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Zukunft Forschung 02/2019

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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ROMANISTIK

no. Das cinema di migrazione antwortet mit

einer Art Gegenbild. Wie diese Antwort

künstlerisch verarbeitet wird, untersucht

Schrader mit ihren Mitarbeiterinnen und

Mitarbeitern in dem FWF-Projekt Cinema

of Migration in Italy since 1990 – Ausgangspunkt

ist die Beobachtung, dass Migration

ab den 1990ern im italienischen Film

vermehrt zum Thema wird. Ein Jahrzehnt

zuvor befand sich das italienische Kino in

einer Krise, „die Zeit der großen Filmemacher

war vorbei, das Fernsehen kam von

der Bar ins Wohnzimmer, es gab kaum

Filmförderung“, nennt Schrader einige

Gründe. Als Folge organisiert sich die

Filmlandschaft ab Ende der 1980er neu,

es entstehen neue kleine Filmfirmen, die

auf alternative Arten der Produktion und

Finanzierung setzen – und sich neuen

Themen widmen.

Filmografie der Migration

„Mit Pummarò macht Michele Placido 1990

den ersten Film, in dem Migration eine

entscheidende Rolle spielt“, weiß Schrader.

Der Regieerstling des Schauspielers

beschreibt die Suche eines jungen Afrikaners

nach seinem Bruder, der in Süditalien

als Tomatenpflücker gearbeitet hat – eine

Suche, die ihn von Süd- über Norditalien

„Die eigene italienische

Migrationsgeschichte wird

in aktuellen filmischen

Immigrationsgeschichten kaum

reflektiert.“

Sabine Schrader

bis nach Deutschland führt. „Einer unser

ersten Schritte im Projekt war die Erstellung

einer Filmografie zum Thema Migration“,

berichtet Schrader. Auf rund 300

Kinofilme kann man in der Zwischenzeit

verweisen, der Schwerpunkt liegt auf Produktionen

nach 1990. Das Projekt-Team

interessiert aber auch der historische Blick

auf das größte Auswanderland Europas,

das allein zwischen 1876 und 1915 rund 14

Millionen Menschen verließen – ein Drittel

der damaligen Bevölkerung Italiens.

„Wir haben festgestellt, dass diese eigene

italienische Migrationsgeschichte in aktuellen

filmischen Immigrationsgeschichten

kaum reflektiert wird“, schildert die Forscherin.

Die Suche nach Filmen, welche diese

italienische Auswanderung thematisieren,

führte bis in die Stummfilmzeit, zu

einer US-amerikanischen Produktion

aus dem Jahr 1905, „die italienische Immigranten

auf Zelluloid bannt“. Auch

Charlie Chaplin befasst sich mit Migration,

dass es sich bei The Immigrant aus

dem Jahr 1917 um Italiener handelt, zeigt

allerdings nur das Filmplakat. Schrader:

„Chaplin sitzt vor einem Teller Spaghetti.“

Schließlich wurde man auch in

Italien fündig, im Film Napoli che canta

(1926) kommt, so Schrader, „Migration

aber nur als Leerstelle vor: Man sieht,

wie in der Stadt Plätze leer werden,

wie zum Abschied gewinkt wird, wie

Schiffe wegfahren.“ Insofern zeige der

Film, dass das Thema Migration in dem

jungen italienischen Staat, im aufkommenden

Faschismus keinen Platz hat,

dementsprechend dominieren in dieser

Zeit Historien- und Monumentalfilme,

„die an die Größe Italiens erinnern“. In

späteren Jahren sind es oft Koproduktionen

mit Frankreich, in denen Migration

abgehandelt wird. „Das zieht sich bis

in die 1950er-Jahre“, sagt Schrader, „in

Cammino della Speranza nimmt es eine

süd italienische Familie auf sich, durch

ganz Italien zu reisen, um über die Berge

nach Frankreich zu kommen – also der

gleichen Weg wie ihn heute Menschen

aus Afrika nehmen.“ Viele Filme beschäftigen

sich damit, wie Italienerinnen und

Italiener im Ausland Fuß fassen, geht

es dabei um Amerika, ist dies meist mit

Kriminalität und Mafia verbunden, oft

umgesetzt von Regisseuren wie Francis

Ford Coppola oder Martin Scorsese – beide

selbst Italoamerikaner.

Mit der eigenen italienischen Geschichte

setzt sich auch Lamerica (1994)

auseinander. Angeregt durch die Ereignisse

rund um die Vlora schickt Regisseur

Gianni Amelio zwei Männer, Fiore

(Michele Placido) und Gino (Enrico Lo

Verso), nach Albanien – dort wollen die

beiden vom Zerfall Albaniens profitieren.

„Der Film verschränkt die Zeit Albaniens

als italienische Kolonie, die faschistische

Besatzung, die Goldgräberstimmung des

Wild-West-Kapitalismus und die Emigration

der Albaner“, erzählt Schrader. „Lamerica“,

als Hoffnung auf das gelobte

Land, nennen die Flüchtlinge – unter ihnen

auch Gino – das Schiff, das tausende

von ihnen nach Italien bringen soll.

In anderen Filmen, wie etwa Quando sei

nato non puoi piú nasconderti (2005), Il vento

SABINE SCHRADER studierte Romanistik,

Geschichte und Philosophie/Pädagogik

an den Universitäten Göttingen, Venedig

und Köln, an letzterer promovierte sie

im Jahr 1998. Von 1999 bis 2005 war sie

Wissenschaftliche Assistentin am Institut

für Romanistik der Univer sität Leipzig,wo

sie 2006 über Literatur und Film in der

Stummfilmzeit Italiens habilitierte. Von

2006 bis 2009 war sie Wissenschaftliche

Mitarbeiterin an der TU Dresden, 2009

wurde sie als Professorin für Romanische

Literatur- und Kulturwissenschaften an

die Universität Inns bruck berufen.

fa il suo giro (2005), Io sono Li (2011), La prima

neve (2013), sind die „Einwanderer“

schon im Land, die Thematisierung der

Migration, sagt Schrader, „ist ein erster

Schritt der Repräsentation“, sie räumt

aber auch ein, dass dabei viele Klischees

bedient werden, unter anderem das des

Opfers. „In vielen Filmen sind Migrantinnen

und Migranten nur Opfer der italienischen

Gesellschaft, die scheitern müssen.

Es wird unterschlagen, dass sie auch

Akteure ihres Lebens sind“, hält Schrader

fest, „da müssen wir unsere Ausgangsthese,

dass das cinema di migrazione ein cinema

d’impegno, ein engagiertes Kino ist, doch

kritisch hinterfragen.“ Zeit dafür bleibt

Sabine Schrader und ihrem Team: Das

FWF-Projekt ist auf drei Jahre angelegt,

Start war im Herbst 2018. ah

zukunft forschung 02/19 33

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