmen schon
vorab abzuschätzen. Mit unseren Forschungen
und Erfahrungen möchten wir
helfen, Prognosen in Zukunft genauer
gestalten zu können“, so Hofmann. Der
Einsatz von Brunnen hat sich auch in einer
Notsituation beim Gschliefgraben am
Traunsee bewährt, wo eine sich schnell
bewegende Massenbewegung Häuser am
Seeufer bedroht hat.
Eine neue Erosionsanlage zur Untersuchung
von Materialtransport soll zukünftig
die Forschungen im Labor ergänzen.
„Mit der neuen Anlage wird es möglich,
verschiedene Böden zu untersuchen, um
die Veränderungen des Materials und die
Dichte zu messen. Gerade im Hochwasserschutz
in Tirol ist Erosion ein zentrales
Thema. So könnten wir zukünftig auch
dazu beitragen, ein einfaches Kriterium
für Erosionsstabilität zu entwickeln“, verdeutlicht
der Wissenschaftler. Dieses Wissen
gibt der Experte auch gerne an seine
Studierenden weiter, die ihn bei seinen
Forschungen unterstützen. Mit dem Ziel,
die Menschen zu sichern, arbeitet Robert
Hofmann in Kooperation mit unterschiedlichen
Partnern aus der Praxis ständig daran,
Problemstellungen mit Konstruktionen
zu bearbeiten und Siedlungsräume
und Infrastruktur zu sichern. dp
zukunft forschung 02/19 31
ROMANISTIK
CINEASTISCHES GEGENBILD
Italien ist seit 1980er-Jahren ein Einwanderungsland, die mediale und politische Reaktion darauf ist
eine polemisch-fremdenfeindliche. Der italienische Film hingegen antwortet mit dem engagierten cinema
di migrazione. Wie diese Antwort umgesetzt wird, untersucht die Romanistin Sabine Schrader.
Es waren erschütternde Bilder, es waren
unvorstellbare Ereignisse – doch
wir haben sie (fast) schon wieder
vergessen. Am Morgen des 8. August 1991
steuert der albanische Frachter Vlora den
Hafen von Brindisi an, mehr als zehntausend
Albanerinnen und Albaner befinden
sich an Bord. Am Vor abend haben sie im
Hafen von Durrës das 150 Meter lange
Frachtschiff gestürmt, verzweifelt ob der
katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen,
verzweifelt ob der unsicheren
politischen Verhältnissen in ihrer Heimat.
Brindisi jedoch verweigert die Einfahrt.
Erst rund 36 Stunden später, ohne Wasser
und Nahrung der heißen Augustsonne
ausgesetzt,legt das vollkommen überladene
Schiff in Bari am. Die Flüchtlinge
aber dürfen den Pier nicht verlassen. Es
kommt zu Unruhen, schließlich werden
sie in ein altes Fußballstadion verbracht,
dort festgehalten und letztendlich mit Militärflugzeugen
und konfiszierten Fähren
nach Albanien zurückgebracht.
Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-
Jahre, mit dem Zusammenbruch der kommunistisch
regierten Länder Osteuropas,
ist Italien mit einer ersten großen Flüchtlingswelle
konfrontiert. Schon vor der
Vlora fliehen allein im März 1991 mehr als
20.000 Albaner übers Meer, auch aus Jugoslawien
kommen Flüchtlinge nach Italien.
„Italien war immer ein Auswanderungsland,
ab Mitte der 1980er-Jahre wandelt es
sich zum Einwanderungsland“, sagt die
Romanistin Sabine Schrader. In der Folge
kippt die Stimmung, auch die Berichterstattung
in den Medien. Nicht so das Ki-
DER FILM Lamerica (1994) von Gianni
Amelio thematisiert die albanische Emigration
Anfang der 1990er-Jahre und verknüpft
dies mit der Geschichte Albaniens,
in der Italien als faschistische Besatzungsmacht
eine wichtige Rolle spielt (großes
Bild, in der Bildmitte Hauptdarsteller
Enrico Lo Verso). Mit Lamerica nimmt
Amelio Bezug auf die Ereignisse rund um
den Frachter Vlora, auf dem 1991 über
10.000 Albanerinnen und Albaner nach
Italien flüchten wollten (kleines Bild).
32 zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle (1), Alamy Stock Foto/RGR Collection (1)
ROMANISTIK
no. Das cinema di migrazione antwortet mit
einer Art Gegenbild. Wie diese Antwort
künstlerisch verarbeitet wird, untersucht
Schrader mit ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in dem FWF-Projekt Cinema
of Migration in Italy since 1990 – Ausgangspunkt
ist die Beobachtung, dass Migration
ab den 1990ern im italienischen Film
vermehrt zum Thema wird. Ein Jahrzehnt
zuvor befand sich das italienische Kino in
einer Krise, „die Zeit der großen Filmemacher
war vorbei, das Fernsehen kam von
der Bar ins Wohnzimmer, es gab kaum
Filmförderung“, nennt Schrader einige
Gründe. Als Folge organisiert sich die
Filmlandschaft ab Ende der 1980er neu,
es entstehen neue kleine Filmfirmen, die
auf alternative Arten der Produktion und
Finanzierung setzen – und sich neuen
Themen widmen.
Filmografie der Migration
„Mit Pummarò macht Michele Placido 1990
den ersten Film, in dem Migration eine
entscheidende Rolle spielt“, weiß Schrader.
Der Regieerstling des Schauspielers
beschreibt die Suche eines jungen Afrikaners
nach seinem Bruder, der in Süditalien
als Tomatenpflücker gearbeitet hat – eine
Suche, die ihn von Süd- über Norditalien
„Die eigene italienische
Migrationsgeschichte wird
in aktuellen filmischen
Immigrationsgeschichten kaum
reflektiert.“
Sabine Schrader
bis nach Deutschland führt. „Einer unser
ersten Schritte im Projekt war die Erstellung
einer Filmografie zum Thema Migration“,
berichtet Schrader. Auf rund 300
Kinofilme kann man in der Zwischenzeit
verweisen, der Schwerpunkt liegt auf Produktionen
nach 1990. Das Projekt-Team
interessiert aber auch der historische Blick
auf das größte Auswanderland Europas,
das allein zwischen 1876 und 1915 rund 14
Millionen Menschen verließen – ein Drittel
der damaligen Bevölkerung Italiens.
„Wir haben festgestellt, dass diese eigene
italienische Migrationsgeschichte in aktuellen
filmischen Immigrationsgeschichten
kaum reflektiert wird“, schildert die Forscherin.
Die Suche nach Filmen, welche diese
italienische Auswanderung thematisieren,
führte bis in die Stummfilmzeit, zu
einer US-amerikanischen Produktion
aus dem Jahr 1905, „die italienische Immigranten
auf Zelluloid bannt“. Auch
Charlie Chaplin befasst sich mit Migration,
dass es sich bei The Immigrant aus
dem Jahr 1917 um Italiener handelt, zeigt
allerdings nur das Filmplakat. Schrader:
„Chaplin sitzt vor einem Teller Spaghetti.“
Schließlich wurde man auch in
Italien fündig, im Film Napoli che canta
(1926) kommt, so Schrader, „Migration
aber nur als Leerstelle vor: Man sieht,
wie in der Stadt Plätze leer werden,
wie zum Abschied gewinkt wird, wie
Schiffe wegfahren.“ Insofern zeige der
Film, dass das Thema Migration in dem
jungen italienischen Staat, im aufkommenden
Faschismus keinen Platz hat,
dementsprechend dominieren in dieser
Zeit Historien- und Monumentalfilme,
„die an die Größe Italiens erinnern“. In
späteren Jahren sind es oft Koproduktionen
mit Frankreich, in denen Migration
abgehandelt wird. „Das zieht sich bis
in die 1950er-Jahre“, sagt Schrader, „in
Cammino della Speranza nimmt es eine
süd italienische Familie auf sich, durch
ganz Italien zu reisen, um über die Berge
nach Frankreich zu kommen – also der
gleichen Weg wie ihn heute Menschen
aus Afrika nehmen.“ Viele Filme beschäftigen
sich damit, wie Italienerinnen und
Italiener im Ausland Fuß fassen, geht
es dabei um Amerika, ist dies meist mit
Kriminalität und Mafia verbunden, oft
umgesetzt von Regisseuren wie Francis
Ford Coppola oder Martin Scorsese – beide
selbst Italoamerikaner.
Mit der eigenen italienischen Geschichte
setzt sich auch Lamerica (1994)
auseinander. Angeregt durch die Ereignisse
rund um die Vlora schickt Regisseur
Gianni Amelio zwei Männer, Fiore
(Michele Placido) und Gino (Enrico Lo
Verso), nach Albanien – dort wollen die
beiden vom Zerfall Albaniens profitieren.
„Der Film verschränkt die Zeit Albaniens
als italienische Kolonie, die faschistische
Besatzung, die Goldgräberstimmung des
Wild-West-Kapitalismus und die Emigration
der Albaner“, erzählt Schrader. „Lamerica“,
als Hoffnung auf das gelobte
Land, nennen die Flüchtlinge – unter ihnen
auch Gino – das Schiff, das tausende
von ihnen nach Italien bringen soll.
In anderen Filmen, wie etwa Quando sei
nato non puoi piú nasconderti (2005), Il vento
SABINE SCHRADER studierte Romanistik,
Geschichte und Philosophie/Pädagogik
an den Universitäten Göttingen, Venedig
und Köln, an letzterer promovierte sie
im Jahr 1998. Von 1999 bis 2005 war sie
Wissenschaftliche Assistentin am Institut
für Romanistik der Univer sität Leipzig,wo
sie 2006 über Literatur und Film in der
Stummfilmzeit Italiens habilitierte. Von
2006 bis 2009 war sie Wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der TU Dresden, 2009
wurde sie als Professorin für Romanische
Literatur- und Kulturwissenschaften an
die Universität Inns bruck berufen.
fa il suo giro (2005), Io sono Li (2011), La prima
neve (2013), sind die „Einwanderer“
schon im Land, die Thematisierung der
Migration, sagt Schrader, „ist ein erster
Schritt der Repräsentation“, sie räumt
aber auch ein, dass dabei viele Klischees
bedient werden, unter anderem das des
Opfers. „In vielen Filmen sind Migrantinnen
und Migranten nur Opfer der italienischen
Gesellschaft, die scheitern müssen.
Es wird unterschlagen, dass sie auch
Akteure ihres Lebens sind“, hält Schrader
fest, „da müssen wir unsere Ausgangsthese,
dass das cinema di migrazione ein cinema
d’impegno, ein engagiertes Kino ist, doch
kritisch hinterfragen.“ Zeit dafür bleibt
Sabine Schrader und ihrem Team: Das
FWF-Projekt ist auf drei Jahre angelegt,
Start war im Herbst 2018. ah
zukunft forschung 02/19 33
WISSENSTRANSFER
KINCON-BIOLABS TEAM: Eduard Stefan, Philipp Tschaikner, Florian Enzler und Rainer Schneider (v.li.)
NEUE BIOSENSOREN
Mit einem neu entwickelten Biosensor validieren Inns brucker Forscher Kinase-Medikamente. Eine von
der FFG geförderte Machbarkeitsstudie soll die Basis für die Gründung der KinCon-biolabs schaffen.
Vier visionäre Wissenschaftler, die
auf dem Gebiet der Biochemie,
Zellbiologie und Biotechnologie
in Inns bruck forschen und lehren, haben
KinCon-biolabs ins Leben gerufen, um
mit einer einzigartigen und patentierten
Biosensor-Plattform direkt in lebenden
Zellen zu testen, wie Medikamente die
Struktur und damit die Funktion von Kinasen
verändern. „In den vergangenen
Jahren wurde die Proteinfamilie der Kinasen
zu einem Hauptziel für die Medikamentenentwicklung
und dies mit einem
besonderen Fokus auf die Eindämmung
von Tumorwachstum“, erzählt Eduard
Stefan, der sich gemeinsam mit Rainer
Schneider, Philipp Tschaikner und Florian
Enzler zum KinCon-biolabs zusammengeschlossen
hat. Bisher wurden mehr
als 50 Kinase-Hemmer für die klinische
Anwendung, und hier vor allem für die
Krebstherapie, zugelassen. Diese auf Kinasen
ausgerichteten Therapien gehen
aber tragischerweise häufig mit erworbenen
Resistenzen und Nebenwirkungen
von den eingesetzten Arzneimitteln einher.
„Die mangelnde Wirksamkeit von
klinisch eingesetzten Kinase-Hemmern
motivierte uns, dem auf den Grund zu
gehen“, erzählt Projektmanager Philipp
Tschaikner. „Deshalb haben wir hier am
Institut zelluläre Reporter entwickelt, um
die molekularen Mechanismen der Kinase-Hemmung
direkt in Zelllinien von
Patienten zu untersuchen.“
Die Mission des KinCon-biolabs für die
nächsten 18 Monate ist die Ausweitung
der Kinase-zentrierten Biosensorplattform
für eine systematische und zellbasierte
Validierung von Kinase-Hemmern,
die sich in der Entwicklung oder auch
schon in klinischer Anwendung befinden.
Die Forscher haben sich dabei für einen
präzisionsmedizinischen Ansatz entschieden,
indem sie Wechselwirkungen
von Wirkstoffen mit mutierten Kinasen
analysieren. Das zukünftige Hauptziel
von KinCon-biolabs ist es, Pharmaunternehmen
bei der Entscheidungsfindung
zu unterstützen: „Welcher ist der richtige
Wirkstoff, um deregulierte Kinasen, die
patienten-spezifische Mutationen aufweisen,
effizient zu hemmen?“
Basis für Firmengründung
Als Ausgangspunkt validieren die Mitarbeiter
von KinCon-biolabs in Zellkulturmodellen
eine Reihe krankheitsrelevanter
Kinaseaktivitäten, die bei der Entstehung
vom Melanom und von Lungenkrebs eine
wichtige Rolle spielen. Zudem sind die
Wissenschaftler sehr daran interessiert,
ihre KinCon-Reporteranalysen auf bislang
vernachlässigte Kinase-Wirkstoffziele
der Kinase-Superfamilie – mit insgesamt
mehr als 500 Mitgliedern – auszudehnen.
Das mit beinahe 380.000 Euro
dotierte Spin-off-Fellowship soll dazu
beitragen, den universellen Nutzen der
patentierten KinCon-Biosensorplattform
für die Vorhersage der Wirksamkeit von
Kinase-Arzneimitteln zu bestätigen. Auf
dieser Basis hoffen die vier Wissenschaftler,
das Biotech-Unternehmen KinConbiolabs
gründen zu können. cf
34 zukunft forschung 02/19
Fotos: Uni Inns bruck
WISSENSTRANSFER
QUANTENCHIP
Infineon Austria forscht mit der Uni Inns bruck an konkreten
Fragestellungen zum kommerziellen Einsatz von Quantencomputern.
Ionenfallen haben sich als sehr erfolgreiche
Technologie für die Kontrolle
und Manipulation von Quantenteilchen
erwiesen. Sie bilden das Herzstück
der ersten funktionsfähigen Quantencomputer
und gelten neben supraleitenden
Quantenbits als vielversprechendste
Technologie für den Bau von kommerziellen
Quantencomputern. In dem EU-Horizon-2020-Projekt
PIEDMONS – Partner
sind Infineon Technologies Austria, die
Universität Inns bruck, die ETH Zürich
und Interactive Fully Electrical Vehicles
aus Italien – loten Ingenieure und Forscher
seit 2018 gemeinsam aus, wie Ionenfallen
mittels Halbleiter-Fertigungstechnologien
gebaut werden können
und welche Quantenchip-Architekturen
besonders von der erhöhten Präzision
und Skalierbarkeit moderner Halbleiterfertigung
profitieren.
Silke Auchter forscht in ihrer Doktorarbeit
an solchen Ionenfallen. Diese sollen
mittels Halbleiter-Fertigungstechnologien
weiterentwickelt werden. So können die
Fallen sehr einheitlich und präzise produziert
und leichter mit miniaturisierter
Elektronik und Optik verbunden werden.
QUANTENTECHNOLOGIEN „MADE IN AUSTRIA“
Auch lassen sich auf diese Weise komplexere
und umfangreichere Fallenkonzepte
umsetzen, die robust gegenüber äußeren
Störeinflüssen sind. Mit den ersten Quantenchip-Prototypen,
entwickelt in der
MEMS-Abteilung in Villach, führen Innsbrucker
Physiker um Silke Auchter bereits
Experimente durch. Auchter arbeitet als
Doktorandin bei Infineon und wird am
Institut für Experimentalphysik der Uni
Inns bruck vom Quantenphysiker Rainer
Blatt betreut.
SILKE AUCHTER mit dem Wafer, auf
dem sich etwa 1.000 Chips für die Quantenforschung
befinden.
Im vergangenen Jahr hat sich die Universität Inns bruck am Spin-off Alpine Quantum Technologies
(AQT) beteiligt. Das 2017 gegründete Unternehmen hat sich der Entwicklung und
dem Vertrieb eines kommerziellen Quantencomputers verschrieben. Der Marktvorsprung
von AQT entsteht aus der engen Zusammenarbeit mit der
Inns brucker Quantenphysik, welche die theoretischen und
experimentellen Grundlagen für den Quantencomputer
geschaffen hat und bereits über einen programmierbaren
Ionenfallen-Quantencomputer mit 20 Quantenbits verfügt.
Rainer Blatt, gemeinsam mit Peter Zoller und Thomas
Monz einer der drei Quantenphysiker, welche die AQT
gegründet haben, berichtet: „Die enge Zusammenarbeit
zwischen Universität Inns bruck, IQOQI Inns bruck und
der AQT wird es uns erlauben, den wissenschaftlichen
Vorsprung Europas bei den Quantentechnologien auch in
einen kommerziellen Vorsprung Europas umzumünzen.“
Neben der Universität hat sich auch die Österreichische
Forschungsförderungsgesellschaft FFG an dem zukunftsträchtigen
Unternehmen beteiligt.
GEMEINSAMES
UNTERNEHMEN
Die Bank für Tirol und Vorarlberg
AG (BTV) und die Universität
Inns bruck haben gemeinsam das Unternehmen
Innfoliolytix gegründet.
Dieses entwickelt Kapitalmarktstrategien,
die ausschließlich auf neuesten
wissenschaftlichen Forschungsergebnissen
basieren. Als universitäres
Spin-off forscht es im Bereich der modernen
Kapitalmarkttheorie macht die
Forschungsergebnisse in Form von
quantitativen Anlagestrategien Kapitalmarktanlegern
zugänglich. Wichtig
sei aber vor allem der gegenseitige
Know-how-Transfer, betont BTV-Vorstandsvorsitzender
Gerhard Burtscher:
„115 Jahre Erfahrung der BTV an den
Kapitalmärkten und wissenschaftliche
Kapitalmarktforschung mit modernsten
Methoden durch die Universität
Inns bruck bilden die Basis für herausragende
Lösungen und Ergebnisse.“
„Modernes, erfolgreiches Asset Management
basiert mehr und mehr auf
Erkenntnissen der quantitativen Kapitalmarktforschung.
Durch die Kooperation
der BTV mit der Uni Inns bruck ist
es gelungen, den Grundstein dafür zu
legen, dass wissenschaftliche Forschung
im Bereich der Vermögensveranlagung
einen sichtbaren Nutzen für Privatanleger
in der Region schaffen kann“, erklärt
Geschäftsführer Jochen Lawrenz. Er ist
genauso wie Matthias Bank als Miteigentümer
maßgeblich an der Gründung
beteiligt. Beide sind ausgewiesene Experten
im Bereich der Banken- und Kapitalmarktforschung:
Jochen Lawrenz
ist Professor für Risikomanagement am
Institut für Banken und Finanzen der
Universität Inns bruck und Matthias
Bank Dekan der Fakultät für Betriebswirtschaft
und Professor für Bankwirtschaft.
Fotos: Infineon Austria (1), IQOQI Inns bruck/Harald Ritsch (1), Gerhard Berger (1)
zukunft forschung 02/19 35
PHARMAZIE
BUNTE, HEILENDE PILZE
Die Chemikerin Bianka Siewert forscht mit ihrem Team zur ökologischen Bedeutung der Farbstoffe in
Pilzen und untersucht ihre lichtaktivierbaren Stoffe für neue Möglichkeiten in der Krebstherapie.
Bereits seit einigen Jahren forscht Bianka
Siewert im Bereich der Krebstherapie
– zu Beginn an Naturstoffen
und später an lichtaktivierbaren
Tumormedikamenten, basierend auf
synthetisch hergestellten Metallverbindungen.
Seit 2016 arbeitet die junge Wissenschaftlerin
am Institut für Pharmazie
und versucht, diese beiden Bereiche zu
verbinden. „Ich forsche an neuen Möglichkeiten
in der Lichttherapie. Dazu
nutze ich die Kreativität und die Vielfalt
der Natur und verbinde sie mit bereits
bestehendem Wissen zu lichtaktivierbaren
Stoffen“, erklärt Siewert. Ihr Ziel
ist eine bessere und gezieltere Therapie
von TumorpatientInnen. Dafür möchte
Siewert aus Pilzen gewonnene Wirkstoffe
entwickeln, die mittels lokaler Belichtung
nur im Tumorgewebe aktiv sind.
BIANCA SIEWERT forscht an neuen Möglichkeiten in der Lichttherapie, nutzt dazu Kreativität
und Vielfalt der Natur und verbindet sie mit bestehendem Wissen zu lichtaktivierbaren Stoffen.
Lichttherapie
Neben der lokalen Aktivierung bringen
lichtaktivierbare Medikamente weitere
Vorteile: Zum einen geht man davon
aus, dass es nicht zur Ausbildung resistenter
Tumoren kommt, zum anderen ist
die Rückkehrrate gering. Das liegt daran,
dass lichtaktivierbare Verbindungen, sobald
sie belichtet werden, reaktive Sauerstoffspezies
produzieren, die alle bestrahlten
Zellen vernichten. Klassische,
selektive Tumormedikamente hingegen
erkennen Krebszellen an spezifischen Rezeptoren,
die diese an ihrer Außenwand
tragen. Da ein Tumor von Natur aus aber
ein Konglomerat verschiedenster mutierter
Zellen ist, die nicht alle den gleichen
Rezeptor tragen, können nie alle Tumorzellen
getötet werden. Zudem setzen sich
während der klassischen Therapie vermehrt
die Mutationen im Tumor durch,
die keinen oder einen anderen Rezeptor
tragen. Die photodynamische Lichttherapie
ist bereits seit mehreren Jahren zugelassen.
Durch die zusätzlich notwendige
Belichtung ist ihre klinische Anwendung
wesentlich komplexer als klassische Chemotherapien,
weshalb sie bisher nur ei-
36
zukunft forschung 02/19
Fotos: Andreas Friedle
PHARMAZIE
ne Nebenrolle spielt. Das soll sich aber
ändern: „Immense Fortschritte in der
LED-Technik führten in den vergangenen
Jahren zu signifikanten Fortschritten
in den Lichtdarbietungsformen, die die
photodynamische Therapie revolutionieren“,
sagt Siewert.
Ein noch bestehender Nachteil dieser
Therapieform ist die limitierte Anzahl
zugelassener Medikamente. Eines, Hypericin,
kommt natürlich im Johanniskraut
vor, alle anderen sind synthetisch
hergestellte Moleküle. Aktuell wird
viel an lichtaktivierbaren Metallverbindungen
geforscht, wie etwa an Platinverbindungen,
die in der Chemotherapie
eingesetzt werden. Diese sind dem
menschlichen Körper jedoch fremd. Eine
Hypothese von Siewert ist, dass lichtaktivierbare
Verbindungen aus Naturstoffen
harmonischer im menschlichen Organismus
wirken.
Pilze
Während von Pflanzen bereits bekannt
ist, dass sie chemische Verbindungen besitzen,
die durch Licht aktiviert werden
und sie so vor Fraßfeinden schützen,
wurden Pilze dahingehend noch nicht
untersucht. Erste Forschungsergebnisse
von Siewert weisen jedoch darauf hin,
dass auch Pilze solche Verbindungen
aufweisen. „Pilze und ihre bunten Farben
üben schon länger eine große Faszination
auf mich aus“, sagt Siewert. „Aus Neugierde
habe ich mich gefragt, was das
für Stoffe sind, die ihre Farben entstehen
lassen. Aufgrund meiner bisherigen
Forschungsarbeit konnte ich sehen, dass
die Pilz-Farbpigmente anderen, bereits
bekannten lichtaktivierbaren Verbindungen
sehr ähnlich sind“, erklärt die
Chemikerin.
Einige Pilzarten ändern ihre Farbe
erst dann, wenn sie beispielsweise von
BIANKA SIEWERT studierte an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
und promovierte 2013 auf dem
Gebiet der antitumoraktiven Naturstoffe.
Anschließend forschte sie an der
Universität Leiden (Niederlande) auf dem
Gebiet der lichtaktivierbaren metallorganischen
Verbindungen. Seit 2016 ist sie
an der Universität Inns bruck tätig, wo sie
2017 eine Nachwuchsförderung für ihr
Projekt „neue Photosensibilisatoren aus
Pilzen“ erhielt. Darauf aufbauend konnte
sie 2018 erfolgreich ein TWF- sowie ein
FWF-Projekt einwerben und ein hochmotiviertes
Forscherteam aufbauen.
Tieren angebissen werden. Könnten
Siewert und ihr Team zeigen, dass es
sich dabei um lichtaktivierbare Verbindungen
handelt, die der Pilz erst produziert,
wenn er beschädigt ist, wäre das
ein weiterer Fortschritt. „Wenn wir das
nachweisen könnten, ist es in Zukunft
vielleicht möglich, dass das lichtaktivierbare,
natürliche Medikament erst in
der Tumorzelle synthetisiert wird, bevor
es durch das Licht seine Wirkung entfaltet.
Dadurch könnte die unangenehme
Nebenwirkung der Lichttherapie, die
Lichtsensibilität, bezwungen werden“,
erklärt Bianka Siewert. Die ersten drei
Photosensibilisatoren, das sind durch
Licht aktivierbare Verbindungen, konnte
Bianka Siewert mit ihrem Team kürzlich
aus rot-orangen, in Tirol beheimateten
Waldpilzen isolieren und charakterisieren.
Damit sind sie der Frage nach der
ökologischen Bedeutung der Farben in
Pilzen und dem Ziel, neue lichtaktivierbare
Verbindungen zu finden, bereits ein
Stück nähergekommen.
Antimikrobielle Forschung
Pilze spielen in der Medizin spätestens
seit der Entdeckung von Penicilline 1928
eine große Rolle. Denn auch das Antibiotikum
wird durch Pilze, genauer durch
Schimmelpilze, erzeugt. Trotz zahlreicher
Bakterienstämme, die gegen dieses Antibiotikum
mittlerweile resistent sind, ist
es nach wie vor erfolgreich im Einsatz.
„Wirtschaftlich gesehen haben Pilze einen
großen Vorteil: Sie synthetisieren
schnell und kostengünstig chemische
Moleküle“, sagt die Chemikerin. Diese
Eigenschaft von Pilzen will Siewert
nicht nur für die Krebstherapie, sondern
auch für die Behandlung multiresistenter
Bakterieninfektionen nutzen. Gemeinsam
mit Mikrobiologinnen und Mikrobiologen
der Uni Inns bruck geht sie deshalb
auch der Frage nach, ob lichtaktivierbare
Pilz inhaltsstoffe zur antimikrobiellen Behandlung
eingesetzt werden können.
Gefördert wird ihre Forschung vom
FWF und auch vom TWF. Die gute Forschungsinfrastruktur
in Inns bruck und
Siewerts gutes Netzwerk bieten ihr ideale
Voraussetzungen für ihre Projekte: „Ich
forsche interdisziplinär. So arbeite ich zur
genauen Bestimmung meiner zu untersuchenden
Pilze eng mit der Mikrobiologie
zusammen. Die Universität Inns bruck ist
durch den 2002 verstorbenen Mykologen
Meinhard Moser, der den Grundstein für
ein systematisches Pilzregister gelegt hat,
ja quasi prädestiniert für die Forschung
mit und an Pilzen“, sagt Siewert. lm
DREI PHOTOSENSIBILATOREN konnte Bianka Siewert mit ihrem Team kürzlich aus Pilzen isolieren und charakterisieren.
zukunft forschung 02/19 37
GESUNDHEITSWISSENSCHAFT
INNS BRUCKER Forscherinnen und Forschern untersuchten „A-IQIs“, die Indikatoren zur Bewertung der Qualität in Krankenhäusern.
VERMESSUNG
DER HEILKUNST
Wie wird in österreichischen Krankenhäusern Qualität gemessen? Und welche Kriterien
können dafür herangezogen werden? Forscherinnen und Forscher vom Institut für Organisation
und Lernen untersuchen die Entwicklung und Anwendung der Qualitätsmessung
für stationäre Krankenhausaufenthalte in Österreich.
Im Rahmen der Gesundheitsreform
2013 wurde österreichweit ein neues
System zur Qualitätsmessung von
Gesundheitsdienstleistungen in Krankenhäusern
eingeführt. Dieses System
orientiert sich vor allem an einem zuvor
in Deutschland entwickelten Verfahren.
„Im Zuge der Reform wurde das System
dann für die österreichischen Verhältnisse
adaptiert und die sogenannten
A-IQIs, die Austrian Inpatient Quality
Indicators, eingeführt“, erklären Silvia
Jordan und Albrecht Becker vom Bereich
Management Accounting am Institut für
Organisation und Lernen der Universität
Inns bruck. Sie leiten gemeinsam mit
ihrem Team seit Herbst 2018 ein vom österreichischen
Wissenschaftsfonds FWF
gefördertes Projekt mit dem Titel „Qualitätsmessung
im Gesundheitswesen:
Diskurse und Praktiken“. Die A-IQIs stehen
dabei im Mittelpunkt des Interesses
des vierköpfigen Projektteams. „Bei den
A-IQIs handelt es sich um Indikatoren
zur Bewertung der Qualität der Resultate
von stationären Aufenthalten. Diese
Indikatoren werden für alle Krankenhäuser
in Österreich gleichermaßen angewendet
und bundesweit in Form einer
sogenannten Ergebnisqualitätsmessung
einheitlich erfasst“, sagt Silvia Jordan.
Die Qualitätsindikatoren basieren dabei
auf Daten, die ohnehin von den Krankenhäusern
erhoben werden müssen.
„In den österreichischen Krankenhäusern
– und das gilt für viele andere Systeme
in anderen Ländern auch – erfolgt
die Abrechnung nach einem stationären
Aufenthalt nicht auf Basis der tatsächlich
erbrachten Leistungen. Es gibt für
jede Diagnose- und Leistungsgruppe,
also im Grunde für bestimmte Erkran-
38 zukunft forschung 02/19
Fotos: Bernhard Mayr (1), Uni Inns bruck (1)
GESUNDHEITSWISSENSCHAFT
kungen und Behandlungsformen, einen
Standardwert, dem eine gewisse Punkteanzahl
zugewiesen ist. Nach erfolgter
Behandlung werden dem Krankenhaus
dann die entsprechenden Punkte gutgeschrieben
und in einen Geldwert umgerechnet.
Dieser Vorgang wird als LKF, als
leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung,
bezeichnet und ist bereits
seit 1997 in dieser Form in Österreich
im Einsatz“, verdeutlicht Becker. Die
Herausforderung aus Sicht der Krankenhäuser
ist offensichtlich: „Es handelt sich
um eine Pauschale. Im Wesentlichen unabhängig
davon, wie der Eingriff verlaufen
ist, ob Komplikationen aufgetreten
sind oder wie lange der stationäre Aufenthalt
gedauert hat: Der an das Krankenhaus
ausbezahlte Geldbetrag bleibt
der gleiche. Das ist bereits eine Form der
Qualitätskontrolle, da dadurch natürlich
Anreize zu möglichst effizientem Handeln
geschaffen werden sollen.“
Komplexität
Im Zuge der Abrechnung erheben Krankenhäuser
somit eine Reihe von Daten,
die auch für andere Bereiche von großem
Interesse sind. Aus ihnen ergeben sich in
gleicher Weise auch die Qualitätsauswertungen
in Form der genannten A-IQIs:
Dazu zählen insbesondere Parameter
wie Sterbehäufigkeiten, Aufenthalte in
Intensivstationen, Komplikationen bei
Eingriffen oder im Heilungsprozess,
Operationstechniken oder Versorgungs-
„Eine statistisch stärker
ausgeprägte Sterberate heißt
zum Beispiel noch lange nicht,
dass im Krankenhaus etwas
nicht gut läuft. “
Silvia Jordan
bzw. Prozessindikatoren. „Dadurch soll
die Qualität stationärer Leistungen in
Österreichs Krankenhäusern transparent,
vergleichbar und steuerbar werden“, so
Jordan.
Die Ergebnisse der Erhebungen werden
in Jahresberichten veröffentlicht und
sind – zumindest teilweise – einsehbar,
die Daten sind allerdings nicht einzelnen
Krankenhäusern zuordenbar. Das Dilemma:
Die Bewertung von Qualität in
teilweise sehr großen, logistisch herausfordernden
Krankenhausbetrieben, die
mit der Behandlung von wiederum sehr
individuellen Erkrankungen und Bedürfnissen
der Patientinnen und Patienten
betraut sind, ist äußerst schwierig. „Die
Qualitätsmessung ist im Gesundheitswesen
einerseits ein zentraler Steuerungsparameter,
andererseits eine hochkomplexe
Herausforderung“, wie Silvia Jordan
erklärt. „Eine statistisch stärker ausgeprägte
Sterberate heißt zum Beispiel noch
lange nicht, dass im Krankenhaus etwas
nicht gut läuft. Es kann auch heißen, dass
das Einzugsgebiet des Krankenhauses
in einem von Umweltfaktoren negativ
beeinflussten Bereich liegt oder dass es
besonders viele Hochrisikopatientinnen
und -patienten versorgt.“ Ein System wie
die A-IQIs bildet „Qualität“ nicht einfach
neutral ab, sondern jede Art der Qualitätsmessung
basiert auf einer bestimmten
Sichtweise von Qualität und spiegelt spezifische
Interessen wider.
Eine weitere Herausforderung betrifft
die Diskussion dieser Kennzahlen in den
einzelnen Krankenhäusern in Hinblick
auf mögliche Qualitätsverbesserungen.
„Innerhalb der immer noch sehr stark
hierarchisch geprägten Krankenhausorganisation
ist es alles andere als selbstverständlich,
dass fächer- und hierarchieübergreifend
medizinische Behandlungsweisen
und Prozesse diskutiert werden.
Kennzahlen, die einen solchen Dialog in
Krankenhäusern anregen sollen und die
noch dazu außerhalb der Organisation
entwickelt wurden, können daher auf
diverse Widerstände treffen“, ergänzt
Becker.
Fallstudien
Das Team nähert sich in seinem Forschungsprojekt
der Thematik von verschiedenen
Seiten und hat zwei Teilprojekte
definiert, in denen derzeit die Datenerhebung
stattfindet. „Wir schauen
uns im ersten Teilprojekt – auch aus einer
DAS FORSCHUNGSPROJEKT „Qualitätsmessung
im Gesundheitswesen:
Diskurse und Praktiken“ wird vom Wissenschaftsfonds
FWF gefördert und läuft
noch bis September 2021. Das Projektteam
wird von Silvia Jordan und Albrecht
Becker geleitet, Patrick Neff und Michael
Wörndle sind Projektmitarbeiter und
verfassen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit
für Teilprojekte ihre Dissertationen.
Das Projekt ist in den Life & Health
Science Cluster Tirol eingebunden. (Im
Bild v.l.n.r.: Michael Wörndle, Albrecht
Becker, Patrick Neff und Silvia Jordan)
historischen Perspektive – genau an, wie
sich die A-IQIs, die Qualitätsindikatoren,
für Österreich entwickelt haben und auf
Basis welcher Kriterien sie speziell für
Österreich entstanden sind. Dabei interessiert
uns auch die Frage, welche Perspektiven
auf die Leistungen eines Krankenhauses
dabei tatsächlich ermöglicht
werden – und welche Alternativen dazu
vielleicht auch ausgeblendet werden“,
ergänzen Jordan und Becker.
Das zweite Teilprojekt umfasst einen
detaillierten Blick in die inneren Abläufe
der Krankenhäuser. Dazu hat das Team
Krankenanstalten ausgewählt, in denen
so genannte ethnografische Fallstudien
durchgeführt werden. „Mit diesen Fallstudien
untersuchen wir den tatsächlichen
Umgang mit diesen Qualitätsindikatoren
im Krankenhausalltag. Hier ist es
uns wichtig, die Perspektiven und Erfahrungen
der Beteiligten zu erfassen und
zu identifizieren, welche Möglichkeiten
oder auch Schwierigkeiten sich aus dieser
Form der Qualitätsbewertung ergeben.“
Die Ergebnisse des Projekts sollen
auch den Entscheidungsträgerinnen undträgern
im Ministerium und den Krankenhäusern
zugutekommen – beispielsweise
in Form von Workshops. mb
zukunft forschung 02/19 39
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Zukunftsfragen
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KURZMELDUNGEN
DAS GROSSE QUAKEN
Ein Forschungsteam um Michael Traugott hat gemeinsam mit der
Bevölkerung 100 Gewässer in Tirol untersucht.
In den heimischen Gewässern leben
nicht nur Erdkröten, Bergmolche oder
Grasfrösche. Ein Forschungsteam um
Michael Traugott vom Institut für Ökologie
hat in dem Citizen-Science-Projekt
„Der Frosch im Wassertropfen“ gemeinsam
mit der Bevölkerung 100 Gewässer in
Tirol untersucht. Neben einer großen Fülle
an unterschiedlichen Amphibien wurde
dabei auch die DNA des für Amphibien
gefährlichen Chytridpilzes festgestellt.
Der Pilz befällt die Haut der Amphibien,
ein wichtiges Atmungsorgan der Tiere.
Von den 13 für Tirol nachgewiesenen
in Gewässern lebenden Amphibienarten
konnten neun Arten sicher nachgewiesen
werden. Das waren der Feuersalamander,
der Bergmolch, der Teichmolch, der
Alpen-Kammmolch, die Gelbbauchunke,
die Erdkröte, der Laubfrosch, der Grasfrosch
und der Teichfrosch. „Zusätzlich
wurden auch DNA-Spuren des italienischen
Wasserfrosches gefunden. Sollte
dieses Vorkommen bestätigt werden,
dann ist das der erste Nachweis für Tirol“,
erläutert Daniela Sint.
„Mit dieser ersten Untersuchung in
Teichen aus allen Bezirken Tirols ist es
uns gelungen, einen Überblick über das
Amphibienleben zu bekommen. Für den
Natur- und Artenschutz ist es von Bedeutung,
weitere Untersuchungen in den
vom Pilz betroffenen Gebieten durchzuführen“,
verdeutlicht Traugott.
WARUM FRAUEN PERSONAL-
VORSTAND WERDEN
Es gehört inzwischen dazu, dass
wenigstens eine Frau im Vorstand
vertreten ist. Wenn Unternehmen über
die Neuberufung weiblicher Vorstandsmitglieder
berichten, fällt auf, dass Frauen
häufig für das Personalressort bestellt
werden. Der Frage, warum das so ist, sind
Forscherinnen der Universitäten Inns bruck
und Salzburg um Julia Brandl auf Basis
von Daten zu Vorstandsgremien aus 172
Unternehmen nachgegangen. Ihre Studie
legt nahe: Wo der gesellschaftliche Druck
hoch ist, im Vorstand Genderdiversität zu
fördern, berufen Unternehmen Frauen
systematisch als Personalvorstand. Und
sofern Unternehmen bislang kein eigenes
Personalressort haben, richten sie dieses
Ressort oftmals mit der Berufung des
weiblichen Vorstandsmitglieds erstmals
ein. Im Ergebnis bestätigt die Studie, dass
Druck auf Unternehmen zur Berufung von
Frauen in den Vorstand wirksam ist. Sie
zeigt allerdings auch, dass Unternehmen
ihren Spielraum unter diesem Druck so
nutzen, dass die traditionelle Arbeitsteilung
zwischen Frauen und Männern im
Management bestehen bleibt.
NACHHALTIGE MOBILITÄT
E
lektroautos, mit Wasserstoff betriebene LKW, neue Konzepte zur gemeinsamen Nutzung
von Fahrzeugen oder neue Möglichkeiten der Vernetzung im öffentlichen Verkehr werden
die Mobilität verändern. Wie die Menschen darauf reagieren werden, welche Angebote
sie annehmen und wie sehr sie ihr eigenes Mobilitätsverhalten anpassen und verändern
müssen, ist noch unklar. „Unumstritten ist, dass sich Mobilität verändern wird. Damit Verkehr
dabei auch nachhaltiger wird, muss sich das Verhalten auch entsprechend ändern, das
heißt beispielsweise vermehrt Autos zu teilen, aber auch Kurzstrecken wieder zu Fuß oder
mit dem Rad zurückzulegen“, so Markus Mailer vom Institut für Infrastruktur der Universität
Inns bruck. Das von ihm geleitete Centre for Mobility Change – Zentrum für Mobilitätsverhaltensänderung
(CMC) sammelt Wissen zu Potenzialen und Herausforderungen der Mobilitätsverhaltensänderung
im digitalen Zeitalter und gibt dieses an alle Akteurinnen und Akteure
weiter, die mit Verkehrsproblemen konfrontiert sind und Lösungen dazu erarbeiten und
entwickeln. „Das CMC will dazu beigetragen, Rahmenbedingungen und disruptive Potenziale
zu identifizieren sowie die Praxiswirksamkeit themenrelevanter Forschung zu erhöhen“,
so Markus Mailer.
Fotos: Bianca Zerobin (1), Snapwire (1), Commerz Real (1)
zukunft forschung 02/19 41
POLITIKWISSENSCHAFT
MEDIALE STIMMUNGS-
SCHWANKUNGEN
Der Politikwissenschaftler Kohei Watanabe untersucht veröffentlichte
Meinung und die darin ausgedrückte Stimmung in großem Stil.
Seit 2014 herrscht in der Ukraine
Krieg: Russland annektierte die
Halbinsel Krim, Verwaltungsbezirke
im Osten der Ukraine werden von
Separatisten beherrscht und bezeichnen
sich als von der Ukraine unabhängig.
„Um derartige Konflikte zu verstehen,
ist die breite Bevölkerung auf Berichte in
Medien angewiesen. Besonders einflussreich
sind dabei größere Nachrichtenagenturen,
deren Berichte anderen Medien
als Grundlage dienen. Die Unabhängigkeit
dieser Agenturen ist deshalb
besonders wichtig“, erklärt der Politikwissenschaftler
Kohei Watanabe. Für den
Westen, insbesondere für Westeuropa und
Nordamerika, sind hier Reuters, Associated
Press (AP) und der englischsprachige
Dienst der Agence France Presse (AFP)
einflussreich; für Russland erfüllen TASS
(bis 2014: ITAR-TASS) und Interfax eine
ähnliche Rolle. Diese beiden Agenturen
verfügen auch über einen englischsprachigen
Dienst für ein internationales Publikum.
In seiner Dissertation hat Kohei
Watanabe die Unabhängigkeit der staatlichen
Agentur TASS durch einen Vergleich
ihrer Berichterstattung mit jener der
kommerziellen Agentur Interfax näher
beleuchtet – der Untersuchungszeitraum
reichte vom Rückzug der Janukowitsch-
Regierung aus den Verhandlungen mit
der EU im November 2013 über das Referendum
über die Abspaltung der Krim
im März 2014 bis zur Militäroperation der
pro-westlichen ukrainischen Regierung in
ihren östlichen Regionen im April desselben
Jahres.
„Wir können natürlich nicht beobachten
oder miterleben, wie konkret Regierungen
Einfluss auf Presseagenturen
nehmen. Was wir aber messen können,
ist der Output der Agenturen. Im Fall von
ITAR-TASS, die ja ein Staatsunternehmen
ist, lässt sich ein Einfluss des russischen
Staates deutlich nachweisen“, sagt Watanabe.
Positive Entwicklungen für Russland
in der Ukraine wurden von TASS
positiver berichtet, während negative
Ereignisse ebenfalls negativer vorkamen.
BERICHTERSTATTUNG in der New York Times über Deutschland und Japan von den
1860ern bis heute: Die y-Achse zeigt das Maß, in dem die Länder als Bedrohung für die
USA gezeigt werden, die x-Achse den Zeitverlauf.
„Interessant ist, dass diese Änderungen
im Tonfall der Berichterstattung bei der
TASS deutlicher ausgeprägt waren als
bei Interfax. Interfax ist im Gegensatz zur
TASS privatwirtschaftlich organisiert.
Aber auch bei Interfax ist ein gewisser
Einfluss zu bemerken, besonders im Framing
von politischen Ereignissen – auch
Interfax ist von der staatlichen Agentur
TASS abhängig, was den Zugang zu bestimmten
Informationen betrifft, und
übernimmt damit deren Sicht.“
Digitale Methoden
Derartige statistische Auswertungen
beruhen auf Medientexten, die ein Algorithmus
auf darin ausgedrückte Stimmungen
untersucht und einordnet. Kohei
Watanabe verwendet einen Großteil seiner
Zeit dafür, diesen Algorithmus weiterzuentwickeln
und zu verfeinern; das in
der Programmiersprache R geschriebene
Paket heißt „Quanteda“ und ist vielfältig
einsetzbar. Watanabe ist seit Sommer 2019
am Institut für Politikwissenschaft und
am Digital Science Center (DiSC) der Uni
Inns bruck tätig. Derzeit arbeitet er an einer
Auswertung des Archivs der New York
Times: „Ich interessiere mich dafür, welche
Länder zu welchen Zeitpunkten in
der New York Times – und damit im Mainstream
der Meinungen in den USA – als
Bedrohung für die Sicherheit beschrieben
wurden. Grundlage sind Beitragszusammenfassungen
der New York Times seit
den 1860ern“, sagt der Wissenschaftler.
Die Beiträge werden nach zwei Kriterien
sortiert und klassifiziert: Der Algorithmus
durchsucht sie nach geografischen
Informationen, außerdem auf
den Achsen zwischen Feindseligkeit und
Freundlichkeit einerseits und Bedrohung
für die Sicherheit oder Harmlosigkeit andererseits.
Das Ergebnis ist faszinierend
42
zukunft forschung 02/19
Foto: Andreas Friedle; Grafik: Kohei Watanabe
POLITIKWISSENSCHAFT
– und im Nachhinein in Kenntnis historischer
Ereignisse auch leicht erklärbar:
So zeigen zum Beispiel Berichte über
Deutschland in der Statistik im Vorfeld
und während des Ersten und des Zweiten
Weltkriegs eindeutige Ausschläge
„Wir können natürlich nicht
beobachten oder miterleben, wie
konkret Regierungen Einfluss auf
Presseagenturen nehmen. Was
wir aber messen können, ist der
Output der Agenturen.“ Kohei Watanabe
nach oben – in Richtung Feindseligkeit
und Bedrohung –, während für Russland
bzw. die Sowjetunion Ähnliches ab
Mitte der 1940er-Jahre zu beobachten ist.
Lassen sich so, mit der Untersuchung
aktueller Berichte, mögliche künftige
Konfliktherde ausmachen? Watanabe ist
vorsichtig: „Das kann man so klar nicht
beantworten. Wir untersuchen ja Daten
im Nachhinein und da kennen wir die
Zusammenhänge. Ob die Stimmung in
den Berichten und der veröffentlichten
Meinung negativer wird, weil ein militärischer
Konflikt mit einem Land in der
Luft liegt oder ob der Zusammenhang
nicht viel eher umgekehrt funktioniert,
ist nicht klar zu sagen.“
Einsatz in der Lehre
Grundsätzlich lassen sich mittels Quanteda
ganz unterschiedliche statistische
Auswertungen erstellen. Watanabe selbst
hat mit Kollegen auch japanische und israelische
Medien auf deren Berichte über
das Ausmaß der Bedrohung durch Nordkorea
(im Fall von Japan) und durch den
Iran (für Israel) untersucht, jeweils eine
konservativere und eine liberalere Zeitung.
„Unsere Grundannahme war, dass
konservative Medien die Bedrohung stärker
betonen als liberale. Für Japan lässt
sich das bestätigen, für Israel nicht so
deutlich.“ Derzeit ist der Algorithmus für
Englisch und Japanisch, Watanabes Muttersprache,
optimiert, kann aber für jede
andere Sprache angepasst werden. „Die
Grundlage bildet ein Lexikon von rund
1.000 Wörtern und Phrasen, die – einfach
gesagt – auf einer Skala von ‚gut‘ bis
‚schlecht‘ eingeteilt sind, und Synonyme
dieser Begriffe. Diese Einteilung muss für
jede Sprache gemacht und überarbeitet
werden, da steckt einiges an Arbeit dahinter“,
erklärt der Forscher.
KOHEI WATANABE studierte Literatur
und Soziologie an der Seikei-Universität
und der Musashi-Universität (beide Tokio,
Japan), danach Politikwissenschaft an der
Central European University in Budapest.
2017 promovierte er an der London School
of Economics and Political Science (LSE).
Zwischen 2014 und 2019 forschte Watanabe
an der LSE, der University of Oxford
und der Waseda University, zudem war er
Chefentwickler der Quanteda Initiative,
UK. Seit Sommer 2019 ist er am Institut für
Politikwissenschaft und am Digital Science
Center (DiSC) der Uni Inns bruck tätig.
Quanteda ist komplett quelloffen und
kann von jedem und jeder Interessierten
eingesetzt und angepasst werden. Watanabe
setzt Quanteda auch in der Lehre
in Inns bruck ein. Ein Problem ist hier der
Zugang zu den Quellen: Um Aussagen
treffen zu können, braucht es Zugriff auf
die Archive von Medien. Hier ist vieles
nicht oder nur sehr kompliziert oder teuer
zugänglich. „Die New York Times bietet
derzeit noch durch eine Programmierschnittstelle
Zugriff auf Artikeldaten für
wissenschaftliche Zwecke, das ist allerdings
international leider eher die Ausnahme
als die Regel.“
sh
zukunft forschung 02/19 43
UNI-HOLDING
DAS SPIN-OFF incremental3d hat eine 3D-Drucktechnik für Beton entwickelt.
NEUE UNTERNEHMENS-
GRÜNDUNGEN
Im vergangenen Jahr hat sich die Universität Inns bruck über
die Uni-Holding an mehreren Spin-off-Unternehmen beteiligt.
Die aktuell 17 Unternehmen im
Portfolio der Beteiligungsgesellschaft
entwickeln Ergebnisse
aus der Forschung zur Marktreife weiter
und verwerten diese kommerziell.
So konnten in den vergangenen Jahren
knapp 100 neue Arbeitsplätze in Tirol
geschaffen werden. Eine Studie des Instituts
für Höhere Studien (IHS) attestiert
der Universität Inns bruck mit ihrer
erfolgreichen Spin-off-Strategie samt
Beteiligungsportfolio und Beteiligungsmanagement
eine Sonderstellung in der
österreichischen Universitätslandschaft.
Bestätigt wird diese Rolle auch in einer
aktuellen OECD-Studie zum Thema Supporting
Entrepreneurship and Innovation
in Higher Education in Austria.
Zu den erfolgreichen Ausgründungen,
an denen sich die Universität Inns bruck
direkt beteiligt hat, zählt die Urisalt
GmbH, die eine patentierte Lösung für
die Bestimmung gesundheitsrelevanter
Elektrolytwerte vermarktet. Mit dem
nicht-invasiven Test können Ärzte und
Laien mit Hilfe von Urin-Teststreifen und
einem tragbaren Analysegerät den Status
aufwendiger Blutanalysen überprüfen.
In Kooperation mit dem Baustoffproduzenten
Baumit entwickelten drei Architekten
der Uni Innsbruck eine 3D-Drucktechnik
für Beton, mit der sie Betonobjekte
in fast jeder beliebigen Form schnell und
günstig herstellen können. Die 2017 gegründete
incremental3d GmbH produziert
derzeit vor allem Objekte für den
öffentlichen Raum und die Gartengestaltung
– vertrieben werden sie unter dem
Namen myPot. Gemeinsam mit der ETH
Zürich wollen die Jungunternehmer die
Technologie auch für den Hochbau marktfähig
machen.
UNI-HOLDING: Die Universität Innsbruck
Unternehmensbeteiligungsgesellschaft
mbH ist ein Unternehmen, das sich
seit seiner Gründung 2008 an kommerziell
ausgerichteten Spin-offs der Universität
Inns bruck beteiligt. Aktuell umfasst
das Portfolio insgesamt 17 Unternehmen
aus den Bereichen Chemie und Ökologie,
Digitalisierung, Finanzen, Umwelttechnik,
Geoinformatik, Informations- und Kommunikationstechnik,
Textiltechnologie,
Betondruck und Quantenphysik.
Das Spin-off-Unternehmen Sinsoma ist
ein ist ein Generalanbieter für DNA-Analysen,
verfügt über das breiteste Spektrum
an Analyseverfahren am Markt und
kann auf mehr als 20 Jahre Know-how in
Umwelt-DNA-Analysen verweisen. Sinsoma
bestimmt das Vorkommen von Organismen
über DNA-Spuren in verschiedensten
Lebensräumen und Probentypen,
analysiert Nahrungsbeziehungen mittels
Hochdurchsatz-DNA-Methoden und bietet
populationsgenetische Analysen an.
Das ehemalige Kompetenzzentrum
alpS wurde als kommerzielle Beteiligung
in das Portfolio aufgenommen und hat
sich mit seinen Consultingleistungen in
den Bereichen Klimawandelanpassung
und Klimaschutz als international tätiges
Ingenieur- und Beratungsunternehmen für
Betriebe, Kommunen und Länder etabliert.
Als weitere Beteiligungen wurden im
vergangenen Jahr die beiden Quanten-
Spin-offs Alpine Quantum Technologies
(AQT) und ParityQC aufgenommen, ebenso
das von der Bank für Tirol und Vorarlberg
sowie der Uni Innsbruck gegründete,
auf Kapitalmarktstrategien spezialisierte
Spin-off Innfoliolytix (siehe Seite 35).
44 zukunft forschung 02/19
Foto: incremental3d
FÖRDERUNGEN
PHOTONISCHE PLATTFORM
Barbara Kraus und Gregor Weihs sind an einer neugegründeten FWF-Forschungsgruppe
zu Multiphotonen-Experimenten mit Halbleiter-Quantenpunkten beteiligt.
GREGOR WEIHS ist Universitätsprofessor für Photonik am Institut für Experimentalphysik der Universität Inns bruck.
Forschungsgruppen sind ein neues
FWF-Förderinstrument, mit dem
Teams aus drei bis fünf international
herausragenden Forscherinnen und
Forschern unterstützt werden. Die Theoretikerin
Barbara Kraus und der Experimentalphysiker
Gregor Weihs von der
Universität Inns bruck haben sich nun
gemeinsam mit Armando Rastelli von
der Universität Linz und Philip Walther
von der Universität Wien das Ziel gesetzt,
eine weltweit führende photonische
Plattform zu etablieren, die sich
auf einen neuartigen Typ von Halbleiterphotonenquellen
in Kombination mit
innovativen photonischen Schaltkreisen
stützt, und diese zur Demonstration von
Multiphotonen-Quantenprotokollen zu
benutzen. Sie werden dabei vom österreichischen
Wissenschaftsfonds FWF
finanziell unterstützt. In der letzten Kuratoriumssitzung
wurden für die ersten
drei Forschungsgruppen insgesamt 4,2
Millionen Euro bewilligt.
Photonen eignen sich ideal für die
Quantenkommunikation und sind auch
geeignet für Anwendungen im Bereich
der Quantencomputer. Eine der Hürden
auf dem Weg zu diesen Anwendungen
war immer das Fehlen von Lichtquellen,
die imstande sind, „auf Befehl“ Einzelund
Mehrfachphotonen zu emittieren.
Die Lösung dieses Problems könnten
Strukturen von Halbleitermaterialien im
BARBARA KRAUS konzentriert sich in
ihrer Forschung auf die Untersuchung
grundlegender Probleme der Quanteninformationstheorie.
Nanometerbereich liefern, wie sie nun
von den österreichischen Forscherinnen
und Forscher entwickelt werden. Sie konzentrieren
sich auf Halbleiter-Quantenpunkte
aus Galliumarsenid, welche sehr
vorteilhafte Eigenschaften zeigen, wie
etwa die Fähigkeit, einzelne und verschränkte
Photonen mit Emissionsraten
im Gigahertzbereich zu erzeugen. Dabei
passt die Farbe ihres Lichts zu dem Bereich,
in welchem Silizium-Detektoren
sehr empfindlich sind. Es werden allerdings
noch erhebliche Anstrengungen
nötig sein, um die Helligkeit der Lichtquellen
und die Qualität der Photonen zu
erhöhen. Parallel zur Verbesserung der
Photonenquellen werden die Wissenschaftler
immer komplexere Anwendungen
realisieren und in photonische
Hochleistungsbauelemente integrieren.
Unter anderem ist ein Ziel die Erzeugung
von „Clusterzuständen“ einiger Photonen
für sichere Quantencomputer.
„Auf lange Sicht erwarten wir, dass dieser
Ansatz es uns ermöglichen wird, uns
den ultimativen Grenzen der photonischen
Quanteninformationsverarbeitung
anzunähern“, sagen die vier Forscherinnen
und Forscher.
Fotos: Andreas Friedle, ÖAW
zukunft forschung 02/19 45
PREISE & AUSZEICHNUNGEN
GEMEINSAM GEEHRT
Der Quantenphysiker
Helmut Ritsch (li.
ob.) vom Institut für
Theoretische Physik
erhielt den Erwin
Schrödinger-Preis
der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften.
Er wurde für seine hervorragenden
Forschungsleistungen auf dem Gebiet der
Quantenoptik ausgezeichnet. Ritsch teilt sich
den mit 15.000 Euro dotierten Preis mit dem
Wiener Mathematiker Karlheinz Gröchenig.
Den ebenfalls von der ÖAW vergebenen Dissertationspreis
für Migrationsforschung
in
Höhe von 4.000 Euro
erhielt Claudius Ströhle
(li. un.) vom Institut
für Geschichtswissenschaften
und Europäische
Ethnologie.
VIELFACH AUSGEZEICHNET
Die Experimentalphysikerin
Francesca
Ferlaino erhielt den
Cécile DeWitt-Morette,
School of Physics
of the Houches Preis,
den die Französische
Akademie der Wissenschaften
2019 zum ersten Mal vergab. Der
Preis erinnert an die französische Physikerin
Cécile DeWitt-Morette, die in Savoyer Alpen
eine international bekannte Denkwerkstatt
für die moderne Physik gegründet hat. Ferlaino
wurde außerdem mit dem BEC 2019
Junior Preis ausgezeichnet und zum Fellow
der American Physical Society (APS) gewählt.
ERIKA-CREMER-PREIS
Die Molekularbiologin Nadine Jasmin Ortner
erhielt für ihre
hervorragenden Forschungsleistungen
die Förderung des
Erika-Cremer-Habilitationsprogramms.
Mit
dem Erika-Cremer-Habilitationsprogramm
fördert die Universität Inns bruck seit 2009
gezielt wissenschaftliche Frauenkarrieren.
Ortner forscht am Institut für Pharmazie zum
Dopamin-System in einem Kalziumkanal-
Autismus-Modell.
PREISE DER
STADT INNSBRUCK
Sechs PreisträgerInnen, darunter vier der Universität Inns bruck,
wurden mit dem „Preis der Landeshauptstadt Inns bruck für
wissenschaftliche Forschung 2019“ ausgezeichnet.
PREIS-ÜBERREICHUNG: Rektor Tilmann Märk (li.) und Vizerektorin Ulrike Tanzer gemeinsam
mit den PreisträgerInnen (v.l.): Walter Kuntner, der den Preis für Sandra Heinsch-
Kuntner entgegengenommen hat, Jerome Mertens, Florian Martin Müller und Thomas
Magauer bei der Verleihung in der Stadtbibliothek Innsbruck.
Aus Anlass des 350-Jahr-Jubiläums
der Universität Inns bruck wurde
das Preisgeld für den Preis der
Landeshauptstadt Inns bruck für wissenschaftliche
Forschung 2019 einmalig auf
30.000 Euro erhöht. Während der Preis
regulär jeweils in einem Jahr an die Medizinische
Universität Inns bruck und
in den beiden darauffolgenden Jahren
an die Leopold-Franzens-Universität
in den Sparten Geisteswissenschaft
und Naturwissenschaft verliehen wird,
wurden im Jubiläumsjahr Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler beider
Universitäten ausgezeichnet.
„Die Stadt Inns bruck fördert damit
junge Forscherinnen und Forscher
und rückt den Wert der Wissenschaft
in den Vordergrund,“ würdigte Vizebürgermeisterin
Uschi Schwarzl die
akademischen Leistungen und hob den
wichtigen Beitrag der universitären Forschung
zum internationalen Ruf Innsbrucks
als Universitäts- und Bildungsstandort
hervor.
Von der Universität Inns bruck wurden
die ERC-Preisträger Jerome Mertens
(Institut für Molekularbiologie) und
Thomas Magauer (Institut für Organische
Chemie) sowie Sandra Heinsch-
Kuntner und Florian Martin Müller
vom Institut für Archäologien ausgezeichnet.
Von der Medizinischen Universität
wurden Peter Willeit von der
Universitätsklinik für Neurologie und
Victoria Klepsch vom Institut für Zellgenetik
geehrt. Bei einem Festakt in der
Stadtbibliothek im Dezember nahmen
die jungen Forscherinnen und Forscher
die Auszeichnung entgegen.
Der Preis wurde 1979 von der Landeshauptstadt
Inns bruck ins Leben gerufen.
Seit 2006 wird die Auszeichnung jedes
Jahr in Anerkennung der wissenschaftlichen
Forschung an den beiden Universitäten
im Wechsel vergeben.
46 zukunft forschung 02/19
Fotos: ÖAW (2), Uni Inns bruck (1), Andreas Friedle (1), Stadt Inns bruck/Lerche (1)
PREISE & AUSZEICHNUNGEN
LAUDATOR Roland Psenner, Preisträgerin Ulrike Tappeiner, Preisträger Alexander Ostermann
und Laudator Michael Oberguggenberger (v.li.)
LEISTUNGEN
AUSGEZEICHNET
Ulrike Tappeiner und Alexander Ostermann wurden für ihr
wissenschaftliches Gesamtwerk mit dem Wissenschaftspreis der
Stiftung Südtiroler Sparkasse ausgezeichnet.
Seit dem Jahr 2008 verleiht die Universität
Inns bruck im Namen der
Stiftung Südtiroler Sparkasse den
„Wissenschaftspreis für außergewöhnliche
Forschungsleistung der Stiftung
Südtiroler Sparkasse“ als Würdigung
für das wissenschaftliche Gesamtwerk
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
an der Universität Inns bruck.
Der Preis ist mit insgesamt 10.000 Euro
dotiert. Stellvertretend für Konrad Bergmeister,
Präsident der Stiftung Südtiroler
Sparkasse, überreichte Marjan Cescutti
die Wissenschaftspreise an die Ausgezeichneten.
„Der Preis der Stiftung Südtiroler
Sparkasse ermöglicht es uns, engagierte
wissenschaftliche Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zu unterstützen und zu
fördern. Dafür möchte ich mich bedanken“,
sagte Rektor Tilmann Märk. „Die
Motivation, welche die öffentliche Anerkennung
hervorragender Leistungen mit
sich bringt, trägt zu einer erfolgreichen
Universität und zu Forschungsleistungen
auf hohem internationalen Niveau bei.“
Für ihr wissenschaftliches Gesamtwerk
wurden in diesem Jahr die Ökologin
Ulrike Tappeiner und der Mathematiker
Alexander Ostermann gewürdigt.
Tappeiner hat sich auf die ökologische
Forschung in Bergregionen spezialisiert,
die Laudatio für sie hielt Roland Psenner,
emeritierter Professor am Institut
für Ökologie und ehemaliger Vizerektor
der Uni Innsbruck. Ostermann bewegt
sich in seiner Forschung im Spannungsfeld
von mathematischer Grundlagenforschung
und angewandten Fragestellungen
aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen
Bereich, die Lobrede
für ihn hielt Michael Oberguggenberger,
Professor am Institut für Grundlagen der
Technischen Wissenschaften.
Die Forschungspreise gingen heuer an
Elisabeth Dietrich-Daum vom Institut
für Geschichtswissenschaften und Europäische
Ethnologie, Barbara Kraus vom
Institut für Theoretische Physik, Hubert
Huppertz vom Institut für Allgemeine,
Anorganische und Theoretische Chemie
sowie Martin Messner vom Institut für
Organisation und Lernen.
SÜDTIROL-EXPERTIN
Die italienische Regierung
hat Esther Happacher,
Professorin für
Italienisches Verfassungsrecht
und Südtiroler
Autonomierecht
an der Rechtswissenschaftlichen
Fakultät,
als deutschsprachige Vertreterin des Staates
und Expertin für die Südtirolautonomie in der
sogenannten 6er- und 12er-Kommission ernannt.
Diese paritätisch zusammengesetzten
Gremien befassen sich mit den Durchführungsbestimmungen
zum Sonderstatut der
Autonomen Region Trentino-Südtirol, auch
bekannt als Südtiroler Autonomiestatut.
TIROLER DES JAHRES
Beim „Tirol-Empfang“
des Landes Tirol in
der Aula der Wissenschaften
in Wien
wurde Peter Zoller
zum Tiroler des Jahres
2019 gekürt. „Es ist
beachtlich, was Peter
Zoller mit seinen Forschungskolleginnen
und -kollegen auf dem Gebiet der Quantenphysik
leistet. Österreich ist in der Quantenphysik
weltweit angesehen und Peter
Zoller prägt diese Entwicklung maßgeblich
mit“, sagte Landeshautmann Günther Platter.
Zoller erhielt im Herbst auch den Preis
der chinesischen Micius Quantum Foundation
sowie den John-Stewart-Bell-Preis
für die Erforschung grundlegender Fragen
der Quantenmechanik und ihrer Anwendungen.
EHRENKREUZ
Karl Weber vom Institut
für Öffentliches
Recht, Staats- und
Verwaltungslehre
erhielt für seine herausragende
wissenschaftliche
Arbeit und
sein verdienstvolles
Wirken an der Leopold-Franzens-Universität
das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst
I. Klasse. „Karl Weber hat sich stets durch
aktuelle und originelle Forschungsthemen in
den unterschiedlichsten Bereichen wie dem
Umweltrecht, dem Energierecht oder der
Bundesstaatsreform profiliert. Auf manche
Themen wurde dadurch erst aufmerksam
gemacht“, sagte Laudator Arno Kahl.
Fotos: M.R.Knabl (1), Uni Inns bruck (2), Axel Springer (1)
zukunft forschung 02/19 47
ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK
CHRISTIANE OPITZ studierte in Heidelberg
Medizin (1998 – 2005) und absolvierte
parallel dazu den Internationalen
Masterstudiengang Molecular Cell Biology
(2001 – 2004). Auslandsaufenthalte führten
sie nach Uppsala/Schweden, Indianapolis/
USA sowie Bern/Schweiz. Ende 2005 legte
sie die Ärztliche Prüfung ab, 2006 wurde
sie in Heidelberg mit summa cum laude
promoviert. Ihre ärztliche Tätigkeit begann
sie 2006 als Ärztin an der Neurologischen
Klinik der Universität Tübingen, seit 2007 ist
sie als Ärztin in der Neurologischen Universitätsklinik
Heidelberg tätig. Anfang 2013
übernahm sie parallel dazu die Leitung
einer Arbeitsgruppe am Deutschen Krebsforschungszentrum,
DKFZ, Heidelberg.
DIE LÜCKE SCHLIESSEN
Die Neurologin und Zellbiologin Christiane Opitz versucht komplexe Stoffwechselprozesse zu verstehen,
um durch einen immunonkologischen Ansatz neue Wege für die Krebstherapie zu eröffnen.
Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid
(NAD) stellt eine Drehscheibe
dar, die den Zellstoffwechsel mit
der Signalweiterleitung in der Zelle verbindet.
Viele dieser Signalwege sind bei
Krebs fehlreguliert, was NAD zu einem
attraktiven Ziel für die Krebstherapie
macht. „Die komplexen Abläufe des
NAD-Stoffwechsels in Krebszellen sind
allerdings noch wenig verstanden, insbesondere
unter Stressbedingungen wie
beispielsweise Nährstoffmangel, unter
dem schnell wachsende Tumoren leiden“,
erklärt Christiane Opitz. Die Neurologin
und Zellbiologin beschäftigt sich
in ihrer Arbeitsgruppe am Deutschen
Krebsforschungszentrum Heidelberg intensiv
mit diesem wichtigen Stoffwechselprozess
und verspricht sich davon,
einen neuen Weg für die Krebstherapie
zu eröffnen. „Solide Tumoren verfügen
über Mechanismen, die das menschliche
Immunsystem daran hindern, sie zu bekämpfen.
Sehr vereinfacht erklärt, könnte
der NAD-Stoffwechsel ein möglicher
Angriffspunkt dafür sein, diese immunsuppressive
Fähigkeit der Tumoren zu
unterbinden und es so dem Immunsystem
zu ermöglichen, die Krebszellen zu
bekämpfen“, beschreibt Christiane Opitz.
„Dies wäre auch für mögliche Rückfälle
optimal, da Immunzellen über ein Gedächtnis
verfügen und so mögliche Rezidive
sehr früh erkennen und bekämpfen
könnten.“
Kooperation
Mit der Universität Inns bruck verbindet
die Wissenschaftlerin vor allem eine erfolgreiche
Zusammenarbeit mit Kathrin
Thedieck, der Leiterin des Instituts für
Biochemie. „Kathrin Thedieck verfügt
über jahrelange Expertise in der Erforschung
der Wechselwirkungen zwischen
zellulären Signalnetzwerken und dem
Stoffwechsel in Tumoren. Unter anderem
erforscht sie den bedeutenden metabolischen
Regulator mammalian/mechanistic
target of rapamycin (mTOR). Zwischen
mTOR und meinem Forschungsgebieten
– dem Aminosäure- und NAD-
Stoffwechsel – gibt es sehr viele Schnittstellen
und so ist unsere Kooperation
schon vor einigen Jahren entstanden und
hat mittlerweile in zahlreiche internationale
Konsortien gemündet“, sagt Christiane
Opitz. Während ihres zweimonatigen
Forschungsaufenthalts an der Universität
Inns bruck im Rahmen einer vom Förderkreis
der Universität Inns bruck finanzierten
Gastprofessur hat sich die Krebsforscherin
gemeinsam mit Kathrin Thedieck
auf die Zusammenhänge zwischen
dem NAD-Stoffwechsel und Signalnetzwerken
fokussiert. „Enorm profitiert haben
wir dabei neben dem Austausch unserer
Expertisen zu den jeweiligen Signalwegen
auch von den hervorragenden
Bedingungen am Institut für Biochemie,
die uns neue massenspektrometrische
Untersuchungen ermöglicht haben“ beschreibt
Christiane Opitz. sr
48 zukunft forschung 02/19
Foto: Uni Inns bruck
SPRUNGBRETT INNS BRUCK
KUGELN IM GEHIRN
AUFGESPÜRT
Elisabeth Kugler erforscht das Herz-Kreislauf-System von Zebrafischen und liefert
dabei mögliche Hinweise für die Ursachen von Erkrankungen beim Menschen.
„Österreich bietet eine sehr
laborbasierte Ausbildung,
während das englische Studium
sehr auf Rhetorik
und Kommunikation fokussiert.“
Elisabeth Kugler
Wer in der Wissenschaft etwas
Neues entdeckt, der kann ihm
einen Namen geben. Diese Tradition
durfte auch die PhD-Studentin Elisabeth
Kugler in der Forschungsgruppe
von Tim Chico an der Universität Sheffield
fortsetzen. Die Bio wissenschaftler
haben vor Kurzem im Gehirn von Zebrafischen
kugelförmige Ausformungen
der Zellmembran von Blutgefäßen entdeckt.
Diese bisher unbekannten Strukturen
nannten die Forscher „kugeln“.
Sie könnten neue Erkenntnisse über die
Ursachen von Schlaganfällen und Erkrankungen
des Blutgefäßsystems liefern,
denn wie die Forscher in Sheffield
herausfanden, haben die zellulären Signalwege,
die im Zusammenhang mit
genetischen Formen von Schlaganfällen
eine Rolle spielen, auch einen Einfluss
auf die „kugeln“.
Eigentlich arbeitet Elisabeth Kugler
in ihrem PhD-Projekt an einer Bildanalyse-Software
zur Quantifizierung des
Herz-Kreislauf-Systems im Zebrafisch.
Aber anstatt einfach nur Daten zu analysieren,
sammelt sie diese auch selbst.
„Die direkte Arbeit an Zebrafischen und
Mikroskopen war ausschlaggebend, um
die ‚kugeln‘ zu entdecken“, erzählt die
Biologin. „Das bestätigt einmal mehr,
dass interdisziplinäre Arbeit neue Entdeckungen
und Entwicklungen hervorbringen
kann.“ Dieser interdisziplinäre
Ansatz hat Elisabeth Kugler auch an die
Universität Sheffield gebracht. Nach dem
Studium an der Universität Inns bruck
hatte sie sich einen Forschungsaufenthalt
am Europäischen Molekularbiologischen
Labor in Heidelberg organisiert und im
Anschluss ihr Masterstudium am Institut
für Molekularbiologie der Uni Inns bruck
erfolgreich abgeschlossen.
Während ihrer Ausbildung in Innsbruck
hat Kugler als Fachtutorin verschiedener
Kurse an den Instituten für
Zoologie und Mikrobiologie gearbeitet.
„Dies hat mir geholfen, das Studium aus
der lehrenden Perspektive zu betrachten“,
erzählt die Biologin, die ihrer Ausbildung
in Inns bruck ein sehr gutes
Zeugnis ausstellt: „Sie hat mir ein sehr
gutes Grundlagenwissen vermittelt.“ Vor
allem aber die Chance, Praktika absolvieren
zu können und mit interdisziplinär
ausgerichteten Forscherinnen und Forschern
zusammenzuarbeiten, hat sie sehr
geschätzt. Diesen Weg geht sie nun auch
an der Universität Sheffield weiter, wo sie
in der Forschungsgruppe von Tim Chico
am Department of Infection, Immunity
und Cardiovascular Disease arbeitet.
Zwischen den beiden Wissenschaftskulturen
sieht sie deutliche Unterschiede:
„Persönlich würde ich sagen, dass Österreich
eine sehr laborbasierte Ausbildung
bietet, während das englische Studium
sehr auf Rhetorik und Kommunikation
fokussiert.“
cf
ELISABETH KUGLER wurde in Wels
geboren und hat an der Universität Innsbruck
Biologie studiert. Ihren Master in
Zell- und Entwicklungsbiologie absolvierte
sie an der Uni Inns bruck und dem
Europäischen Molekularbiologischen
Labor (EMBL) in Heidelberg. Seit 2017 ist
Elisabeth Kugler PhD-Studentin an der
Universität Sheffield in Großbritannien.
Fotos: University of Sheffield
zukunft forschung 02/19 49
ESSAY
ZUKUNFT: ZWISCHEN CHANCE
UND BEDROHUNG
Philosophin Claudia Paganini zu hoffnungsvollen Utopien
und negativen Zukunftserwartungen.
„Die Faszination der
Zukunft war und ist
so groß, dass in der
Populärkultur sogar
ein eigener Terminus
geprägt wurde:
Science-Fiction.“
CLAUDIA PAGANINI studierte
Philosophie und Theologie
an den Universitäten Innsbruck
und Wien. Nach einer
Promotion in Kulturphilosophie
2005 widmete sie sich in ihrer
Habilitationsschrift der Medienethik.
Weitere Forschungsschwerpunkte
sind Medizin-,
Tier- und Umweltethik. Derzeit
lehrt und forscht Paganini als
Vertretungsprofessorin an
der Universität Erfurt, in den
vergangenen Jahren war sie als
Gastdozentin an den Universitäten
von Mailand, Athen
und Zagreb tätig. Als erfahrene
Science-Slammerin ist es ihr
ein besonderes Anliegen, die
Inhalte der moralphilosophischen
Forschung für ein breites
Publikum verständlich und
spannend aufzubereiten.
Die Zukunft hat immer schon die
menschliche Vorstellungskraft inspiriert.
Als Spielraum des Möglichen ist
sie Gegenstand strahlender Hoffnungen ebenso
wie düsterer Befürchtungen. Literarische
Zeugnisse dieser ambivalenten Haltung gibt
es viele: Platons Atlantis um 400 v. Chr., Utopia
von Thomas Morus im 16. Jh. oder 1984 von
George Orwell im 20. Jh. Die Faszination der
Zukunft war und ist so groß, dass in der Populärkultur
sogar ein eigener Terminus geprägt
wurde: Science-Fiction. Gesichertes Wissen
und die Erfahrungen mit dem bisherigen Gang
der Geschichte werden extrapoliert, um Bilder
dessen zu entwerfen, was noch nicht existiert.
Einmal mehr finden sich hier fantastisch schillernde
Phantasien Seite an Seite mit schaurigen
Szenarien des Weltendes.
Und das ist kein Zufall. Denn auch der Abgrund
ist ein Thema, das die Einbildungskraft
des Menschen seit jeher beflügelt hat. „Ich bin
verschont geblieben, aber ich beschreibe den
Untergang“, hat der Schweizer Dramatiker
Friedrich Dürrenmatt einmal gesagt. Wie er
haben viele Künstler – Literaten, Maler, Komponisten
– das Scheitern in dunklen Farben
und bedrückenden Tönen ausgemalt. Der
tragische Held, das bloß vorgestellte Scheitern
vermögen in gewisser Weise zu beruhigen,
weil ich selbst davon nicht betroffen bin. Mitunter
aber sind wir nicht nur im Roman, auf
der Bühne oder im Film mit dem Untergang
konfrontiert. Manchmal steht man sehr konkret
vor einem Abgrund, wenn man am Berg
den Weg verfehlt hat oder wenn man sich mit
den Zahlen und Statistiken zum Klimawandel
bzw. dem Arm-Reich-Gefälle in der globalen
Gesellschaft auseinandersetzt. Zukunft, hoffnungsvolle
Utopie, antizipierter Untergang
oder reale Bedrohung?
Welche Interpretation man wählt, hängt zu
einem guten Teil vom eigenen Charakter ab,
davon, wie ich mit Unsicherheit umgehen
kann, ob es mir wichtig ist, Gewohntes beizubehalten
oder ob ich dazu tendiere, mich
begeistert in neue Abenteuer zu stürzen. Zugleich
wird die Wahrnehmung davon beeinflusst,
welche Diskurse in einer Gesellschaft
vorherrschen. Auch diese sind häufig ambivalent.
So etwa das Sprechen über Neue Medien
und Digitalisierung, wo einerseits euphorische,
den Fortschritts-Topos bedienende Szenarien
dominieren – wenn etwa eine Universität wie
die Uni Inns bruck sehr viel Geld in die Hand
nimmt, um ein Digital Science Center zu gründen
–, andererseits aber düstere Bilder – wenn
sich Bücher mit dem Titel Digitale Demenz zu
Bestsellern entwickeln und einer ganzen Generation
von Eltern tiefe Sorgenfalten auf die
Stirn treiben, sobald sie ihre Kinder beim Computerspielen
ertappen. Diese von Psychologen
wie George Milzner als „digitale Hysterie“ bezeichnete
negative Zukunftserwartung ist das
Ergebnis eines Bedrohungs-Topos, den man
regelmäßig finden kann, wenn es zu sogenannten
Medienumbrüche kommt.
Dann nämlich passen die alten Gewohnheiten
nicht mehr zu den je neuen Medien, müssen
reflektiert und verändert werden. Dies wird üblicherweise
am schmerzlichsten bewusst, wenn
die neue Technologie massenhafte Verbreitung
findet. So im alten Rom, wo der Siegeszug der
Sonnenuhr von lauten Unkenrufen begleitet
wurde. Denn für die Zeitgenossen war klar:
Mit der Sonnenuhr hatte man einen Abgott geschaffen,
der wahre Glaube war in Gefahr, der
Mensch der Tyrannei der Technik von nun an
hilflos ausgeliefert. Wenig besser ging es lange
danach dem Kabeltelefon, dem man aufgrund
der zu erwartenden Reizüberflutung und des
durch das Klingeln ausgelösten gesundheitsschädlichen
Schocks höchste Gefährlichkeit
attestierte. Beispiele wie diese gibt es viele. Sie
sollen aber nicht dazu ermuntern, aus der privilegierten
Position der später Geborenen über
die Dummheit anderer zu spotten, sondern
vielmehr aufzeigen, wie subjektiv und fehleranfällig
Zukunftsprognosen sein können. Vor
diesem Hintergrund scheint es nicht zu schaden,
die eigenen Zukunftserwartungen immer
wieder kritisch zu hinterfragen und vor allem
der Versuchung zu widerstehen, dogmatische
Positionen einzunehmen.
50 zukunft forschung 02/19
Foto: Andreas Friedle
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52 zukunft forschung 02/19
Foto: Andreas Friedle