Zukunft Forschung 02/2019
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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TITELTHEMA
von Ausbildungen – oder ob dies „nur“
empfunden wird, macht da keinen Unterschied.
In Reaktion darauf gibt es nun
die Tendenz dieser „Ausgeschlossenen“,
sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen.
Auf der anderen Seite stehen die liberalen
Eliten. Diese werden von den
„Ausgeschlossenen“ aber nicht als Gesellschaft,
sondern als eine andere Gemeinschaft
erlebt. Eine Gemeinschaft, zu
der sie nicht dazugehören. Selbst wenn
dies nur eine perspektivische Illusion
wäre – so hat das alleine schon enorme
Auswirkungen. Denn Demokratie wird
damit als Elitenprojekt erfahren. Und das
ist eine katastrophale Entwicklung.
ZUKUNFT: Sie sagen, um eine andere Zukunft
denkbar zu machen, müsse man
dem Missverständnis, Demokratie sei
Harmonie, entgegentreten. Benötigt eine
demokratische Gesellschaft Diskussion
und Streit, aber auch Kompromiss und
Konsens?
CHARIM: Das Besondere an der Demokratie
ist, dass sie nicht über Harmonie
funktioniert. Ihr Ziel ist eben nicht eine
versöhnte Gesellschaft, denn das wäre eine
völlige gesellschaftliche Stillstellung.
Das Besondere an der Demokratie ist
das Verstehen, das Erkennen, das Handhaben,
das Institutionalisieren des Potenzials,
das durchgefochtene Konflikte
für die Gesellschaft haben. Das gesellschaftliche
Band der Demokratie ist kein
konsensuales, sondern ein konfliktuelles.
Das heißt: Uns verbindet nicht (nur) der
Konsens, sondern ebenso sehr der gemeinsam
durchgestandene Konflikt.
Zugleich aber muss man sagen, dass
die gesellschaftliche Produktivität von
Konflikten natürlich nicht unendlich ist.
Sie bedarf vieler Voraussetzungen, um
sich entfalten zu können. So muss der
Konflikt eingehegt – also eingeschränkt
werden. Das heißt, es braucht eine wechselseitige
Anerkennung der Streitparteien
als gesellschaftliche Akteure – sie
müssen sich als Gegner und nicht als
Feind akzeptieren. Das heißt, es braucht
eine grundlegende Akzeptanz der gesellschaftlichen
Ordnung – das ist das Minimum
an gemeinsamem gesellschaftlichen
Boden, auf dem man steht.
ZUKUNFT: Sie sprechen von einer Verschärfung
des Gegensatzes oben-unten
und einem neuen Gegensatz innen und
außen. Wie ist dies zu verstehen?
CHARIM: Wir haben nicht nur eine rasante
Verschärfung des Gegensatzes oben-unten
– sondern eine Situation, die zugleich auch
einen neuen Gegensatz hervorbringt: den
Gegensatz zwischen innen und außen. Der
Begriff der „Ungleichheit“ reicht nicht aus,
um das heutige soziale und gesellschaftliche
Defizit zu benennen. Das Problem ist
zugleich umfassender und diffuser.
Wir haben es heute mit einem Ausschluss
neuen Typs zu tun: Die Ausgeschlossenen
sind, wie gesagt, nicht
einfach die Unterschicht. Neben den
ökonomischen ist noch ein anderer Typ
von Ausschluss getreten: Jener der Abgehängten,
die in vielfältiger Weise – kulturell,
technisch, geografisch – nicht Anschluss
finden an eine völlig veränderte
Welt. Deshalb ist ein neuer Gegensatz hinzugekommen:
jener zwischen innen und
außen. Damit ist nicht die nationale oder
völkische Zugehörigkeit der Populisten
gemeint. Das Innen wird nicht durch die
äußeren Landesgrenzen bestimmt. Menschen
in strukturschwachen Regionen etwa
fühlen sich von der Politik vergessen,
von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das
gesellschaftliche Außen sind soziale oder
geografische Räume an der Peripherie. Eine
andere Art von No-go- Area: Nicht eine,
wo keiner sich hintraut – sondern eine,
wo keiner hin will. Wir leben in einer Gesellschaft
neuen Typs: eine „Gesellschaft“,
die nicht mehr alle umfasst.
ZUKUNFT: Wie kann diesen Gegensätzen
entgegnet werden?
CHARIM: Die Gesellschaft, wenn sie eine
Gesellschaft sein möchte, müsste sich
heute dort versammeln, wo die neue Demarkationslinie
verläuft: an der Trennung
zwischen innen und außen. Diese Trennlinie
gilt es zu bearbeiten. Dazu braucht
es kein neues Wir-Gefühl, sondern einen
Umgang mit Unterschieden – mit unterschiedlichen
Gemeinschaften, mit unterschiedlichen
Vorstellungen vom guten
Leben. Es braucht nicht mehr Zugehörigkeitsgefühle,
sondern Vorstellungen, wie
man Solidarität befördert in einer Gesellschaft,
wo die Leute einander eben nicht
mehr alle ähnlich sind. Es braucht keine
neue Heimat, sondern vielmehr eine vermehrte
soziale Durchmischung in einer
Gesellschaft, die immer mehr zu allerlei
Arten von Separatismen tendiert.
ZUKUNFT: Sie sehen in Fridays for Future
eine Möglichkeit, Gesellschaft neu zu denken.
Warum?
CHARIM: Man kann hier Ansätze eines neuen
Denkens jenseits der neoliberalen Enthemmung
ausmachen – ohne Rückgriffe
auf alte Konzepte. Es ist dies das Angebot,
eine Alternative zur kapitalistisch usurpierten
Gesellschaft zu konzipieren, die
nicht über den Rückgriff auf Gemeinschaft
funktioniert. Es sind Konzepte für ein Gemeinwohldenken,
das nicht auf unhinterfragtem
Wachstum basiert. Es ist dies ein
doppelter Einspruch: gegen die Vorstellung
eines Immer-mehr ebenso wie gegen
die Vorstellung eines Immer-weiter-so.
ZUKUNFT: Können auch Universitäten ihren
Teil dazu beitragen? Wenn ja wie?
CHARIM: Universitäten können durch ihre
ureigenste Aufgabe, der Begriffsarbeit, dazu
beitragen. Gleichzeitig aber können sie
nur dann eine gesellschaftliche Wirksamkeit
entfalten, wenn sie ihre Mauern verlassen
und aktiver Teil des öffentlichen
Diskurses werden.
ah
ISOLDE CHARIM (* 1959 in Wien) studierte
Philosophie in Wien und Berlin und
arbeitet als freie Publizistin und ständige
Kolumnistin der „taz“ und des „FALTER“.
Charim war über lange Jahre Lehrbeauftragte
an der philosophischen Fakultät
der Universität Wien mit Schwerpunkt
Ideologietheorie, sie war auch Gastprofessorin
für Politische Theorie am Institut
für Politikwissenschaft der Universität
Wien. Seit 2007 ist sie am „Bruno Kreisky
Forum“ wissenschaftliche Kuratorin der
Reihen „Demokratie reloaded“, „Fundamentalismus
und Moderne“ sowie der
Reihe „Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells“,
die sich mit den Problemen
und Fragen der Pluralisierung beschäftigt.
Beim Diskussionsforum: Zukunft denken
der Universität Inns bruck hielt Isolde Charim
die Keynote „Gesellschaft denken“.
zukunft forschung 02/19 23