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Christkatholisch_2022-12

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4 Thema<br />

<strong>Christkatholisch</strong> <strong>12</strong>/<strong>2022</strong><br />

Mädchen lassen<br />

Ballone steigen. Ein<br />

Zeichen der Liebe,<br />

und oft gleichermassen<br />

eine Liebeserklärung<br />

an die<br />

Finder in der Ferne.<br />

Foto: J. Ketelaars<br />

auf Pixabay<br />

langen kann. Was passiert aber, wenn<br />

morgen 10´000´000 Menschen dieses<br />

Smartphone kaufen? Dann sieht die<br />

Sache auf der Gesamtrechnung plötzlich<br />

ganz anders aus. Um diese Menge<br />

zu produzieren, sind grosse Mengen an<br />

seltenen Rohstoffen nötig, die häufig<br />

mit ausbeuterischen Methoden und<br />

unter Missachtung der Menschenrechte<br />

gewonnen werden. Gleichzeitig ändert<br />

sich für Sie unter moralischen Gesichtspunkten<br />

grundsätzlich nichts,<br />

denn wie im ersten Fall kaufen Sie ja<br />

immer noch nur ein Smartphone –<br />

und das gilt auch dann, wenn Sie dadurch<br />

unwillentlich Armut begünstigen,<br />

Menschen ausbeuten oder sogar<br />

Kriege finanzieren. Ihr Handeln als<br />

Einzelperson kann für sich genommen<br />

weiterhin als moralisch vollkommen<br />

akzeptabel bewertet werden.<br />

Um dieses Dilemma aufzulösen, analysierte<br />

Pogge die Funktionsweise der<br />

globalisierten Welt und kommt zum<br />

– uns mittlerweile sehr naheliegenden<br />

– Schluss, dass wir keineswegs<br />

moralisch völlig unbeteiligte<br />

Akteur:innen sind, wenn wir uns ein<br />

neues Smartphone kaufen. Denn als<br />

Einwohner:innen wohlhabender<br />

Staaten halten wir durch grosse globale<br />

Institutionen und Organisationen<br />

– dazu gleich mehr – eine Weltordnung<br />

aufrecht, die systematisch<br />

zu unserem Gunsten funktioniert<br />

und uns als Mächtigen und Besitzenden<br />

grosse Vorteile auf allen Ebenen<br />

der globalen Welt verschafft. Indem<br />

wir diese Vorteile systematisch geniessen,<br />

verhalten wir Wohlhabenden<br />

uns nun nicht einfach nur nicht tugendhaft,<br />

sondern wir<br />

verletzen unsere moralische<br />

Pflicht, die<br />

Menschenwürde aller<br />

Menschen zu achten,<br />

zu schützen und ihre<br />

körperliche Integrität<br />

nicht zu verletzten.<br />

Warum aber ist Hilfe<br />

nun nicht einfach nur<br />

geboten, sondern tatsächlich<br />

eine strenge,<br />

moralisch bindende<br />

Verpflichtung? Die<br />

Argumentation von<br />

Thomas Pogge stützt<br />

sich hier auf die Moralphilosophie<br />

von<br />

Immanuel Kant. Dieser hatte in seiner<br />

Grundlegung zur Metaphysik der<br />

Sitten hergeleitet, dass wir andere<br />

Menschen niemals nur als “blosses<br />

Mittel” und damit ausschliesslich zu<br />

unserem persönlichen Nutzen einsetzen<br />

dürfen. Ganz im Gegenteil müssen<br />

wir einander so behandeln, dass<br />

jeder sein Mensch-sein als zum moralischen<br />

Handeln fähige Person, als<br />

“Zweck an sich” leben kann; jeder soll<br />

die Freiheit besitzen, sein Leben autonom<br />

gestalten zu können. Das ist die<br />

Aussage des berühmten kategorischen<br />

Imperativs: „Handle nur nach<br />

derjenigen Maxime, durch die du zugleich<br />

wollen kannst, dass sie ein allgemeines<br />

Gesetz werde.“ Dieser Imperativ<br />

rechnet letztlich auf unsere<br />

vernünftige moralische Einsicht, dass<br />

wir alle ein Teil der Menschheit sind<br />

und deshalb als «Zwecke an uns<br />

selbst» behandelt werden wollen.<br />

Einsichtig wird damit unmittelbar,<br />

warum die Sicherung dieses absoluten<br />

moralischen Mindeststandards<br />

nicht einfach nur die Angelegenheit<br />

von tugendhaftem Verhalten sein<br />

kann, sondern tatsächlich moralische<br />

Verpflichtung ist: Weil wir sonst dem<br />

moralischen Status von uns Menschen<br />

das Fundament abgraben würden<br />

und jederzeit der Spielball fremder<br />

Interessen werden könnten. Wir<br />

haben also, zusammengefasst, die<br />

moralische Pflicht, alles zu unterlassen,<br />

was andere Menschen daran hindert,<br />

in gleicher Weise wie wir autonom<br />

ihr Leben zu gestalten. Und wir<br />

haben zugleich die moralische Pflicht,<br />

alle Umstände aus dem Weg zu räumen,<br />

die dies verhindern.<br />

Nun ist die eine Seite eine ethisch<br />

nachvollziehbare Argumentation für<br />

oder wider etwas, die andere Seite<br />

aber die Frage der Umsetzbarkeit in<br />

einer unüberschaubar gewordenen<br />

Welt. Thomas Pogge schätzt dementsprechend<br />

auch ganz realistisch ein,<br />

dass es wohl nicht ausreichen wird,<br />

von jedem einzelnen Menschen eine<br />

Verpflichtung zum Unterlassen von<br />

schädigendem Verhalten und von<br />

Unterstützungsleistungen zu fordern.<br />

Pogge macht deshalb deutlich,<br />

dass es die systemischen Rahmenbedingungen<br />

der globalen Welt sind,<br />

die den moralischen Mindeststandards<br />

genügen müssen. Weltbank<br />

und Internationaler Währungsfond,<br />

UNO und Welthandelsorganisation<br />

– sie alle müssten viel strenger als<br />

bisher darüber wachen und mit weitreichenden<br />

Sanktionsmöglichkeiten<br />

garantieren, dass statt Ausbeutung<br />

Gerechtigkeit, statt Krieg Frieden,<br />

statt Vernutzung von überlebensnotwendigen<br />

Ressourcen Nachhaltigkeit<br />

und Vorsorge stehen.<br />

Für einen letzten Punkt müssen wir<br />

wieder auf das Gewissen zurückkommen,<br />

dem eingangs eine so wichtige<br />

Rolle zugesprochen wurde. Die weitreichenden<br />

Aufgaben, die Thomas<br />

Pogge den globalen Organisationen<br />

übertragen will, entlasten uns und<br />

unser Gewissen ja nicht gänzlich davon,<br />

persönlich «mehr» tun zu wollen.<br />

Wir beobachten immer wieder,<br />

dass die oben genannten Organisationen<br />

versagen und ihrer Aufgabe, willentlich<br />

oder nicht, überhaupt nicht<br />

nachkommen oder tatsächlich das<br />

tun, was Macht, Reichtum und politischer<br />

Einfluss von ihnen verlangen.<br />

Wir haben deshalb die Verantwortung,<br />

immer wieder den Finger in die<br />

Wunde zu legen und gegenüber unseren<br />

Politiker:innen, unseren Parteien,<br />

unseren Wirtschaftsverbänden und<br />

mit unserem eigenen Konsum deutlich<br />

zu machen, dass uns alle anderen<br />

Menschen angehen und nicht nur die<br />

Allernächsten aus der Familie oder<br />

dem Freundeskreis. Natürlich können<br />

und sollten wir auch – je nach<br />

unseren Möglichkeiten – direkte Unterstützung<br />

leisten. Dies aber auf<br />

wahrhaft christliche Weise: Nicht so,<br />

dass wir uns dabei selbst vergessen<br />

oder uns im Sinne einer moralischen<br />

Selbstverliebtheit einfach nur selbst<br />

besser fühlen («Seht her und seht, wie<br />

spendabel ich bin!»), sondern im Sinne<br />

von Mk <strong>12</strong>,31: «Du sollst deinen<br />

Nächsten lieben wie dich selbst.».<br />

Diese Aufforderung kann man im<br />

Blick auf diesen Beitrag auch so verstehen:<br />

Macht Ernst mit Eurem<br />

Mensch-sein und ermöglicht es anderen,<br />

ihre Leben selbstbestimmt zu gestalten!<br />

Bleibt nicht bei euch oder Euren<br />

Familien stehen, sondern lasst<br />

Euch ansprechen vom Nächsten, der<br />

auch am anderen Ende der Erde leben<br />

kann! Seid offen für diese Welt und<br />

lebt nicht nur in der nächsten!»<br />

Michael Hartlieb

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