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Ulrich H. J. Körtner: Theologische Exegese (Leseprobe)

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

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<strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong><br />

<strong>Theologische</strong><br />

<strong>Exegese</strong><br />

Bibelhermeneutische Studien<br />

in systematischer Absicht


<strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong>, Dr. theol., DDr. h. c.,<br />

Jahrgang 1957, ist Ordinarius für Systematische<br />

Theologie an der Evangelisch-<strong>Theologische</strong>n<br />

Fakultät der Universität Wien und<br />

seit 2001 auch Vorstand des Instituts für<br />

Ethik und Recht in der Medizin der Universität<br />

Wien. Er ist u. a. Mitherausgeber von:<br />

»Zeitschrift für Evangelische Ethik«, »<strong>Theologische</strong><br />

Rundschau« und »Arbeiten zur<br />

Systematischen Theologie« (Leipzig), »Ethik<br />

und Recht in der Medizin« (Wien) und »Edition<br />

Ethik« (Göttingen). <strong>Körtner</strong> bekam 2016<br />

das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst<br />

I. Klasse der Republik Österreich verliehen<br />

und ebenfalls 2016 von der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften den Wilhelm-<br />

Hartel-Preis für sein Gesamtwerk.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2022 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Werk wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover und Layout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Coverbild: Ausschnitt aus der Great Isaiah Scroll (Jesaja 53). The Israel Museum,<br />

Jerusalem. Foto: Ardon Bar Hama. Public Domain CC0<br />

Satz: ARW-Satz, Leipzig<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07175-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07176-0<br />

www.eva-leipzig.de


Paul Gerhard Klumbies,<br />

dem Freund und Weggefährten,<br />

zum 65. Geburtstag


Vorwort<br />

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen oftmals getrennte<br />

Wege. Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist die Rehabilitierung<br />

des Historismus, den die Vertreter der Wort-Gottes-Theologie im Gefolge<br />

Karl Barths wie auch die Kerygma-Theologie und die existentiale<br />

Interpretation biblischer Texte im Gefolge Rudolf Bultmanns überwunden<br />

glaubten. Systematische Theologie wiederum wird heute von nicht<br />

wenigen Vertretern des Faches als kulturwissenschaftliche Disziplin<br />

verstanden, wenn auch vielleicht als eine normative Kulturwissenschaft,<br />

die ihre Rekonstruktionen christlicher Glaubensinhalte und<br />

Glaubensvollzüge einigermaßen unabhängig von bibelexegetischen<br />

Sachverhalten und Detailfragen formulieren kann. Religionsphilosophische<br />

Reflexionen spielen eine größere Rolle als die Texte der Bibel.<br />

Der reformatorische Anspruch von Schriftbezug, Schriftbindung und<br />

Schriftgemäßheit ist allerdings Gegenstand berechtigter Kritik, für die<br />

ein Schlagwort wie dasjenige der vielbeschworenen Krise des Schriftprinzips<br />

steht. Anspruch und Wirklichkeit einer Theologie, die vorgibt,<br />

in all ihren Disziplinen in letzter Konsequenz nichts Anderes als Schriftauslegung<br />

zu sein, klaffen in Geschichte und Gegenwart oft genug auseinander.<br />

Die vorliegenden exegetischen und bibelhermeneutischen Studien<br />

wissen sich einem Verständnis von Bibelexegese als theologischer Aufgabe<br />

mit systematisch-theologischen Implikationen und Fragestellungen<br />

wie auch von Systematischer Theologie als konsequenter <strong>Exegese</strong><br />

verpflichtet. In diesem Bemühen weiß ich mich dem Neutestamentler<br />

Paul-Gerhard Klumbies verbunden, dem das vorliegende Buch gewidmet<br />

ist. Mit ihm verbinden mich seit unseren gemeinsamen Assistententagen<br />

an der Kirchlichen Hochschule Bethel nicht nur eine jahrzehntelange<br />

Freundschaft, sondern auch ein ebenso lange währendes<br />

intensives theologisches Gespräch, das mit den vorliegenden Studien


8<br />

Vorwort<br />

seine Fortsetzung finden soll. Beide teilen wir das Anliegen einer Theologie,<br />

die ihre unabweisbare Aufgabe darin sieht, nicht nur von Religion,<br />

sondern auch unter Gegenwartsbedingungen von Gott zu sprechen und<br />

nicht etwa nur von historischen und heutigen Gottesgedanken und<br />

Gottesbegriffen. In diesem Sinne spricht Klumbies von theologischer<br />

<strong>Exegese</strong>, und unter diesem Begriff lassen sich auch die im vorliegenden<br />

Band gesammelten exegetischen und bibelhermeneutischen Studien<br />

fassen.<br />

Die Rede von Gott mag eine unmögliche Möglichkeit sein. Wird aber<br />

die Rede von Gott aus der Theologie verabschiedet, indem diese sich darauf<br />

zurückzieht, lediglich über das Wort „Gott“ und seine unterschiedlichen<br />

Verwendungsweisen zu sprechen, dabei aber Religion als anthropologische<br />

Konstante oder menschliche Kulturleistung als ihr eigentliches<br />

Leitthema auszugeben, besteht, wie Klumbies schreibt, die Gefahr,<br />

„dass in den beschreibenden Außenperspektiven die Eröffnung des Gottesbezugs<br />

selbst verloren zu gehen droht und sich die Binnen- bzw. Teilnehmerperspektive<br />

nicht mehr erschließt“. Gegenstand einer theologisch<br />

orientierten <strong>Exegese</strong> ist nach Klumbies das Glaubensgeschehen,<br />

das der Entstehung biblischer Texte vorausliegt. Sie nimmt den Verweischarakter<br />

der Texte ernst, die in Gott als Grund und Ziel des Glaubens<br />

ihren Richtungssinn haben. Das der Textentstehung vorausliegende<br />

Glaubensgeschehen ist zwar dem objektivierbaren, historisch-kritischen<br />

Zugriff entzogen. Umrisshaft ist es gleichwohl in den Sprachgestaltungen<br />

der biblischen Texte erkennbar. Nach Klumbies besteht die<br />

Differenz zwischen einer theologisch ausgerichteten <strong>Exegese</strong> und einer<br />

rein textimmanenten Auslegung genau darin, diesem Gegenstand Realität<br />

und Aufmerksamkeit einzuräumen.<br />

Eben darin besteht auch die Aufgabe Systematischer Theologie, die<br />

auf ihre eigene Weise unter Gegenwartsbedingungen die Fragen nach<br />

der Geltung christlicher Glaubensaussagen bearbeitet. Ihr Nachdenken<br />

über Gott vollzieht sich in Gestalt systematischer Schriftauslegung, die<br />

dem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen versucht. So vielstimmig,<br />

spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen<br />

Schriften zu vernehmenden menschlichen Stimmen auch klingen<br />

mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt,<br />

der mit dem Wort „Gott“ benannt wird.<br />

Die vorliegenden Studien sind großteils bereits an anderer Stelle,<br />

teils an entlegeneren Orten, publiziert worden. Für den vorliegenden


Vorwort 9<br />

Band wurden sie geringfügig überarbeitet und teilweise ergänzt. Inhaltliche<br />

Überschneidungen, die es an einigen Stellen gibt, wurden belassen,<br />

um den Gedankengang der je für sich lesebaren Texte nicht zu stören.<br />

Paula Budde, Stephanie Faugel, Stefan Haider und Christine Voß waren<br />

mir bei den Korrekturen behilflich. Dafür sage ich herzlichen Dank.<br />

Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt danke ich einmal<br />

mehr für die unkomplizierte, vertrauensvolle und freundschaftliche<br />

Zusammenarbeit.<br />

Wien, im März 2022 <strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong>


Inhalt<br />

I Konsequente <strong>Exegese</strong><br />

Zum Verhältnis von hermeneutischer Theologie,<br />

Wort Gottes und Schriftauslegung ............................... 15<br />

1 Verfrühte Abgesänge auf die Wort-Gottes-Theologie ................. 15<br />

2 Wort-Gottes und Schriftauslegung bei Rudolf Bultmann ......... 22<br />

3 Posthermeneutische Theologie? ...................................................... 28<br />

4 Systematische Theologie als konsequente <strong>Exegese</strong>? .................... 38<br />

II <strong>Theologische</strong> Theologie des Neuen Testaments<br />

Systematisch-theologische Bibelinterpretation<br />

im Gespräch mit Paul-Gerhard Klumbies ..................... 43<br />

1 Die Historisierung der Theologie und ihre Aporie ..................... 43<br />

2 <strong>Theologische</strong> <strong>Exegese</strong> .......................................................................... 46<br />

3 Gott als Gott vernehmen ................................................................... 47<br />

4 <strong>Exegese</strong> und Systematische Theologie ............................................ 49<br />

5 <strong>Exegese</strong> und Pneumatologie .............................................................. 51<br />

6 Glauben und Sünde im Verstehen ................................................... 52<br />

III Vergebung und Versöhnung<br />

Das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit aus<br />

rechtfertigungstheologischer Sicht .......................... 55<br />

1 Sein und Sprache .................................................................................. 55<br />

2 Die Gerechtigkeit Gottes in paulinischer Sicht ............................ 60<br />

3 Die Einheit von Gottes Liebe und Gerechtigkeit ......................... 65<br />

4 Vergebung, Rechtfertigung und Versöhnung .............................. 67<br />

5 Rechtfertigung und Kultur des Erbarmens und Verzeihens .... 73<br />

IV Vergebung!<br />

Die fünfte Bitte des Vaterunser im Licht<br />

der paulinischen Rechtfertigungslehre .................. 81<br />

1 Sündenvergebung im Zentrum des christlichen Glaubens ...... 81<br />

2 Die Vaterunserbitte um die Vergebung der Schuld ..................... 84


12<br />

Inhalt<br />

3 Sünde, Sündenvergebung und Rechtfertigung bei Paulus ........ 88<br />

4 Rechtfertigung, Beten und Kultur des Vergebens ....................... 90<br />

V Rechtfertigung und Ethik bei Paulus<br />

Beobachtungen zum Ansatz paulinischer Ethik .... 97<br />

1 Ethische Passagen in den Paulusbriefen ........................................ 97<br />

2 Grundlegung paulinischer Ethik .................................................... 104<br />

3 Das Problem von Indikativ und Imperativ bei Paulus ............... 110<br />

4 Der Ansatz paulinischer Ethik ......................................................... 112<br />

VI „... und hätte die Liebe nicht ...“<br />

Der Begriff der Agape im Christentum ......................... 121<br />

1 Agape im Neuen Testament .............................................................. 121<br />

2 Die Platonisierung der Agape und ihre Kritik .............................. 123<br />

3 Der Gott, der Liebe ist ......................................................................... 125<br />

4 Agape und Philia .................................................................................. 130<br />

5 Eros und Agape ..................................................................................... 132<br />

VII Die Liebe ist erfinderisch<br />

Autorität, Hermeneutik und Kritik alttestamentlicher<br />

Ethik im Kontext Systematischer Theologie 135<br />

1 Sola scriptura – sola Tora? .................................................................... 135<br />

2 Inventionale Ethik ............................................................................... 142<br />

3 Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit ...................................................... 147<br />

4 Gebot, Gesetz und Interpretament ................................................... 151<br />

VIII Paulus und die Kulturen<br />

Ein Beitrag zum Thema Christentum und Kultur .... 157<br />

1 Urbanes Christentum ......................................................................... 157<br />

2 Das theologische Programm des Apostels Paulus ........................ 158<br />

3 Vielfalt und Relativität der Kulturen .............................................. 159<br />

4 Transkulturelles Christentum ......................................................... 161<br />

5 Paulus aus Tarsus ................................................................................ 162<br />

6 Vom kulturell differenzierten Judentum zum<br />

multikulturellen Christentum ........................................................ 165<br />

7 Kulturbruch und neue Identität in den<br />

paulinischen Gemeinden ................................................................... 168<br />

8 Konflikte in den Gemeinden ............................................................. 170<br />

9 Das Verhältnis der paulinischen Gemeinden zum<br />

gesellschaftlichen Umfeld.................................................................. 172<br />

10 Volkskirchlich geprägtes Christentum in der Gegenwart ......... 174


Inhalt 13<br />

11 Kulturen und Konfessionen .............................................................. 175<br />

12 Kirchliche Milieus ............................................................................... 176<br />

13 Christen und Juden ............................................................................. 178<br />

14 Geistliche Gemeinschaft und gelebte Solidarität ......................... 178<br />

IX Der alte und der neue Mensch<br />

Systematisch-theologische Erwägungen zur<br />

christlichen Anthropologie im Anschluss an<br />

den Epheserbrief .......................................................................... 181<br />

1 Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter .......................... 181<br />

2 Humanität nach dem Tod Gottes und neutestamentliche<br />

Anthropologie ....................................................................................... 184<br />

3 Der alte und der neue Mensch im Epheserbrief ........................... 187<br />

4 Alter und neuer Mensch bei Luther und Calvin .......................... 194<br />

5 Neutestamentliche Anthropologie in bioethischen Diskursen<br />

der Gegenwart ....................................................................................... 200<br />

X Existentiale Interpretation<br />

Rudolf Bultmanns Bibelhermeneutik .......................... 205<br />

1 Glauben und Verstehen ..................................................................... 205<br />

2 Entmythologisierung und existentiale Interpretation ............... 209<br />

3 Theologie und Philosophie oder: Das Problem der<br />

natürlichen Theologie ........................................................................ 216<br />

4 Vorverständnis, Einverständnis, Unverständnis ......................... 222<br />

XI Offenbarung als Krisis<br />

Bultmanns Interpretation der Eschatologie<br />

des Johannesevangeliums ...................................................... 231<br />

1 Die Bedeutung der johanneischen Eschatologie für<br />

die Theologie Rudolf Bultmanns ..................................................... 231<br />

2 Bultmanns Aufsatz über die Eschatologie des<br />

Johannesevangeliums von 1928 ........................................................ 234<br />

3 Bultmanns Johannes-Kommentar .................................................. 244<br />

4 Bultmanns Darstellung der johanneischen Eschatologie<br />

in seiner Theologie des Neuen Testaments .................................. 248<br />

5 Würdigung und Kritik ....................................................................... 252<br />

XII Mythos und Entmythologisierung<br />

Paul Tillich und Rudolf Bultmann ................................ 257<br />

1 Rudolf Bultmann und Paul Tilich ................................................... 257<br />

2 Mythos und Entmythologisierung bei Rudolf Bultmann ......... 262


14<br />

Inhalt<br />

3 Mythos und Entmythologisierung bei Paul Tillich .................... 271<br />

4 Zu Bultmanns und Tillichs Heidegger-Rezeption ...................... 281<br />

5 Theologie – Mythos – Metaphysik ................................................... 283<br />

XIII Glaube zwischen Bekenntnis und Welterfahrung<br />

Zur Theologie Dieter Lührmanns .................................... 293<br />

1 <strong>Theologische</strong> <strong>Exegese</strong> .......................................................................... 293<br />

2 Glaube im Christentum ..................................................................... 298<br />

3 Offenbarung – paulinische Perspektiven ....................................... 304<br />

4 Das paulinische Christusevangelium ............................................. 307<br />

5 Biographie des Gerechten als Evangelium ..................................... 311<br />

6 Ethik in der Bibel ................................................................................. 313<br />

7 Das Neue Testament zu bedenken geben ...................................... 316<br />

XIV „Nicht mehr ich“ (Gal 2,20)<br />

Erwägungen zum Begriff der Selbstbefreiung<br />

im Anschluss an Paulus ............................................................ 317<br />

1 „Werde, der du bist“............................................................................. 317<br />

2 „Nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ ..................................... 322<br />

3 „Eine völlig ungewöhnliche und unerhörte Redeweise“............ 331<br />

4 „Wir sind nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen“ 334<br />

Nachweise ............................................................................................... 339


I<br />

Konsequente <strong>Exegese</strong><br />

Zum Verhältnis von hermeneutischer Theologie,<br />

Wort Gottes und Schriftauslegung<br />

1 Verfrühte Abgesänge<br />

auf die Wort-Gottes-Theologie<br />

Immer schon bestand zwischen Hermeneutik und christlicher Theologie<br />

eine enge Verbindung. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo<br />

erinnert nicht nur an die „wesentliche Nähe von hermeneutischer In -<br />

terpretation und exegetischer Ausdeutung biblischer Texte“, sondern<br />

hält die neuzeitliche Hermeneutik, die in Nietzsche und Heidegger ihre<br />

wichtigsten Repräsentanten hat, insgesamt für „nichts anderes als die<br />

konsequent entwickelte und zu ihrer Reife gebrachte christliche Botschaft“<br />

1 . Über diese These mag man streiten. Unstrittig hat aber alle<br />

Theologie einen hermeneutischen Grundzug, der mit der Geschichtlichkeit<br />

des christlichen Glaubens zusammenhängt.<br />

Diesen Grundzug bringt der Begriff der hermeneutischen Theologie<br />

zum Ausdruck, der in der Schule Rudolf Bultmanns entwickelt worden<br />

ist. Wie Gerhard Ebeling zu bedenken gibt, ist die Kennzeichnung<br />

der Theologie als „hermeneutisch“ im Grunde tautologisch, 2 unterstreicht<br />

das Adjektiv doch lediglich, was schon mit dem Wort „Theologie“<br />

als deren Thema in den Blick kommt. Allerdings ist theologische<br />

Hermeneutik mehr als biblische Hermeneutik im engeren Sinne, nämlich<br />

eine Hermeneutik des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis.<br />

<strong>Theologische</strong> Hermeneutik fragt nicht nur danach, wie sich die<br />

biblischen Texte und ihre Botschaft verstehen lassen, sondern auch<br />

umgekehrt, was diese Texte zur verstehen geben und worin ihr herme-<br />

1 Giovanni Vattimo, Christentum im Zeitalter der Interpretation, in: Ders./<br />

Richard Schröder/<strong>Ulrich</strong> Engel, Christentum im Zeitalter der Interpretation, hg. v.<br />

Thomas Eggensperger, Wien 2004, 17–31, hier 22.<br />

2 Gerhard Ebeling, Hermeneutische Theologie? (1965), in: Ders., Wort und<br />

Glaube II, Tübingen 1969, 99–120, hier 104.


16<br />

I Konsequente <strong>Exegese</strong><br />

neutisches Potential für das Verstehen der heutigen Lebenswirklichkeit<br />

liegt. In diesem weiten Sinne kann man allerdings sagen, dass alle theologische<br />

Hermeneutik biblische Hermeneutik ist. Hermeneutische<br />

Theologie im umfassenden Sinne des Wortes ist die Interpretationspraxis<br />

einer soteriologischen Deutung der Wirklichkeit, welche deren Erlösungsbedürftigkeit<br />

im Lichte der biblisch bezeugten Erlösungswirklichkeit<br />

zur Sprache bringt.<br />

Die Blütezeit hermeneutischer Theologie liegt Jahrzehnte zurück.<br />

Semiotik und (post)strukturalistische Texttheorien haben ihr Erbe<br />

angetreten, nicht selten mit einem dezidiert antihermeneutischen<br />

Gestus. Programmatisch fordert zum Beispiel Marcus Döbert, das bibelhermeneutische<br />

Paradigma radikal zu verabschieden und die Theologie<br />

zu cultural studies umzuformen. 3 Döbert macht das Festhalten am Paradigma<br />

hermeneutischer Theologie dafür verantwortlich, dass sich die<br />

Theologie im Kreis der Geistes- und Humanwissenschaften zunehmend<br />

isoliert hat. Seine „posthermeneutische Theologie“ ist davon überzeugt,<br />

dass sich das Pogramm einer hermeneutischen Theologie durch das<br />

anglogamerikanische Paradigma der cultural studies nicht ergänzen,<br />

sondern nur ersetzen lässt.<br />

Die Kritik am Erbe der hermeneutischen Theologie ist berechtigt,<br />

sofern der Begriff der Hermeneutik unvermittelt auf die geschichtstranszendente<br />

Größe des Wortes Gottes bezogen und dadurch theologisch<br />

überfrachtet wird. Jedoch ist deshalb nicht schon der Begriff einer hermeneutischen<br />

Theologie überhaupt aufzugeben. Er muss aber vor dem<br />

Hintergrund der jüngeren Debatte über die Grundlagen, den Geltungsanspruch<br />

und die Reichweite von Hermeneutik neu bestimmt werden. 4<br />

Der Bedeutungsverlust hermeneutischer Theologie hängt weniger<br />

mit der veränderten philosophischen Diskussionslage als mit Entwicklungen<br />

innerhalb der Theologie zusammen. Heute dominieren in allen<br />

Disziplinen theologische Programme, die Abschied von der Wort-Gottes-Theologie<br />

nehmen. Ihre Kritik richtet sich nur gegen die Theologie<br />

Karl Barths und seiner Schule, sondern auch gegen das Erbe Bultmanns<br />

3 Marcus Döbert, Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma<br />

(ReligionsKulturen 3), Stuttgart 2009.<br />

4 Vgl. <strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong>, Literatur zur theologischen Hermeneutik 2000–<br />

2014. Teil I, in: ThR 79 (2014), 190–223; Ders., Literatur zur theologischen Hermeneutik<br />

2000–2014. Teil II, in: ThR 79 (2014), 436–475.


1 Verfrühte Abgesänge auf die Wort-Gottes-Theologie 17<br />

und seiner Schüler. „Wort Gottes“, „Kerygma“ und „Offenbarung“, die<br />

Programmbegriffe der Dialektischen Theologie, werden abgelöst durch<br />

„Religion“ bzw. „gelebte Religion“ 5 , verbunden mit einer emphatischen<br />

Neuauflage von kulturprotestantischen Programmen, die sich mit den<br />

Namen wie Ernst Troeltsch oder Adolf von Harnack verbinden. 6 Das<br />

heißt freilich noch lange nicht, dass sich mit der Abkehr von der Wort-<br />

Gottes-Theologie auch schon die Fragen erledigt hätten, auf die ihre<br />

Vertreter eine Antwort zu geben versucht haben.<br />

Kultur- und Wissenschaftsgeschichte wird gern als eine Abfolge<br />

von einander ablösenden Paradigmen und Neuaufbrüchen dargestellt. 7<br />

Der Erfolg neuer Konzeptionen hängt nicht nur von der Überlegenheit<br />

ihrer Leistungsfähigkeit, auch nicht nur von erfolgreich betriebener<br />

Theologie- und Theoriepolitik, sondern auch von biologischen Gesetzmäßigkeiten<br />

ab. „Es gehört zu den wiederholt beobachteten Eigentümlichkeiten,<br />

dass sich neue Theorien nicht immer durch die bessere<br />

Lösung alter Problemlasten durchsetzen, sondern auch deshalb, weil<br />

die Vertreter alter Theorien aussterben.“ 8 Auch der theologische Um -<br />

schwung nach dem Ersten Weltkrieg hing teilweise mit solch einem<br />

Generationenwechsel zusammen. Dennoch hat die „dialektische Theologie“<br />

keineswegs die „liberale Theologie“ oder den „Kulturprotestantismus“<br />

als neuprotestantisches Paradigma endgültig abgelöst. Schon<br />

zeitgeschichtlich trifft dies nicht zu, ganz abgesehen davon, dass sich die<br />

protestantische Theologie nach dem Ersten Weltkrieg nicht auf den<br />

5 Siehe u. a. Albrecht Grözinger/Jürgen Lott (Hg.), Gelebte Religion im<br />

Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, FS Gert Otto (Hermeneutica<br />

6), Rheinbach 1997; Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock,<br />

Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis,<br />

Stuttgart 1998; Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer, Gelebte<br />

Re ligion als Programmbegriff systematischer und praktischer Theologie, Zürich<br />

2002.<br />

6 Vgl. einerseits Friedrich Wilhelm Graf, Kulturprotestantismus wieder<br />

aktuell. Die alten theologischen Urteile müssen revidiert werden, in: LM 25 (1986),<br />

309–312, andererseits Christofer Frey, Brauchen wir einen neuen Kulturprotestantismus,<br />

in: ZEE 34 (1990), 3–6; Wolfgang Schoberth, Wieviel Kultur<br />

braucht das Christentum? Wieviel Christentum braucht die Kultur? (BBRF 6), Bayreuth<br />

2002.<br />

7 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (stw 25),<br />

Frankfurt a. M. 2 1976.<br />

8 Hermann Fischer, Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im<br />

20. Jahrhundert (Grundkurs Theologie 6), Stuttgart 1992, 12.


18<br />

I Konsequente <strong>Exegese</strong><br />

Dualismus zweier mit einander im Streit liegenden „Ansätze“ reduzieren<br />

lässt. Man denke nur an den „anderen Aufbruch“ der Lutherrenaissance.<br />

9 Keineswegs auch hatten sich die verschiedenen Ansätze der sogenannten<br />

liberalen Theologie durch den als Kulturkatastrophe empfundenen<br />

Ersten Weltkrieg samt und sonders erledigt, auch wenn dies für<br />

die Wortführer der Dialektischen Theologie der Fall sein mochte. Auch<br />

Troeltsch charakterisierte den Weltkrieg als „totale Umwälzung“ 10 .<br />

„Nicht das Faktum des Bruches war also strittig, sondern seine nähere<br />

Deutung einschließlich der für notwendig erachteten Konsequenzen.“ 11<br />

Die theologische Gesprächslage der Gegenwart ist dadurch charakterisiert,<br />

dass einseitig negative Urteile der Dialektischen Theologie<br />

bzw. der aus ihnen hervorgegangenen Schulen einer Theologie des Wortes<br />

Gottes über die zur Schablone verblassten liberalen Theologie, die<br />

sich doch neben der Dialektischen weiter behaupten konnte, einer<br />

gründlichen Revision unterzogen werden. Dabei besteht freilich die<br />

Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und eine tendenziöse Gegengeschichte<br />

zu konstruieren, welche die Phase der Wort-Gottes-Theologie<br />

als eine theologiegeschichtliche Sackgasse betrachtet, während die<br />

durch die Moderne bedingte Umformungskrise der deutschsprachigen<br />

protestantischen Theologie auf den durch die liberale Theologie bzw.<br />

den Kulturprotestantismus gewiesenen Bahnen weiter zu bearbeiten<br />

sei. Insbesondere Falk Wagners wüste Polemik gegen die als „neuevangelische<br />

Wendetheologie“ 12 apostrophierte Theologie des Wortes Gottes,<br />

die „von der Mentalität und den Cliquen berufstheologischer Funktionäre<br />

einseitig beherrscht“ worden sei, 13 sowie sein Versuch, der Theologie<br />

Barths geradezu faschistoide Züge anzudichten, 14 sollte auch von<br />

9 Vgl. Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge,<br />

Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Herrmann (1910–1935)<br />

(FSÖTh 72), Göttingen 1994.<br />

10 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. I. Buch: Das logische<br />

Problem der Geschichtsphilosophie (GS III), Tübingen 1922, 6.<br />

11 Fischer, Systematische Theologie (s. Anm. 8), 11.<br />

12 Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachig-modernen Protestantismus<br />

weiter?, in: ZNThG 2 (1995), 225–254, hier 249.<br />

13 A. a. O., 250.<br />

14 Vgl. Falk Wagner, <strong>Theologische</strong> Gleichschaltung. Christologie als exemplarische<br />

Theorie des Selbstbewußtseins, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Die Realisierung<br />

der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975, 10–<br />

43.135–167.


1 Verfrühte Abgesänge auf die Wort-Gottes-Theologie 19<br />

denen zurückgewiesen werden, die sich dem Erbe Troeltschs und anderer<br />

Vertreter der sogenannten liberalen Theologie verbunden wissen.<br />

Verblendungs- oder Verschwörungshypothesen verraten mehr über die<br />

negative ideologische Fixierung ihrer Urheber als über den tatsächlichen<br />

Verlauf der Theologiegeschichte. 15 Auch die Polemik Jörg Lausters,<br />

der die Wort-Gottes-Theologie geradezu für ein pathologisches<br />

Phänomen hält, und seine schiefe Gegenüberstellung von „Bibel“ und<br />

„Dogma“ 16 unterbieten das geforderte Diskussionsniveau.<br />

Theologiegeschichte präsentiert sich als eine Vielfalt von aus unterschiedlicher<br />

Perspektive erzählten Geschichten. Die so bestehende „Vielspältigkeit“<br />

moderner Theologie – modern ist hier zunächst nur als Epochenbezeichnung<br />

gemeint und schließt ausgesprochen modernitätskritische<br />

Konzeptionen ein – verweist auf Problemkonstellationen, die<br />

über viel größere Zeiträume hinweg bestehen als es dem – typisch<br />

modernen – Bild von rasch veraltenden theologischen Paradigmen entspricht.<br />

Keineswegs soll damit keineswegs der Idee einer theologia<br />

perennis das Wort geredet werden. Notwendig ist allerdings eine differenzierte<br />

Sichtweise der Theologie- und Problemgeschichte, die vordergründige<br />

und letztlich fruchtlose Alternativen hinter sich lässt. Dazu<br />

gehört auch ein kritischer Umgang mit theologiepolitischen Bezeichnungen<br />

wie „Kulturprotestantismus“, „liberale“ oder „dialektische<br />

15 Von Wagners einseitigem Geschichtsbild setzt sich z. B. Georg Pfleiderers Barth-<br />

Interpretation ausdrücklich ab. Vgl. Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische<br />

Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematische<br />

Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000, 9. Siehe auch das differenziertere<br />

Urteil von Friedrich Wilhelm Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte<br />

einer theologiepolitischen Chiffre, in: Hans Martin Müller, Kulturprotestantismus.<br />

Beträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh<br />

1992, 21–77, der Möglichkeiten „einer produktiven Neuinterpretation der von<br />

den kulturkritischen Theologen der zwanziger Jahre formulierten Kritik des Neuprotestantismus“<br />

auszuloten versucht und insbesondere fragt, ob Barths Kritik an<br />

der liberalen Theologie „vor allem als eine Absage an deren kultursubstantialistische,<br />

auf Integration hin ausgerichtete Leitannahmen – wie etwa die ,Kultursynthese‘<br />

Troeltschs – zu begreifen und folglich als Ausdruck einer subtilen theologischen<br />

Akzeptanz der pluralen Verfaßtheit der modernen Theologie zu deuten“ sei<br />

(68 f.). Allerdings ist anzumerken, dass es Barths früher Theologie der Krisis nicht<br />

primär um „Kulturkritik“ ging, weshalb er sich von vordergründig ähnlich lautender<br />

Krisentheologie bei Werner Elert oder auch Ernst Troeltsch abgegrenzt hat.<br />

16 Vgl. Jörg Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis<br />

von Bibel und Dogma (ThLZ.F 21), Leipzig 2008.


20<br />

I Konsequente <strong>Exegese</strong><br />

Theologie“. Mit solchen Fremd- und Selbstbeschreibungen verbinden<br />

sich Theoriekonstruktionen und Stilisierungen, die zu fragwürdigen<br />

Verallgemeinerungen und vergröbernden Typisierungen führen.<br />

Fundamentaltheologische Konflikte sollen keineswegs verharmlost<br />

werden, als habe man es nur um unterschiedliche Variationen desselben<br />

Grundthemas zu tun, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen. 17<br />

Bestehende Gegensätze zwischen konkurrierenden „positionellen“<br />

Theologien lassen sich nicht ohne weiteres in eine „kritische Theologie“<br />

aufheben. 18 So kann man beispielsweise die sachlichen Einwände der<br />

Dialektischen gegen die liberale Theologie nicht einfach dadurch historisch<br />

neutralisieren, dass man ihnen eine lediglich zeitgeschichtlich<br />

relative Berechtigung zuerkennt. Die „Entdramatisierung“ theologischer<br />

Konflikte hat jedenfalls dort keine Berechtigung, wo das Sein oder<br />

Strittigsein Gottes selbst auf dem Spiel steht. Im Licht des neutestamentlichen<br />

Wortes von Kreuz, das doch keineswegs nur den Griechen<br />

eine Torheit und den Juden ein Ärgernis ist (1Kor 1,23) erscheint „religiöse<br />

Normalität“, in der man nicht durch „religiöse Virtuosen“ und ihre<br />

dauernde „Unruhe und Unzufriedenheit“ 19 gestört werden möchte,<br />

allemal als ein fragwürdiger Zustand. Freilich darf das Wort vom Kreuz<br />

auch nicht als Rechtfertigung für jede Form der Dramatisierung und<br />

konfliktorientierter Selbststilisierung theologischer Konzeptionen<br />

missbraucht werden. Es ist doch gerade die vertiefte Einsicht in das<br />

Strittigsein Gottes im Kontext der Moderne, die manche theologischen<br />

Gegensätze relativiert. Sie sollen keineswegs heruntergespielt werden,<br />

reduzieren sich aber sicher nicht einfach auf die Alternative „Barth oder<br />

Bultmann“, „Wort-Gottes-Theologie oder Troeltsch“. Ebenso unzulässig<br />

ist es, theologische Leitbegriffe wie „Religion“ und „Wort Gottes“ auf<br />

kurzschlüssige Weise gegeneinander auszuspielen. Das Christentum ist<br />

Religion des Wortes und Glaube der christliche Begriff für Religion. 20<br />

17 Vgl. Dietrich Korsch, Religion – ein Bezugsbegriff der liberalen, dialektischen<br />

und hermeneutischen Theologie Rudolf Bultmanns, in: <strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong>,<br />

Wort Gottes – Kerygma – Religion. Zur Frage nach dem Ort der Theologie, Neukirchen-Vluyn<br />

2003, 119–137.<br />

18 Vgl. Dietrich Rössler, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970),<br />

215–231.<br />

19 Wagner, Umformungskrise (s. Anm. 12), 253 f.<br />

20 Vgl. Walter Mostert, Glaube – der christliche Begriff für Religion, in: Ders.,


1 Verfrühte Abgesänge auf die Wort-Gottes-Theologie 21<br />

In den aktuellen Debatten über unterschiedliche Programme der<br />

Theologie und ihre Vorläufer geht es auch um eine Auseinandersetzung<br />

mit dem Erbe des Historismus, dessen Probleme weiter virulent sind.<br />

Die heute verbreitete Kritik an der Dialektischen Theologie, welche<br />

ihrerseits als theologische Reaktion auf die schon von Troeltsch diagnostizierte<br />

Krise des Historismus zu verstehen ist, 21 geht neuerdings mit<br />

einer ausdrücklichen Rehabilitierung des Historismus einher.22<br />

Dem stehen Konzepte einer biblischen Theologie und einer biblisch<br />

orientierten Dogmatik gegenüber, die sich nicht am modernen Begriff<br />

des Historischen, sondern am Begriff des Erzählens orientieren. Konzepte<br />

einer narrativen Theologie, die ihrerseits auf die neuzeitliche Krise der<br />

Metaphysik reagiert, möchte die Bedeutung des Erzählens in gleicher<br />

Weise für die biblische <strong>Exegese</strong> wie für die Systematische Theologie<br />

fruchtbar machen. Damit kann sich zugleich Kritik am hermeneutischen<br />

Programm Bultmanns verbinden, das bei aller Metaphysikkritik<br />

angeblich selbst immer noch im Bann metaphysischen Denkens gefangen<br />

blieb. 23 Soll aber für systematisch-theologische Sätze ein Geltungsanspruch<br />

erhoben werden, der auf kommunizierbare Wahrheit zielt,<br />

muss zwischen „stories“ als Rohmaterial der Theologie und ihrer be -<br />

grifflich-reflexiven Interpretation unterschieden werden. 24 Andernfalls<br />

wird die mit dem Historismus, seiner Krise und seiner bleibenden Virulenz<br />

benannte Problemlage unterboten.<br />

Glaube und Hermeneutik. GAufs, hg. v. Pierre Bühler u. Gerhard Ebeling, Tübingen<br />

1998, 186–199, hier 197.<br />

21 Vgl. Troeltsch, Historismus (s. Anm. 10); Ders. Der Historismus und seine<br />

Überwindung, Berlin 1924.<br />

22 Siehe u. a. Klaus Neumann, Die Geburt der Interpretation. Die hermeneutische<br />

Revolution des Historismus als Beginn der Postmoderne (Forum Systematik 16),<br />

Stuttgart 2002.<br />

23 Vgl. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik (UTB 2564), Göttingen<br />

2004, 40ff. Schneider-Flume versteht ihr eigenes Programm einer narrativen Dogmatik<br />

als Versuch, unter Rückgriff auf Erzählung und Geschichten „die Engführung<br />

von Bultmanns Entmythologisierungsprogramm im Sinne einer Reduktion<br />

auf ,Bedeutsamkeiten‘ zu vermeiden, ohne die unaufgebbare Einsicht der existentialen<br />

Interpretation preiszugeben“ (123). Vgl. auch Gunda Schneider-<br />

Flume/Doris Hiller (Hg.), Dogmatik erzählen? Die Bedeutung des Erzählens<br />

für eine biblisch orientierte Dogmatik, Neukirchen-Vluyn 2005.<br />

24 Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984; Ders./Hugh<br />

O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie (TEH 192), München 1976.


II<br />

<strong>Theologische</strong> Theologie des<br />

Neuen Testaments<br />

Systematisch-theologische Bibelinterpretation<br />

im Gespräch mit Paul-Gerhard Klumbies<br />

1 Die Historisierung der Theologie<br />

und ihre Aporie<br />

Die Disziplinen der Systematischen Theologie und der biblischen <strong>Exegese</strong><br />

haben sich seit der Aufklärung ausdifferenziert. Als klassisches<br />

Dokument dieses Ausdifferenzierungsprozesses gilt Johann Philipp<br />

Gablers (1753–1826) Antrittsvorlesung „De iusto discrimine theologiae<br />

biblicae et dogmaticae“, die er 1787 an der Universität Altdorf gehalten<br />

hat. 1 In der weiteren Folge wurde die Theologie in die Gebiete der historischen,<br />

der systematischen und der praktischen Theologie unterteilt,<br />

wobei die exegetischen Disziplinen der historischen zugeordnet werden.<br />

Freilich hat auch die Systematische Theologie einen Prozess der<br />

Historisierung durchlaufen, dessen Konsequenzen Ernst Troeltsch in<br />

seinem Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode in der<br />

Theologie“ aus dem Jahr 1898 scharfsinnig gezogen hat. 2<br />

Die Revolution der geschichtlichen Denkweise mündet bei Troeltsch<br />

in eine religionsgeschichtliche Theologie, welche die bisher übliche<br />

Dogmatik ablöst. 3 Allerdings wehrt sich Troeltsch gegen den Vorwurf<br />

des Relativismus, „der nur bei atheistischer oder religiös-skeptischer<br />

Stellung die Folge der historischen Methode ist“ 4 . Die Geschichte ist für<br />

1 Johann Philipp Gabler, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen<br />

und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele,<br />

übersetzt von Otto Merk, Anlage I, in: Otto Merk, Biblische Theologie des<br />

Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann<br />

Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg<br />

1972, 273–284.<br />

2 Siehe Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der<br />

Theologie, in: Ders., GS II, Tübingen 1913, 729–753.<br />

3 Vgl. a. a. O., 738.


44<br />

II <strong>Theologische</strong> Theologie des Neuen Testaments<br />

„den ethisch und religiös gläubigen Menschen“ kein Chaos, sondern<br />

„eine geordnete Folge, in der die zentrale Wahrheit und Tiefe des<br />

menschlichen Geisteslebens, aus dem transzendenten Grunde des Geistes<br />

unter allerhand Kampf und Irrung, aber auch mit der notwendigen<br />

Konsequenz einer normal begonnenen Entwicklung emporsteigt“ 5 .<br />

Eine der Folgen dieser Revolution theologischen Selbstverständnisses<br />

und theologischer Methoden ist die Umstellung von „Gott“ auf „Religion“<br />

als theologischen Leitbegriff. Mit ihm wird nicht nur ein Bruch<br />

gegenüber der Altprotestantischen Orthodoxie, sondern auch gegenüber<br />

der Reformation vollzogen. 6 In der Folge sind Konzepte Systematischer<br />

Theologie entstanden, welche dieses Fach wie die Theologie insgesamt<br />

als Teildisziplin der Kulturwissenschaft oder auch als eine spezifische<br />

Ausprägung der Religionswissenschaft begreifen, wobei die systematisch-theologische<br />

Bearbeitung der Geltungsfragen im An schluss an<br />

Paul Tillich auf den spannungsvollen Begriff einer normativen Religionswissenschaft<br />

oder Religionsphilosophie gebracht werden kann. 7<br />

Gegen den Historismus und seine systematisch-theologischen Folgen<br />

haben am Beginn des 20. Jahrhunderts die Protagonisten der Dialektischen<br />

Theologie Stellung bezogen. Rudolf Bultmann sieht in Troeltsch<br />

den „großen Aporetiker der liberalen Theologie“ 8 . Falk Wagner hingegen<br />

hat die Dialektische Theologie und die aus ihr hervorgegangene<br />

Wort-Gottes-Theologie als theologiegeschichtlichen Rückschritt kritisiert,<br />

der zur Stagnation in dem mit der Aufklärung eingeleitete Prozess<br />

der konsequenten Transformation des Protestantismus zur modernitätsaffinen<br />

Religion geführt habe. 9<br />

4 A. a. O., 747.<br />

5 Ebd..<br />

6 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft.<br />

Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Theologie und ihr Verhältnis zur<br />

Religionswissenschaft, ThLZ 126, 2001, 4–20.<br />

7 Vgl. Christian Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den<br />

problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul<br />

Tillichs, Münster 2004.<br />

8 Rudolf, Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung,<br />

in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 1933, 1–25, hier 2.<br />

9 Vgl. Falk Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh<br />

2 1995; Ders., Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999;<br />

Ders., Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Jörg Dierken u.<br />

Christian Polke (DoMo 9), Tübingen 2014.


1 Die Historisierung der Theologie und ihre Aporie 45<br />

Der Preis der Moderne, den die Vertreter einer Renaissance des Neuprotestantismus<br />

zu zahlen bereit sind, ist freilich hoch. Die programmatische<br />

Entsubstantialisierung christlichen Glaubens und seiner Vollzüge<br />

führt religionssoziologisch betrachtet zu Auflösungserscheinungen,<br />

die mitnichten nur als Umformung christlicher Gehalte oder von<br />

Sozialformen des Christentums zu bewerten sind, sondern auch zur<br />

Marginalisierung christlichen Glaubens und seinem Verschwinden<br />

führt. Global betrachtet ist die kulturprotestantische Ausformung des<br />

Christentums ein Minderheitsprogramm, während pentekostale und<br />

charismatische Spielarten des Christentums im Wachsen begriffen sind.<br />

Das kulturprotestantische Fortschrittsnarrativ lässt sich daher mit<br />

guten Gründen hinterfragen. Der Neutestamentler Paul-Gerhard<br />

Klumbies tut dies auf dem Gebiet seines Faches und liefert dabei höchst<br />

anregende Impulse für eine Neuvermessung des Feldes, auf dem das<br />

interdisziplinäre Gespräch zwischen <strong>Exegese</strong> und Systematischer Theologie<br />

zu führen ist. Klumbies wirft die Frage auf, „ob die bleibend starke<br />

Orientierung an der Geschichtswissenschaft, die aus der Situation des<br />

18. Jahrhunderts erklärlich und für das 19. Jahrhundert konstitutiv war,<br />

zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht Ausdruck einer theologischen<br />

Stagnation in der neutestamentlichen Wissenschaft ist“ 10 . Die These<br />

Odo Marquards aufgreifend, wonach die Geschichtsphilosophie der<br />

Moderne und die mit ihr einhergehende Transformation der Theodizee<br />

in die Anthropodizee eine Strategie zur Krisenbewältigung sei, urteilt<br />

Klumbies, „die mit der Aufklärung weithin zur Signatur der evangelischen<br />

Theologie gewordene und vom 18. bis 21. Jahrhundert als deren<br />

besondere Qualität akzeptierte historische Ausrichtung“ sei „auch<br />

Resultat und Ausweis eines unverarbeiteten Traumas“ 11 . Infolge dieses<br />

Traumas wurde nicht nur die Offenbarung Gottes als Thema biblischer<br />

Theologie ausgeklammert, wie Klumbies exemplarisch an Gablers<br />

Antrittsvorlesung veranschaulicht. „Bereits das Wort ‚Gott‘ findet keine<br />

Verwendung.“ 12 Das theologische Thema wird zunächst „an die Dogmatik<br />

weitergereicht“ 13 , die nun freilich ihrerseits, wie von Troeltsch<br />

10 Paul-Gerhard Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen<br />

Testaments, Tübingen 2015, 22.<br />

11 A. a. O., 20.<br />

12 A. a. O., 28.<br />

13 A. a. O., 32.


46<br />

II <strong>Theologische</strong> Theologie des Neuen Testaments<br />

klarsichtig beschrieben, einer konsequenten Historisierung und damit<br />

einer Transformation in Anthropologie und Geschichtsphilosophie un -<br />

terzogen wird.<br />

2 <strong>Theologische</strong> <strong>Exegese</strong><br />

Klumbies plädiert nun für eine Kehrtwendung, nämlich dafür, die theologischen<br />

Voraussetzungen der biblischen Quellen – mit anderen Worten<br />

ihren Gottesbezug – nicht länger beiseite zu lassen, sondern ausdrücklich<br />

zum Thema zu machen. Das bedeutet nun aber, nicht nur<br />

über Gottesvorstellungen, Gottesgedanken und Gottesbegriffe zu sprechen,<br />

sondern von Gott selbst. Eine <strong>Exegese</strong>, die sich dieser Aufgabe<br />

stellt, nennt Klumbies theologische <strong>Exegese</strong>. Was darunter zu verstehen<br />

ist, erklärt er folgendermaßen:<br />

„Unter theologischer Perspektive bilden die Texte des Neuen Testaments die<br />

sekundäre Folge vorheriger Glaubensereignisse. Sie resultieren aus geglaubten<br />

Gottesbegegnungen und verweisen auf diese Geschehnisse zurück. Paulus<br />

schwärmt in 2 Kor 4,7 in plerophorer Weise vom Inhalt der ,irdenen Gefäße‘,<br />

die uns gegeben sind: Das Licht zur Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit<br />

Gottes auf dem Gesicht Jesu Christi.<br />

Während sich die historisch-philologische <strong>Exegese</strong> darauf versteht, die<br />

Tonscherben zu analysieren, setzt eine theologisch orientierte <strong>Exegese</strong> bei dem<br />

Verweischarakter der Texte an. Ihr Gegenstand ist das Glaubensgeschehen, das<br />

der Textentstehung vorausliegt. Dieses ist dem objektivierbaren Zugriff entzogen.<br />

Gleichwohl ist es in seinen Konturen in den Sprachgestaltungen der<br />

Evangelien und der Briefe erkennbar. Die Differenz einer theologisch ausgerichteten<br />

<strong>Exegese</strong> gegenüber einer rein textimmanenten Auslegung liegt<br />

darin, diesem Gegenstand Realität und Aufmerksamkeit einzuräumen. Daher<br />

stellt der Glaube der Exegetin bzw. des Exegeten keine wissenschaftlich unerwünschte<br />

Nebenwirkung dar. Ausschließlich gegenwärtiger Glaube er -<br />

kennt, dass in den Schriften des Neuen Testaments sich Gott als Gott zu Wort<br />

meldet.“ 14<br />

Dementsprechend plädiert Klumbies auch für eine „<strong>Theologische</strong> Theologie<br />

des Neuen Testaments“ 15 , die den Gottesbezug der neutestamentlichen<br />

Texte ebenso wie den möglichen Gottesbezug ihrer Interpreten<br />

14 Paul-Gerhard Klumbies, Der Gegenstand neutestamentlicher <strong>Exegese</strong>, MS 8<br />

f. (im Druck befindlicher Vortrag auf dem XVII. Europäischer Kongress für Theologie,<br />

Wiss. Gesellschaft für Theologie, der vom 5.–8.9.2021 in Zürich stattfand).<br />

15 Klumbies, Herkunft (s. Anm. 10), 142–155.


3 Gott als Gott vernehmen 47<br />

zum Thema macht. Zwar ist der Gottesbezug im christlichen Sinne kein<br />

unmittelbarer, sondern durch die neutestamentlichen Texte vermittelt.<br />

Gott geht aber nicht in den sprachlichen und verschriftlichten Artikulationen<br />

auf. Eine theologische <strong>Exegese</strong> und Theologie des Neuen Testaments<br />

richtet das Augenmerk auf dieses Spannungsverhältnis und<br />

macht es sich zur Aufgabe, „unter dem Gesichtspunkt der bleibenden<br />

Gegenwart Gottes als Gott das Verhältnis zwischen der Menschenbeziehung<br />

Gottes und der Gottesbeziehung des Menschen, wie es im Neuen<br />

Testament versprachlicht wurde, theologisch zu reformulieren“ 16 .<br />

3 Gott als Gott vernehmen<br />

Wenn Klumbies sich dafür ausspricht, „die Gleichursprünglichkeit der<br />

Offenbarung Gottes in Vergangenheit und Gegenwart zum Ausgangspunkt<br />

der“ theologischen „Denkbewegung zu wählen“ 17 , greift er letztlich<br />

den Grundimpuls der Theologie Bultmanns auf, dem er auch darin<br />

folgt, dass man von Gott nur reden kann, indem man zugleich vom<br />

Menschen redet und umgekehrt. 18 Im Unterschied zu Bultmann und<br />

seinen Schülern hält es Klumbies aber für notwendig, die neutestamentliche<br />

Rede von Gott und das jeweilige Gottesverständnis neutestamentlicher<br />

Schriften und Autoren als eigenständiges Thema zu behandeln<br />

und nicht nur mittelbar über die Rekonstruktion der Anthropologie<br />

oder des Heilsverständnisses. Es genügt nach Klumbies nicht, die Rede<br />

von Gott in den neutestamentlichen Schriften als Rede vom Menschen<br />

zu interpretieren. Sie ist auch als Rede von Gott als Gott wahrzunehmen,<br />

wie es der Formulierung Hans-Georg Gadamers entspricht, etwas als<br />

etwas zu verstehen. 19 Wie das gehen kann, hat Klumbies beispielhaft in<br />

seiner Untersuchung zur Rede von Gott bei Paulus gezeigt. 20<br />

16 A. a. O., 146.<br />

17 A. a. O., 148.<br />

18 Vgl. a. a. O., 145.<br />

19 Vgl. Klumbies, Herkunft (s. Anm. 10), 150. Siehe Hans-Georg Gadamer, Philosophie<br />

und Literatur, in: Ders., Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage (GW 8),<br />

Tübingen 1993, 204–257, hier 243. Vgl. auch Klumbies, a. a. O., 96: „Neutestamentliche<br />

Theologie […] steht unter dem Anspruch, die Offenbarung als Offenbarung<br />

selbst zum Thema zu machen.“<br />

20 Vgl. Paul-Gerhard Klumbies, Die Rede von Gott in ihrem zeitgeschichtlichen<br />

Kontext (FRLANT 155), Göttingen 1992. Darin bemängelt er, dass die Rede von Gott


48<br />

II <strong>Theologische</strong> Theologie des Neuen Testaments<br />

Dass Theologie im Sinne Bultmanns zugleich Anthropologie ist,<br />

bedeutet gerade nicht, die Theologie in Anthropologie aufgehen zu lassen,<br />

gilt doch eben, dass in neutestamentlicher Perspektive vom Menschen<br />

nur angemessen gesprochen werden kann, wenn zugleich in<br />

höchst bestimmter, nämlich am neutestamentlichen Offenbarungszeugnis<br />

ausgerichteten Weise von Gott gesprochen wird. Gott aber ist<br />

eben nicht als Chiffre für menschliche Selbstdeutung, sondern in seiner<br />

Selbstwirksamkeit zu sehen, weshalb Klumbies auch für einen moderaten<br />

ontologischen Realismus argumentiert und sich von radikalkonstruktivistischen<br />

Religionstheorien abgrenzt. 21<br />

Es sind freilich erst die spezifischen Interpretamente, über die sich<br />

der Sinn der Rede von Gott erschließt. 22 Im Fall des Paulus sind es vor<br />

allem die Aussagen, die vom Handeln Gottes in und an Jesus von Nazareth<br />

sprechen und in der Aussage, dass Gott den Gekreuzigten von den<br />

Toten auferweckt hat (1Kor 15,12–19). Nach Klumbies ist es nicht eine<br />

vorgegebene Gottesrede, in deren Rahmen die Rede von Christus nachträglich<br />

eingezeichnet wird, sondern es ist die Christologie, welche die<br />

Rede des Paulus von Gott konstituiert. 23 Diese Einsicht lässt sich verallgemeinern:<br />

Christliche Rede von Gott zeichnet sich dadurch aus, dass<br />

die sprachlichen Zeichen „Gott“ und „Christus“ zusammengesprochen<br />

werden, wobei schon der Name oder Hoheitstitel Christus die Abbreviatur<br />

eines solchen Zusammensprechens ist, nämlich die Kurzformel<br />

dafür, dass Jesus von Nazareth der Christus Gottes ist, wobei der Sinn<br />

in Bultmanns Darstellung der paulinischen Theologie kein eigenständiges Thema<br />

ist und auch bei Bultmanns Schülern nicht als solches behandelt wird (19–22).<br />

21 Vgl. Paul-Gerhard Klumbies, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht?<br />

Eine theologische Rückmeldung zu Konstruktivismus und Neuem Realismus,<br />

in: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion?<br />

Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston<br />

2018, 146–161.<br />

22 Vgl, Klumbies, Rede von Gott (s. Anm. 20), 31.<br />

23 Vgl. a. a. O., 244: „Gott ist für Paulus die durch Christus Gestalt und Inhalt gewinnende<br />

Gottesbeziehung. Abseits dieser Beziehung ist nicht von Gott zu sprechen.<br />

[…] An einem ,reinen‘ Gottesbegriff oder einer Gotteslehre ist er nicht interessiert.“<br />

Allerdings kann man fragen, ob Gott und Gottesbeziehung, d. h. Relatum und<br />

Relation, in eins zu setzen sind, so dass der Eindruck entstehen könnte, als ob die<br />

Größe, von welcher sich der Glaube abhängig weiß, de facto seinerseits ganz vom<br />

Glauben abhängig ist. Luther weiß hier zu differenzieren: Der Glaube ist zwar in<br />

gewisser Weise der Schöpfer der Gottheit (creatrix divinitatis), aber eben nicht Person,<br />

sondern nur in uns (non in persona [sc. Dei] sed in nobis [WA 40/I, 360]).


4 <strong>Exegese</strong> und Systematische Theologie 49<br />

des jüdischen Messiastitels dadurch seinen spezifischen Sinn gewinnt,<br />

dass er auf Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten und Auferstandenen<br />

bezogen wird. Was Klumbies von der paulinischen Gottesrede sagt, gilt<br />

entsprechend von der neutestamentlichen Christologie. Nicht wird die<br />

Rede von Jesus nachträglich in einen schon feststehende Messianologie<br />

eingezeichnet, sondern die Weise, wie von Jesus in Verbindung mit Gott<br />

und von Gott in unauflöslicher Verbindung mit Jesus von Nazareth<br />

gesprochen wird, verleiht dem Messiasbegriff und der Messiasvorstellung<br />

einen neuen Inhalt.<br />

4 <strong>Exegese</strong> und Systematische Theologie<br />

Die Implikationen für das Gespräch zwischen <strong>Exegese</strong> und Systematischer<br />

Theologie sind beträchtlich. Systematische Theologie ist nicht die<br />

(religionsphilosophische) Bearbeitung von Geltungsfragen, getrennt<br />

von der rein historischen Betrachtung des Christentums und seiner<br />

maßgeblichen Urkunden. Sie ist vielmehr theologische <strong>Exegese</strong> im Vollzug.<br />

<strong>Exegese</strong> und Systematische Theologie bilden einen hermeneutischen<br />

Zirkel. Nach Klumbies steht die theologische Interpretation neutestamentlicher<br />

Texte „unter der Erwartung, dass eine Analogie zwischen<br />

historischem Ursprungsort der neutestamentlichen Überlieferung<br />

und gegenwärtiger Auslegungssituation besteht, insofern die<br />

bleibende Menschenbeziehung Gottes in Vergangenheit und Gegenwart<br />

vorausgesetzt wird“ 24 . Werden historischer Ursprungsort und<br />

gegenwärtige Auslegungssituation im Modus der Erwartung und<br />

mittels des Analogiegedankens verbunden, so kann man vielleicht in<br />

Fortführung des Gedankengangs bei Klumbies sagen, dass die neutestamentliche<br />

<strong>Exegese</strong> den Schwerpunkt auf den Ursprungsort, die Systematische<br />

Theologie den Fokus auf die gegenwärtige Auslegungssituation<br />

richtet, dass jedoch auch die <strong>Exegese</strong> die gegenwärtige Auslegungssituation<br />

stets mitzubedenken hat wie die Systematische Theologie den<br />

historischen Ursprungsort. Strenggenommen aber lassen sich die historische<br />

und die systematische Aufgabe der Theologie nicht trennen, sondern<br />

sind als ein gemeinsamer hermeneutischer Prozess zu begreifen.<br />

Klumbies schlägt die Brücke zwischen <strong>Exegese</strong> und Theologie – ich<br />

sage meinerseits: zwischen <strong>Exegese</strong> und Systematischer Theologie – mit<br />

24 Klumbies, Herkunft (s. Anm. 10), 151.


III<br />

Vergebung und Versöhnung<br />

Das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit<br />

aus rechtfertigungstheologischer Sicht<br />

1 Sein und Sprache<br />

Wenn Gott Liebe ist – wovon in Kapitel 6 noch ausführlich die Rede sein<br />

wird –, kann er dann gerecht sein? Wenn er aber gerecht ist, wie kann er<br />

dann Liebe sein? Um diese Frage soll es in Folgenden gehen. Genauer<br />

gesagt, soll das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit in der Perspektive<br />

der paulinischen und reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung<br />

bestimmt werden. Wir wählen damit einen dezidiert theologischen<br />

Zugang zum interdisziplinären Diskurs über das Verhältnis von Liebe<br />

und Gerechtigkeit. Hierbei ist nicht vorausgesetzt, dass es sich bei Liebe<br />

und Gerechtigkeit um feststehende Größen oder Begriffe handelt, deren<br />

Verhältnis gegenüber philosophischen Theorien lediglich neu be -<br />

stimmt oder anders akzentuiert wird. Vielmehr wird sich zeigen, dass<br />

schon die in Rede stehenden Begriffe selbst eine andere Bedeutung<br />

annehmen, wenn sie im Kontext der paulinischen Rechtfertigungslehre<br />

verwendet werden.<br />

Wie Ludwig Wittgenstein erklärt hat, ist die Bedeutung eines Wortes<br />

sein Gebrauch in der Sprache. 1 Sprache aber beschränkt sich nicht<br />

auf die Beschreibung einer unabhängig von ihr bestehenden Wirklichkeit.<br />

Sie deutet nicht etwa nur Wirklichkeit, sondern sie schafft Wirklichkeit,<br />

wie sie auch Wirklichkeit und das Leben beschädigen oder gar<br />

zerstören kann. Sprache lotet nicht nur bereits vorhandene Möglichkeiten<br />

aus, sondern sie kann neue Möglichkeiten eröffnen – oder auch verbauen<br />

und verhindern. Wenn Wittgenstein vom Gebrauch in der Sprache<br />

redet, beschreibt er die Einbettung der Sprache in eine Lebensform,<br />

die ihrerseits ganz von Sprache durchdrungen und strukturiert ist.<br />

1 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (stw 203), Frankfurt<br />

a. M. 1977, 41 (Nr. 43).


56<br />

III Vergebung und Versöhnung<br />

Das meint Wittgenstein bekanntlich mit seinem Begriff des Sprachspiels.<br />

2<br />

Sprache ist also nicht nur das Medium, in dem Sein gedeutet wird,<br />

sondern das Medium, in welchem Sein sich zeigt und verwirklicht, so<br />

wie auch der Mensch nicht etwa nur Sprache hat oder benutzt, sondern<br />

Sprache ist. Als sprachlich verfasste und soziale Wesen führen wir nicht<br />

etwa nur Gespräche, zum Beispiel über Liebe und Gerechtigkeit, sondern<br />

wir sind ein Gespräch, wie Friedrich Hölderlin sagt. 3 Darum lautet<br />

im Folgenden die Frage, welche Seinsmöglichkeiten die Sprache schafft,<br />

in der die paulinische und reformatorische Rechtfertigungslehre von<br />

Liebe und Gerechtigkeit spricht.<br />

Der reformatorische Durchbruch Luthers bestand, wie die neuere<br />

Lutherforschung gezeigt hat, darin, dass „Gerechtigkeit“ für ihn gegenüber<br />

der philosophischen und juristischen Bedeutung des Begriffs eine<br />

ganz neue Bedeutung gewann. Diese neue Bedeutung ging Luther an<br />

Röm 1,17 und dem Kontext dieser Bibelstelle auf. Seine revolutionäre<br />

Erkenntnis bestand darin, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht als Eigenschaft<br />

Gottes im Sinne der traditionellen Gotteslehre und ihrer Metaphysik<br />

zu verstehen ist, sondern als Wirken Gottes am sündigen Menschen.<br />

Diese Einsicht aber ist bei Luther grundlegend christologisch<br />

bestimmt, wie Eberhard Jüngel richtig feststellt:<br />

„Der Gebrauch eines Wortes entscheidet über seine Bedeutung. Und der neutestamentliche<br />

Gebrauch der Begriffe unserer Sprache ist nach Luthers Einsicht<br />

grundsätzlich dadurch bestimmt, daß sie auf Jesus Christus bezogen werden.<br />

Jesus Christus macht aber nicht nur das Seiende neu (2Kor 5,17), sondern er<br />

gibt auch den Vokabeln eine neue Bedeutung. 4<br />

Oder um Luther selbst zu Wort kommen zu lassen: „omnia vocabula in<br />

Christo novam significationem accipere“ 5 .<br />

Die Sprache des Evangeliums von Jesus Christus ist nicht einfach<br />

vom Himmel gefallen. Sie greift durchaus die Sprache auf, die von den<br />

2 Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen (s. Anm. 1), 19 ff. (Nr. 7 ff.).<br />

3 Friedrich Hölderlin, Friedensfeier („Viel hat von Morgen an, / Seit ein<br />

Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch“), in: Ders.,<br />

Sämtliche Werke II, Stuttgart 1953, 426–432, hier 430.<br />

4 Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum<br />

des christlichen Glaubens, Tübingen 6 2011, 61.<br />

5 WA 39 II, 94,17 f.


1 Sein und Sprache 57<br />

Menschen immer schon gesprochen wird. Doch abgesehen davon, dass<br />

es auch zu regelrechten sprachlichen Neuschöpfungen kommt, wird<br />

auch die vorhandene Sprache dadurch neu, dass sie in einen neuen<br />

Bezugsrahmen und damit in einen neuen Lebenszusammenhang ge -<br />

stellt wird. Das gilt auch für die Begriffe Liebe und Gerechtigkeit. Nicht<br />

nur haben diese eine mehrfache Bedeutung. Man denke an die Unterscheidung<br />

zwischen iustitia distributiva, iustitia commutativa und iustitia<br />

legalis sowie an neuere Bestimmungen wie Teilhabegerechtigkeit<br />

oder Befähigungsgerechtigkeit. Oder man denke an die Unterscheidung<br />

zwischen Eros, Philia und Agape. Entscheidend ist, dass all diese möglichen<br />

Begriffsbedeutungen in der Kommunikation des biblischen<br />

Evangeliums nochmals in ein anderes Koordinatensystem versetzt werden.<br />

Jüngel und Gerhard Ebeling haben den christlichen Glauben als<br />

Erfahrung mit der Erfahrung charakterisiert. 6 Sie stellt sich auch im<br />

Umgang mit der Sprache ein bzw. ist es überhaupt die Transformation<br />

der Sprache, welche solche Erfahrung mit der Erfahrung ermöglicht.<br />

Die Begriffe der christlichen Verkündigung und ebenso die Be -<br />

griffssprache der Theologie stehen nicht völlig unverbunden neben der<br />

Sprache der Philosophie oder auch des Rechts. Wenn Luther aber für<br />

Theologie und Verkündigung „nova vocabula“ fordert, meint er gewissermaßen<br />

eine Taufe philosophischer, ontologischer bzw. metaphysischer<br />

Termini. „Omnia vocabula fiant nova, quae transferuntur a philosophia<br />

in theologiam; sic homo, voluntas, ratio, opera, vestis.“ 7 Oder: „Si<br />

tamen vultis uti vocabulis istis, prius quaeso illa bene purgate, füret sie<br />

mal zum Bade.“ 8 Es werden also nicht nur die Begriffe transformiert,<br />

sondern es ändert das Denken insgesamt seine Richtung. Dieser Vorgang<br />

ist zu verstehen nicht etwa als sacrificium intellectus, wohl aber als<br />

Metanoia auf dem Gebiet des Denkens, d. h. als Vollzug des Rechtfertigungsglaubens<br />

im Medium des Denkens. Dabei geht Luthers Kritik an<br />

6 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie<br />

des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen<br />

6 1992, 225; Ders., Metaphorische Wahrheit, in: Paul Ricœur/Eberhard Jüngel,<br />

Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. Mit einer Einführung von Pierre<br />

Gisel, München 1974, 71–122, hier 122; Gerhard Ebeling, Die Klage über das<br />

Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: Ders., Wort und<br />

Glaube III, Tübingen 1975, 3–28, hier 22.<br />

7 WA 39 I,231,18 ff.<br />

8 WA 39 I,229,16 ff.


58<br />

III Vergebung und Versöhnung<br />

Aristoteles über die Tradition des ockhamistischen Nominalismus, in<br />

der er steht, erkennbar hinaus.<br />

Will man Luthers Forderung nach nova vocabula bzw. nova significatio<br />

nicht als sein ontologisches Programm auffassen, so gelangt man<br />

zu dem Ergebnis, dass Luther kein Programm einer theologischen (!)<br />

Ontologie aufgestellt hat, was freilich nicht besagt, dass er nicht de facto<br />

im Vollzug seiner Theologie ontologische Überlegungen angestellt hat.<br />

Luthers Aristoteles- und Philosophiekritik bedeutet nicht, dass er der<br />

Ontologie und also der Metaphysik überhaupt eine Absage erteilt hätte.<br />

Freilich bleibt festzuhalten, dass Luther seine Aristoteleskritik ins<br />

Grundsätzliche erweitert und als Kritik an der Formung theologischer<br />

Aussagen durch die philosophische Ontologie überhaupt vorgetragen<br />

hat.<br />

Bei aller Vorsicht gegenüber anachronistischen Urteilen über<br />

Luthers Aristoteleskritik muss doch mit Wilfried Joest die Sachfrage<br />

gestellt werden, ob nicht Luthers Philosophiebegriff, der dieser jeglichen<br />

Zukunftsbezug abspricht, zu eng gefasst ist. Zu fragen ist daher<br />

auch, „ob der Theologe das Wort Gottes über das Sein des Menschen<br />

nach-sagen kann, ohne es bewußt oder unbewußt zumindest auf Fragen<br />

hin auszulegen, die auch in einer dem Ausgangspunkt nach rein<br />

philosophischen Selbstbestimmung – eben als Seinsfragen – sich melden“.<br />

Joest meint, „daß er dies nicht kann und daß Luthers strikte<br />

Abschneidung der Philosophie von dem, was er ,causa efficiens‘ und<br />

,finalis‘ nennt – sagen wir lieber, von dem Bereich des Fragens nach<br />

Grund, Sinn und Eigentlichkeit des Seins –, dann ein Kurzschluß wäre,<br />

wenn sie der philosophischen Selbstbesinnung die echte Berührung mit<br />

diesem Bereich schon als aporetische Frage-Berührung absprechen<br />

würde“ 9 . Joest folgend wird man urteilen müssen, dass „dieser Fragebezug<br />

(kraft dessen bereits jene Selbstbesinnung gar nicht so autonom<br />

und rein ,innerweltlich‘, vielmehr von der Wirklichkeit Gottes beschattet<br />

ist)“, es letztendlich ermöglichen dürfte, „das <strong>Theologische</strong> überhaupt<br />

in menschlichen Worten und dann auch in philosophischen<br />

Reflexionsbegriffen auszudrücken“ 10 . Mit solchen Erwägungen wird<br />

freilich der Bereich dessen, was Luther ausdrücklich diskutiert, überschritten.<br />

9 Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 135.<br />

10 A. a. O., 136.


1 Sein und Sprache 59<br />

Paul Tillich, dessen Abhandlung „Liebe, Macht, Gerechtigkeit“ zu<br />

den grundlegenden Beiträgen zur Verhältnisbestimmung von Liebe<br />

und Gerechtigkeit aus rechtfertigungstheologischer Perspektive zählt,<br />

verweist auf den metaphorischen Charakter religiöser Rede. Er selbst<br />

bezeichnet sie als symbolisch, was für ihn bedeutet, dass Aussagen über<br />

Gott nicht wörtlich zu verstehen sind. 11 Am Beispiel der Rede von der<br />

Liebe Gottes führt er aus:<br />

„Wenn wir sagen, daß Gott ein liebender Gott ist, oder noch besser: daß er die<br />

Liebe ist, so verwenden wir unsere Erfahrung der Liebe und unsere Weise, das<br />

Leben zu begreifen, gleichsam als den Stoff, der uns hier allein zur Verfügung<br />

steht. Aber wir wissen auch, daß wir unsere Vorstellung von der Liebe in das<br />

Geheimnis der göttlichen Tiefe tauchen, wenn wir sie auf Gott übertragen.<br />

Und in dieser Tiefe wird sie verwandelt, ohne ihren Sinn für uns zu verlieren.“<br />

12<br />

Dasselbe gelte für die Begriffe Macht und Gerechtigkeit. Auch sie haben<br />

nach Tillichs Ansicht, auf Gott übertragen, eine symbolische – nicht<br />

wörtliche – Bedeutung.<br />

Folgt man Luther, so bedeutet Metaphorik – von der ich lieber als<br />

von Symbolik spreche – nicht bloß Verwandlung, sondern radikale<br />

Erneuerung der Sprache und Umkehr des Denkens und Lebens. Begriffe<br />

wie Liebe oder Gerechtigkeit gewinnen nicht nur eine „tiefere“ Bedeutung,<br />

die insgeheim nach Tillich immer schon vorauszusetzen ist, sondern<br />

eine wirklich neue Bedeutung – und zwar dadurch, dass der Mensch<br />

vom Unglauben und seinem Orientierungsrahmen in den Glauben versetzt<br />

wird. Damit verändert sich auch die Ontologie. Es geht nicht nur<br />

darum, von einer gewissermaßen neutralen Beschreibung des Seins –<br />

Ontologie als Analyse der Strukturen des Seins ist nach Tillich deskriptiv,<br />

während eine von ihr unterschiedene Metaphysik spekulativ verfahre<br />

– zur Frage nach dem Sinn des so beschriebenen Seins für uns voranzuschreiten.<br />

Vielmehr verändert sich das Sein selbst. Das zumindest<br />

ist die radikale Implikation der paulinischen Rechtfertigungslehre. Statt<br />

also von einer feststehenden Struktur des Seins auszugehen, in deren<br />

Rahmen auch eine Ontologie der Liebe und der Gerechtigkeit entfaltet<br />

11 Vgl. Paul Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, in: Ders., Sein und Sinn. Zwei<br />

Schriften zur Ontologie (GW XI), Stuttgart 1969, 141–225, hier 214.<br />

12 A. a. O., 215.


IV<br />

Vergebung!<br />

Die fünfte Bitte des Vaterunser im Licht<br />

der paulinischen Rechtfertigungslehre<br />

1 Sündenvergebung im Zentrum<br />

des christlichen Glaubens<br />

Im Zentrum des Christentums steht der Glaube an das durch Jesus<br />

Christus bewirkte Heil. Das Heilsgeschehen wird universal gedacht (vgl.<br />

1Tim 2,4), wobei vorausgesetzt ist, dass alle Menschen und die Welt insgesamt<br />

dieser Rettung aus einem Zustand des Unheils bedürftig sind.<br />

Worin das Heil besteht und auf welche Weise Christus das Heil für alle<br />

Welt bewirkt, wird freilich schon im Neuen Testament auf unterschiedliche<br />

Weise beantwortet. Auch fallen die neutestamentlichen Erklärungen<br />

unterschiedlich aus, wenn nach der Heilsbedeutung des Todes Jesu<br />

gefragt wird. Dass nicht nur das Leben Jesu, seine Predigt und seine irdische<br />

Wirksamkeit, sondern auch sein Tod und seine Auferstehung zum<br />

Heilsgeschehen gehören, steht für den christlichen Glauben außer<br />

Frage. Doch inwiefern der Tod am Kreuz selbst das entscheidende Heilsereignis<br />

ist, wird im Neuen Testament nicht einhellig beantwortet.<br />

Das griechische Wort für Heil ist σωτηρία. Es kann gleichermaßen<br />

Heil wie Rettung, aber auch Bewahrung bedeuten. Σωτηρία wird bisweilen<br />

im Deutschen aber auch mit »Erlösung« übersetzt, was dann zu<br />

der Charakterisierung des Christentums als einer Erlösungsreligion<br />

führt. – Die klassische neuprotestantische Bestimmung des Christentums<br />

als Erlösungsreligion bietet Friedrich Schleiermacher in der zweiten<br />

Auflage seiner Glaubenslehre: „Das Christentum ist eine der teleologischen<br />

Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise,<br />

und unterscheidet sich von andern solchen wesentlich<br />

dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von<br />

Nazareth vollbrachte Erlösung.“ 1<br />

1 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glauben nach den Grundsätzen


82<br />

IV Vergebung!<br />

Schleiermacher versteht den Ausdruck Erlösung im Zusammenhang<br />

mit dem christlichen Glauben „nur bildlich“, bedeute er doch allgemein<br />

einen Übergang aus einem schlechten, als Gebundensein vorgestellten<br />

Zustand in einen besseren, wozu die Hilfe von einem anderen<br />

geleistet wird. Auf das Gebiet der Frömmigkeit bezogen, besteht der<br />

schlechte Zustand darin, „daß die Lebendigkeit des höheren Selbstbewußtseins<br />

gehemmt oder aufgehoben ist“ 2 . Schleiermacher gebraucht<br />

für diesen Zustand die Begriffe Gottlosigkeit oder, wie er lieber sagt,<br />

Gottvergessenheit, 3 welche freilich niemals als eine vollständige anzunehmen<br />

sei. Mit anderen Worten bedeutet Erlösung die Überwindung<br />

eines Zustandes, in welchem das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit<br />

gebunden bzw. gehemmt ist. 4<br />

Nun wird das fromme Selbstbewusstsein nach Schleiermacher<br />

durch den Gegensatz zwischen Sündenbewusstsein und Gnadenbewusstsein<br />

bestimmt. Letzteres schließt die Vergebung der Sünden,<br />

genauer gesagt das Bewusstsein der Sündenvergebung ein, wobei die<br />

Sündenvergebung freilich „an und für sich nur die Aufhebung einer<br />

negativen Größe ist und also keine Bezeichnung für die ganze Glückseligkeit<br />

sein kann“ 5 . Die Erlösung reicht demnach über die Vergebung<br />

bzw. das Bewusstsein der Sündenvergebung hinaus.<br />

Der Gedanke der Sündenvergebung ist für Schleiermacher in die<br />

Lehre von der Rechtfertigung des Sünders eingeschlossen, die auf Paulus<br />

zurückgeht. Genauer gesagt schließt die Rechtfertigung ein Doppeltes<br />

ein, und zwar zusammen mit der Sündenvergebung die Anerkennung<br />

des gerechtfertigten Sünders als Kind Gottes. 6 Paulus spricht dagegen<br />

auffälligerweise kaum von der Vergebung der Sünden. In der Bedeutung<br />

„vergeben“ verwendet Paulus das Verb ἀφίεμι interessanterweise nur in<br />

einem alttestamentlichen Zitat aus Ps 31,1 f. LXX (Röm 4,7). Auch sonst<br />

ist der Gedanke der Nichtanrechnung der Sünden traditionell. Paulus<br />

selbst geht aber theologisch weiter, wenn er die Sünde im Singular als<br />

der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Martin Redeker,<br />

Berlin 1960, 2 Bde., hier Bd. I, 74 (Leitsatz zu § 11).<br />

2 Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 1), Bd. I, 79.<br />

3 Vgl. ebd.<br />

4 Vgl. a. a. O., Bd. I, 80.<br />

5 A. a. O., Bd. II, 172.<br />

6 Vgl. a. a. O., Bd. II, 171 (Leitsatz zu § 109).


1 Sündenvergebung im Zentrum des christlichen Glaubens 83<br />

Macht beschreibt, aus deren Sphäre der Mensch durch Christus im<br />

Glauben befreit wird.<br />

Nun gehört die Vergebung der Sünden allerdings ins Zentrum des<br />

christlichen Glaubens und seiner Überlieferung. Das Vaterunser – das<br />

Gebet der Christenheit schlechthin – enthält die Bitte um Vergebung<br />

der Schuld. Auch ist die Vergebung der Sünden zentraler Bestand der altkirchlichen<br />

Glaubensbekenntnisse. Nach der matthäischen Überlieferung<br />

spricht auch das Kelchwort beim Abendmahl von der Vergebung<br />

der Sünden (Mt 26,28).<br />

Wenn im vorliegenden Beitrag die Bitte des Vaterunser um die Vergebung<br />

der Schuld systematisch-theologisch bedacht werden soll, legt<br />

es sich aus Sicht der reformatorischen Tradition nahe, diese Bitte wie<br />

auch die Aussagen der altkirchlichen Bekenntnisse zur Sündenvergebung<br />

und die Abendmahlsworte zur paulinischen Rechtfertigungslehre<br />

in Beziehung zu setzen.<br />

Dieses Unterfangen wirft aber Probleme auf, weil es sich bei der<br />

Rechtfertigung des Sünders im paulinischen Sinne und bei der Vergebung<br />

der Sünden in außerpaulinischen Zusammenhängen um unterschiedliche<br />

Sachverhalte handelt. Man kann also das Bekenntnis zum<br />

Glauben an die Sündenvergebung im Apostolikum und die Bitte im<br />

Vaterunser um die Vergebung der Sünden nicht ohne weiteres auf die<br />

Rechtfertigung des Sünders im paulinischen Sinne beziehen, wie dies<br />

beispielsweise Eberhard Jüngel tut. 7 Ebenso wie die Rede von der remissio<br />

peccatorum im Apostolikum lässt der Glaube an die eine Taufe zur<br />

Vergebung der Sünden (baptisma in remissionem peccatorum – βάπτισμα<br />

εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) im Nicäno-Konstantinopolitanum durchaus<br />

offen, ob diesem in Sinne der paulinischen Rechtfertigungslehre bzw.<br />

im Sinne des reformatorischen Rechtfertigungsartikels zu verstehen ist.<br />

Von Rechtfertigung wird jedenfalls in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen<br />

explizit nicht gesprochen.<br />

Wir werden daher zunächst die Vaterunserbitte im Kontext des<br />

Matthäus- und des Lukasevangeliums untersuchen, um uns dann in<br />

einem weiteren Schritt mit der paulinischen Rede von Sünde und Rechtfertigung<br />

zu befassen, bevor wir schließlich in einem letzten Schritt folgenden<br />

Fragen nachgehen: Warum ist es auch unter der Voraussetzung<br />

7 Vgl. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen<br />

als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 6 2011, 12.124 f.


84<br />

IV Vergebung!<br />

der paulinischen Rechtfertigungslehre notwendig, mit den Worten des<br />

Vaterunser beständig aufs Neue um die Vergebung der Sünden zu bitten?<br />

Wie ist es zu verstehen, dass die Bereitschaft des Menschen, anderen<br />

zu vergeben, im Vaterunser zur Bedingung göttlicher Sündenvergebung<br />

erklärt wird, und wie passt diese Junktimierung mit der Lehre von der<br />

bedingungslosen Rechtfertigung des Sünders zusammen? In welchem<br />

Verhältnis stehen Rechtfertigung und Ethik bei Paulus einerseits und<br />

Beten und Handeln im Vaterunser andererseits, wobei das Augenmerk<br />

besonders auf Matthäus zu richten ist? Lässt sich die Zuordnung von<br />

Gebet und Ethik im Vaterunser mit derjenigen von Rechtfertigung und<br />

Ethik bei Paulus in Einklang bringen, oder widersprechen sie sich?<br />

2 Die Vaterunserbitte um die Vergebung<br />

der Schuld<br />

Das Vaterunser oder Unservater ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert,<br />

und zwar in der lukanischen Kurzfassung, die lediglich aus fünf<br />

Bitten besteht (Lk 11,2–4) sowie zwei Langfassungen in Mt 6,9–13 und Did<br />

8,2 f., die miteinander verwandt sind. In der <strong>Exegese</strong> hat sich die These<br />

durchgesetzt, dass die lukanische Version ursprünglicher ist, was die<br />

Zahl der Bitten und die Gottesanrede betrifft, die matthäische hingegen<br />

hinsichtlich des Wortlauts. Die Didache-Fassung weicht in Einzelheiten<br />

von der matthäischen ab. Einige Indizien sprechen dafür, dass sich der<br />

Text der Didache auf eine ältere, von Mt unabhängige Vorlage zurückführen<br />

lässt, so dass die Bitten, die bei Lk fehlen, nicht von Mt stammen, sondern<br />

von ihm in einer älteren Quelle vorgefunden worden sind.<br />

Die Vergebungsbitte ist in allen drei Varianten des Vaterunser enthalten.<br />

In der lukanischen Fassung lautet sie: „Vergib uns unsere Sünden<br />

(ἁμαρτίαι), denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden<br />

(ὀφείλοντι)“ (Lk 11,4). Wer um Vergebung der Sünden bittet, bittet<br />

um das, was im Zentrum des Wirkens Jesu steht. Beispielhaft sei die<br />

Geschichte von der Heilung des Gelähmten in Erinnerung gerufen, dem<br />

Jesus zunächst seine Sünden vergibt. In der Folge entspinnt sich ein Disput<br />

über Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung. Die Erzählung gehört<br />

zur synoptischen Überlieferung (Mk 2,1–12; Mt 9,1–8; Lk 5,17–26). Die<br />

Formel: „Deine Sünden sind dir vergeben (ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι<br />

σου)“ (Lk 5,20) kehrt wörtlich in Lk 7,48 wieder, nämlich in der Geschichte<br />

von Jesus und der Sünderin.


2 Die Vaterunserbitte um die Vergebung der Schuld 85<br />

Wie bei Mt und in der Didache ist Gottes Sündenvergebung daran<br />

geknüpft, dass auch diejenigen, die Gott um Vergebung bitten, ihrerseits<br />

bereit sind, jenen zu vergeben, die an ihnen schuldig geworden<br />

sind. Für die zwischenmenschliche Schuld verwendet Lk allerdings<br />

nicht das Wort Sünde, sondern die Vokabel „schuldig werden“. Wie die<br />

konditionale Bindung der göttlichen Vergebung an die menschliche<br />

Vergebungsbereitschaft genau zu verstehen ist, bedarf einer gesonderten<br />

Erörterung. Hier muss uns zunächst beschäftigen, ob Lk durch die<br />

Wortwahl einen kategorialen Unterschied zwischen der Sünde des Menschen<br />

gegenüber Gott und zwischenmenschlicher Schuld macht.<br />

Im Unterschied zur lukanischen verwendet die matthäische Fassung<br />

das Wort Schulden (ὀφειλήματα; Mt 6,12), so dass die Vergebung<br />

der Schuld durch Gott und die zwischenmenschliche Schuldvergebung<br />

einander entsprechen. Diese Version deckt sich bis auf zwei Abweichungen<br />

mit derjenigen in Did 8,2. Zum einen spricht die Didache-Fassung<br />

im Singular von der ὀφειλή, die Gott vergeben möge, zum anderen<br />

gebraucht Did 8,2 im Nachsatz das Präsens ἀφίεμεν, Mt 6,12 hingegen<br />

den Aorist ἀφήκαμεν. Lk hat offenbar den bei Mt überlieferten ur -<br />

sprünglichen Wortlaut verändert und „Schulden“ durch „Sünden“ er -<br />

setzt. Außerdem spricht die lukanische Version wie Did 8,2 von der<br />

zwischenmenschlichen Sündenvergebung im Präsens.<br />

Durch die Ersetzung von ὀφειλήματα durch ἁμαρτίαιβάπτισμα<br />

μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν stellt Lk nicht nur einen klaren Bezug<br />

zu Jesu Praxis der Sündenvergebung her, sondern auch zum Wirken<br />

Johannes’ des Täufers. Laut Lk 3,3 predigte Johannes die Taufe der Buße<br />

zur Vergebung der Sünden (βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν;<br />

vgl. Mk 1,4). In Lk 24,47 beauftragt der Auferstandene seine Jünger, in seinem<br />

Namen Buße zur Vergebung der Sünden zu predigen. Die Wendung<br />

stimmt wörtlich mit Lk 3,3 überein, allerdings mit dem bezeichnenden<br />

Unterschied, dass sie nicht mit der Taufe verknüpft wird. Das geschieht<br />

freilich in Act 2,38, wo mit der Taufe nicht nur Buße und Sündenvergebung,<br />

sondern außerdem die Gabe des Heiligen Geistes verbunden ist.<br />

Wie in Mt 6,12 setzt auch in Lk 11,4 der Nachsatz den Gehalt des<br />

Ausdrucks ὀφειλήματα voraus, weil sonst die Analogie zwischen göttlicher<br />

und menschlicher Vergebung nicht bestünde. 8 Durch die Ver-<br />

8 Zur Auslegung der Stelle vgl. Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5),<br />

Tübingen 2008, 408 f.


V<br />

Rechtfertigung und Ethik<br />

bei Paulus<br />

Beobachtungen zum Ansatz paulinischer Ethik<br />

Wer die paulinische Rechtfertigungslehre auf einen Nenner bringen<br />

möchte, wird sich traditionellerweise des bekannten Satzes aus Röm 3,28<br />

bedienen: λογιζόμεθα γὰρ δικαιοῦσθαι πίστει ἄνθρωπον χωρὶς<br />

ἔργων νόμου. Nicht zuletzt Martin Luthers sola fide fand sich in diesen<br />

Worten wieder und arbeitete die Rechtfertigungslehre des Paulus in der<br />

Frontstellung gegen jegliche Form von Werkgerechtigkeit auf. Mag der<br />

Indikativ der Gnade auch als Befreiung vom Zwang der Selbstrechtfertigung<br />

empfunden werden, so gerät andererseits jeder Versuch einer<br />

theologischen Begründung des ethischen Imperativs ins Zwielicht und<br />

tut sich zumindest in der protestantischen Theologie schwer, den Vorwurf<br />

zu entkräften, einer neuen Werkgerechtigkeit Vorschub zu leisten.<br />

Andererseits ist kein Mensch, mithin kein Christ, von dem Zwang ausgenommen,<br />

dass er sich moralisch verhält. Wollte die Theologie angesichts<br />

dieser Lebensnotwendigkeit auf eine theologische Begründung<br />

christlichen Handelns verzichten, drohte die Rechtfertigungslehre<br />

ihrerseits selbst an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wie es schon in<br />

Jak 2,14–26 zu beobachten ist. Die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung<br />

und Ethik bei Paulus ist gewissermaßen die Nagelprobe seiner<br />

Theologie.<br />

1 Ethische Passagen in den Paulusbriefen<br />

Der Ansatz paulinischer Ethik tritt allerdings nicht offen zutage. In den<br />

ethisch paränetischen Abschnitten seiner Briefe wie 1Thess 4,1–12; 5,1–<br />

10.12–22; Gal 5,13–6,10; 1Kor 5,1–8; 6,1–11.12–20; 7; 8–10; 11,2–16; 13; Röm<br />

6; 12,1–15,13; Phil 1,27–2,18, um nur einige zu nennen, argumentiert Paulus<br />

mit einer Fülle der verschiedensten Motivationen, 1 die allerdings<br />

1 Zu deren Analyse verweise ich vor allem auf Otto Merk, Handeln aus Glauben


98<br />

V Rechtfertigung und Ethik bei Paulus<br />

nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Bei genauerer Betrachtung<br />

kristallisieren sich im wesentlichen vier größere Begründungszusammenhänge<br />

heraus, 2 die sich ihrerseits allerdings nicht auf einen einzigen<br />

als den gesuchten Ansatz paulinischer Ethik reduzieren lassen. 3<br />

Neben einer sakramentalen Begründung der Paränese durch Hinweis<br />

auf die Taufe in 1Kor 6,11; 12,13; Gal 3,26 und vor allem Röm 6 finden sich<br />

eine christologische Begründung (z. B. Phil 1,27–2,18, aber auch 1Kor 11,1<br />

oder 2Kor 4,10), eine pneumatologische Begründung (vgl. Gal 5,25 oder<br />

das περιπατεῖν κατὰ πνεῦμα Röm 8,4), sowie eine eschatologische Be -<br />

gründung der Ethik (1Thess 5,1–10; Gal 6,3–5.7 ff.; 1Kor 6,1 ff.; 7,29–31;<br />

Röm 2,14 ff.; 13,11–14) 4 .<br />

In seinen paränetischen Ausführungen ist Paulus freilich weder<br />

inhaltlich hinsichtlich des Materials, noch hinsichtlich der Formen<br />

durchweg originell. In Röm 12 stoßen wir beispielsweise auf Spruchethik<br />

nach jüdischem Vorbild, während die Tugend- und Lasterkataloge<br />

etwa in Gal 5,16 ff.; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f. – vermittelt durch das hellenistische<br />

Judentum – auf griechische Ursprünge, möglicherweise die Stoa zurückgehen.<br />

Neben Sätzen jüdischer Spruchweisheit und solchen aus der<br />

kynisch-stoischen Popularphilosophie (Phil 4,8) bietet Paulus außerdem<br />

(MThSt5). Marburg 1968. Die Untersuchung von Lorenz Nieder, Die Motive<br />

der religiös-sittlichen Paränese in den Paulinischen Gemeindebriefen (MThS.H 12),<br />

München 1956 leidet darunter, dass sie nicht Text für Text die paulinischen Motivationen<br />

nachzeichnet, sondern verschiedene paulinische Begründungen der<br />

Ethik teils nach formalen, teils nach thematischen Kriterien zusammenfasst (ebd.,<br />

VIII), was dem Charakter der paulinischen Briefe als Gelegenheitsschreiben widerspricht.<br />

2 Hierbei folge ich Heinz-Dietrich Wendland, Ethik des NT. Eine Einführung<br />

(NTD ErgBd. 4), Göttingen 9 1978, 51–55. Etwas anders stellt Günther<br />

Bornkamm, Paulus, Stuttgart 2 1970, 211 sechs Leitgedanken heraus.<br />

3 Vgl. Merk, Handeln (s. Anm. 1), 232. Anders Nieder, Motive (s. Anm. 1), 145: „Das<br />

Hauptmotiv ist die durch Christus empfangene Liebe Gottes.“ Zur neueren Diskussionslage<br />

siehe auch Christof Landmesser, Begründungsstrukturen paulinischer<br />

Ethik, in: Friedrich Wilhelm Horn/Ruben Zimmermann (Hg.), Jenseits<br />

von Indikativ und Imperativ (WUNT 238), Tübingen 2009, 177–196; Hermut<br />

Löhr, zur Eigenart paulinischer Ethik, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Paulus<br />

Handbuch, Tübingen 2012, 440–444.<br />

4 Während Paulus an den genannten Stellen mit Aspekten futurischer Eschatologie<br />

argumentiert, sind die ersten drei Begründungszusammenhänge insofern ebenfalls<br />

eschatologisch, als sie im gegenwärtigen Handeln Gottes verankert sind. Siehe<br />

dazu Anton Grabner-Haider, Paraklese und Eschatologie bei Paulus. Mensch<br />

und Welt im Anspruch der Zukunft Gottes (NTA NF 4), Münster 1968, 94 ff.


1 Ethische Passagen in den Paulusbriefen 99<br />

frühchristliche Traditionen wie Herrenworte (z. B. 1Kor 7,10; vgl. Mk 10,<br />

1–12 par) oder katechismusartige Stücke (1Thess 4,1–12; Röm 12–13). Im<br />

Hinblick auf die außerchristlichen ethischen Traditionen gibt Victor<br />

Paul Furnish zu bedenken: „It must be recognized, first of all, that Paul<br />

was selective and critical in his taking over of non-Christian materials.“ 5<br />

Als oberste Norm im Umgang mit paränetischen Traditionen tritt<br />

bei Paulus die ἀγάπῃ aus einer Reihe von Normen hervor, 6 die teils mit<br />

dem Schöpfungsglauben, teils mit der Heilsgeschichte zusammenhängen,<br />

als welche aber auch die Herrenworte fungieren, 7 womit sich Paulus<br />

sowohl vom Judentum und seiner Norm des Gesetzes, als auch von<br />

der Stoa und ihrer Norm der Natur abgrenzt. Um nicht leere Phrase zu<br />

bleiben, muss sich die christlich gedeutete ἀγάπῃ (Gal 5,22; Röm 5,3 ff.;<br />

vgl. Röm 15,30) in konkreten Verhaltensweisen äußern, wie sie Paulus<br />

exemplarisch in 1Kor 13,4–7 beschreibt. Auf einen Nenner gebracht ist<br />

die Konkretion der Norm „Liebe“ in der οἰκοδομή zu finden: ἡ γνῶσις<br />

φυσιοῖ, ἡ δὲ ἀγάπη οἰκοδομεῖ (1Kor 8,1).<br />

Die Norm der Agape kennt Paulus aber auch als Liebesgebot, das,<br />

wie der nachösterliche Ausdruck νόμος Χριστοῦ (Gal 6,2; 1Kor 9,21)<br />

zeigt, das Gebot des erhöhten κύριος ist. Im Gebot der Nächstenliebe<br />

(Gal 5,14; 6,10; Röm 13,8–10; vgl. Mk 12,28–34!) spricht der Erhöhte<br />

genauso wie in den gelegentlich angeführten Herrenworten. 8 Die Wendung<br />

νόμος Χριστοῦ erinnert an die ἐντολὴ καινὴ aus Joh 13,34 (vgl.<br />

1Joh 2,7 f.10; 3,11.23; 4,10.19). Gleichwohl ist das Gesetz Christi nicht ὁ<br />

ἕτερος νόμος, 9 sondern die mit den Worten von Lev 19,18 ausgesprochene<br />

Erfüllung des alttestamentlichen Gesetzes, welches in Röm 13,8–10<br />

durch die Dekaloggebote VII, VI, VIII und X (nach der alttestamentlichen<br />

Zählung) repräsentiert wird.<br />

Natürlich fragt man sich sofort, wie denn der νόμος Χριστοῦ mit<br />

der Rechtfertigungslehre zusammenpasst, nach der doch (Röm 10,4)<br />

5 Victor P. Furnish, Theology and Ethics in Paul, Nashville/New York 1968, 81<br />

(Neuausgabe Louisville, KY 2009 [mit einer neuen Einleitung von Richard B. Hays]).<br />

6 Vgl. Wolfgang Schrage, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese.<br />

Ein Beitrag zur neutestamentlichen Ethik, Gütersloh 1961, 209.<br />

7 Siehe dazu Schrage Einzelgebote (s. Anm. 6), 203 ff.210 ff.228 ff.<br />

8 Vgl. Schrage, Einzelgebote (s. Anm. 6), 247 f.<br />

9 Gegen Walter Gutbrod, Art. νόμος B–D, in: ThWNT IV, Stuttgart 1942, 1029–<br />

1077, hier 1063; Merk, Handeln (s. Anm. 3), 165. ‘Έτερος ist in Röm 13,8 nämlich<br />

nicht auf νόμος, sondern auf ἀγαπᾶν zu beziehen, meint also den Nächsten, nicht<br />

das Gesetz! Vgl. Ernst Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 3 1974, 348.


VI<br />

„... und hätte die Liebe nicht ...“<br />

Der Begriff der Agape im Christentum<br />

1 Agape im Neuen Testament<br />

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, Liebe aber nicht<br />

habe, 1 dann bin ich hallendes Erz oder gellende Zimbel. Und wenn ich<br />

Prophetengabe habe und weiß alle Geheimnisse und die ganze Erkenntnis,<br />

und wenn ich verfüge über allen Glauben, so daß ich berge versetze,<br />

Liebe aber nicht habe, dann bin ich nichts. Und wenn ich in Brocken<br />

aufteilte meinen gesamten Besitz, und wenn ich dahingäbe meinen<br />

Leib, damit ich verbrannt werden, Liebe aber nicht habe, dann nützt es<br />

mir nichts.“ 2 So beginnt das 13. Kapitel im 1. Korintherbrief des Apostels<br />

Paulus, das auch als das Hohelied der Liebe bekannt ist. 3 Die Bezeichnung<br />

spielt direkt auf das Hohelied im Alten Testament an, das canticum<br />

canticorum (hebräisch: shir hashirim) – das Lied der Lieder also und<br />

Liebeslied schlechthin, das die legendarische Überlieferung dem König<br />

Salomo zuschreibt. Doch während das Hohelied im Alten Testament die<br />

erotische Liebe besingt, beschreibt Paulus die Gottes- und Nächstenliebe,<br />

für welche im Neuen Testament das griechische Wort ἀγάπη steht.<br />

„Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie<br />

das Totenreich“, lautet der Spitzensatz in Hoheslied 8,6. Das erotische<br />

Begehren wird im Nachsatz als „Flamme des Herrn“ bezeichnet, deren<br />

Glut feurig ist. Die sexuelle Liebe ist also eine Gottesmacht. Wenn Paulus<br />

von der Macht der Liebe spricht und die Liebe als Königsweg zur<br />

Seligkeit beschreibt, denkt er freilich gerade nicht an das sexuelle Ver-<br />

1 Die Lutherbibel übersetzt im Konjunktiv: „Wenn ich mit Menschen- und mit<br />

Engelszunge redete und hätte die Liebe nicht …“.<br />

2 1Kor 13,1–3 in der Übersetzung von Andreas Lindemann, Der erste Korintherbrief<br />

(HNT 9,1), Tübingen 2000, 279.<br />

3 Wie Lindemann, Korinther (s. Anm. 2), 280 feststellt, handelt es sich bei 1Kor 13 freilich<br />

weder um ein Lied noch um einen Hymnus, sondern um kunstfertige Prosa.


122<br />

VI „... und hätte die Liebe nicht ...“<br />

langen, sondern an die Liebe, die unter den Christen in der Gemeinde<br />

herrschen soll, die Liebe, welche im Leben und Sterben Jesu von Nazareth<br />

ihren Grund und ihr Vorbild hat und die gepaart ist mit Glaube<br />

und Hoffnung.<br />

Wie sich diese Liebe, die agape, zum Eros und zur Freundschaftsliebe,<br />

der philia, verhält und wie sich der Bogen vom Hohenlied im Alten<br />

Testament zum Hohenlied des Paulus schlagen lässt, ist in der Ge -<br />

schichte des Christentums bis heute Gegenstand intensiver Diskussionen.<br />

Dass das canticum canticorum, eine Sammlung weltlicher Liebesgedichte,<br />

überhaupt in den Kanon der Bibel gelangen konnte, war nur aufgrund<br />

einer typologischen Auslegung möglich, welche die erotischen<br />

Schilderungen der Liebe zwischen Mann und Frau als Sinnbild für die<br />

Liebe zwischen Gott und Mensch deutete. Neutestamentlich gesprochen:<br />

Der Eros erscheint als Typologie der Agape. Und so sehr die Agape<br />

nach offizieller kirchlicher Lesart von sexuellen Konnotationen freigehalten<br />

werden soll, gibt es doch in der Geschichte des Christentums<br />

genügend Beispiele aus der Mystik oder dem neuzeitlichen Pietismus<br />

dafür, wie die Gottsuche und Gottesbeziehung hocherotisch aufgeladen<br />

sein können.<br />

Dass das frühe Christentum für die Gottes- und Nächstenliebe<br />

jedoch gerade nicht den Begriff des Eros verwendete, der doch keineswegs<br />

auf Sexualität zu reduzieren ist, sondern in der Philosophie Platons<br />

und im Platonismus eine erkenntnistheoretische und metaphysische<br />

Bedeutung hat, ist religionsgeschichtlich und theologisch bedeutsam,<br />

auch für das Verhältnis zwischen christlicher Theologie und Philosophie.<br />

Mit dem Begriff der Agape verwenden die neutestamentlichen<br />

Schriften eine Vokabel, die in der antiken Profangräzität ein ganz blasses<br />

Wort war. 4 Profan bedeutet ἀγαπάω soviel wie: empfangen, begrüßen,<br />

bevorzugen, schätzen, jemanden mögen, etwas vor anderen hochhalten.<br />

Ὰγαπητός (Agápetos) heißt soviel wie: es ist mir recht, lieb oder willkommen.<br />

Bedeutung gewann das Wortfeld ἀγαπάω/ἀγάπη erst da -<br />

durch, dass mit ihm die Septuaginta das hebräische ahab übersetzte.<br />

Das frühe Christentum verwendete nun die Vokabel ἀγάπη, um die<br />

Liebe, welche das Wesen Gottes ausmacht, vom Eros zu unterscheiden.<br />

4 Zur Begriffsgeschichte siehe Gottfried Quell/Ethelbert Stauffer, Art.<br />

ἀγαπάω κτλ., ThWNT I, Stuttgart 1933, 20–55.


2 Die Platonisierung der Agape und ihre Kritik 123<br />

Es grenzte sich damit auch von allen ekstatischen Kulten seiner Umwelt<br />

ab, welche der Sexualität eine religiöse Funktion zuschrieben.<br />

Der Eros bezeichnet im antiken Griechisch die leidenschaftliche,<br />

das Sexuelle einschließende Liebe, die jemanden oder etwas anderes für<br />

sich begehrt. Der Eros ist dämonisch und sinnenfroh. Sein Rausch reißt<br />

den Menschen mit. Er treibt zur Ekstase, die in den Mysterienkulten<br />

und im Orphismus auch kultisch erlebt wird. Platons Dialog „Phaidros“<br />

hat das abendländische Verständnis des Eros entscheidend bestimmt.<br />

Der Eros reißt den Menschen über sich selbst und seine Vernunft hinaus.<br />

Im „Symposium“ (210 f.) deutet Platon den Eros, der sich an der körperlichen<br />

Schönheit entzündet, als Wegweiser zum Göttlichen, dem<br />

ewig Seienden und wahrhaft Guten. Der Eros als Grundtrieb, der alles<br />

Getrennte wiedervereinigen will, übersteigt das Sinnliche. Der Neuplatonismus<br />

Plotins hat den Eros ganz entsinnlicht und sublimiert: Im<br />

Eros manifestiert sich das Verlangen der Seele nach der Vereinigung mit<br />

Gott und der mystischen Befreiung von aller Sinnlichkeit.<br />

Der neutestamentliche Begriff der ἀγάπη beschreibt im Vergleich<br />

zum (neu)platonischen Erosbegriff jedoch eine gegenläufige Bewegung.<br />

Strebt der Eros von unten nach oben, vom Menschen zu Gott oder zum<br />

Göttlichen, so bringt das Wort ἀγάπη im Neuen Testament die Bewegung<br />

Gottes zum Ausdruck, die gewissermaßen von oben nach unten<br />

verläuft, von den himmlischen Höhen zur Niedrigkeit des menschgewordenen<br />

Logos. „Das Wort ward Fleisch“, heißt es in Joh 1,14, und Paulus<br />

beschreibt in einem Christushymnus in Phil 2,5 ff. den Weg Christi,<br />

der sich selbst erniedrigte bis zum Tod am Kreuz. Der Menschensohn –<br />

im Neuen Testament ein Hoheitstitel Christi – ist nicht gekommen,<br />

dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene (Mt 20,28). Darum gilt<br />

auch für die Christen: „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener“<br />

(Mt 20,27).<br />

2 Die Platonisierung der Agape und ihre Kritik<br />

Augustin hat den Versuch unternommen, zwischen Neuplatonismus<br />

und christlichem Liebesgebot – dem Doppelgebot der Gottes- und<br />

Nächstenliebe (Mk 12,30 f. par.) – eine Synthese zu schaffen und dazu<br />

den lateinischen Begriff der caritas verwendet. Liebe ist nach Augustin<br />

zwar keine menschliche Eigenschaft, sondern exklusiv göttliche Gabe,<br />

sie wird aber aufgrund des Habitus der eingegossenen, übernatürlichen


VII<br />

Die Liebe ist erfinderisch<br />

Autorität, Hermeneutik und Kritik<br />

alttestamentlicher Ethik<br />

im Kontext Systematischer Theologie<br />

1 Sola scriptura – sola Tora?<br />

Dass alle Theologie und somit auch alle theologische Ethik schriftgemäß,<br />

will sagen: eine schriftgebundene Reflexion des christlichen Glaubens,<br />

seiner Praxis und seiner Lebensvollzüge zu sein hat, gehört zum<br />

Kernbestand einer evangelischen Theologie, die sich dem Erbe der Re -<br />

formation verpflichtet weiß. Die Forderung der Schriftbindung oder<br />

Schriftgebundenheit aller Theologie und christlicher Ethik kann heute<br />

auch auf ökumenische Zustimmung zählen, wobei freilich noch keineswegs<br />

ausgemacht ist, was man sich eigentlich unter Schriftbindung vorzustellen<br />

hat. 1<br />

Klärungsbedürftig ist nicht allein der Begriff der Bindung, sondern<br />

auch die Bezeichnung „Schrift“. Abgesehen davon, dass es sich bei der<br />

christlichen Bibel um einen Doppelkanon handelt, sind Umfang und<br />

Aufbau beider Teile – Altes und Neues Testament genannt – bis heute<br />

keine feststehenden Größen. 2 Nicht nur steht im Christentum von den<br />

Anfängen bis in die Gegenwart die Septuaginta in Gebrauch, deren Aufbau<br />

auch solche Bibelausgaben folgen, die nur die Schriften der Hebräischen<br />

Bibel als Altes Testament gelten lassen und deren Texte, die nicht<br />

im hebräischen Kanon enthalten sind, als deuterokanonische Schriften<br />

in Geltung stehen 3 – von Luther irreführenderweise Apokryphen ge -<br />

1 Vgl. dazu Frederike Van Oorschot, Schriftbindung evangelischer Theologie.<br />

Ein Forschungsbericht aus interdisziplinären Gesprächen, in: Christina Costanza/<br />

Martin Keßler/Andreas Ohlemacher (Hg.), Claritas sripturae? Schrifthermeneutik<br />

aus evangelischer Perspektive, Leipzig 2020, 275–305.<br />

2 Zur Entstehung der Bibeln des Judentums und des Christentums siehe Konrad<br />

Schmid/Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen<br />

Schriften, München 3 2020.<br />

3 Allerdings zählen die in der LXX enthaltenen Bücher 3/4Makk nicht zum für die<br />

römisch-katholische Kirche maßgeblichen Vulgata-Kanon.


136<br />

VII Die Liebe ist erfinderisch<br />

nannt. Auch das Neue Testament ist an seinen Rändern offen, wie ein<br />

Blick auf die Bibel der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche mit<br />

ihren 81 Büchern zeigt.<br />

Während das Trienter Konzil den Kanon der Vulgata lehramtlich<br />

als authentische Heilige Schrift fixiert 4 und auch reformierte Bekenntnisschriften<br />

genaue Kanonlisten aufgestellt haben, 5 ist im Luthertum<br />

der genaue Umfang der Bibel nie verbindlich festgelegt worden. „,Die<br />

Schrift‘ sind für die lutherische Tradition irgendwie die Lutherbibel<br />

bzw. die Ausgaben des hebräischen Alten und des griechischen Neuen<br />

Testaments, ohne daß dieses ,irgendwie‘ näher definiert ist (was spätere<br />

lutherische Dogmatiker durchaus versuchen).“ 6 Gemäß der lutherischen<br />

Konkordienformel „bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter,<br />

Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein<br />

sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut<br />

oder bös, recht oder unrecht sein“ 7 , wobei die Schrift als norma normans<br />

von den Bekenntnisschrift als norma normata unterschieden wird. Beim<br />

Wort genommen lässt sich allerdings schwerlich behaupten, dass die<br />

Bibel in Fragen der Ethik die alleinige norma normans ist. 8 Kein Text der<br />

Bibel, mag es sich sogar um den Dekalog oder die Bergpredigt handeln,<br />

darf unmittelbar mit dem aktuellen, d. h. im Hier und Jetzt verbindlichen<br />

Willen Gottes identifiziert werden.<br />

Das Problem der Verbindlichkeit und also der Autorität biblischer<br />

Texte für die Grundlegung theologischer Ethik und ihre Urteilsbildung<br />

in Einzelfragen materialer Ethik verschärft sich noch im Blick auf die<br />

Stellung des Alten Testaments im Christentum. Ist schon historisch wie<br />

gegenwärtig zu bezweifeln, dass das reformatorische sola scriptura mit<br />

einem tota scriptura gleichzusetzen ist, gilt dies noch weniger für das<br />

Alte Testament, dessen Autorität für den christlichen Glauben daran zu<br />

bemessen ist, inwieweit und in welcher Weise es in den Schriften des<br />

4 Vgl. DH 1504.<br />

5 BSRK 155,10 ff. (Züricher Bekenntnis 1545); 222,5–24 (Confessio Gallicana 1559); 233 f.<br />

(Confessio Belgica 1561); 500 f. (Waldenser-Bekenntnis 1655); 507,10–30 (39 Anglikanische<br />

Artikel 1562); 526,18 ff. (Irische Religionsartikel 1615); 543 f. (Westminster-<br />

Confession 1647); 872,1–13 (Bekenntnis der Calvinistischen Methodisten 1823).<br />

6 Dieter Lührmann, Auslegung des Neuen Testaments, Zürich 1984, 12.<br />

7 FC Epit. 7 (BSLK 769,22–27).<br />

8 Vgl. auch Martin Honecker, Sola scriptura im Bereich sozialethischer Unterscheidungen,<br />

in: Ders., Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte (SThE<br />

96), Freiburg i. Ue./Freiburg i. Br. 2002, 103–113.


1 Sola scriptura – sola Tora? 137<br />

Neuen Testaments rezipiert und angeeignet wird. 9 Hans Hübner hat<br />

die Formel vom vetus testamentum in novo receptum geprägt, 10 wobei<br />

man einerseits die neutestamentlichen Schriften als christozentrische<br />

Kommentare zu den alttestamentlichen Schriften lesen kann, in denen<br />

andererseits die Wahrheit des christlichen Glaubens, d. h. des Glaubens<br />

an Jesus Christus als letztgültige Offenbarung des Gottes Israels anhand<br />

der heiligen Schriften Israels ausgewiesen werden soll. Im Licht des<br />

Christusgeschehens als letztgültigem Heilsereignis erscheinen die alttestamentlichen<br />

Schriften in einem neuen Licht und empfangen von<br />

ihm her einen neuen Sinn und Stellenwert.<br />

Je mehr freilich das Alte Testament im Gefolge der Aufklärung und<br />

Schleiermachers als Dokument einer vom Christentum unterschiedenen<br />

Religion betrachtet wird, desto größer ist auch auf ethischem<br />

Gebiet die Distanz zu ihm. Ernüchternd der Befund des Alttestamentlers<br />

Eckart Otto: Der „stiefmütterliche[n] Behandlung der Ethik in der<br />

alttestamentlichen Wissenschaft […] korrespondiert die geringe Bedeutung<br />

des Alten Testaments in christlicher Begründung gegenwärtiger<br />

Ethik“ 11 .<br />

Bei Frank Crüsemann kehrt sich das Begründungsverhältnis von<br />

Altem und Neuem Testament freilich gegenüber einer Position wie derjenigen<br />

Hübners völlig um. Für ihn gilt als ausgemacht, „daß unbeschadet<br />

des historischen Abstandes allein die Tora die Grundlage einer biblisch<br />

orientierten christlichen Ethik sein kann“ 12 . Ihm pflichtet Rainer<br />

Kessler energisch bei 13 und präzisiert: „Die Schrift, und zwar die ganze<br />

Schrift, muss die Norm auch unserer Ethik sein. Das im Protestantismus<br />

9 Das kann auch auf implizite Weise geschehen. Die Rezeption beschränkt sich nicht<br />

auf Stellen an denen alttestamentliche Texte ausdrücklich zitiert werden.<br />

10 Vgl. Hans Hübner, Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen<br />

Schriftsinn: Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum,<br />

in: Paolo Chiarini/Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Schrift Sinne. <strong>Exegese</strong>,<br />

Interpretation, Dekonstruktion (Schriftenreihe des Forum Guardini, Bd. 3), Berlin<br />

1994, 54–64. Siehe auch Ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 3,<br />

Göttingen 1995.<br />

11 Eckart Otto, Forschungsgeschichte der Entwürfe einer Ethik im Alten Testament,<br />

VuF 36, 1991, 3–37, hier 10.<br />

12 Frank Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen<br />

Gesetzes, Gütersloh 3 2005, 424 f.<br />

13 Vgl. Rainer Kessler, Was ist und wozu brauchen wir eine Ethik des Alten Testaments?,<br />

EvTh 71, 2011, 100–114, hier 111 f.


138<br />

VII Die Liebe ist erfinderisch<br />

so hoch gehaltene Schriftprinzip gilt nicht nur für die Dogmatik, es gilt<br />

auch für die Ethik.“ 14 Während also bei Crüsemann das sola Tora an die<br />

Stelle des reformatorischen sola scriptura tritt, votiert Kessler für ein<br />

tota scriptura, das im Sinne Crüsemann von der alttestamentlichen Tora<br />

her zu verstehen ist. Tota scriptura meint demnach tota Tora, wobei die<br />

Aufgabe der Disziplin einer alttestamentlichen Ethik nach Kessler in<br />

deren Darstellung als „historische Ethik“ 15 besteht.<br />

Die historische Rekonstruktion soll freilich der „Selbstverständigung<br />

innerhalb der Kirche“ dienen, die wiederum am gesellschaftlichen<br />

Diskurs der Gegenwart teilnimmt. Erst dadurch, dass neben die Aufgabe<br />

der historischen Rekonstruktion als Zweites die „hermeneutische[]<br />

Bemühung um die aktuelle Aneignung der historischen Theologie und<br />

Ethik“ 16 tritt, der im gesellschaftlichen Diskurs auch noch „eine apologetische<br />

Aufgabe“ 17 zufällt, wird die Ethik des Alten Testaments nach<br />

Kesslers Auffassung zur theologischen Ethik.<br />

In welchem Verhältnis stehen nun aber Schrift und Tora bei Crüsemann<br />

und Kessler zueinander? Das hebräische tora bedeutet Lehre,<br />

Unterweisung. 18 Solche findet sich zwar in den heiligen Schriften<br />

Israels, sie geht darin aber nicht auf. Auch wenn das Deuteronomium<br />

das Wort als Synonym „für den einen, umfassenden und schriftlich vorliegenden<br />

Willen Gottes“ 19 verwendet und Tora im Judentum zur Be -<br />

zeichnung des Pentateuch geworden ist, kennt doch das Judentum<br />

neben der schriftlichen Überlieferung auch die mündliche Tora vom<br />

Sinai. Die Bücher des Tanach, welche den Willen Gottes schriftlich be -<br />

zeugen und überliefern, sind doch nicht einfach mit Gottes Wort und<br />

Willen gleichzusetzen. Zwischen dem Wort und Willen Gottes und seinem<br />

diesen authentisch bezeugenden Medium gilt es zu unterscheiden,<br />

ohne dass das Medienproblem des Monotheismus in Judentum, Christentum<br />

und auch Islam an dieser Stelle weiter verfolgt werden soll. 20<br />

14 Kessler, Was ist (s. Anm. 13), 112.<br />

15 Rainer Kessler, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh<br />

2017, 29.<br />

16 A. a. O., 28.<br />

17 A. a. O., 33 f.<br />

18 Die Wortbedeutung „Gesetz“ muss aber doch wohl nicht völlig ausgeklammert<br />

werden.<br />

19 Crüsemann, Tora (s. Anm. 12), 8.<br />

20 Vgl. dazu <strong>Ulrich</strong> H. J. <strong>Körtner</strong>, Hermeneutische Theologie. Zugänge zur

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