08.06.2022 Aufrufe

Zukunft Forschung 02/2019

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

TITELTHEMA

von Ausbildungen – oder ob dies „nur“

empfunden wird, macht da keinen Unterschied.

In Reaktion darauf gibt es nun

die Tendenz dieser „Ausgeschlossenen“,

sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen.

Auf der anderen Seite stehen die liberalen

Eliten. Diese werden von den

„Ausgeschlossenen“ aber nicht als Gesellschaft,

sondern als eine andere Gemeinschaft

erlebt. Eine Gemeinschaft, zu

der sie nicht dazugehören. Selbst wenn

dies nur eine perspektivische Illusion

wäre – so hat das alleine schon enorme

Auswirkungen. Denn Demokratie wird

damit als Elitenprojekt erfahren. Und das

ist eine katastrophale Entwicklung.

ZUKUNFT: Sie sagen, um eine andere Zukunft

denkbar zu machen, müsse man

dem Missverständnis, Demokratie sei

Harmonie, entgegentreten. Benötigt eine

demokratische Gesellschaft Diskussion

und Streit, aber auch Kompromiss und

Konsens?

CHARIM: Das Besondere an der Demokratie

ist, dass sie nicht über Harmonie

funktioniert. Ihr Ziel ist eben nicht eine

versöhnte Gesellschaft, denn das wäre eine

völlige gesellschaftliche Stillstellung.

Das Besondere an der Demokratie ist

das Verstehen, das Erkennen, das Handhaben,

das Institutionalisieren des Potenzials,

das durchgefochtene Konflikte

für die Gesellschaft haben. Das gesellschaftliche

Band der Demokratie ist kein

konsensuales, sondern ein konfliktuelles.

Das heißt: Uns verbindet nicht (nur) der

Konsens, sondern ebenso sehr der gemeinsam

durchgestandene Konflikt.

Zugleich aber muss man sagen, dass

die gesellschaftliche Produktivität von

Konflikten natürlich nicht unendlich ist.

Sie bedarf vieler Voraussetzungen, um

sich entfalten zu können. So muss der

Konflikt eingehegt – also eingeschränkt

werden. Das heißt, es braucht eine wechselseitige

Anerkennung der Streitparteien

als gesellschaftliche Akteure – sie

müssen sich als Gegner und nicht als

Feind akzeptieren. Das heißt, es braucht

eine grundlegende Akzeptanz der gesellschaftlichen

Ordnung – das ist das Minimum

an gemeinsamem gesellschaftlichen

Boden, auf dem man steht.

ZUKUNFT: Sie sprechen von einer Verschärfung

des Gegensatzes oben-unten

und einem neuen Gegensatz innen und

außen. Wie ist dies zu verstehen?

CHARIM: Wir haben nicht nur eine rasante

Verschärfung des Gegensatzes oben-unten

– sondern eine Situation, die zugleich auch

einen neuen Gegensatz hervorbringt: den

Gegensatz zwischen innen und außen. Der

Begriff der „Ungleichheit“ reicht nicht aus,

um das heutige soziale und gesellschaftliche

Defizit zu benennen. Das Problem ist

zugleich umfassender und diffuser.

Wir haben es heute mit einem Ausschluss

neuen Typs zu tun: Die Ausgeschlossenen

sind, wie gesagt, nicht

einfach die Unterschicht. Neben den

ökonomischen ist noch ein anderer Typ

von Ausschluss getreten: Jener der Abgehängten,

die in vielfältiger Weise – kulturell,

technisch, geografisch – nicht Anschluss

finden an eine völlig veränderte

Welt. Deshalb ist ein neuer Gegensatz hinzugekommen:

jener zwischen innen und

außen. Damit ist nicht die nationale oder

völkische Zugehörigkeit der Populisten

gemeint. Das Innen wird nicht durch die

äußeren Landesgrenzen bestimmt. Menschen

in strukturschwachen Regionen etwa

fühlen sich von der Politik vergessen,

von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das

gesellschaftliche Außen sind soziale oder

geografische Räume an der Peripherie. Eine

andere Art von No-go- Area: Nicht eine,

wo keiner sich hintraut – sondern eine,

wo keiner hin will. Wir leben in einer Gesellschaft

neuen Typs: eine „Gesellschaft“,

die nicht mehr alle umfasst.

ZUKUNFT: Wie kann diesen Gegensätzen

entgegnet werden?

CHARIM: Die Gesellschaft, wenn sie eine

Gesellschaft sein möchte, müsste sich

heute dort versammeln, wo die neue Demarkationslinie

verläuft: an der Trennung

zwischen innen und außen. Diese Trennlinie

gilt es zu bearbeiten. Dazu braucht

es kein neues Wir-Gefühl, sondern einen

Umgang mit Unterschieden – mit unterschiedlichen

Gemeinschaften, mit unterschiedlichen

Vorstellungen vom guten

Leben. Es braucht nicht mehr Zugehörigkeitsgefühle,

sondern Vorstellungen, wie

man Solidarität befördert in einer Gesellschaft,

wo die Leute einander eben nicht

mehr alle ähnlich sind. Es braucht keine

neue Heimat, sondern vielmehr eine vermehrte

soziale Durchmischung in einer

Gesellschaft, die immer mehr zu allerlei

Arten von Separatismen tendiert.

ZUKUNFT: Sie sehen in Fridays for Future

eine Möglichkeit, Gesellschaft neu zu denken.

Warum?

CHARIM: Man kann hier Ansätze eines neuen

Denkens jenseits der neoliberalen Enthemmung

ausmachen – ohne Rückgriffe

auf alte Konzepte. Es ist dies das Angebot,

eine Alternative zur kapitalistisch usurpierten

Gesellschaft zu konzipieren, die

nicht über den Rückgriff auf Gemeinschaft

funktioniert. Es sind Konzepte für ein Gemeinwohldenken,

das nicht auf unhinterfragtem

Wachstum basiert. Es ist dies ein

doppelter Einspruch: gegen die Vorstellung

eines Immer-mehr ebenso wie gegen

die Vorstellung eines Immer-weiter-so.

ZUKUNFT: Können auch Universitäten ihren

Teil dazu beitragen? Wenn ja wie?

CHARIM: Universitäten können durch ihre

ureigenste Aufgabe, der Begriffsarbeit, dazu

beitragen. Gleichzeitig aber können sie

nur dann eine gesellschaftliche Wirksamkeit

entfalten, wenn sie ihre Mauern verlassen

und aktiver Teil des öffentlichen

Diskurses werden.

ah

ISOLDE CHARIM (* 1959 in Wien) studierte

Philosophie in Wien und Berlin und

arbeitet als freie Publizistin und ständige

Kolumnistin der „taz“ und des „FALTER“.

Charim war über lange Jahre Lehrbeauftragte

an der philosophischen Fakultät

der Universität Wien mit Schwerpunkt

Ideologietheorie, sie war auch Gastprofessorin

für Politische Theorie am Institut

für Politikwissenschaft der Universität

Wien. Seit 2007 ist sie am „Bruno Kreisky

Forum“ wissenschaftliche Kuratorin der

Reihen „Demokratie reloaded“, „Fundamentalismus

und Moderne“ sowie der

Reihe „Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells“,

die sich mit den Problemen

und Fragen der Pluralisierung beschäftigt.

Beim Diskussionsforum: Zukunft denken

der Universität Inns bruck hielt Isolde Charim

die Keynote „Gesellschaft denken“.

zukunft forschung 02/19 23

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!